GeschichteÜber den nördlichen Höhen hing ein dichter Nebel, der nur stellenweise von Sonnenstrahlen zerrissen wurde. Der Sommer zeigte sich hier im Norden in diesem Monat nur selten, wärmer als zwanzig Grad wurde es kaum. Die Reisegemeinschaft hatte ihre Wegstrecke für heute zurückgelegt, bis zum nächsten Dorf war es nun nur noch ein halber Tagesmarsch. Morgen würden sie zur Mittagszeit dort eintreffen um die Lieferung abzuliefern.
Rilmir stand ihr gegenüber, das Schwert in der Hand. "Versuch's nochmal, Kerry. Halte deinen Körper seitlich hinter deiner Klinge, um ein kleineres Ziel zu bieten. Stell' dir dein Schwert als Verlängerung deines Arms vor und halte es gut fest. Jetzt greif mich an - und denk' dran: Mit dem spitzen Ende zustechen!"
Kerry versuchte es. Ihr eigenes Schwert in der Rechten haltend schlug sie seitlich zu. Der Waldläufer parierte gelassen und machte einen Schritt rückwärts. "Nochmal! Mach weiter!", sagte er. Zwei weitere Streiche führte sie, einen hoch, den zweiten tief. Dann ließ sie die Klinge fallen und verschränkte verärgert die Arme.
"Dúnadan, das machst du doch mit Absicht.
Seht mich an, ich bin der große Schwertmeister von Arnor, und niemand kann mich verletzen!", machte Kerry ihn nach.
Rilmir lächelte belustigt. "Schnitte in Armen und Beinen kann ich gerade nicht wirklich gebrauchen. Soll ich mich etwa nicht verteidigen?"
Kerry blickte finster drein. "Das ist nicht fair," stieß sie hervor.
In der Zwischenzeit hatte Lónar ein Lagerfeuer entzündet. Nun saß er daneben und hatte eine Karte vor sich ausgebreitet. Kerry ließ den Dúnadan stehen, kam herüber und blickte ihm über die Schulter als er ihr Reiseziel auf der Karte kennzeichnete. In den letzten Jahren waren in Eriador viele neue Dörfer entstanden als Flüchtlinge aus Rohan, Gondor und Rhovanion die leeren Lande zwischen Lindon und Imladris besiedelten. Kerry und ihre Gefährten verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie zwischen den Dörfern hin- und herreisten und Lieferungen sowie Nachrichten überbrachten, denn trotz des Bevölkerungsanstiegs waren die nördlichen Lande keineswegs sicher.
Kerry sah zu wie Lónar den Namen des Dorfes fein säuberlich auf der Karte eintrug und dann die Reiseroute, die sie vom Evendim-See aus hierher genommen hatten mit der Feder nachzog. Als er fertig war, drehte der Zwerg sich zu ihr um.
"Ist was, Mädchen?"
"Nee, Zeichner. Ich habe dir nur zugesehen. Schön hast du das gemacht."
"Es geht nicht um Schönheit, es geht um Effizienz. Nun werden wir stets wissen, wo wir dieses Dorf, zu dem wir reisen, finden können."
"Aber es ist doch eine außerordentlich hübsche Karte!"
"Tolle Karten habe ich viele. Ich bin Kartograph, Mädchen. Und ich bin
gut in meinem Gebiet. In Arnor gibt es so viele neue Straßen und Dörfer, das ist genug Arbeit für einen Kartographen."
"Wie du willst."
Kerry ließ Lónar zeichnen und blickte sich um. Ihre beste Freundin war nahebei damit beschäftigt, das Nachtlager der Reisegemeinschaft einzurichten. Kerry setzte sich neben die dunkelhaarige Frau und seufzte leise.
"Die Übungen sind nicht so gut verlaufen, was?"
"Maggie, du hast es doch gesehen. Er lässt mir gar keine Chance."
"Aber du lernst doch dabei etwas, oder?"
"Ich lerne, wie ein Verlierer auszusehen. Das ist wirklich nicht nett von ihm. "
Magrochil lachte. "Immerhin schenkt er dir so Aufmerksamkeit. Das wolltest du damit doch erreichen, oder etwa nicht?"
Kerry merkte wie sie errötete. "Das ist nicht .... - Maggie, das hast du ganz falsch verstanden!"
"Oh, ich verstehe durchaus, meine liebe Kerra. Man müsste ja auch blind sein, um einen Mann wie Rilmir von den Dúnedain zu übersehen. Und
du bist offensichtlich
nicht blind."
"Sei still! Du wirst noch alles verderben," zischte Kerry, die sich ertappt fühlte. Der Dúnadan war gutaussehend, daran bestand kein Zweifel. Sein kantiges Gesicht und die muskulöse Statur waren eine Sache, die meergrauen Augen, in denen sie sich verlieren konnte, waren eine andere. Dabei schien er zuweilen mit seinen Gedanken woanders zu sein und war oft aus ihr unerfindlichen grundlos niedergeschlagen gestimmt, so sehr sie sich auch bemühte ihn aufzuheitern. Das machte ihr zu schaffen, wenn sie ehrlich war. Ihre Stimmung war stets gut gewesen, wenn sie die Leute um sich herum lachen hören konnte und Fröhlichkeit sie umgab. Dass der Dúnadan außerdem bisher alle ihre Andeutungen übersehen hatte war ihr ebenso ein Rätsel wie seine zum Teil unberechenbaren Stimmungsschwankungen.
Er muss doch merken, dass ich ihn anziehend finde, dachte sie,
oder er ist noch begriffstutziger als er aussieht."Irgendwann finden wir sein Geheimnis heraus," sagte Kerry, die laut nachdachte.
"Ich würde eigentlich lieber
dein Geheimnis erfahren," erwiderte Magrochil lächelnd. "Du hast mir immer noch nicht verraten, wo du eigentlich herkommst. Vor dem Krieg," fügte sie leise hinzu. Kerry verzog das Gesicht. Über ihre Vergangenheit sprach sie nicht gerne. Sie beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern.
"Gut, aber du musst mir verprechen, dass du es niemandem verrätst. Das könnte mich in ernsthafte Gefahr bringen!"
"Ich verspreche es bei meiner Ehre und der Ehre Gondors."
"Nun... also gut. Du hast mich erwischt. Ich bin in Wahrheit die Prinzessin Lothíriel von Dol Amroth," sagte Kerry und versuchte, weiterhin ernst drein zu blicken. "Ich bin in den Norden geflohen weil mich mein Vater mit irgend einem Kriegsherrn oder General verheiraten wollte. Und seitdem sind mir bestimmt so einige sogenannte Helden auf den Fersen, die mich zu ihm zurückbringen wollen."
Magrochil schubste sie. "Du bist wirklich unmöglich, Kerra," sagte sie grinsend. "Außerdem hat Lothíriel schwarze Haare, so dunkel wie die Schwingen eines Raben."
"Vielleicht habe ich sie gefärbt."
"Vielleicht redest du einfach wieder einmal nichts als dummes Zeug."
Dunkle Schwingen, dunkle Worte, dachte Kerry. Bisher war ihr noch jedes Mal eine neue Geschichte eingefallen.
Gemeinsam bauten sie das Nachtlager der Reisegemeinschaft zu Ende auf. Lónar hatte seine Arbeit beendet und sich eine Pfeife angezündet, während Rilmir am Lagerfeuer saß und leise einen alten Elbenvers vor sich hin sang. Kerry spitzte die Ohren und hörte:
A Elbereth Gilthoniel,
silivren penna míriel
o menel aglar elenath!
Na-chaered palan-díriel
o galadhremmin ennorath,
Fanuilos, le linnathon
nef aear, sí nef aearon!
Und mit dieser elbischen Weise in den Ohren schloss sie die Augen und war bald darauf eingeschlafen.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Der Waldläufer kannte hier in der Gegend alle Straßen und Pfade, und führte sie auf direktem Weg zu ihrem Ziel: einem Dorf der Flüchtlinge des Ringkriegs. Es lag neben einem kleinen Bach der in westlicher Richtung von den Nordhöhen herab floss und war von einer einfachen Palisade aus Holz umgeben.
Als sie näher kamen sahen sie, dass am Tor zwei grimmig drein blickende Männer standen. "Wer seid ihr, und was wollt ihr hier?" fragte der größere der beiden, ein dunkelhaariger Mann der Speer und Schild trug.
"Ich bin Rilmir Arvaethor von den Dúnedain," sagte der Waldläufer. "Meine Gefährten und ich bringen eine Lieferung vom Evendimsee für den Ortsvorsteher."
Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. "Aha, einer der Dúnedain! Sehr gut. Ihr dürft passieren. Aber mir ist kein offizieller Lieferauftrag für das Dorf bekannt. Habt Ihr einen?"
Der Waldläufer zog ein zerknittertes Pergament hervor. "Hier."
Sein Gegenüber nahm das Schriftstück entgegen und untersuchte es einen Moment lang.
"Gut... es scheint alles zu stimmen. Ihr könnt die Lieferung bei mir lassen."
Rilmir hielt inne. "Ich würde sie lieber dem Ortsvorsteher persönlich übergeben."
"Das ist nicht notwendig. Wir haben hier alles damit im Griff. Seht lieber zu, dass ihr weiterkommt," gab der Torwächter zurück, mit einem Mal wieder unfreundlich gestimmt.
Kerry stellte sich neben den Waldläufer. "Seid Ihr sicher, dass ihr uns die Lieferung nicht lieber selbst abgeben lassen wollt?" sagte sie und schenkte dem Wächter ein strahlendes Lächeln.
Der Mann blickte sie etwas irritiert an, ließ seinen Blick rasch einmal über ihre Figur gleiten und zögerte einen Moment lang. Dann schien er sich innerlich einen Ruck zu geben und schüttelte den Kopf. "Her damit," stieß er undeutlich hervor.
Und so luden sie ihre Lieferung bei den Männern am Tor ab, wohl wissend dass diese sich einiges davon auf die Seite schaffen würden bevor sie sie an den Ortsvorsteher übergeben würden. Kerry machte hinter ihrem Rücken ein abfälliges Zeichen in Richtung der Torwächter als das Dorf betraten.
Selbstgefällige Idioten.So oder ähnlich verlief es in letzter Zeit immer öfter. Seitdem sich die Dúnedain vor eineinnhalb Jahren einem neuen Meister angeschlossen hatten waren in Eriador überall dessen Handlanger aufgetaucht. Die meisten von ihnen waren Südländer, die mit einem fremden Akzent sprachen und sich aufspielten, als wären sie die neuen Herren im Norden. Die Waldläufer waren vor einiger Zeit zum Großteil nach Osten gezogen um einen geheimen und wichtigen Auftrag für den Meister zu erfüllen. Seitdem war es schlimmer geworden.
Im Dorf füllten sie ihre Vorräte auf und rasteten eine kurze Weile. Rilmir verschwand für einige Minuten und tauchte mit einem nachdenklichen Blick im Gesicht wieder auf, den er den Rest des Tages nicht ablegte.
Kerry füllte ihre Flasche mit Wasser aus dem Brunnen und nutzte die Gelegenheit, sich die Dorfbewohner in der Nähe anzusehen. Viele fröhliche Mienen sah sie nicht - vielmehr schienen die Menschen alle ihren eigenen Sorgen nachzuhängen. Nur wenige sprachen miteinander, die meisten eilten ihren Aufgaben hinterher.
Auf jeder Beerdigung ist die Stimmung fröhlicher, dachte Kerry die sich auf den Brunnenrand gesetzt hatte bis sie feststellte, dass genau das auf einem Verbotssschild stand das nahebei hing. Beim Aufbruch der Gruppe aus dem Dorf riss sie den Anschlag herunter und warf ihn in einen Graben.
Sie reisten weiter in südöstlicher Richtung auf die Große Oststraße zu, die sie einige Tage später zu erreichen planten. Am späten Nachmittag machten sie Halt und der Waldläufer legte die Sehne seines Bogens auf. "Ich besorge uns ein gutes Abendessen," verkündete er und zog los. Kerry half inzwischen Lónar beim Feuermachen, den Rilmir war ein guter Jäger und würde gewiss einen ausgezeichneten Braten mitbringen den sie in eines ihrer geschmacklichen Meisterwerke verwandeln wollte. Der Zwerg bat sie, Zunder aus seinem Rucksack zu holen, also ging sie zu dem Haufen von Gepäckstücken der Gefährten, der unter einem nahe gelegenen Baum abgelegt worden war. Lónars Rucksack lag ganz unten. Beim Beiseiteräumen des restlichen Gepäcks fiel ihr ein Brief entgegen, der wohl aus Rilmirs Tasche gefallen war.
Kerry blickte sich um.
Keiner sieht her, stellte sie fest. Schnell öffnete sie den Umschlag, der nicht versiegelt gewesen war. Auf der Nachricht im Inneren war zu lesen:
Brüder,
Lange Jahre hat unser Volk über Eriador gewacht. Lange haben wir dessen Bewohner vor Unheil beschützt.
Doch nun haben wir uns von unserem Auftrag abgewendet, verblendet durch die Versprechungen des Meisters der Hinterlist - Saruman. Saruman den Verrräter nenne ich ihn, denn er dient nur sich selbst. Wendet euch ab von seinen Lügen! Große Paläste und Festungen hat er uns versprochen, das Reich Arnor sollte wieder im neuen Glanz erstrahlen! Doch nichts davon ist bislang wahr geworden, und nun hören wir dass einige unserer Brüder in Sarumans Kriegen im Osten getötet wurden. Er hat das Elbenreich Lórien angegriffen und zerstört, eine abscheuliche Tat die seine Bosheit beweist. Er herrscht über die Orks des Nebelgebirges. Er strebt nur nach Macht!
Wie kann Arnor neu errichtet werden wenn sein rechtmäßiger König in den Verließen des Dunklen Herrschers gefangen gehalten wird? Wie soll uns Saruman zu neuem Ruhme führen, wenn er nur zu Schandtaten wie der Zerstörung Lóriens fähig ist?
Wendet euch ab von Saruman und seiner Hinterlist. Schließt euch uns, den Getreuen der Grauen Schar an und helft uns, Eriador von seinem Einfluß zu befreien. Hört auf eure Herzen und trefft die einzig richtige Wahl.
Für die Dúnedain. Für Arnor. Für Gerechtigkeit.
* * * * * * *
Belen, Berens Sohn
Aravorn II.
Schnell steckte sie den Brief wieder in Rilmirs Tasche und brachte dann Lónar den gewünschten Zunder.
Den ganzen restlichen Weg bis zur Oststraße dachte Kerry über Aravorns Nachricht an die Dúnedain nach, doch was sie zu bedeuten hatte und was Rilmir damit anfangen würde wusste sie nicht....
Kerry, Rilmir, Lónar und Magrochil zur Wetterspitze