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Die Pinnath Gelin

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MAEGOND, ARACHÍRS SOHN in Arandol

19. Juni 3022 D.Z.


Diese Stadt wird immer voller, dachte Maegond und verzog das Gesicht als er durch das Große Tor von Arandol trat. Die Straßen der Stadt waren überfüllt mit Menschen. Menschen, die Schutz suchten. Fürst Elatan sollte besser bald zurückkehren, dachte Maegond. Es wird Zeit, dass jemand für Ordnung sorgt. Vater ist einfach nicht durchsetzungsfähig genug um einen guten Stellvertreter abzugeben. Am liebsten hätte Maegond selbst das Amt des Statthalters von Arandol übernommen, wenn es die Erbfolge erlaubt hätte. Ich wünschte wirklich, Hirluin wäre noch am Leben und nicht in diesem sinnlosen Krieg gefallen. Er würde sich diesen... Aufruhr nicht gefallen lassen.

Hirluin, der vormalige Fürst der Pinnath Gelin und Herr von Arandol, der ehemaligen Grenzfestung Gondors am Pass nach Enedwaith, war vor den Mauern Minas Tiriths gefallen, und sein Neffe Elatan, Elendurs Sohn, war ihm als Fürst nachgefolgt. Doch Elatan befand sich weit entfernt in Dol Amroth und nahm am Rat der Lehensfürsten Gondors Teil. Sinnlose Politik! Sinnloser Krieg! All dieser... Aufwand. All dies wäre nicht passiert, wenn man sich dem Feind von Beginn an friedlich unterworfen hätte, war sich Maegond sicher. In Minas Tirith und in den östlichen Lehen - Lebennin und Lossarnach - hatten die Menschen Gondors zwar unter der Kontrolle Mordors gestanden, aber hatten eigene Anführer wie Herumor gehabt und die meisten Angelegenheiten selbst regeln dürfen. Bis sich die Narren zum Aufstand entschlossen. Seitdem übte Sauron über seine Ringgeister und Orks direkte Kontrolle aus. Die Zahl der Flüchtlinge in den noch freien Westen Gondors hatte seitdem wieder zugenommen.

Maegond drängte sich mit Eile durch die Menge. Er war all diese Unanehmlichkeiten nicht gewohnt. Dem Adel entstammend lebte er mit seiner Familie ein Leben im relativen Luxus. Als nächste Verwandte der Fürsten von Arandol waren Maegond und sein Vater Arachír hochangesehene Würdenträger in den Pinnath Gelin und in Anfalas. Ihre Stadt, Arandol, war bis zur Mitte des Dritten Zeitalters nichts weiter als ein Außenposten der Armee Gondors gewesen, der den Pass durch das Weiße Gebirge in die wilden Lande im Norden bewachte. Mit der Zeit wuchs die Stadt um die alte Burg herum und wurde zum Sitz der Lehensfürsten der Pinnath Gelin, deren Titel im Haus von Arandol erblich wurde. Man sollte meinen, die Leute wissen, wer wir sind, dachte Maegond. Und dennoch kommen immer mehr von ihnen hier her. Er war dankbar für jeden Einzelnen, der nicht in Arandol Halt machte sondern weiter nach Norden in das als sicher geltende Eriador weiterzog.

Einige Zeit später erreichte er endlich das große Anwesen seiner Familie, das sich innerhalb der alten Burgmauern befand. Maegond konnte es den Menschen nicht verdenken, dass sie aus den von Mordor eroberten Gebieten flohen seitdem die Orks dort mit eiserner Faust regierten. Wenn sie doch nur klüger gewesen wären und eingesehen hätten, dass ihr Widerstand zwecklos gewesen ist. Doch seit einigen Tagen sprachen alle nur noch vom Sieg Elphirs von Dol Amroth bei Linhir und der Rückeroberung von Belfalas. Ihnen muss doch klar sein, dass den Haradrim - den Wilden aus dem Süden - nicht zu trauen ist, dachte Maegond als er die Eingangshalle eiligen Schrittes durchquerte. Schon bald werden Imrahil und Elphir gewiss feststellen, dass ihre neuen Verbündeten sie verraten haben.

Er fand seinen Vater in der Bibliothek, in Karten des fernen Nordens vertieft. Er hat also noch immer die Hoffnung nicht aufgegeben.
"Vater," sagte er im angemessenen Ton.
Arachír blickte auf. "Was gibt es Neues, mein Sohn?"
"Nichts Neues. Nur noch mehr Menschen aus Anfalas."
"Ist ihnen nun selbst der Langstrand nicht mehr sicher genug? Fürchten sie noch immer die Korsaren? Amros sandte Nachricht, dass die Flotte Umbars vernichtend geschlagen wurde und die Bucht von Belfalas von der Flotte Edhellonds und Dol Amroths beherrscht wird," stellte sein Vater fest.
"So muss es wohl sein," antwortete Maegond. "Lass' uns hoffen, dass die meisten weiterziehen werden. Die Stadt ist bereits überfüllt genug."
"Verschließe nicht dein Herz vor den Sorgen des Volkes, Maegond," sagte Arachír. "Schon bald wirst du eine Führungsposition einnehmen, mein Sohn, und du wirst nur ein guter Anführer sein, wenn du die Anliegen des einfachen Volkes anhörst und verstehst."
Nicht diese Lektion schon wieder, dachte Maegond. Er ließ seinen Blick über die Karten die sein Vater auf dem Tisch ausgebreitet hatte schweifen. "Wirst du erneut Reiter entsenden?" fragte er, um das Thema zu wechseln.
"Ich muss," antwortete Arachír leise. "Sie ist dort draußen. Mein Herz sagt es mir."
"Magrochil ist freiwillig gegangen, Vater. Sie wird zurückkehren, wenn sie es wünscht. Sie ist stark genug, um zu überleben," antworte Maegond. Seit seine Schwester mit einer großen Gruppe in den Norden gezogen war hatten sie nichts mehr von ihre gehört.
Doch beide waren sie sich sicher, dass sie es wissen würden falls Magrochil etwas zustoßen würde.

Maagond ließ seinen Vater stehen und trat auf den hohen Balkon hinaus. Vor ihm breiteten sich die grünen Hügel der Pinnath Gelin in südlicher und östlicher Richtung aus, und am Horizont lagen die fernen Strände von Anfalas. Eine friedliche Ruhe lag über dem Land. Und solange der Feind bei Linhir weiterhin aufgehalten und ihm der Übergang über den Gilrain verwehrt bleibt, wird sich daran auch nichts ändern. Dafür würde er sorgen.

Fine:
Valion, Valirë, Erchirion, Lóminîth und Gilvorn aus Nan Faerrim


Je weiter die fünf Reiter nach Norden kamen, desto unwegsamer wurde das Gelände. Das Tal von Nan Faerrim war abgelegen, und nur mit einem ausgetretenen Weg mit dem Rest von Anfalas verbunden, der sich jenseits des großen Torbogens rasch nach Süden in Richtung Maerost wendete. Nach Norden hin gab es weder Weg noch Straße. Und im Gegensatz zum Flachland von Anfalas waren die Pinnath Gelin durchzogen von Hügeln und flachen Erhebungen, die mit hohem Gras bedeckt und von vereinzelten Bäumen bewachsen waren. Arandol, Sitz der Herren dieses Außenlehens von Gondor, war mit einer gepflasterten Straße mit dem Rest des Reiches verbunden, doch diese führte in östlicher Richtung entlang des südlichen Randes des Weißen Gebirges. Valions Reisegruppe befand sich im Augenblick noch mehrere Tagesreisen südlich von Arandol - mitten in der Wildnis.
Sie ließen die Pferde im schnellen Trab gehen, damit die Tiere sich nicht zu rasch erschöpften oder in Gefahr gerieten, im schwierigen Gelände zu stürzen. Gilvorn ritt meistens voraus, da er sich in der Gegend am besten auskannte. Die Zwillinge hatten Nan Faerrim in ihrer Kindheit zwar einige Male besucht, doch sie waren während dieser Besuche nur selten jenseits des Tales ausgeritten. Die Jagdgründe der Herren von Nan Faerrim lagen westlich und südlich des Tales, wo lichte Wälder standen und das Gelände anzusteigen begann, denn dort lag der westlichste Arm des Weißen Gebirges; eine von vielen Schluchten und Höhlen durchzogene Bergregion. Gilvorn, der ursprünglich aus Lossarnach stammte, hatte seit seiner Ankunft in Nan Faerrim viele Streifzüge durch die umliegenden Lande unternommen, zumeist im Auftrag seines neuen Herrn. Deshalb fiel es nun ihm zu, den kürzesten Weg nach Arandol zu finden.

Gegen Mittag des zweiten Tages seit ihrem Aufbruch von Nan Faerrim rastete die Gruppe im Schatten eines großen Apfelbaumes, der in einer kleinen Senke zwischen zwei Hügeln stand. Noch trug der Baum eine Krone voller vielfarbiger Blätter, doch einen Teil davon hatte er bereits verloren, denn der Herbst schritt voran und der Winter nahte.
Valion lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und genoss die Strahlen der Mittagssonne, die seine Nasenspitze wärmten. Er schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Eile, die sie seit ihrem Aufbruch von Dol Amroth angetrieben hatte, wenigstens für ein paar Minuten zu vergessen. Lóminîth hatte ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet und schien sich ähnlich zu fühlen. Sanft strich Valion ihr durch das nachtschwarze Haar und spürte, wie die feinen Härchen an ihrem Nacken sich bei der Berührung aufstellten und leicht erzitterten. Es fühlte sich gut an.
“Nicht aufhören,” wisperte Lóminîth und schloss ebenfalls die Augen.
“Wir können nicht ewig hier sitzen bleiben, so schön das auch wäre,” gab Valion ebenso leise zurück, während seine Finger ihr Werk fortsetzten.
“Ich weiß, ich weiß. Doch manchmal wünschte ich mir dennoch, es gäbe all diese... Verpflichtungen und Aufgaben nicht. Manchmal wünschte ich mir, wir könnten all das einfach hinter uns lassen. Uns ein Schiff nehmen und weit fort von hier fahren.”
“So verlockend das auch klingt...” setzte Valion an, doch Lóminîth legte ihm einen Finger auf den Mund.
“Lass mir die Illusion. Wenigstens noch für ein paar kostbare Minuten.”
Valion schwieg und gab ihr, was sie wollte. Er ließ seinen Blick etwas ziellos umher schweifen. Gilvorn stand ganz in der Nähe und spannte gerade die Sehne seines Langbogens neu auf. Erchirion und Valirë nutzten die Rast für ein Übungsgefecht, und ihre Klingen blitzten in der hellen Sonne auf, während sie sich wieder und wieder umkreisten und nach einer Lücke in der Verteidigung ihres Gegners suchten.

“Sieh nur,” sagte Lóminîth kurz darauf und deutete träge schräg aufwärts. “Dort scheint jemand zu wohnen, mitten in dieser einsamen Wildnis.”
Valion folgte ihrem Blick, der den nahen Hügel hinauf bis zu dessen grüner Spitze ging. Dort standen mehrere Bäume nahe beieinander, die bereits den Großteil ihrer Blätter verloren hatten. Dadurch wurde etwas sichtbar, das sich in der Krone des zentralen Baumes befand: Eine Art Platform mit einem hölzernen, geschwungenen Dach, auf der mehrere Personen Platz finden konnten. Lóminîth kam auf die Beine und ergriff Valions Hand, ihn mit sich ziehend. “Ich möchte es mir ansehen,” sagte sie und ihre Stimme war von Neugierde und Wissensdurst erfüllt. Dies kam selten genug vor, weshalb Valion beschloss, sich ihr nicht in den Weg zu stellen. Auch wenn er wusste, dass die Zeit drängte, kam er zu dem Schluss, dass ein paar Minuten nicht ausschlaggebend sein würden. Er folgte seiner Verlobten den Hügel hinauf.
Oben angekommen stellten sie fest, dass jemand hier offenbar einen kleinen Garten zwischen den Bäumen angelegt hatte. Ein ausgetretener Weg führte zwischen überwachsenen Beeten hindurch bis zum breiten Stamm des zentralen Baumes, von dem eine Strickleiter herab hing. Ehe Valion etwas sagen konnte, war Lóminîth bereits hinauf geklettert, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er hoffte, dass sie nicht geradewegs in eine Falle getappt waren.
Durch ein kreisrundes Loch in der Plattform, die aus festem, aber dünnem Holz bestand, erreichte Valion den Wohnbereich - denn danach sah es eindeutig aus. Die ebene Fläche bot mehr Platz, als er erwartet hatte. An den breiten Stamm lehnte ein kleines, verziertes Regal und ein besonders dicker Ast, der senkrecht in die Höhe ragte, stützte eine hölzerne Konstruktion, die für Valion wie ein nach hinten offener Schrank aussah. Am Rand der Plattform, der nach Westen ging, standen ein flacher Tisch, dessen Beine fest mit dem Boden der Plattform verwachsen waren, sowie ein kleiner Hocker. Valion konnte sich gut vorstellen, dass der Bewohner dieses Ortes hier gesessen hatte und... ja, was eigentlich getan hatte?
Lóminîth fand die Antwort darauf. In dem kleinen Regal fand sie Tinte, Feder und einige angestaubte Schriftrollen. “Wer auch immer hier lebt... er scheint sich für einen Poeten zu halten,” kommentierte sie. “Hier, hör’ dir das mal an:”

O Tal des Gesangs, gerahmt in Blau,
O Gold’ner Wald, inmitten von Grau,
O Reich ohne König, der im Meer verschwand,
O selbstlose Heimat, o Lórinand!
Sie trug das Gedicht mit ernster Stimme vor, doch als sie geendet hatte, zog ein belustigter Ausdruck über Lóminîths Gesicht. “Wirklich sehr melancholisch,” kommentierte sie.
“Gibt es dort vielleicht noch etwas Nützliches zu finden, oder nur noch mehr von diesem Gekritzel?” wollte Valion wissen.
Lóminîth lachte. “Nun, ich fürchte, hier ist bis auf... Gekritzel nicht mehr viel zu finden.” Sie drehte eines der vergilbten Blätter um und hielt es so hin, dass Valion sehen konnte, was darauf gezeichnet war: Das Antlitz einer Frau, die in die Ferne blickte. Sie kam Valion nicht bekannt vor. Um ihren Hals hing ein Medaillon mit einem Baum darauf. Soweit Valion erkennen konnte, war es nicht der Weiße Baum von Gondor. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
“Ich frage mich, wer hier wohl lebt - oder gelebt hat. Es kommt mir so vor, als wäre derjenige, der diesen Ort erschaffen hat, viele Tage nicht mehr hier gewesen,” überlegte Lóminîth.
Valion dachte einen Augenblick darüber nach, bis ihm eine Geschichte aus seiner Kindheit einfiel. “Meine Mutter erzählte meiner Schwester und mir einst von einem Märchen, das in Anfalas und in den Pinnath Gelin die meisten Kinder kennen. Darin geht es um einen etwas merkwürdigen Einsiedler, der irgendwo inmitten der Wildnis des Hügellandes lebt und hin und wieder eines der Dörfer in der Nähe aufsucht, um den Menschen Weisheit und Glück zu bringen.”
Lóminîth machte ein skeptisches Gesicht. “Und du glaubst, wir haben das Zuhause dieses... Einsiedlers gefunden?”
“Die meisten Geschichten haben einen wahren Kern,” meinte Valion. “Ich verstehe nur nicht, wieso dieser Ort wirkt, als wäre er erst vor einigen Monaten verlassen worden. Meine Mutter hörte das Märchen von ihrer Mutter, und so weiter. Die Geschichte ist mehrere Jahrhunderte alt. Also entweder gibt es mehrere von diesen Einsiedlern, oder der Kerl hat es irgendwie geschafft, dem Tod zu entgehen.”
Lóminîth schien das nicht zu überzeugen. “Ich weiß nicht, Valion. Dieser Ort kommt mir weder magisch noch märchenhaft vor. Hier hat eindeutig jemand gelebt, der real war, und der... nun, eigenwillige Gedichte geschrieben hat. Ich glaube, der geheimnisvolle Einsiedler, der all diese Jahrhunderte überstanden hat, war einer vom Älteren Volk.”
“Es gibt keine Elben in Gondor,” widersprach Valion.
“Vielleicht nur keine, von denen du weißt,” entgegnete Lóminîth. Und dann erinnerte sie ihn an die Elben, die nun die Tore Dol Amroth bewachten, und an Ladion, der in der Schlacht in Morthond die Bogenschützen befehligt hatte.
“Vielleicht hast du Recht,” meinte Valion nachdenklich. “Doch welcher Elb würde sich an diesem Ort niederlassen? Hier gibt es... nichts.”
“Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob meine Theorie stimmt.”
“Wir haben keine Zeit, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Wir haben uns schon zum lange hier aufhalten lassen.”
Lóminîth ergriff seine Hand. “Ja, du hast Recht. Wir müssen weiter. Doch ehe wir gehen...” Sie zog ihn heran, und küsste ihn.

Lóminîth nahm die Gedichte und Zeichnungen mit, die sie in der Baumbehausung des Einsiedlers gefunden hatten. Sie verriet ihre Gründe dafür nicht. Valion ließ sie gewähren - welchen Schaden konnte es schon anrichten, wenn sie einige wertlose Schriftrollen mitnahm?
Die Reisegruppe setzte sich wieder in Bewegung, und der junge Gilvorn übernahm erneut die Führung. Gegen Abend stellten sie fest, dass sie inzwischen die höchsten der Hügel der Pinnath Gelin hinter sich gelassen hatte, und wieder in etwas flacheres Gebiet kamen. Sie standen am Rande der Ebene, die sich zwischen dem Weißen Gebirge im Norden und den grünen Hügeln im Süden erstreckte. Nun würden sie schneller voran kommen. Sie beschlossen einstimmig, bis zum Einbruch der Dunkelheit die Pferde zum Galopp anzutreiben um etwas Zeit gut zu machen. Valion schätzte, dass sie am späten Vormittag des nächsten Tages ihr Ziel, die Stadt Arandol, erreichen würden.

Fine:
Die mit einer starken Mauer umgebene Stadt Arandol stand auf einem großen, flachen Hügel, der sich wenige Meilen vor der Stelle erhob, an der das Weiße Gebirge seine Richtung änderte, und nach Süwesten abknickte. Am Scheitelpunkt befand sich eine Passage, die den Namen Cirith Minuial, der Pass des Morgengrauens trug. Einst hatte dort eine gut ausgebaute Straße in die Lande zwischen Gondor und Arnor geführt, die jedoch in den Jahrhunderten aufgrund von geringer Benutzung langsam verfallen war. Seit der Eroberung der östlichen Gebiete Gondors durch die Heere Mordors jedoch waren wieder viele Reisende dort unterwegs, und verließen Gondor über den Pass, der den einzigen Zugang zwischen den Pinnath Gelin und den Landen jenseits des Weßen Gebirges darstellte. Da er einst von strategischer Wichtigkeit gewesen war, hatten die alten Baumeister Gondors an beiden Enden des Passes einen Wachtturm errichtet. Und nun waren dort seit vielen Jahrunderten wieder Wachposten stationiert, denn es gab viele Menschen in Arandol, die nach Arbeit suchten. Die Bevölkerung war in den letzten Jahren stark angewachsen, denn nicht alle Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten reisten nach Arnor oder Eriador weiter. Jene, die Gondor noch nicht verlassen wollten, aber nicht mehr länger am Krieg teilnehmen wollten, gingen nach Anfalas, Andrast oder in die Pinnath Gelin. Dort waren sie noch immer Teil des Reiches, doch sie waren so weit von den Kriegsschauplätzen entfernt, wie möglich.
Arandol selbst war einst nicht mehr als eine kleine Burg gewesen, die der Garnisonskommandant der in den Pinnath Gelin stationierten Truppen dort hatte errichten lassen, um einen befestigten Ort zur Ausbildung seiner Soldaten zu haben. Denn in den frühen Jahren Gondors kam es hin und wieder vor, dass Banden von wilden Menschen aus den Gebieten jenseits des Cirith Minuial Raubzüge nach Süden durchführten. Mit der Zeit war durch den Zuzug weiterer Gondorer eine Stadt rings um die Garnisonsburg entstanden, die schließlich zur Hauptstadt des Außenlehens geworden war. Hier war der Sitz von Elatan, dem Herrn der Pinnath Gelin, auch wenn jener noch immer in Dol Amroth weilte und im Rat von Fürst Imrahil saß. Und hier schien die Quelle der separatistischen Bewegung zu sein, die Valions Gruppe suchte.

Sie hatten beschlossen, zunächst unerkannt zu bleiben. Umhänge verhüllten die Wappen auf ihrer Kleidung und ihren Rüstungen, und sie führten ihre Pferde am Zügel bis zum Stadttor. Dort stellten sie die Tiere in einem kleinen Stall unter und versammelten sich auf einem etwas abgelegenen kleinen Platz, auf dem ein verzierter, plätschernder Springbrunnen zu finden war. Steinerne Bänke boten ihnen genügend Sitzgelegenheiten, und der Ort war weit genug weg vom Getümmel der Hauptstraßen, dass sie ungestört über ihre Pläne sprechen konnten. Die Wachen am Tor der Stadt hatten sie gelangweilt durchgewunken, ohne sie eines genaueren Blickes zu würdigen. Es kamen offenbar täglich so viele Leute nach Arandol, dass sich die Mühe, sie alle zu überprüfen, nicht lohnte.
"Diese Stadt ist ja noch voller als Maerost," kommentierte Valirë die Enge in den Straßen. Auch in Maerost, der Burg Golasgils, waren die Straßen belebt gewesen, doch die Anzahl von Menschen konnte sich nicht mit dem messen, was in Arandol los war. Sie hatten Glück gehabt, direkt hinter dem Tor einen freien Platz für ihre Pferde gefunden zu haben. Mit den Reittieren im Schlepptau wären sie in den Straßen Arandols hoffnungslos steckengeblieben.
"Es ist kein Wunder," meinte Erchirion. "Sie liegt nun einmal auf dem direkten Weg nach Eriador. Wer Gondor in Richtung Sicherheit verlassen möchte, kann dies nur auf drei Wegen tun. Zum einen kann man über die Pfade der Toten nach Rohan gehen, wie ich es selbst vor einigen Monaten getan habe. Zum anderen kann man sich ein Schiff in Dol Amroth, Linhir oder Revaillond nehmen und in eine Richtung fahren, die einem beliebt. Und dies, meine Freunde, ist nun der dritte Weg, der die kürzeste Reisezeit zu den als sicher geltenden Landen nördlich von hier verspricht: Der Pass von Cirith Minuial."
Valirë machte ein geringschätziges Geräusch. "Wie können sie nur so feige sein, und fliehen? Sie sollten nach Dol Amroth gehen, und sich zeigen lassen, wie man ein Schwert hält, damit sie ihre Heimat verteidigen können."
"Nicht jeder ist ein Krieger," wandte Lóminîth ein. "Aber täusche dich nicht: Nur weil ich kein Schwert schwingen kann, so wie du es so gerne tust, heißt das nicht, dass ich wehrlos bin. Es gibt andere Waffen, derer sich eine Frau bedienen kann, meine Liebe."
"Oh, darüber weiß ich ganz genau Bescheid," erwiderte Valirë mit einem anzüglichen Grinsen.
Lóminîth schien das nicht witzig zu finden. "Ich wünschte, du könntest wenigstens für einen Augenblick ernst bleiben," sagte sie kühl. "Wir haben einen Auftrag zu erfüllen."
"Ist euch aufgefallen, was für eine seltsame Stimmung in der Stadt herrscht?" sagte Valion, der rasch das Thema wechseln wollte, ehe sich die beiden Frauen vollständig in die Haare gerieten. "Es war nicht dieses Gefühl von Bedrücktheit und Sorge, das Valirë in Maerost vernommen hat. Sondern eher eine Art..."
"...Sorglosigkeit," ergänzte Lóminîth. "Das genaue Gegenteil. Die Menschen hier sind geradezu ausgelassen sorglos, als gäbe es nichts, das sie kümmern müsste."
"Nicht alle," meinte Erchirion nachdenklich und kratze sich am Kinn. "Ich glaube, das trifft nur auf jene zu, die schon länger in der Stadt sind. Die Menschen, die wie wir gerade erst in Arandol angekommen sind, oder planen, nicht lange zu bleiben, haben sich meiner Einschätzung nach normal verhalten."
"Auf jeden Fall betrifft es diese lausigen Wachen," sagte Valirë. "Die haben nicht einmal in meine Richtung gesehen. Das ist schon lange nicht mehr geschehen." Nachdenklich betastete sie ihr Gesicht und ihre Haare, als würde etwas mit ihrem Aussehen nicht stimmen.
"Ich glaube nicht, dass das an dir liegt, meine Liebe," sagte Erchirion mit einem belustigten Gesichtsausdruck. "Auf mich wirkst du noch genauso ansehnlich wie zuvor."
Gilvorn, der bislang noch kaum ein Wort gesagt hatte, erhob sich von der Bank, auf der er sich ausgeruht hatte und sagte: "Wenn ihr es gestattet, Herrschaften, werde ich mich ein wenig umsehen gehen. Vielleicht kann ich in Erfahrung bringen, ob eure Einschätzung korrekt ist. Bitte nehmt es mir nicht übel, aber ich glaube, wenn wir alle zusammen gehen, würden wir auf früh oder spät auffallen. Das wird wohl nicht in unserem besten Interesse sein."
"Er hat recht," sagte Lóminîth. "Gilvorn sollte gehen. Er ist unscheinbar und wird nicht auffallen. Sie werden ihn für einen vom einfachen Volk halten."
"Was ich ja auch bin, meine Dame," fügte der junge Jäger mit einer angedeuteten Verbeugung in ihre Richtung hinzu. Das entlockte Lóminîth tatsächlich ein erfreutes Anheben der Augenbrauen.
"Also gut, dann gehst du vorerst alleine," sagte Valion. "Wir werden uns solange hier die Zeit vertreiben und Pläne schmieden." Er blickte nach oben, wo zwischen den steinernen Dächern der Häuser Arandols die Sonne zu sehen war. Es war ein wolkenloser Herbsttag. Valion schätzte den Stand der Sonne ein und sagte: "Bis Sonnenuntergang bleiben uns noch ungefähr drei Stunden Zeit. Kehre hierher zurück, ehe es dunkel geworden ist, und sei vorsichtig."
"Ich werde mein Bestes geben," sagte Gilvorn mit fester Stimme. Dann lief er los und verschwand in einer Seitengasse.

Die übrigen Gefährten waren sich rasch darüber einig, dass sie die Urheber der separatistischen Verschwörung nur finden würden, wenn sie in Erfahrung brachten, wer im Augenblick den Befehl in Arandol führte. Nur jemand mit genügend Einfluss würde ein gesamtes Außenlehen (oder sogar zwei, wenn man Anfalas dazurechnete) dazu bringen können, sich von Gondor loszusagen. Doch wenn sie versuchen würden, in die Burg einzudringen, die der Sitz des Herrn der Pinnath Gelin war, riskierten sie, in Gefangenschaft zu geraten, wenn man sie erwischte.
"Und wenn wir erwischt werden, müssen wir unsere wahren Namen preisgeben, um der Strafe zu entgehen. Keine gute Idee," meinte Valirë.
"Vielleicht kann Gilvorn auch zu dieser Frage etwas in Erfahrung bringen," sagte Erchirion hoffnungsvoll. "Er scheint ein sehr fähiger junger Mann zu sein. Bestimmt hat er bereits herausgefunden, wer in Elatans Abwesenheit in Arandol das Sagen hat."
"Hoffen wir es," sagte Valion, der begonnen hatte, seine Schwerter mit einem kleinen Wetzstein zu schärfen, den er aus Nan Faerrim mitgebracht hatte. "Je länger wir hier untätig herumsitzen, desto weniger Zeit werden wir haben, um die Separatisten aufzuhalten."
"Ehe wir nicht die Identität der Anführer dieser Verschwörer kennen, sind uns leider die Hände gebunden," erwiderte Lóminîth, die ihren Kopf gegen Valions Schulter gelehnt hatte. "Wir müssen uns in Geduld üben."
"Geduld!" rief Valirë. "Erneut stellt sie mich auf die Probe! Ob ich es diesmal aushalten werde? Meine Finger zittern schon..."
Erchirion lachte und legte den Arm um sie. "Nein, dir ist nur kalt. Es wird bald Winter werden, falls es dir nicht aufgefallen ist, und wir sind seit dem Aufbruch aus Nan Faerrim stetig leicht bergauf gegangen. Vielleicht solltest du deine Handschuhe anziehen."
"Behandle mich nicht wie ein Kind," gab Valirë verstimmt zurück. Die Handschuhe zog sie trotzdem an.

Eine Stunde verging, und dann eine weitere. Sie vertrieben sich die Zeit damit, über den bisherigen Verlauf ihrer Reise nach Westen zu sprechen, doch schließlich verfielen sie einer nach dem anderen in nachdenkliches Schweigen. Viel hatten sie noch nicht erreicht. Seit ihrer Ankunft in Anfalas hatten sie keinerlei Antworten sondern nur noch mehr Fragen gefunden. Keine besonders gute Bilanz, dachte Valion frustriert.
Alle vier bemerkten mit einem Mal, dass der Geräuschpegel in der Umgebung mehr und mehr angestiegen war. Es klang, als sei die Menschenmenge auf den Straßen langsam, aber sicher in Aufruhr geraten. Sie konnten nicht verstehen, was gerufen wurde, doch eines war ihnen allen klar: Irgendetwas ging da draußen vor sich.
Valion sprang auf und ging vorsichtig denselben Weg zurück, den sie bei ihrer Ankunft in Arandol gegangen waren, um den kleinen, abgelegenen Platz zu erreichen an dem sie sich beratschlagt hatten. Rasch folgten ihm seine drei Gefährten, die sich aufmerksam umblickten. Durch mehrere kleine Gassen kehrten sie zur Hauptstraße zurück und standen schon bald am Rande des Platzes auf der Innenseite des Tores, durch das sie die Stadt betreten hatten. Dort war nun wirklich kein Durchkommen mehr. Menschen füllten den Platz und traten sich gegenseitig auf die Füße. Und alle blickten sie auf eine Gestalt, die gerade auf die Brüstung direkt über dem Tor gertreten war. Es handelte sich, soweit Valion erkennen konnte, um einen jungen, dunkelhaarigen Mann, der eine gondorische Rüstung mit dem Siegel der Pinnath Gelin darauf trug und ein großes Banner in der linken Hand führte. Er stellte die Insignie auf und hob die Hand. Und sogleich legte sich der Lärm, und es wurde beinahe vollständig still.
"Menschen von Arandol!" rief der Bannerträger. "Ich bin Maegond von Haus Torchirion und bitte euch, mich anzuhören!"
Bejahende Rufe erfolgten, während sich die Gefährten ratlos ansahen. Von einem Mann namens Maegond hatten sie noch nie gehört.
"Ihr wisst, wer ich bin, und weshalb ich hier bin. Schon zu lange gibt es Ungerechtigkeit in dieser Stadt und in diesem Land. Ihr alle seid ungerecht behandelt worden, von den scheinheiligen Fürsten und Herrschaften in Dol Amroth! Immer dreister und höher werden ihre Forderungen nach Abgaben, die sie für einen sinnlosen Krieg verprassen, und immer wieder zwingen sie die Verteidiger dieses Landes, für ihre selbstsüchtige Sache Blut und Leben zu geben. Wir haben lange genug zugelassen, dass man unsere Rechte mit Füßen tritt. Ich sage, es ist genug!"
Jubel und Zustimmung erschallte lautstark aus der Menge. Lóminîth wisperte: "Ich glaube, wir haben einen der Anführer der Verschwörung gefunden."
"Er steht ganz oben auf der Liste der Verdächtigen," ergänzte Valirë. Sie hatte die Arme verschränkt und ihr Blick war unheilvoll.
"Meine Freunde, es ist an der Zeit, dass wir uns gegen diese Ungerechtigkeiten wehren! Wir werden diese unverantwortliche Führung der Schwanenprinzen nicht mehr akzeptieren, die Gondor so viel Land und Blut gekostet hat. Das muss endlich aufhören! Wir haben gesehen, zu welcher Vernunft die Anführer jenes Reiches imstande sind, die Minas Tirith besetzt haben. Als sich die Menschen dort unterwarfen, erlaubte man ihnen, ohne große Einschränkungen in der Weißen Stadt zu leben. Doch was taten diese Narren? Sie begehrten auf und wurden entsprechend bestraft. Wir müssen weiser als sie sein, meine Freunde. Wir müssen uns von Dol Amroth lossagen, und unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ein Frieden mit den Mächten im Osten ist möglich. Sie würden niemals von uns verlangen, unsere Söhne in ihren Kriegen sterben zu lassen. Sie würden uns gerecht behandeln! Davon bin ich überzeugt. Also frage ich euch: Steht ihr mit mir Seite an Seite? Wagt ihr es, das Joch von Dol Amroth abzuwerfen?"
Es war erschreckend für Valion, wie groß die Zustimmung der Menge war. Er hätte nicht gedacht, dass sich Gondorer von einigen gut klingenden Worten täuschen lassen würden. "Sehen sie denn nicht, dass sie sich freiwillig in die Knechtschaft Mordors begeben würden?"
"Sieh sie dir an," sagte Erchirion traurig. "Die meisten von ihnen sind kriegsmüde. Und dieser Maegond wählt seine Worte geschickt. Es stimmt, dass es unter Statthalter Herumor, der von Mordor ernannt worden war, für zwei Jahre Frieden in Minas Tirith gab. Doch wir alle wissen, dass dies nur der Anfang gewesen wäre. Diese Taktik hatte genau das zum Ziel, was wir hier vor uns sehen. Sie wollten damit erreichen, dass Zwist und Uneinigkeit in den Landen entsteht, die sie noch nicht erobern konnten."
"Dieser Kerl ist gerissen. Er hat das Wort Mordor nicht ein einziges Mal in den Mund genommen, um keine Panik auszulösen," stellte Lóminîth fest.
Maegond brachte die Menge erneut zum Schweigen, in dem er die Hand hob. "Meine Freunde! Ihr wisst, wer Teilschuld an der Lage hat, in der wir uns befinden. Es ist derjenige, dem eigentlich die Sicherheit dieses Landes am meisten am Herzen liegen sollte. Doch euer Herr Elatan weilt nun schon seit beinahe einem Jahr am Hofe des verlogenen Fürsten von Dol Amroth. Er schert sich nicht um euch."
"Setzt ihn ab!" riefen mehrere wütende Stimmen aus der Menge.
"Wir brauchen einen neuen Anführer, meine Freunde. Einen, der den Anspruch auf das Erbe von Arandol besitzt, und dem das Leid der Menschen der Pinnath Gelin nicht egal ist. Seht auf mein Banner! Ich stamme von Torchírion ab, der diese Stadt begründete, und ich stehe hier, um euch zu fragen: Werdet ihr mir folgen?"
Ohrenbetäubender Jubel antwortete ihm, und selbst Maegond gelang es nun nicht mehr, die Menge zu beruhigen. Laut riefen sie seinen Namen und beschworen die Abspaltung von Gondor und Rebellion gegen Dol Amroth. Nur wenige wandten sich mit bestürzten Gesichtern ab.
Jemand zog an Valions Arm. Es war ein dunkelhaariges Mädchen, das feste, braune Reisebekleidung aus Leder und einen pelzbesetzten grauen Umhang mit Kapuze trug. "Ihr seid nicht von hier, nicht wahr?" sagte sie, und man hörte heraus, dass es keine Frage sondern eine Feststellung war.
"Schon möglich. Wer will das wissen?" gab Valion unbeeindruckt zurück.
"Mein Name ist Magrochil von Arandol," platzte das Mädchen heraus. "Und der da - " sie zeigte auf den Redner, der inzwischen von der Menge auf Händen getragen wurde - "ist mein idiotischer Bruder. Helft ihr mir, ihn aufzuhalten?"

Fine:
"Für eine Adelige hast du aber ein ziemlich freches Mundwerk," merkte Erchirion belustigt an, während sie Magrochil in eine der Seitengassen folgten. Noch immer war das Johlen der Menge zu hören, die ihren Anführer feierten und ihren Zorn gegen Dol Amroth und die Fürstenfamilie lautstark herausschrien.
"Ich gebe einen Dreck auf meinen Adelsstand," erwiderte Magrochil ungerührt. Jetzt, wo Valion das Mädchen genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass sie nicht wie eine gewöhnliche Hochgeborene aussah. Ihr dunkles Haar fiel ihr unordentlich über beide Schultern und ihr Umhang war am unteren Rand voller Schmutz, der von langen Reisen zeugte. Auch ihre übrige Kleidung war einfach und würde in einer Gruppe von Menschen kaum herausstechen. Einzig ihre akzentfreie Aussprache und ihre Körperhaltung bewiesen, dass sie wohl tatsächlich eine vernünftige Erziehung genossen hatte und aus gehobenem Hause kam.
Valirë lachte. "Und trotzdem hast du dich uns von Anfang an mit deinem Titel vorgestellt, Magrochil von Arandol." Sie zwinkerte dem Mädchen zu, das ihr kurzerhand die Zunge herausstreckte.
"Sonst hättet ihr mir bestimmt nicht zugehört," rechtfertigte sie ihr Handeln, während die Gruppe den kleinen Platz erreichte, auf dem sie sich zuvor beraten hatten.
Sie nahmen erneut auf den steinernen Bänken Platz. Magrochil baute sich vor ihnen auf und musterte sie eindringlich. Schließlich blieb sie vor Lóminîth stehen und sagte: "Du bist anders als diese drei. Sie sind Gondorer durch und durch, aber du... du hast da etwas an dir. Woher stammst du?"
"Ich glaube nicht, dass das gerade wichtig ist," ging Valion dazwischen. "Du hast gesagt, dass derjenige, der die Menschen gegen Dol Amroth aufstachelt, dein Bruder ist. Erzähl uns von ihm, und sag uns, wie wir ihn aufhalten können."
Magrochil gab ein genervtes Geräusch von sich. "Maegond ist sieben Jahre älter als mich und war noch nie in seinem Leben mit dem zufrieden, was er hatte. Unsere Familie ist sehr wohlhabend und besitzt mehrere große Häuser in Arandol und sogar eines unten in Anfalas, doch er konnte schon vor Jahren nie damit aufhören, davon zu reden, dass er zu Größerem bestimmt sei. Wir stammen aus einer Nebenlinie des Hauses von Torchirion, dem Begründer dieser Stadt, und sind daher Verwandte des Herrn der Pinnath Gelin. Jetzt scheint Maegond sich in den Kopf gesetzt zu haben, dass ihm dieser Titel zustände. Das ist zwar ein großer Haufen saw, aber er geht es geschickt an und nutzt die Ängste der Menschen aus, um seine Ziele zu erreichen. Ich bin erst seit wenigen Tagen wieder hier in Arandol und habe schon genug davon. Es muss dringend etwas unternommen werden, und zwar schnell."
"Wo bist du denn gewesen, wenn du nicht hier warst?" fragte Erchirion interessiert nach.
Das Mädchen zeigte grob nach Norden. "In Eriador. Ich hab' es in diesem Leben nicht mehr ausgehalten. Zu viele Regeln und Pflichten. Also habe ich mich einer Gruppe von Flüchtlingen angeschlossen, die über den Cirith Minuial nach Norden zogen, ohne dass meine Familie etwas davon mitbekommen hat. Drei schöne Jahre habe ich dort verbracht und viele Freunde gefunden."
"Und weshalb bist du nun zurückgekehrt?" hakte Valirë nach.
"Vor einigen Monaten war ich mit einem Gefährten auf dem Weg in die Ered Luin, als ich davon hörte, dass mein Vater nach mir suchen lässt. Zuerst ließ mich diese Nachricht kalt, doch nachdem ich die Hallen der Zwerge gesehen hatte, und erlebt hatte, wie sie dort eng mit ihren Familien miteinander leben, bekam ich schließlich doch ein wenig Heimweh. Nicht nach meinem Bruder natürlich. Aber ich beschloss, meinem Vater einen kurzen Besuch abzustatten und ihm zu sagen, dass ich am Leben bin und dass ich glücklich bin, so wie ich jetzt lebe. Allerdings bin ich dazu noch nicht gekommen."
"Weshalb?"
"Weil die große Halle von Arandol, der Herrschersitz der Pinnath Gelin, seit Wochen vollständig abgeriegelt ist. Niemand kommt rein oder raus. Und niemand hat die Adeligen die dort wohnen, seither gesehen. Auch meine Familie nicht. Die einzigen, die die große Halle verlassen, sind Soldaten oder Bedienstete, die meinem Bruder inzwischen vollkommen ergeben sind. Herr Elatan mag dem Namen nach Herrscher der Pinnath Gelin sein, doch in Wahrheit besitzt Maegond die Befehlsgewalt, denn Elatan ist weit weg, in Dol Amroth."
"Und vermutlich würde es unsere Lage nur schlimmer machen, wenn wir einfach an die Tore der Halle klopfen würden, und Einlass verlangen würden, unter Ankündigung unserer Titel und unseres Auftrages," überlegte Lóminîth. "Wenn dieser Maegond die Stadt und das gesamte Lehen wirklich so sehr unter seiner Kontrolle hat, werden die Soldaten die Autorität eines Prinzen des verhassten Dol Amroths gewiss nicht anerkennen."
"Du bist ein Prinz von Dol Amroth?" fragt Magrochil erstaunt in Erchirions Richtung, der nickend bestätigte. Sie schüttelte den Kopf. "Sie würden dich einsperren, wenn du Glück hast. Und euch alle gleich mit."
"Was schlägst du stattdessen vor?" fragte Valion das Mädchen.
Sie blickte tatsächlich ein wenig betreten zu Boden. "So weit hatte ich noch nicht vorausgeplant," gab sie zu. "Ich sah, dass ihr als einige von wenigen Leuten nicht besonders begeistert von der Rede meines Bruders wart, und habe erkennen können, dass ihr nicht von hier seid. Also beschloss ich kurzerhand, euch um Hilfe zu bitten."
"Wir sind also unserem Ziel noch keinen Schritt näher gekommen," seufzte Valirë.

"Wenn Ihr entschuldigt, Herrschaften; ich habe womöglich einen Ausweg aus dieser prekären Lage gefunden," ertönte Gilvorns Stimme hinter ihnen. Keiner hatte gehört, wie der junge Jäger herangekommen war, und umso überraschter waren sie nun, ihn zu sehen.
"Wie ist es dir ergangen, Gilvorn? Was hast du herausgefunden?" fragte Valion.
"Die gesamte Stadt steht unter dem Kommando Maegonds von Haus Torchirion, einem Aufrührer, der..."
"Ja, wir wissen wer er ist. Weiter im Text," unterbrach Valirë die Erzählung.
"Nun, es ist mir gelungen, einen Weg ins Innere des Herrschersitzes zu finden, der aus einer großen Halle und einigen weiteren Gebäuden besteht, die von einer separaten Mauer innerhalb der Stadt umgeben ist und scharf bewacht wird. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um den alten Garnisonsstützpunkt, um den die Stadt herum in den letzten Jahrhunderten angewachsen ist. Jedenfalls gibt es an der Rückseite einen Dienstboteneingang, der nur von zwei Soldaten bewacht wird. Ich bin mir sicher, Menschen mit den eurigen Talenten wird es nicht allzu schwer fallen, die beiden außer Gefecht zu setzen, ohne die übrigen Wachen zu alarmieren."
Magrochils Gesicht hellte sich bei diesen Worten auf. "Natürlich! Dass ich nicht an den versteckten Dienstboteneingang gedacht habe..."
"Alleine wärst du dort wahrscheinlich sowieso nicht durchgekommen," meinte Lóminîth, die sich damit einen finsteren Blick von Magrochil einhandelte.
"Wer weiß. Ich hätte mir schon etwas einfallen gelassen. Aber wer ist er?" Sie zeigte auf Gilvorn und machte ein misstrauisches Gesicht.
"Er gehört zu uns. Gilvorn, dies ist Magrochil von Arandol, die uns unterstützen wird. Und dies ist Gilvorn, ein treuer Jäger von Lossarnach," stellte Erchirion die beiden einander vor.
"Sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, meine Dame," sagte Gilvorn und verbeugte sich. Magrochil hingegen verschränkte die Arme vor der Brust und gab nichts mehr als ein "Hmpf!" von sich.
"Ich sage, wir nutzen die Gelegenheit und sehen uns die große Halle von Innen an," fuhr Erchirion fort. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Adeligen die Taten Maegonds einfach so unterstützen. Wenn wir sie befreien, werden wir vielleicht genügend Unterstützer haben, um den unrechtmäßigen Herrscher dieser Stadt zu entthronen."
"Oder wir stellen ihm in seinem Machtsitz eine Falle und beenden seine Schreckensherrschaft auf die permanente Art und Weise." Valirës böses Lächeln ließ keinerlei Zweifel darüber zu, was sie mit diesen Worten meinte.
"Wir sind nicht hierher gekommen, um das Blut von Gondorern zu vergießen," erinnerte Valion seine Zwillingsschwester. "Wir beenden diesen Separatismus - auf friedliche Art und Weise."
Erchirion nickte zustimmen, während Valirë ein verstimmtes Gesicht machte. Doch sie fügte sich.

Vorsichtig bahnten sie sich (nun zu sechst) einen Weg durch die Stadt, geführt von Gilvorn, während Magrochil am Ende der Gruppe ging. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie eine steile Gasse erreichten, die sich zwischen einer Hauswand und der dicken Mauer hindurchschlängelte, die die alte Garnison von Arandol umgab. Zu ihrer aller Überraschung war von den beiden Wachposten keine Spur zu sehen, als sie vor der kleinen hölzernen Tür angekommen waren, die am Ende der Gasse lag. Gilvorn schob die Türe (die unverschlossen war) vorsichtig auf und spähte hinein. Gleich darauf gab er Entwarnung und winkte die Gruppe zu sich herüber. Als sie herangekommen waren, sahen sie, dass beide Soldaten regungslos auf dem Boden des Ganges lagen, der sich hinter der Tür befand.
"Es scheint, als ob das Glück uns heute besonders gewogen ist," sagte der Jäger. Er kniete sich neben die Soldaten und roch an ihnen. "Ich vermute, sie haben zuviel getrunken und sind in einen Streit geraten, der dazu führte, dass sie beide die Besinnung verloren haben. Kommt! Wir sollten besser bereits verschwunden sein, wenn diese Unglücklichen erwachen."
Rasch folgten sie ihm ins Innere, Valion als Letzter. Dabei fiel ihm auf, dass Magrochil verschwunden war. Er zögerte für einen Augenblick und überlegte, ob er zurück nach draußen gehen und nach ihr suchen sollte, doch der Rest der Gruppe war bereits tief in den Gang vorgedrungen und er würde sie aus den Augen verlieren, wenn er weiter wartete. Ich hab ein mieses Gefühl bei der Sache, dachte er, seufzte, und schloss dann rasch zu seinen Gefährten auf.
Der Gang endete schon bald an einer gewundenen Treppe, die aufwärts führte. Gilvorn, der noch immer voran ging, eilte die Stufen hinauf, und sie folgten ihm. Die Treppe war nicht beleuchtet, weshalb sie im Dunkeln angestrengt zu klettern begannen, um nicht zu stolpern. Valion tastete nach seinen Schwertern und war froh, dass beide noch immer an ihrem Platz waren. Er wusste nicht, was sie jetzt erwarten würde oder was sie finden würden.
Endlich erreichten sie das obere Ende der Treppe. Hier hing eine kleine Laterne, die nur wenig Licht spendete. Nur ein Durchang führte aus dem kleinen, runden Raum, in dem die Treppe geendet hatte, und dahinter lag Finsternis. Gilvorn trat hindurch und wurde von der Schwärze verschluckt. Ehe Valion etwas sagen konnte, rannte Valirë dem Jäger hinterher, gefolgt von Erchirion und kurz darauf auch Lóminîth. Es kam ihm vor, als hätten sie alle den Verstand verloren. Notgedrungen betrat nun auch Valion den Raum, der jenseits des Durchgangs lag.
In dem Augenblick, in dem er über die Schwelle trat, war es, als wäre urplötzlich die Sonne aufgegangen. Helles Licht blendete ihn und raubte Valion die Orientierung. Er machte zwei taumelnde Schritte vorwärts und prallte mit seiner Zwillingschwester zusammen, die an Ort und Stelle stehen geblieben war. Und während er noch versuchte, zwischen vor die Augen gehobenen Fingern etwas zu erkennen, ertönte eine Stimme, die sie alle erst vor wenigen Stunden vernommen hatten.
"Was für eine gelungene Überraschung," sagte Maegond, dessen Stimme von irgendwo oberhalb von Valions Position erklang. "Solch hohen Besuch hatte ich nun wirklich nicht erwartet, schon gar nicht um diese Tageszeit. Wenn das nicht Prinz Erchirion von Dol Amroth ist! Mitsamt seiner edlen Verlobten und ihrem tapferen Bruder! Und eine exotische Schönheit, die wohl das Bett des besagten Bruders teilt. Ich muss sagen, ich bin ein klein wenig gekränkt. Ihr hättet euch wirklich vorher ankündigen sollen, meine Herrschaften."
Endlich konnte Valion erkennen, wo er sich befand. Er stand inmitten einer gewaltigen Halle, deren Wände über zehn Meter hoch aufragten. Sie waren durch den Durchgang ungefähr in die vordere Hälfte der Halle geraten, bei der es sich unverkennbar um die große Halle der Herren der Pinnath Gelin handelte. Am hinteren Ende war ein erhöhter Sitz, der sich auf einem breiten Podium befand und dahinter hingen breite Banner mit dem Siegel der Pinnath Gelin und dem Fisch von Anfalas. Das Licht, das sie geblendet hatte, kam aus großen, blau verglasten Fenstern, die den Großteil der Seitenwände einnahmen und die von breiten Vorhängen verhüllt gewesen waren. Auf halber Höhe der Fenster verlief rings um die Innenwand der Halle ein Balkon, auf dem Soldaten mit gespannten Bögen standen. Und während Valion die Szene noch zu begreifen versuchte, füllte sich auch die untere Ebene der Halle mit Soldaten, deren Speere und Schwerter die Gruppe umzingelten und in Schach hielten. Als Valion sich hastig umdrehte, sah er aus dem Durchang, der zum oberen Ende der Wendeltreppe führte, über die sie die Halle betreten hatten, jene beiden Soldaten kommen, die sie zuvor im bewusstlosen Zustand hinter sich gelassen hatten. Spätestens jetzt wurde ihm klar, wie sie in diese Lage geraten waren.
Maegond, der Anführer der Aufrührer, stand mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht in der Mitte des Balkons. Und unterhalb seiner Position stand Gilvorn, der junge Jäger von Lossarnach. Inmitten der Soldaten, die Platz für ihn machten. Keine Klinge zeigte in seine Richtung. In der Hand hielt er den Dolch, der vor wenigen Tagen in der Brust des Alten Luchses gesteckt hatte. Lässig warf er die Klinge in die Luft und fing sie geschickt wieder auf. Ein bösartiger Ausdruck umspielte seine Lippen.
Valirë war die Erste, die die Sprache wiederfand. "Verräter!" schrie sie Gilvorn an. "Du hast uns in die Falle gelockt!"
"Ihr habt es mir nicht sonderlich schwer gemacht," gab der Angesprochene süffisant zurück. "Wie eine Horde Schafe seid ihr mir auf Schritt und Tritt gefolgt. Direkt in euer Verderben." In seiner Stimme war nichts mehr von dem Respekt zu hören, den er zuvor stets gezeigt hatte. Er hatte die Maske fallen lassen.
"Maegond! Du weißt, wer ich bin, und welche Autorität ich besitze. Im Namen von Dol Amroth befehle ich dir, diesen Aufstand gegen meinen Vater augenblick zu beenden! Wenn du dich fügst, wird dir Strafe womöglich milde ausfallen." Erchirion stand aufrecht da und wirkte in jenem Augenblick beinahe wie ein König, der seinem fehlgeleiteten Untertan eine letzte Chance gibt.
Doch Maegond lachte nur. "Deine Autorität erkenne ich nicht an, mein Prinz. Du besitzt keine Macht hier, Erchirion von Dol Amroth. Eine neue Macht erhebt sich in Gondor. Eine, die sich nicht länger von den arroganten Prinzen von Dol Amroth herumkommandieren lässt. Eine, die weise genug ist, zu erkennen, wann ein Krieg nicht mehr zu gewinnen ist."
"Wenn du mit Mordor verhandelst, wirst du nichts als Verderben über dieses Land bringen!" rief Valion.
Valirë hatte inzwischen ihr Schwert gezogen und schien drauf und dran, sich ohne Rücksicht auf Verluste auf die Soldaten zu stürzen. Nur mit Mühe gelang es Erchirion und Lóminîth, sie zurückzuhalten.
"Ich habe genug gehört," sagte Maegond. "Ergreift sie, und werft sie ins Verlies." Mit einem Blick auf Lóminîth fügte er hinzu: "Und bringt diese Korsarenschlampe in meine Gemächer!"

Fine:
Die Verliese von Arandol waren, soweit Valion wusste, einst von den Soldaten der gondorischen Garnison dafür genutzt worden, um gefangene Eindringlinge aus den Landen jenseits des Cirith Minuial zu verhören und zu foltern. Erchirion und Valion waren glücklicherweise in dieselbe Zelle geworfen worden, während man Lóminîth in die Gemächer des Herrn der Pinnath Gelin gebracht hatte, die Maegond nun beanspruchte. Valirë, die sich heftig gegen ihre Ergreifung gewehrt hatte, war ebenfalls in den Verliesen gelandet, war jedoch früh von ihrem Bruder getrennt worden. Valion wusste nicht, wo sie sich nun befand.
Die Zellen lagen im Gegensatz zu Valions Erwartungen nicht etwa im Keller, sondern in den obersten Stockwerken eines der großen, eckigen Türme der alten Garnisonsfestung, die nun den Machtsitz innerhalb Arandols darstellte. Deshalb gab es auch nur einen einzigen Ausgang aus diesem Gefängnis, und der führte die Treppe hinab durch mehrere schwer bewachte Türen hindurch. Obwohl sie sich weit oberhalb der Straßen der Stadt befanden, waren die Zellen dennoch muffig und dunkel, denn nur ein sehr kleines Fenster auf Brusthöhe ließ etwas Licht hinein. Es gab wenig Platz in dem kleinen Raum, dessen drei Wände aus hartem, grob verputztem Stein bestanden. Die vierte Wand bestand aus eisernen Stangen und war zur Mitte des Turms hin gelegen, wo eine viereckige Galerie rings um die zentrale Treppe angelegt worden war. Das verkürzte den Fußweg der Gefängniswärter, die die Treppe nur einmal umrunden mussten, um alle Zellen auf diesem Stockwerk zu begutachten.
Soweit Valion erkennen konnte, waren die übrigen Zellen leer. Zwei Fackeln brannten am Treppenaufgang und spendeten ein unregelmäßig flackerndes Licht, und es verging kaum eine halbe Stunde, in der nicht mindestens ein Gefängniswärter vorbeikam. Diese Wachen sagten kein Wort, sondern warfen einfach nur einen prüfenden Blick auf die beiden Gefangenen, ehe sie wieder von dannen zogen.

Valion ging es nicht aus dem Kopf, wie sie so kurzsichtig hatten sein können. Sie hatten Gilvorn, dem Verräter, blind vertraut und er hatte sie geradewegs in die Falle gelockt. In Nan Faerrim hatte Valion nicht einmal daran gedacht, dass es womöglich der junge Jäger gewesen sein konnte, der den alten Maecar ermordet hatte. Obwohl er Gilvorn nicht gekannt hatte, hatte er ihm ohne zu zögern vertraut und ihn nicht verdächtigt. Keiner von ihnen war stutzig geworden, als sie mit lächerlicher Einfachheit in Maegonds Burg eingedrungen waren; sie hatten nicht einmal überprüft, ob die beiden Wachen am Seiteneingang tatsächlich betäubt waren. Ein Teil von Valion fand, dass sie verdient hatten, was nun geschehen war.
Doch dann musste er an seine Verlobte denken. Gerade jetzt befand sie sich vermutlich in Maegonds Gemächern und musste unerwünschte Berührungen und wahrscheinlich noch Schlimmeres über sich ergehen lassen. Frustriert packte Valion die eisernen Stangen, die ihm den Weg in die Freiheit versperrten, und rüttelte mit aller Kraft daran. Vielleicht würden sie sich irgendwie lockern lassen...
“Das habe ich schon versucht. Es hat keinen Zweck,” sagte Erchirion niedergeschlagen. Der Prinz saß in sich zusammengesunken mit dem Rücken an die Außenwand gelehnt direkt unter dem Fenster und starrte zu Boden.
“Ich will mir gar nicht ausmalen, wie sich diese Gefängniswärter gerade an Valirë vergehen.”
Daran hatte Valion gar nicht gedacht. “Das würden sie nicht wagen,” stieß er hervor. “Sie ist eine Adelige Gondors.”
“Wie wir steht sie für den Teil Gondors, den diese Menschen ablehnen,” erwiderte Erchirion bedrückt. “Diese Kerle sind einfache Leute. Sich an einer Adeligen zu rächen, die all das hatte, was sie nicht haben, ist gewiss eine Gelegenheit, die sie nicht auslassen werden...”
Valion hielt den Atem an und lauschte. Die Treppe hinauf drangen kaum Geräusche. Er konzentrierte sich und schloss die Augen. Da waren Schritte, die sich langsam und schlurfend hin und her bewegten, und leise, kaum verständliche Gesprächsfetzen. Er hörte nichts, was auf einen gewaltsamen Akt hindeuten ließ.
“Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf Rettung zu hoffen,” sagte Erchirion.
“Und wer wird kommen?” fragte Valion zurück.
“Nun, es ist zwar eine schwache Hoffnung, aber... Magrochil, das Mädchen das wir in der Stadt trafen, verschwand, ehe wir die Burg betraten. Dies ist ihre Heimat. Vielleicht gelingt es ihr, ungesehen zu uns zu gelangen...”
“Das bezweifle ich,” sagte Valion, doch er stellte fest, dass er tatsächlich etwas Hoffnung zu schöpfen begann. Er hatte Magrochil ganz vergessen. Wie Erchirion gesagt hatte, war sie ihnen nicht ins Innere der Burg gefolgt sondern spurlos verschwunden, ehe sie Gilvorn in die Falle gefolgt waren. Sie hat klüger als wir alle gehandelt und Gilvorn nicht vertraut, dachte Valion.

Eine Stunde verging, dann eine weitere. Noch immer war nichts zu hören, was auf Valirë hinzudeuten schien. Valion war inzwischen der Ansicht, dass sie seine Zwillingsschwester in einen anderen Teil der Burg gebracht hatten. Womöglich teilte sie inzwischen das Schicksal Lóminîths. Was immerhin bedeuten würde, dass sich “nur” ein Mann an ihr vergreifen würde, und nicht mehrere.
Ein schwacher Trost, dachte Valion gerade, als ihn ein neues Geräusch aufschrecken ließ. Die Treppe, die hinauf zu ihrem Stockwerk führte, knarzte unter dem Gewicht mehrerer Personen. Zwei Gefängniswärter tauchten am oberen Ende auf, gefolgt von einer wohl bekannten Gestalt.
Gilvorn blieb vor dem Gitter stehen, das ihn von Valion und Erchirion trennte. “Ihr könnt gehen,” sagte er zu den beiden Wächtern, die ihn begleitet hatten.
“Was willst du, Verräter?” knurrte Valion. Auch Erchirion hob den Kopf, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht.
“Nun, ich dachte mir, es wäre nett, vielleicht ein paar Worte mit Euch zu wechseln. Zu erklären, weshalb Ihr Euch hier befindet. Und Euch über die Lage, in der sich Eure weiblichen Begleiterinnen befinden, zu informieren.”
“Ich schwöre dir, wenn du einer von beiden auch nur ein einziges Haar gekrümmt hast...”
“Eurer Schwester wurden vermutlich mehrere Haare gekrümmt, und mehr als das. Sie hat sich heftig gegen ihre Gefangennahme gewehrt. Im Augenblick ist sie ohne Bewusstsein und befindet sich in der Obhut der Herrin dieser Burg - Fürst Elatans Weib, Herrin Nengwen, die sich gut um sie kümmern wird. Viel mehr als ein paar blaue Flecken, Prellungen und eine leichte Gehirnerschütterung hat sie vermutlich nicht erlitten.”
“Was soll das? Was habt ihr mit ihr vor?” Erchirion war aufgesprungen und stand nun mit zu Fäusten geballten Händen Gilvorn gegenüber am Gitter.
“Sie ist noch immer eine hochrangige Adelige, auch wenn sie für die falsche Seite gekämpft hat. Ihr Name hat Gewicht. Eine Vermählung mit dem Erben der Pinnath Gelin würde für viel Wohlwollen auf Maegonds Seite sorgen.”
“Das... das würde er nicht wagen,” stieß Erchirion hervor.
“Dol Amroth hat Gondor verraten und der falsche Truchsess besitzt nicht länger die Autorität, legitime Vermählungen zu beschließen. Die Verlobung zwischen ihr und Euch ist in den Augen der freien Gondorer nichtig.”
“Was ist mit Lóminîth?” mischte Valion sich ein, der einigermaßen froh war, dass seine Schwester für den Moment in Sicherheit zu sein schien.
“Nun, ihre Herkunft ist selbstverständlich ein Problem. Im Augenblick genießt sie die Gastfreundschaft des Herrn der Pinnath Gelin. Wie es im Anschluss weitergehen wird, hängt vermutlich von ihrem... Verhalten ab.”
Valions Hand schoss vor, um Gilvorn durch die Gitter hindurch zu packen, doch der junge Jäger trat rasch einen Schritt zurück. “Ich werde einen Weg hier heraus finden, und dann bringe ich dich um. Dafür, dass du meinen Großvater ermordet hast, wirst du langsam und schmerzhaft sterben,” drohte Valion.
Gilvorn gelang es tatsächlich, betroffen zu wirken. “Maecars Tod habe ich bedauert. Er war ein gutherziger und freundlicher alter Mann.”
“Warum hast du ihn dann umgebracht? Er hat dir ein neues Leben ermöglicht und dir eine Heimat gegeben!”
“Meine Heimat ist noch immer Lossarnach,” antwortete Gilvorn mit fester Stimme. “Und mein Volk braucht mich. Es braucht Frieden. Die Horden Mordors werden immer wieder und wieder angreifen und erst damit aufhören, wenn Dol Amroth diesen hoffnungslosen Widerstand endlich aufgibt. Erst dann wird mein Volk wieder in Frieden in seiner Heimat leben können.”
“Das ist also dein Grund für all das,” stellte Erchirion trocken fest. “Du hilfst diesem... Wahnsinnigen, weil...”
“...weil es das Beste für meine Landsleute ist,” fiel ihm Gilvorn ins Wort. Er sprach mit Nachdruck und schien wirklich fest daran zu glauben, was er sagte. “Die Menschen von Lossarnach leiden unter dem Joch Mordors. Daran sind allein die aufsässigen Fürsten Gondors Schuld, die den Aufstand in Minas Tirith verursacht haben und nicht aufhören, Mordor Widerstand zu leisten. Für jeden Ork, den die Schwanenritter erschlagen, rächen sich die Besatzer blutig an meinem Volk. Das muss endlich aufhören.”
“Die Herrschaft Mordors wird niemals Frieden bedeuten,” widersprach Valion, der sich in Erinnerung rief, was mit dem Ethir geschehen war. Seine Heimat, die Burg Belegarth, war nun nicht mehr als eine rauchende Ruine.
“Oh doch, das wird sie. Das hat sie bereits. Zwei Jahre herrschte Frieden in Minas Tirith, Lossarnach und Lebennin. Truchsess Herumor war weise und gerecht, und unter seiner Herrschaft konnten die Menschen Gondors ihre Leben beinahe wie zuvor weiterleben. Was sind schon einige Abgaben pro Jahr, wenn sie Frieden bedeuten? Dieser närrische Aufstand hat alles zerstört.”
“Und du denkst, wenn du Maegond hilfst, hilfst du deinem Volk? Gilvorn, das ist ein gewaltiger Fehler.”
“Nein, es ergibt Sinn,” antwortete der Jäger. “Ohne die Unterstützung aus Anfalas und den Westgebieten kann sich Dol Amroth nicht lange halten. Der Widerstand wird zerbrochen werden und ganz Gondor wird Mordor unterworfen werden. Dann werden wir endlich Frieden haben. Frieden für Lossarnach und Gondor.”
“Das ist Wahnsinn,” widersprach Erchirion. “Dol Amroth ist alles, was den endgültigen Untergang Gondors noch aufhält und verhindert, dass seine Bewohner alle zu Sklaven des Dunklen Herrschers werden!”
“Glaube, was du willst, mein Prinz,” erwiderte Gilvorn unbeirrt. “Ich habe getan, was ich tun musste. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr die Separatistenbewegung zerschlagt, weshalb ihr nun hier bleiben werdet, bis Friede eingekehrt ist. Ich will niemandem Leid zufügen, doch ich werde tun, was für mein Volk notwendig ist. Man wird euch gut behandeln. Maegond, dieser selbstgefällige Narr, mag andere Pläne für euch haben, doch ich für meinen Teil sehe mich nicht als euren Feind an.”
“Du machst einen gewaltigen Fehler, Junge,” presste Valion hervor.
“Ihr seid es, die einen Fehler begangen habt. Ihr werdet genügend Zeit haben, um darüber nachzudenken, schätze ich...”
Damit wandte Gilvorn sich ab und verschwand die Treppe hinab.

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