Valion, Ardóneth, Rinheryn und Areneth aus AnórienValion lehnte sich erschöpft gegen die eiserne Türe, die er gerade hinter sich geschlossen hatte. Mit Mühe und Not war es ihnen gelungen, in das verlassene Haus im fünften Ring von Minas Tirith zu gelangen. Er atmete tief durch und war froh, dass sich die Dúnedain-Geschwister so gut in der Weißen Stadt und insbesondere im Untergrund von Minas Tirith auskannten.
Zu viert hätten sie sich der einstigen Hauptstadt Gondors im Morgengrauen genähert, als die Sonne gerade über den Bergen Mordors aufgegangen war und mit ihren tief liegenden Stahlen die Wachen auf den Mauern geblendet hatte. Sie hatten die äußere Mauer mit einem Seil an der Stelle erklettert, wo sie im Norden auf die Felswände des Mindolluin-Berges stieß. So waren sie einer nach dem anderen in den ersten Ring von Minas Tirith gelangt.
Die Stadt hatten sie größtenteils verlassen vorgefunden. Nur noch wenige Menschen schienen sich dort aufzuhalten, die meisten von ihnen waren Zwangsarbeiter, die an der Instandsetzung der Rammas Echor-Mauer arbeiteten. Abgesehen davon gab es einige durch die Straßen patrouillierende Orks, doch der Großteil der Besatzungsstreitmacht musste entweder nach Anórien oder in Richtung Linhir abkommandiert worden sein. So war es den vier Gefährten gelungen, sich bis in den vierten Ring zu schleichen. Dort angekommen war es Areneth gewesen, die ihnen den in einer engen Gasse verborgenen Eingang zur Kanalisation gezeigt hatte. Beinahe eine halbe Stunde waren sie der jungen Frau durch übel riechende, viel zu niedrige Gänge gefolgt, bis sie durch eine mit einem eisernen Schloss verriegelte Falltür in einen verlassenen, ummauerten Hof gekommen waren. Und dort fanden sie das Haus, in dem sie sich nun ausruhten.
„Dies ist das Haus meines Vaters,“ erklärte Areneth. Sie spähte vorsichtig aus einem der Fenster hinaus und duckte sich rasch, als eine Horde Orks auf der dahinter liegenden Straße vorbeimarschierte. „Mein Bruder durchsucht es bereits nach dem Gegenstand, wegen dem wir hierher gekommen sind. Ich bin mir sicher, er wird ihn schon bald gefunden haben.“
Valion nahm diese Information recht gleichgültig hin. Er war froh darüber, die Dúnedain-Geschwister getroffen zu haben, denn ohne ihre Hilfe wäre es ihm und Rinya vermutlich deutlich schwerer gefallen, in die Weiße Stadt zu gelangen. Doch weshalb sie in ihrem ehemaligen Haus nach einem alten Erbstück oder etwas in der Art suchten, interessierte Valion nicht wirklich. Ihm ging es um Gilvorn, der sich irgendwo in Minas Tirith herumtreiben musste.
Areneth verließ ihren Posten am Fenster, um ihrem Bruder bei der Suche zu helfen. Gleichzeitig betrat Rinheryn das Eingangszimmer, in dem Valion saß und versuchte, einen Plan zu schmieden.
„Ich bin mir sicher, der Verräter ist oben in der Zitadelle,“ sagte Duinhirs Tochter, als hätte sie Valions Gedanken gelesen. „Der Rest der Stadt scheint leer zu sein, bis auf ein paar Orks und die armen Gefangenen, die Frondienst leisten müssen. Vom Weißen Turm hängt das Banner des Roten Auges, aber darunter habe ich noch ein zweites Abzeichen im Wind flattern gesehen. Es war keine mir bekannte Flagge, aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie gehört dem Kommandanten, der hier den Befehl führt.“
„Dann wird Gilvorn ihm bestimmt Bericht erstatten,“ führte Valion den Gedankengang weiter. „Also ist die Zitadelle unser Ziel.“
In diesem Moment kehrte Areneth zurück. Offenbar hatte sie den letzten Satz mit angehört, denn sie machte ein besorgtes Gesicht. „Ich glaube nicht, dass ihr ungesehen in die Zitadelle gelangen werdet,“ sagte sie.
„Ich hätte da vielleicht eine Idee, wenn es darum geht, Gilvorn hervorzulocken,“ sagte eine neue Stimme. Es war Ardóneth, der im Türrahmen des Treppenhauses lehnte. „Doch zunächst benötige ich eure Hilfe. Acht Augen sehen mehr als nur zwei, und dieses Haus hat viele Verstecke, in denen sich das, wonach ich suche, verbergen könnte. Sobald wir es gefunden haben, sorge ich dafür, dass Gilvorn hierher kommt - dann können wir ihm eine Falle stellen.“
„Wonach genau suchen wir eigentlich?“ wollte Rinheryn wissen, ehe sie damit begannen, das Haus auf dem Kopf zu stellen.
Areneth zog einen großen Schlüssel hervor. „Dies ist einer von vier Schlüsseln, die Zugang zu einem geheimen Ort im Norden bieten. Hier im Haus ist ein weiterer davon versteckt. Seht ihn euch genau an und prägt euch sein Aussehen ein.“
Der Schlüssel wirkte auf Valion etwas größer als ein gewöhnliches Exemplar, ansonsten war nichts ungewöhnliches daran zu entdecken. Der Griff war mit einem eingravierten Symbol des Weißen Baumes von Gondor verziert und er bestand aus dunklem Metall. Nachdem sie sich den Schlüssel gründlich angesehen hatten, begannen sie mit der Suche.
Es dauerte geschlagene drei Stunden, bis sie die Suche beendeten. Es war Areneth, die am Ende Erfolg hatte und unter einer losen Fliese im Keller des Hauses den gesuchten Schüssel entdeckte.
„Jetzt sind wir Gilgroth endlich einen Schritt näher gekommen,“ wisperte sie, was ihr einen warnenden Blick von ihrem Bruder einbrachte. Ardóneth nahm den Schlüssel entgegen und nickte zufrieden, ehe er sagte: „Wartet hier auf mich. Wenn ich Erfolg habe, kehre ich in ungefähr einer Stunde zurück und Gilvorn wird mir dicht auf den Fersen sein. Seht zu, dass ihr einen Hinterhalt legt, aus dem er nicht entkommen kann, und dass ihr euch bis zu meiner Rückkehr nicht entdecken lasst!“
Die Stunde des Wartens verging quälend langsam. Sie bewaffneten sich und hielten sich bereit, doch Ardóneths Rückkehr dauerte an. Areneth, die ihren Bogen und einen vollen Köcher griffbereit hielt, konnte man ansehen, dass sie sich große Sorgen um ihren Bruder machte. Umso erleichterter war sie, als es endlich an der eisernen Türe klopfte, die zur Straße führte.
Vorsichtig öffnete Valion die Türe - und fand sich Auge in Auge mit einem Anblick wieder, das ihn jegliche Zurückhaltung vergessen ließ. Dort stand ein Mensch in schwarzer Rüstung nach Art der Diener Saurons. Ein Helm schützte seinen Kopf, doch die Augen, die Valion durch das Visier hindurch anstarrten, waren nicht zu verwechseln. Ein Feuer brannte in ihnen, das Valions Zorn noch verstärkte. Es bestand kein Zweifel. Vor ihm stand der Mann, der bei der Eroberung Pelargirs Amlan, den Vater von Valion und seiner Schwester getötet hatte. Offenbar handelte es sich bei ihm um einen der Kommandaten der Garnison von Minas Tirith.
Valion handelte, ohne nachzudenken. Er sprang vorwärts, beide Schwerter ziehend. Hinter ihm regte sich Rinheryn, die die Türe offen hielt. Ein Pfeil von Areneth zischte daraus hervor und sauste knapp an Valions Gesicht vorbei. Dieser stürzte sich auf seinen Feind, erfüllt von Rachsucht und Zorn. Zwei Klingen sausten auf den ungeschützten Hals des Mannes zu. Dieser gab ein verächtliches Schnauben von sich und parierte den Angriff mit seiner eigenen Waffe, einem Langschwert, das mit Runen in der Sprache Mordors beschriftet war. Dann versetzte er Valion mit dem gepanzerten Handschuh einen Schlag gegen die Brust, welcher den Gondorer zurücktaumeln ließ. Ein rascher Blick zeigte ihm die Lage, in die er da geraten war. Sie standen wenige Schritte außerhalb des Hauses, in dem sie sich versteckt gehalten hatten, umgeben von einem guten Dutzend Orks. Areneth hatte bereits zwei davon gefällt, doch der Rest drang nun gegen die beiden Frauen vor und Rinheryn hatte einige Schwierigkeiten, sie abzuwehren.
„Mein Herr Balkazîr!“ rief jemand. Es war Gilvorn, der zwischen den Orks aufgetaucht war. Er zerrte Ardóneth mit sich, der gefesselt war, doch in jenem Moment der Unachtsamkeit, als Gilvorn Valion entdeckte und sich ein grausames Lächeln die Lippen des Verräters stahl, lösten sich die Fesseln des Waldläufers, die er mit einer versteckten Klinge zerschnitten hatte. Ardóneth entriss Gilvorn sein Schwert und ging auf die Orks los, die seine Schwester bedrohten. Chaos breitete sich aus, denn um die Ecke der Straße war gerade eine weitere Gruppe von Orks gebogen, die einige der Zwangsarbeiter eskortierten. Als die gefangenen Gondorer das Gefecht sahen, nutzten sie die Gelegenheit und gingen auf ihre Unterdrücker los, sich mit Händen und Füßen wehrend.
Valion hatte nur noch Augen für Balkazîr, den Mörder seines Vaters. Er schwor sich, Amlans Tod zu rächen und seinen Feind hier und jetzt zu erschlagen. Alles andere war in jenem Moment unwichtig. Ein rascher Blick nach hinten zeigte ihm, dass Rinheryn und die Dúnedain-Geschwister zwar von Orks umringt waren, ihre Stellung jedoch behaupten konnten. Sie würden zurecht kommen, da war Valion sich sicher. Er packte seine Schwerter mit finsterer Entschlossenheit und ging erneut zum Angriff über.