Edrahil vom Hafen
Valion und Valirë aus Minûlîths AnwesenAls die Zwillinge am nächsten Morgen eintrafen, hatte Edrahil bereits ein karges Frühstück zu sich genommen, und wartete nun ungeduldig auf sein Helfer, während er wieder einmal sämtliche Informationen durchging die er inzwischen gesammelt hatte. Es war nicht viel, aber ein Anfang. Als der Türknauf gedreht wurde und Valion und Valirë hereinkamen, hob der nur leicht den Kopf, und fragte: "Habt ihr den Schlüssel?"
"Hier ist er," sagte Valion in zufriedenem Tonfall, öffnete die Faust und legte den Schlüsel vor Edrahil auf den Tisch.
Edrahil gestattete sich ein zufriedenes Lächeln, und schloss die Hand um den Schlüssel. "Sehr gut. Und jetzt wüsste ich gerne alles, was ihr mir über Minûlîth erzählen könnt, und was sie von mir will." Der letzte Teil war lediglich eine Vermutung, doch Edrahil war sich sicher dass diese Frau bereits im Voraus von ihm gewusst hatte, und irgendetwas mit ihm vorhatte. Und dann war da noch der Name, der unschöne Vermutungen in ihm auslöste...
"Sie ist offenbar eine einflussreiche und sehr wohlhabende Persönlichkeit," beantwortete Valirë seine Frage. "Und sie legt wert auf
angemessene Kleidung."
Die Betonung ließ ihren Bruder mit den Augen rollen und er übernahm. "Wir trafen Herrin Minûlîth als wir auf der Flucht vor der Stadtwache waren..."
Edrahil unterbrach ihn mit einem scharfen Blick. "Ihr wart auf der Flucht vor der Stadtwache? Wieso?" Offenbar zogen die Zwillinge Ärger magisch an... wenn es nicht ihre eigene Schuld gewesen war.
"Das liegt an dem Schlüssel," sagte Valirë als würde das alles erklären.
"Wir beschafften ihn von Wahab, der sich wie vermutet als Feigling herausstellte," setzte Valion den Bericht fort. "Auf dem Rückweg hierher wurde der Schlüssel allerdings von Mustqîm gestohlen, den wir einige Zeit verfolgen mussten. Als wir ihn gerade verhören wollten kam zu unserem Unglück eine Gruppe Wachen vorbei, für die das Ganze natürlich wie ein Überfall aussah. Wir mussten die Flucht ergreifen."
Mustqîm! Spätestens jetzt war Edrahil sich sicher, dass der Überfall auf Bayyin und der Diebstahl seiner Tasche keineswegs ein Zufall gewesen war, und dass Mustqîm oder sein Auftraggeber genau über den Inhalt der Tasche Bescheid gewusst hatten. Zwei Fragen blieben allerdings noch: Woher, und Warum?
Edrahil nickte knapp, und sagte: "Gut,weiter." Er konnte die Zwillinge kaum dafür verantwortlich machen, dass dieser Mustqîm über alle ihre Schritte Bescheid zu wissen schien, und immerhin war es ihnen gelungen dern Schlüssel zu verteidigen.
"Wir versuchten, die Wachen abzuhängen, doch es wurden immer mehr," fuhr Valion fort. "Doch als wir ins Adelsviertel gelangten gab uns eine Fremde die Gelegenheit, in einem Versteck außer Sicht zu gelangen. Diese Fremde stellte sich uns als Minûlîth vom Haus Minulzîr vor. Wir haben die letzten beiden Tage in ihrem Anwesen ihre Gastfreundschaft genossen. Sie ist eine Feindin Hasaels und würde seinen Sturz begrüßen. Wie Ihr bereits erkannt habt wusste sie über Eure Anwesenheit in Umbar Bescheid und kannte sogar Euren Namen, Edrahil."
"So geheim ist Eure ganze Arbeit wohl doch nicht geblieben," sagte Valirë, die sich offenbar diesen Kommentar nicht verkneifen konnte.
"Anscheinend nicht... wenn auch deutlich geheimer als eure", gab Edrahil mit ungerührter Miene zurück, auch wenn es ihn beunruhigte wie gut diese Adlige informiert zu sein schien. Er fragte sich, wie viel genau sie wusste. "Außerdem... ihr scheint euch sehr sicher zu sein, was diese Minûlîth und ihre Absichten angeht. Ist euch an ihrem Namen und dem ihres Hauses nichts aufgefallen?"
"Sie sagte, es sind alte númenorische Namen. Was soll daran auffällig sein? Viele in Gondor haben ähnliche Namen," meinte Valion.
"Sollten wir uns Sorgen machen?" fragte Valirë, die Edrahil aufmerksam musterte. "Euer Tonfall lässt das zumindest vermuten. Minûlîth sagte, dass ihr Vorfahr Minluzîr von Haus Balákar abstammte. Vielleicht sagt Euch das etwas mehr?"
"Ihr müsst zweierlei bedenken", sagte Edrahil und beugte sich leicht vor. "Die Adligen von Gondor bevorzugen die Sindarin-Form ihrer Namen, und zwar seit dem Fall von Númenor - um sich als Getreue von den Männern des Königs abzuheben. Und wir sind hier in Umbar, dem alten Haupthafen der Könige von Númenor. Aus diesen beiden Dingen folgt für mich ganz einfach, dass ihr im Haus Schwarzer Númenorer zu Gast gewesen seid. Also von Leuten die Mordor dienen und Sauron als Gott verehren. Daher ist es, denke ich, angebracht ein wenig misstrauisch zu sein."
Die Zwillinge schreckten sichtbar auf und besonders in Valirës Augen konnte Edrahil zum ersten Mal sogar einen Bruchteil einer Sekunde lang so etwas wie Angst erkennen. Valion hingegen fand seine Fassung schneller wieder.
"Sie wirkte eher gemäßigt und schien keinen Hass auf Gondor zu hegen," sagte er langsam. "Ihrer Schwester Lóminîth hingegen schien durchaus eine gewisse Dunkelheit zu umgeben, nun wo Ihr es erwähnt..." Der Junge schien einen Augenblick nachzudenken, fuhr dann jedoch fort: "Ich denke, Minûlîths Familie hatte sicherlich einige Verbindungen zu mordortreuen Númenorern, glaube jedoch dass es sich bei ihr selbst anders verhält. Was wir bisher vergaßen zu erwähnen ist Minûlîths Sohn Túor, der ... nun, der offenbar der Erbe von Tol Thelyn zu sein scheint."
Edrahil hörte gespannt zu, und meinte dann: "Nun, das ändert... wenn auch nicht alles, so doch einiges. Wenn ihr vom
Erben von Tol Thelyn sprecht, dann meint ihr vermutlich den Sohn dieses Thorongil, denn ihr auf der Insel getroffen habt?" Die Zwillinge nickten, und Edrahil dachte nach. "Nachdem, was ihr mir erzählt habt kann ich mir tatsächlich vorstellen dass Minûlîth zumindest einiges von dem, was sie euch erzählt hat, ernst gemeint hat. Vielleicht sollte ich mich selbst mit ihr treffen... aber nicht heute." Er warf einen Blick aus dem Fenster, denn obwohl die Neuigkeiten der beiden äußerst interessant und vermutlich auch wichtig waren, war die Zeit bereits fortgeschritten und sie würden sich beeilen müssen, rechtzeitig im Lagerhaus am Hafen einzutreffen.
"Bayyin", sagte er über die Schulter, und der Schreiber kam aus dem Nebenraum heran, wurde bei Valirës Anblick rot und blieb stehen. Edrahil gab vor, nichts zu bemerken, sondern warf ihm nur den erbeuteten Bibliotheksschlüssel zu. "Hier, der Schlüssel. Unternimm nichts alleine." Der Blick, den ihm der Schreiber zuwarf, fragte eindeutig
Hältst du mich für dumm?, doch Edrahil ging nicht darauf ein und stand auf. "Auch wenn ihr gerade erst angekommen seid, wird es schon wieder Zeit zu gehen. Zeit, Freundschaft mit Umbars Unterwelt zu schließen."
Die Zwillinge und Edrahil zurück auf die Straßen Umbars...