Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gondor (West)
Tum-en-Dín
Eandril:
Hilgorn mit Serelloth und Ta-er aus Linhir
Da Hilgorn jetzt nur mit fünf Begleitern unterwegs war - Serelloth, Ta-er, und drei der fünf Soldaten seiner Eskorte - schlug er nicht die Hauptstraße entlang der Küste von Belfalas nach Dol Amroth ein, sondern wählte den schmaleren, aber direkteren Weg durch die Berge von Dor-en-Ernil. Nur wenig südlich von der Bucht, in der die Thoroval gelegen hatte, zweigte ein schmaler Weg von der Hauptstraße nach Westen ab, auf die Berge zu, und führte über einen schmalen Pass hinauf auf eine weite Hochebene, umgeben von Bergen. Hier oben kamen sie schneller voran, und durchquerten schon bald das Dorf Cûm Tangad, das auf einem Hügel im Zentrum der Hochebene lag. Die Sonne begann hinter den Bergen zu versinken, als sie die Berge im Westen erreichten, die sich noch mehrere hundert Meter über die Ebene erhoben. Ein schmaler, steiniger Pass wand sich in Serpentinen zwischen zwei steilen Hängen hinauf.
"Es wird Nacht", bemerkte Ta-er schließlich ruhig, kurz bevor sie die Höhe des Passes erreichten. "Ich hoffe, ihr habt bereits einen Lagerplatz im Sinn, denn nach dem Sturm in der letzten Nacht ist es ein wenig länger her, dass wir mehr als einige Augenblicke Schlaf bekommen haben."
"Mir geht es nicht anders", entgegnete Hilgorn über die Schulter, und lenkte Nacht um einen mächtigen Felsen herum. "Das letzte Mal geschlafen habe ich vor zwei Tagen, und wir haben die ganze letzte Nacht gekämpft." Hier, in der Einsamkeit und Stille der Berge schien der Krieg weit weg zu sein, doch Hilgorn vergaß die Gefahr nicht, die noch immer von Osten drohte. Deswegen hatte er sie nicht in Cûm Tangad rasten lassen, sondern weitergeführt, obwohl die Erschöpfung ihm mit jedem Augenblick tiefer in die Knochen kroch. "Aber sorgt euch nicht", fuhr er fort. "Auf der anderen Seite dieses Passes liegt ein Dorf, in dem wir die Nacht verbringen können."
Nur kurze Zeit später erreichten sie die Passhöhe, und konnten hinunter auf das Tal dahinter blicken. Zu ihrer linken plätscherte ein kleiner Bach die Felsen hinunter, und auf dem Talgrund lag am Ufer des sich dort verbreiternden Gewässers ein kleines Dorf, dessen Lichter im schwindenden Licht des Abends einladend blinkten. Nach Westen zog sich das Tal lang hin, eine lange, weitläufige, von vielen Gewässern durchzogene Ebene. Hilgorn deutete hinunter auf das Dorf unter ihnen. "Rendûl", erklärte er. "Dort werden wir für die Nacht rasten - wir sollten mit dem Abstieg nicht zögern, denn im Dunkeln ist es gefährlicher."
Sie erreichten den Talgrund ohne größere Schwierigkeiten, und die ersten Sterne blinkten bereits am Himmel. Hilgorn führte seine Begleiter geradewegs die Hauptstraße entlang zu einem kleinen, ein wenig heruntergekommenen Gasthaus, vor dem er absaß und dann Serelloth, die sich vor Müdigkeit kaum noch im Sattel halten konnte, beim absteigen half. "Passt auf die Pferde auf bis ich wieder komme", befahl er den Soldaten seiner Eskorte, und betrat dann den niedrigen, schwach erleuchteten Gastraum. Drinnen brannte ein Feuer im Kamin, und ein halbes Dutzend Einheimische saß um einen Tisch herum. Als Hilgorn sich lautstark räusperte, sprang einer der Männer auf, und eilte ihm dienstfertig entgegen. "Willkommen, willkommen im Stürzenden Falken, mein Herr... und äh, meine Damen", fügte er mit einem Blick auf Serelloth und Ta-er hinzu, die Hilgorn ins Innere gefolgt waren. "Was kann ich..." Der Wirt stockte, und sein Blick blieb an Hilgorns Gesicht hängen. "Oh, verzeiht mir, dass ich euch nicht gleich erkannt habe, Herr Imradon. Was führt euch..."
Hilgorn unterbrach ihn, indem er die Hand hob. "Mein Bruder ist tot, guter Mann."
Der Wirt schlug eine Hand vor die Stirn, und sein verlegenes Lächeln entblößte zwei prächtige Zahnlücken. "Neuigkeiten kommen langsam in Rendûl an. Mein Beileid, Herr..."
"Hilgorn", ergänzte Hilgorn. "Und kein Grund für Beileid, mein Bruder war ein Verräter und starb in der Schlacht gegen Gondor." Die Augen des Wirts weiteten sich, und die Blicke der anderen Männer am Tisch wandten sich von ihren Bierkrügen ab und Hilgorn zu. Er spürte auch geradezu die Blicke von Ta-er und Serelloth in seinem Rücken. "Ein Verräter?", fragte der Wirt entsetzt. "Aber... er sah so edel und herrschaftlich aus, als er kam nachdem der alte Herr gestorben war."
"Ein edles Gesicht verbirgt manchmal ein umso schwärzeres Herz", erwiderte Hilgorn sanft, bevor er einen neutraleren Tonfall anschlug. "Wir brauchen drei Zimmer - eines für mich, eines für meine Begleiterinnen, und eines für drei Soldaten."
"Selbstverständlich, selbstverständlich." Der Wirt rieb sich eifrig die Hände. "Es ist mir eine Ehre, unseren neuen Herrn unter meinem Dach zu bewirten." Hilgorn ächzte innerlich, verzichtete aber darauf, sein Gegenüber über seinen erneuten Irrtum aufzuklären. "Benötigt ihr auch noch eine Mahlzeit?" Hilgorn warf einen Blick über die Schulter, und Ta-er schüttelte den Kopf. "Morgen früh", antwortete er also. "Für heute Abend sollen uns Betten genügen." Der Wirt verschwand durch eine Tür im hinteren Teil des Raumes, wo Hilgorn ihn den Namen einer Frau rufen hörte, und die Männer am Tisch wandten sich wieder ihren Bierkrügen zu. "Ihr hattet nicht erwähnt, dass ihr über diese Land herrscht", sagte Ta-er hinter ihm, und Hilgorn zuckte mit den Schultern, während er sich zu ihr umwandte. Serelloth hatte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt und beobachtete ihn unter gesenkten Augenlidern hindurch, während Ta-er keinerlei Müdigkeit erkennen ließ. "Tue ich auch nicht. Nach dem Tod meines Bruders erbte sein Sohn den Titel. Der Sitz meiner Familie liegt weiter im Westen, und wir werden morgen gegen Mittag dorthin kommen."
"Jedenfalls verschafft euch diese Tatsache ein billiges Quartier", meinte Ta-er, und ein amüsiertes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.
Der Wirt kehrte zurück, und zeigte ihnen den Weg zu ihren Zimmern. Bevor Hilgorn sich zum Schlafen niederlegte, sorgte er noch dafür, dass die Pferde im Stall des Gasthauses untergebracht wurden, und wandte sich dann noch einmal an den Wirt. "Ich traue meinen Begleiterinnen nicht vollständig", sagte er leise. "Bitte stellt einen eurer Knechte dazu ab, heute Nacht ihr Zimmer zu bewachen. Ich möchte nicht, dass sie sich heimlich in der Nacht davonschleichen." Der Wirt nickte eifrig. "Natürlich, Herr. Wird gemacht - wir werden wachsam sein wie die Füchse."
Kaum hatte Hilgorn sich auf der harten, ein wenig klumpigen Matratze seines Bettes ausgestreckt, fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf, und erwachte erst, als die aufgehende Sonne durch das nach Osten gehende Fenster auf sein Gesicht fiel.
Als er auf den schmalen Flur hinaustrat, hörte er bereits Geräusche aus dem Zimmer, in dem seine Eskorte untergebracht worden war, doch im Zimmer neben ihm, in dem Ta-er und Serelloth geschlafen hatten, war alles still. Der Knecht, den der Wirt als Wache abgestellt hatte, saß neben der Tür auf einem Stuhl und scharchte leise vor sich hin. Hilgorn seufzte, und klopfte dann an der Tür. Er wartete einen Augenblick, und als keine Antwort kam, klopfte er erneut. Weiterhin Stille. Vorsichtig öffnete Hilgorn die Tür und trat hindurch. Sofort fiel sein Blick auf die offensichtlich unberührten Betten, das offene Fenster, und das Papier, dass auf der Fensterbank lag. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum, und las, was auf dem Papier mit ein wenig krakeligen, unregelmäßigen Buchstaben geschrieben stand.
Hilgorn - es tut uns Leid, aber wir können nicht mit euch nach Dol Amroth kommen. Wir müssen meinen Vater und seine Freunde retten, denn wenn der Krieg so schlecht läuft wie ihr sagt, sind sie in großer Gefahr. Ich verspreche euch, dass wir Mordor nichts verraten werden, selbst wenn wir gefangen werden sollten. Und ich habe ja Ta-er bei mir, also wird das nicht geschehen. Bitte verzeiht uns unseren hastigen Aufbruch, es soll nicht unhöflich sein. Serelloth.
P.S. Ich habe Ta-er dazu überredet, also wenn ihr wütend seid, dann auf mich und nicht auf sie.
Wider Willen musste Hilgorn lächeln, als er den Brief las, doch nur kurz. "General?", fragte einer seiner Soldaten, der in der Tür stand. "Was ist geschehen?"
"Sie sind fort", erwiderte Hilgorn knapp. "Durch das Fenster." Er drängte sich an dem Soldaten vorbei durch die Tür, und packte den inzwischen erwachten Knecht unsanft an der Schulter. "Das nennst du Wache halten? Stündest du in meinem Dienst, würde ich dich dafür auspeitschen lassen."
Sein Zorn kam aus der Sorge, dass Serelloth und Ta-er vermutlich gefangen genommen werden würden. Und trotz aller Versprechen, die Serelloth in ihrem Brief gegeben hatte, war ihm klar, dass sie unter der Folter Mordors vermutlich doch alles verraten würde, was sie hier gesehen hatten. "Ihr reitet zurück", wandte er sich den drei Männern seiner Eskorte zu, die sich auf dem Flur versammelt haben. "Wenn ihr die beiden findet, nehmt sie gefangen. Ohne Gewalt, wenn möglich - nur, wenn es unbedingt nötig ist."
Im Gastraum traf er auf den Wirt, der ihn strahlend lächelnd begrüßte. Hilgorn erwiderte das Lächeln nicht. "Eure Wachsamkeit lässt stark zu wünschen übrig", sagte er. "Wenn Mordor den Gilrain erneut überquert, sollte sich das ändern. Ich bezweifle, dass sie euch erneut ignorieren würden." Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ er das Gasthaus, und eilte mit langen Schritten zum Stall. Seine Soldaten folgten ihm. "Ich gehe allein nach Dol Amroth", stellte er fest. "Wenn ihr sie vor Linhir nicht findet, benachrichtigt alle Stationen entlang des Gilrain, dass zwei Frauen versuchen könnten, die Grenze nach Mordor zu überschreiten." Vermutlich würde es dafür zu spät sein, wenn der Befehl ankam, doch Hilgorn hatte vor, keinen weiteren Fehler in dieser Angelegenheit zu machen. "Sollten sie gefunden und gefangen werden, schickt einen Boten", fuhr er fort, während er sich auf Nachts Rücken schwang. Die Soldaten salutierten, und Hilgorn stieß dem Rappen die Fersen in die Flanken, sodass er in einen schnellen Trab die Straße nach Westen entlang fiel, und seine Eskorte in einer Staubwolke zurückließ.
Hilgorn nach Dol Amroth
Eandril:
Hilgorn, Aerien und Ladion aus Dol Amroth
Früh am nächsten Morgen waren sie zu dritt von Dol Amroth aus aufgebrochen, und hatten für ein Stück die Straße nach Süden eingeschlagen, die zwischen der Küste und den Bergen in einem Bogen südlich um die ganze Halbinsel von Belfalas herum führte. Ladion ritt immer ein wenig vorne weg, offenbar immer Ausschau nach Gefahren haltend, und Hilgorn und Aerien folgten ein Stück weiter hinten. Aerien trug eine leichte Rüstung und ein Schwert, dass sie sich aus der Waffenkammer des Fürsten geliehen hatte, und sah sich vom Rücken ihres Pferdes die ganze Zeit über neugierig um. Das Wetter zeigte sich an diesem Morgen von seiner freundlichsten Seite. Zwar war es - der Jahreszeit angemessen - kühl, doch am Himmel zeigten sich nur einzelne, langsam ziehende Wolken und der sanfte Wind fühlte sich beinahe nach Frühling an. Zur rechten der Straße fiel das Land noch ein Stück weiter ab zu den zahlreichen, immer wieder von steilen Klippen unterbrochenen, Buchten von Belfalas. In den kleinen Fischerdörfern, an denen sie vorbeikamen, herrschte geschäftige Betriebsamkeit, und die ersten Boote legten zum Fischfang ab.
Zur Linken stieg das Land manchmal sanft, manchmal steiler zum Hügelland von Dor-en-Ernil an, von dem zahlreiche Bäche unter Straße hindurch zum Meer hinab plätscherten. Auf der Straße selbst herrschte bereits einigermaßen viel Betrieb - Händler aus den Dörfern nahe Dol Amroth fuhren in die Stadt zum Markt. Nach ein paar Meilen wandte sich Aerien an Hilgorn, und sagte mit leuchtenden Augen: "Ich habe noch nie so viele Menschen auf einmal außerhalb einer Stadt gesehen."
"Die Halbinsel ist relativ dicht besiedelt, vor allem an der Küste", erklärte Hilgorn. "Es wird ein wenig weniger werden, je weiter wir uns von Dol Amroth entfernen und wenn wir ins Landesinnere kommen."
"In Harad leben die Menschen entweder in großen Städten oder viel verstreuter. Ithilien war beinahe vollkommen menschenleer, und in..." Aerien brach rasch ab, und blickte zur Seite. Hilgorn zögerte für einen Augenblick, beschloss dann aber, die ihm auf der Zunge liegende Frage nicht zu stellen. Offenbar war der Ort ihrer Herkunft nichts, worüber Aerien gerne sprechen wollte.
"Jedenfalls bin ich tatsächlich froh, ein wenig mehr von Gondor zu sehen", fuhr Aerien schließlich fort. "Ich wünschte nur, Narissa könnte dabei sein und es ebenfalls sehen."
"Wir alle haben unsere eigenen Wege zu gehen", meinte Hilgorn.
Einige Meilen weiter erreichten sie die Abzweigung, die von der Straße aus nach Osten hinauf in die Berge führte.
"Vorsicht", sagte Hilgorn, bevor er Nacht nach rechts die schmale Bergstraße hinauf lenkte. "Die Straße ist schmal und kann vom Bach glitschig sein. Es sollte kein Problem darstellen, aber es schadet nicht, vorsichtig zu sein." Als sie der Straße die Cirith Lenthir hinauf folgten hörte er Aerien hinter sich sagen: "Es erinnert mich ein wenig an die Berge von Alodia. Nur dass es dort weniger grün und deutlich staubiger war." Hilgorn duckte sich ein wenig zur Seite, um einem herabhängenden, tropfenden Moos auszuweichen. "Ich bin bislang nicht viel herumgekommen", gestand er. "In Gondor kenne ich mich recht gut aus, aber nicht darüber hinaus."
"Vielleicht gibt es irgendwann eine Gelegenheit dazu. Wenn irgendwann Frieden herrscht." Aeriens Stimme klang ein wenig sehnsüchtig, und Hilgorn konnte es ihr nicht verdenken.
Am oberen Ende der Klamm hielten sie kurz an, und blickten über das Tal, das jetzt im vollen Morgenlicht lag. Das Licht glitzerte auf dem Wasser des Cenedril, und ließ die Mauer von Tíncar erstrahlen.
"Es... So ähnlich habe ich mir Gondor manchmal vorgestellt", sagte Aerien nach einem Augenblick leise. "So... voller Farbe und Leben."
Hilgorn musste lächeln. "Und es ist Winter. Im Frühjahr blühen überall kleine Blumen, gelbe und weiße, und die Bäume werden allmählich grün. Im Sommer tragen die Bäume ihr volles Blätterkleid und das Getreide reift auf den Feldern." Er warf Aerien, die noch immer über das Tal blickte, einen Seitenblick zu. "Ich wünsche dir, dass du es eines Tages siehst."
"Ich hätte nicht gedacht, dass du so empfänglich für die Schönheiten dieser Welt bist", bemerkte Ladion von der Seite. Hilgorn hob eine Augenbraue und kratzte sich gedankenverloren unter dem Rand seiner Augenklappe. "Wieso nicht? Weil ich ein Mensch bin?"
"Nein, weil..." Der Elb schüttelte den Kopf. "Es ist schwer in Worte zu fassen. Es war nicht als Beleidigung gemeint."
"So habe ich es auch nicht verstanden", meinte Hilgorn, und blickte zurück, wo Bach neben ihnen in die Cirith Lenthir hinabstürzte. "Das letzte Mal als ich hier entlang kam, war ich in keiner guten Stimmung", erinnerte er sich. "Die Osthälfte Linhirs war gerade gefallen, und dann waren mir in Rendûl auch noch diese beiden Frauen entkommen..."
"Das klingt nach einer interessanten Geschichte." Aerien hatte sich endlich von dem Anblick vor ihnen losreißen können. "Erzähl."
Hilgorn verzog ein wenig das Gesicht, tat ihr allerdings den Gefallen: "Das war kurz nach dem letzten Angriff auf Linhir. Die Schlacht war kaum vorüber als ich die Nachricht bekam, dass ein Schiff aus dem Süden an der Küste von Belfalas angespült worden war. Wie sich herausstellte, kam es geradewegs von der Insel Tol Thelyn."
Bei den letzten Worten fuhr Aeriens Kopf abrupt zu ihm herum. "Wie lange ist das her?", fragte sie. "Einige Wochen bereits", fuhr Hilgorn fort, während sie langsam der Straße weiter in Richtung Tíncar folgten. "Als ich dort ankam stellte sich heraus, dass der Kapitän - Hallatan - eigentlich die Mündung des Anduin angesteuert hatte, aber durch einen Sturm nach Westen abgetrieben war. Das war sein Glück, denn der Ethir war kurz zuvor gefallen und sie wären dort sicherlich Mordor in die Hände gefallen. An Bord hatte er zwei Passagiere die nach Ithilien wollten, Ta-er as-Safar und..."
"Serelloth", beendete Aerien den Satz für ihn, und jetzt war es an Hilgorn, ihr einen verdutzten Blick zuzuwerfen.
"Woher weißt du davon?" Aerien lächelte. "Weil ich sie ein paar Tage vorher auf Tol Thelyn verabschiedet habe. Serelloth ist... eine gute Freundin." Hilgorn musste unwillkürlich über die Merkwürdigkeit dieses Zufalls lachen. "Offenbar ist Mittelerde kleiner als gedacht."
"Oder das Schicksal zieht im Hintergrund seine Fäden", meinte Aerien, und Ladion nickte stumm. "Was ist aus Serelloth und Ta-er geworden?"
"Nun, ich konnte nicht zulassen, dass sie den Gilrain überqueren und sich mitten in das Land des Feindes begeben. Also wollte ich sie mit nach Dol Amroth nehmen. Wir haben in Rendûl - ein Dorf am östlichen Ende des Tals - die Nacht verbracht, und am nächsten Morgen fand ich einen Brief von Serelloth, in dem sie mir sehr freundlich erklärte, dass sie und Ta-er nicht mit nach Dol Amroth kommen würden und stattdessen nach Ithilien aufgebrochen waren." Aerien lachte, ein Geräusch das Hilgorn zum ersten Mal überhaupt von ihr hörte.
"Ja, das klingt ganz nach Serelloth." Schlagartig wurde sie wieder ernst. "Ich hoffe, ihr ist in Ithilien nichts zugestoßen und ich hoffe, sie hat ihren Vater gefunden."
Nachdenklich strich Hilgorn seinem Rappen über den Hals, und versuchte sich an das zu erinnern, was Valion ihm nach seiner Befreiung erzählt hatte. Seine Erinnerung an die Reise zurück nach Dol Amroth war ziemlich verschwommen, doch während er überlegte, fielen ihm einzelne Details wieder ein.
"Wenn ich mich richtig erinnere, verdanke ich ihr und Ta-er in gewisser Weise meine Freiheit", sagte er langsam, und Aerien merkte sichtlich auf. Hilgorn versuchte, weiter, den Nebel seiner Erinnerungen zu durchdringen. Nein, es war nicht nur eine Erzählung gewesen. Er hatte es doch selbst erlebt. "Sie... und Ta-er haben mich gefunden, als ich gefangen war. Und... sie haben Valion benachrichtig. Ich kann mich nicht richtig erinnern, denn..." Er schüttelte den Kopf. "Was immer Arnakhôr damals mit mir gemacht hat, ich kann mich an die ganze Zeit bis mein Geist von ihm befreit wurde, nicht gut erinnern. Aber ich glaube, Serelloth hat erfahren wo ihr Vater war und ist zu ihm gegangen."
Aerien nickte, wobei sie ein wenig abwesend wirkte. "Gut, gut..." Obwohl ihre ganze Aufmerksamkeit eben noch auf Serelloth gerichtet gewesen war, hatte sich etwas verändert. Hilgorn war nicht entgangen, dass sie bei Arnakhôrs Erwähnung sichtbar zusammengezuckt war und er nahm sich vor, sie später danach zu fragen. Jetzt war vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt dazu.
Sie kamen an dem Baum vorüber, an dem Hilgorn Iorweth zum ersten Mal begegnet war, und er musste bei der Erinnerung lächeln. Nur kurze Zeit später standen sie vor dem Tor des Gutes, das sogleich aufschwang.
"Willkommen zu Hause, Herr", sagte einer der jungen Wachsoldaten respektvoll, und verneigte sich. Hilgorn hatte seinen Namen vergessen, doch er erinnerte sich vage, dass es der jüngste Sohn des alten Ergon war.
"Danke", erwiderte er, und sprang von Nachts Rücken. "Wo ist meine Mutter?"
"Hier", hörte er ihre gewohnt gebieterische Stimme, und sah sie über mit einem Lächeln über den Hof kommen. Sie ging langsam, doch ungebeugt und er sah ihr kaum noch an, wie krank sie gewesen war. Hilgorn umarmte sie und küsste sie auf die Wange, bevor er seine Gefährten, die ebenfalls abgesessen waren, vorstellte: "Du kennst Ladion, Mutter. Und das ist Aerien Bereneth, eine... gute Freundin."
"Willkommen auf Tíncar", begrüßte seine Mutter sie gleichermaßen herzlich und herrisch.
"Aerien gehört zu jenen, die den König nach Gondor zurückgebracht haben", erklärte Hilgorn, und ignorierte Aeriens warnenden Blick. Seine Mutter dachte jedoch nicht daran, in ehrfürchtigen Dank zu verfallen, wie Aerien vielleicht befürchtet hatte. Stattdessen hob sie nur eine Augenbraue, und sagte: "Der König, so so. Nun, das ist vermutlich nicht schlecht. Ich halte ja große Stücke auf Imrahil, aber vielleicht tut es uns ganz gut, wenn der König wieder da ist und die Führung für ganz Gondor in die Hand nimmt."
Aerien warf Hilgorn einen vollkommen verdutzten Blick zu, denn offenbar war die Reaktion sehr weit entfernt von dem, was sie erwartet hatte, und Hilgorn konnte sein Lächeln nur mühevoll unterdrücken. Seine Mutter hatte sich, vielleicht mit der Ausnahme des Tods seines Vaters und Imradons Verrat, noch nie von irgendetwas erschüttern lassen.
"Wie dem auch sei, es hat keinen Sinn hier auf dem Hof herumzustehen. Jemand wird sich um die Pferde kümmern, und wir können hinters Haus in den Garten gehen. Bei diesem Wetter sollte man nicht drinnen sein."
In dem kleinen Garten hinter dem Haus war es still, umgeben von immergrünen Sträuchern. Hilgorn vermisste ein wenig die blühenden Blumen und das Summen der Bienen, das den Garten sonst erfüllte, doch immerhin war es Winter. Nachdem sie sich gesetzt hatten, Hilgorn neben seine Mutter und Aerien auf eine einzelne Bank - Ladion hatte es vorgezogen, ein wenig die Umgebung zu erkunden - begann Hilgorn: "Wie genau kommt Gilanor von Bar-Erib auf die Idee, Tugobel sollte ihm gehören? Nach Belegs Tod war Faniel die Erbin ihres Vaters. Selbst ihre Verwandten aus dem Norden hätten einen besseren Anspruch als Gilanor."
"Mhm", machte seine Mutter. "Aber Gilanor hat irgendwelche Dokumente hervorgezaubert, die angeblich beweisen, dass das Land auf dem Tugobel steht, früher seinem Haus gehörte, und dass der damalige Fürst kein Recht hatte, es Faniels Ur-urgroßvater zu verleihen. Was natürlich Unsinn ist", fügte sie als Reaktion auf Hilgorns Blick hinzu. "Tugobel und alle dazugehörigen Lehen gehörten rechtmäßig dem Haus Glórin und gehören damit zum Erbe meines Enkels."
Aerien beugte sich ein wenig vor, und fragte: "Was glaubt ihr, bezweckt dieser... Gilanor damit?"
Iorweth schnaubte verächtlich. "Ich weiß nicht einmal, ob Gilanor selbst irgendetwas bezweckt. Sein Sohn, Boradan, hat die Sache angezettelt. Ich kenne Gilanor, er ist viel zu naiv für solche Hinterhältigkeiten. Und was Boradan angeht... vielleicht hofft er einfach nur, sein Erbe zu vergrößern."
"Ein merkwürdiger Zeitpunkt für solche... unbedeutenden Streitigkeiten", wandte Hilgorn langsam ein, und seine Mutter blickte ihn empört an. "Ich glaube nicht, dass das Erbe deines Neffen - oder besser Stiefsohnes - unbedeutend ist."
"Ich glaube nicht, dass Hilgorn das gemeint hat." Aerien klang nachdenklich. "Aber man sollte glauben, dass eure Nachbarn im Augenblick größere Sorgen haben als ihr Land zu vergrößern. Und sie sollten sich eigentlich im Klaren darüber sein, dass sie nur vereint gegen Mordor bestehen können."
Für einige Augenblicke legte sich Schweigen über den Garten, dass Iorweth schließlich brach. "Ihr glaubt, Gilanor - oder Boradan - hätten sich mit Mordor verbündet? Das glaube ich nicht. Die Herren von Bar-Erib waren schon immer gierig und..."
"Mutter", unterbrach Hilgorn sie sanft. "Vergiss nicht, was dein eigener Sohn - mein eigener Bruder - getan hat." Bei der Erwähnung Imradons presste seine Mutter die Lippen so fest zusammen, dass sie ihr Mund nur noch ein dünner Strich war.
"Niemals werde ich das vergessen", sagte sie schließlich mit einem Seitenblick zu Aerien hin. Hilgorn verstand diesen Blick ganz genau - sie war keineswegs damit einverstanden, dass er mit Imradons Verrat so offen umging. Doch er sah keinen Grund, diese Tatsache zu verheimlichen.
Aerien rutschte sichtlich unbehaglich auf der Bank hin und her. "Ich weiß nicht, was Mordor damit bezwecken würde, außer ein wenig Unfrieden in Gondor zu stiften. Aber ich denke es schadet nicht, mit dem Schlimmsten zu rechnen."
Obwohl Hilgorn sich nicht vorstellen konnte, dass Mordor für einen kleinen Nachbarschaftsstreit zweier unbedeutender Adelshäuser verantwortlich war, war er geneigt Aerien zuzustimmen. Wenn sie mit dem Schlimmsten rechneten, würde es keine bösen Überraschungen geben.
"Also schön. Was habt ihr vor zu tun?", fragte seine Mutter. "Wir reiten nach Tugobel - morgen früh, denn es hat keinen Zweck in der Nacht dort anzukommen - und verschaffen uns einen Überblick über die Lage", antwortete Hilgorn. "Mit der gebotenen Vorsicht natürlich. Vielleicht lassen sich Gilanors Männer überreden, das Dorf freiwillig wieder zu verlassen, und wenn nicht... wissen wir wenigstens, womit wir es zu tun haben." Er warf Aerien einen fragenden Blick zu, und sie nickte zustimmend.
"Gut", sagte seine Mutter in einem Tonfall, der eindeutig besagte, dass dieses Gespräch zu Ende war, und fügte an Aerien gerichtet hinzu: "Ich will nicht unhöflich sein, aber ich würde gern ein paar Worte allein mit meinem Sohn sprechen."
Aerien stand so schnell auf, als wäre sie von etwas gestochen worden. "Nein, gut. Ich... werde mich vielleicht ein wenig im Dorf umsehen, oder vielleicht nach den Pferden schauen."
Sie hastete zwischen den Büschen davon, und als sie verschwunden war wandte Hilgorns Mutter sich an ihn: "Wo hast du dieses Mädchen aufgegabelt?"
"Wie gesagt, sie ist eine von denen, die König Elessar aus der Gefangenschaft in Mordor gerettet haben", erklärte er. "Wir dachten, sie könnte vielleicht helfen."
"Nun, wenn sie den König aus Mordor befreit hat, dürfte das zutreffen", stellte seine Mutter fest. "Ich frage mich allerdings, ob sie vertrauenswürdig ist." Hilgorn wandte ihr langsam das Gesicht zu, doch sie hielt seinem Blick ohne Mühe stand. "Oh, nun schau mich nicht so an. Sie spricht mit einem Akzent, den ich noch nie in Gondor gehört habe, kommt also ganz offensichtlich nicht von hier. Und sie hat es geschafft, nach Mordor zu gehen, an den gefährlichsten Ort der Welt, und einen der wichtigsten Menschen der Welt aus der Gefangenschaft eines dunklen Gottes zu befreien? Da frage ich mich doch... wie?"
Hilgorn ahnte, worauf seine Mutter hinaus wollte, und das schlimmste war: Er hatte selbst keine Ahnung, wie es Aerien und Narissa gelungen war, Elessar aus dem Dunklen Turm zu befreien. Genau diese Fragen hatte er sich ebenfalls gestellt, doch bislang hatte er keine passende Gelegenheit gefunden, Aerien danach zu fragen. Fürs erste genügte es ihm, dass der König, Fürst Imrahil und Mithrandir ihr zu vertrauen schienen. Daher zuckte er nur mit den Schultern, und antwortete: "Ich weiß es selbst nicht. Aber ich vertraue meinem Instinkt, und der sagt mir, dass sie vertrauenswürdig und auf unserer Seite ist."
Fine:
Als es Nacht geworden war, lag Aerien in dem kleinen Bett, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte und konnte nicht richtig einschlafen. Sie hatte den Ritt ins Tal von Hilgorns Heimat genossen und sich sehr darüber gefreut, einen neuen Teil von Gondor zu sehen, doch die Begrüßung war weniger herzlich ausgefallen, als sie es sich gewünscht hatte. Sie gab der Herrin des Hauses natürlich keine Schuld daran - vermutlich hatte diese einfach ihre berechtigen Zweifel an Aerien zur Sprache gebracht. Dennoch hoffte Aerien, dass es Hilgorn gelingen würde, seine Mutter zu überzeugen, dass Aerien wirklich hier war, um zu helfen.
Sie seufzte und drehte sich um Bett auf die Seite. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag musste sie an Narissa denken und wünschte sich, sie in diesem Augenblick bei sich zu haben. Sie war noch immer voller Sorge um Narissas Sicherheit, und dass Valion vom Ethir mit ihr gegangen war, milderte diese Sorge nur geringfügig. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass Narissa ihren Rachefeldzug einfach aufgeben würde, doch sie wusste natürlich, dass das nicht passieren würde. Und nicht zum letzten Mal machte sie sich Vorwürfe, dass sie Narissa dabei nicht begleitet hatte sondern in Gondor geblieben war...
Am folgenden Morgen erwachte Aerien, als die ersten Sonnenstrahlen durch ihr Fenster fielen. Sie hatte allerlei wirre Träume gehabt, die sich nur langsam der Wirklichkeit beugten. Schwerfällig erhob sie sich und zog sich an, dann machte sie sich auf die Suche nach Hilgorn. Stattdessen lief sie allerdings dessen Mutter Iorweth über den Weg.
"Aha, schon auf den Beinen, Mädchen?" wollte die Hausherrin wissen. "Gut, gut. Du kannst mir beim Frühstück behilflich sein."
Aerien wagte es nicht, Einspruch zu erheben und folgte der Frau in die geräumige Küche des Anwesens, welche sich im Untergeschoss befand. Aerien wunderte sich darüber, dass Hilgorns Mutter, die ja adelig war, ihren Bediensteten tatkräftig bei der Vorbereitung half - in Durthang hätte es so etwas niemals gegeben.
"Komm, mach dich nützlich. Du kannst die Äpfel schälen und in Scheiben schneiden," sagte Iorweth und deutete auf einen großen Korb voller Früchte, neben denen ein Schneidbrett und Messer auf einem der Tische lagen.
Aerien nickte gehorsam und nahm Platz, dann griff sie sich einen Apfel und drehte ihn etwas unschlüssig in der Hand herum. Langsam nahm sie das Messer auf und begann, die Frucht zu schälen, womit sie anfänglich etwas Schwierigkeiten hatte, bald schon aber einen Apfel nach dem anderen in Scheiben zerlegte.
Immer mehr Bedienstete waren in die Küche gekommen, und ein munteres Treiben begann. Eines der Dienstmädchen setzte sich neben Aerien und begann ihr beim Schälen zu helfen.
"Du bist mit dem Herrn Hilgorn aus Dol Amroth gekommen, nicht wahr?" wisperte sie Aerien neugierig zu. "Ich bin Beldith, und wie heißt du?"
"Aerien," antwortete Aerien. "Ja, ähm... Herr Hilgorn hat mich aus Dol Amroth hierher gebracht, ich... soll ihm helfen, wegen dieser Erbstreitigkeit..."
"Das ist aber ein niedlicher Name," sagte Beldith und lachte. "Und unüblich dazu. Und was denkt der Herr Hilgorn wie du ihm bei diesem Streit genau helfen kannst?"
"Naja, eigentlich war es Minûl.... ich meine, die Idee einer..." Aerien brach ab und atmete tief durch. "Es war die Idee der Herrin Melíril vom Turm, mich mit Herrn Hilgorn mitzuschicken. Sie war der Ansicht, dass... mir das gut tun würde."
"Melíril vom Turm?" wiederholte Beldith nachdenklich. "Tut mir Leid... wir sind hier leider etwas weit weg vom hohen Hofe der Schwanenprinzen und vielleicht nicht auf dem neusten Stand der Dinge, was Namen und Geschichten angeht. Aber wir haben schon gehört, dass der König wieder da sein soll. Man sagt, dass er ganz allein dem Dunklen Herrscher jahrelang getrotzt hat, und so tapfer und standhaft war, dass der Feind ihn gehen lassen musste, denn er konnte ihn nicht brechen."
"Ich, ähm, habe gehört, dass er Hilfe hatte..." wandte Aerien etwas verlegen ein.
"Du meinst dieses amüsante Gerücht, dass der König von zwei Mädchen und einem Zwerg aus dem Schattenland befreit wurde?" Beldith kicherte. "Eine wirklich witzige Vorstellung. Wie soll so eine bunte Truppe denn an den ganzen Orks vorbei gekommen sein? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Du etwa?"
"N-naja..." stammelte Aerien verlegen. "Denkbar wäre es doch, oder nicht? Was wenn sie einen geheimen Weg durch Mo... durch das Land des Feindes kannten?"
"Einen Weg den selbst der Dunkle Herrscher nicht kennt? Ich weiß ja nicht... Oh, vorsichtig!" rief Beldith, doch es war zu spät.
"Au!" entfuhr es Aerien. Sie hatte sich so auf das Gespräch konzentriert, dass sie sich beim Schälen tief in die Handfläche geschnitten hatte.
Iorweth, die Herrin des Hauses, kam herüber als sie den Aufschrei gehört hatte. Doch falls Aerien nun Schimpf und Schande erwartet hätte, hätte sie sich in Hilgorns Mutter getäuscht. Die sonst so strenge Miene wurde weich und sie nahm ein Tuch hervor, mit dem sie die Blutung stillte. "Gleich wird es besser gehen," sagte Iorweth und half Aerien, selbst Druck auf die Wunde auszuüben, obwohl diese natürlich bereits viel schlimmere Verletzungen gehabt hatte und eigentlich selbst gut genug wusste, wie man eine derartige Verletzung zu behandeln hatte. Dennoch schloss sie die Augen und ertappte sich dabei, die Behandlung zu genießen. Zwar war Iorweth weder ihre Mutter noch standen sie sich besonders nahe, aber in diesem einen kurzen Augenblick kam sich Aerien wie ein Kind vor, das sich sicher bei seiner Mutter geborgen fühlt. Als ihr das klar wurde, riss sie erschrocken die Augen auf und versuchte hastig, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
"So," sagte Iorweth und ließ Aeriens Hand los, nachdem sie das Tuch fest verschnürt hatte. "Das wird schon wieder. Genug getrödelt!" Sie wandte sich an alle. "Mädchen, es wird Zeit! Bringt das Frühstück in den Speisesaal, danach kommt ihr wieder her und fangt mit den Kartoffeln an, verstanden?"
Ein Chor aus Zustimmung antwortete ihr. "Und du - nimm die Schale Apfelscheiben, und komm mit mir," sagte Iorweth zu Aerien, dann ging sie los.
Durch einen kurzen Gang ging es hinauf ins Erdgeschoss, und dort um eine Biegung in einen kleinen Saal, in dem eine lange Tafel stand. Hilgorn war bereits dort und hatte Platz genommen, neben ihm saß der Elb, Ladion. Zwei weitere Menschen die Aerien nicht kannte saßen ebenfalls am Tisch. Aerien sah, wie die Dienstmädchen das Essen auf dem Tisch abstellten, und blickte etwas zaghaft auf ihre Äpfel herab, dann hakte sich Iorweth bei ihr unter und führte sie sanft, aber bestimmt zum Platz neben Ladion. "Stell die Schale hier ab, und dann setz dich und iss," wies sie Aerien an.
"Guten Morgen Aerien," sagte Hilgorn, als er sie entdeckt hatte, dann hob er verwundert die Brauen. "Bist du jetzt..."
"Ich habe sie gebeten, sich ein wenig nützlich zu machen," sagte Iorweth und setzte sich dann ebenfalls.
Hilgorn nickte und schien die Sachen damit auf sich beruhen zu lassen. Sie frühstückten, ohne dabei viel zu sprechen, während die Dienerschaft nach dem Auftragen des Essens den Saal wieder verlassen hatte. Als sie zum Großteil damit fertig geworden waren, sagte Iorweth: "Am besten reitet ihr gleich los, bis nach Tugobel ist es zwar nicht weit, aber... je eher ihr dort seid, desto besser."
"Ich stimme zu," sagte Ladion. "Und ich denke, ich werde voraus reiten, um die Lage auszukundschaften." Er stand in einer fließenden Bewegung auf und ging hinaus,
"Gut, dann wäre das geklärt," sagte Hilgorn und erhob sich ebenfalls. "Vielleicht sollten wir ein Dutzend Männer mitnehmen, um nicht ganz ohne Schutz dazustehen, ganz egal was uns im Dorf erwartet."
"Würde das nicht eher den Eindruck vermitteln, dass du bereit bist, dir Tugobel mit Waffengewalt zurückzuholen?" wandte Aerien ein.
"Hm. Das wäre möglich..."
"Aber ganz alleine solltet ihr auch nicht gehen," sagte Iorweth. "Nehmt sieben Männer mit. Das ist nicht genug, um ein Dorf einzunehmen, aber es ist besser, als wenn ihr ganz alleine geht." Sie warf Aerien einen schwer zu deutenden Blick zu.
"Sieben. Sieben ist gut," stimmte Hilgorn zu. "Also dann. Die Pferde sind..."
"...bereits gesattelt und bereit," ergänzte seine Mutter wissend.
"Dachte ich mir. Komm, Aerien... dann lass uns mal sehen, was uns in Tugobel erwartet."
Eandril:
Sobald sie unter dem Torbogen hindurch geritten und außer Hörweite seiner Mutter waren, lenkte Hilgorn seinen Rappen neben Aeriens Pferd und räusperte sich ein wenig verlegen.
"Ich... sollte mich vielleicht für meine Mutter entschuldigen. Sie ist immer sehr darauf bedacht gewesen, dass jeder von uns seinen Teil beiträgt, aber ich hätte nicht erwartet, dass sie dich zur Arbeit einspannt."
"Oh nein, das ist schon in Ordnung", erwiderte Aerien. "Das war eine nette Abwechslung zu allem was in letzte Zeit passiert ist. Vor allem, nachdem mich in Dol Amroth die meisten Leute ehrfürchtig angestarrt haben."
"Nicht ganz ohne Grund", meinte Hilgorn, während sie der gepflasterten Straße in Richtung Osten durch das Dorf folgten. Der Morgen war klar und kühl, und Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser des Cenedril. Aerien seufzte. "Zum Ausgleich scheinen die Leute hier zu glauben, Aragorn wäre ganz alleine aus dem Dunklen Turm hinausspaziert und nach Gondor zurückgekehrt."
Hilgorn zog die Augenbrauen in die Höhe, wunderte sich aber nicht allzu sehr. "Nun ja, Tíncar ist ein wenig... ländlich. Mich wundert, dass sie überhaupt schon von der Rückkehr des Königs wissen." Er warf Aerien einen interessierten Blick zu. "Stört es dich?"
Aerien schwieg einen Augenblick nachdenklich. Als sie antwortete passierten sie gerade die letzten Häuser des Dorfes und folgten der Straße hinaus zwischen die Felder östlich von Tíncar. "Nein, nicht wirklich. Als Beldith - eines eurer Dienstmädchen - die Geschichte als ein amüsantes Gerücht abtat, hat mich das überrascht, aber... vielleicht ist es besser so."
"Die ganze Aufmerksamkeit kann mit der Zeit anstrengend werden", stimmte Hilgorn ihr zu, und räusperte sich dann erneut etwas verlegen. "Ich meine... ich wollte damit nicht prahlen oder..."
Aerien lachte hell auf, und Hilgorn stellte fest, dass es ein schönes Geräusch war. "So hatte ich es auch nicht verstanden", sagte sie schließlich, und wechselte dann gnädigerweise das Thema. "Deine Heimat ist wirklich schön", meinte sie, während sie sich vom Rücken ihres Pferdes aufmerksam umsah. Sie befanden sich jetzt inmitten von Wiesen und Feldern, die allerdings während dieser Jahreszeit größtenteils brach lagen. Auf einigen Wiesen grasten Schafe und Rinder in der Morgensonne, und zwischen ihnen zogen sich dichte Hecken und niedrige Bruchsteinmauern dahin. "Es ist so still und friedlich hier", fügte Aerien hinzu. "Man könnte hier fast vergessen, was in der Welt geschieht."
"An einem solchen Morgen passt der Name des Tals wirklich gut. Tum-en-Dín, das Tal der Stille, haben es die ersten númenorischen Siedler genannt, wenn ich mich richtig an meine Geschichtslektionen erinnere", erklärte Hilgorn. "Ganz so still wie bei ihrer Ankunft ist es heute nicht mehr - vor allem als Aldar und ich jung waren." Bei der Erinnerung musste er lächeln.
Die Straße führte sie am Südufer des Cenedril entlang immer weiter nach Osten. Gegen Mittag machten sie Rast am sonnenbeschienenen Seeufer, und am frühen Nachmittag näherten sie sich schließlich Tugobel, wo Ladion sie am Rand der Straße in einem kleinen Wäldchen erwartete.
"Soweit ich es beobachten konnte, halten die Männer dieses Gilanor das Gasthaus in der Dorfmitte besetzt und drangsalieren von dort aus die Dorfbewohner", berichtete der Elb. "Sie sind sämtlich bewaffnet, aber ich habe keine schweren Rüstungen gesehen."
"Gewöhnliche Söldner", vermutete Hilgorn. "Männer, die sich mit dem Schwert ein wenig Gold und Macht verdienen wollen."
"Glaubt ihr, wir werden mit ihnen fertig?", fragte einer der Männer aus Tíncar, dem die Nervosität deutlich anzumerken war. Hilgorn warf ihm einen prüfenden Blick zu, und erinnerte sich daran, dass keiner dieser sieben Männer bislang wirkliche Kampferfahrung gesammelt haben dürfte. Sicher, sie waren gut ausgerüstet und hatten vermutlich einige Erfahrung darin, Schlägereien im Dorf aufzulösen, doch keiner von ihnen dürfte bislang eine Schlacht gesehen haben. "Madron, richtig?", fragte er, und der junge Wachmann nickte. Er hatte helle Haut mit Sommersprossen und ebenso helles, blondes Haar. "Ob wir mit ihnen fertig werden hängt ganz davon ab, wie viele es sind." Hilgorn wandte sich an Ladion, der ohne weitere Nachfrage antwortete: "Ich habe ein Dutzend gezählt. Es könnten allerdings weitere im Gasthaus sein, die sich noch nicht gezeigt haben."
"Ein Dutzend ist machbar, vor allem wenn wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite behalten", meinte Hilgorn. Er überlegte einen Augenblick, und fragte dann an Aerien gewandt: "Was würdest du vorschlagen?"
Aerien, die offenbar nicht damit gerechnet hatte, gefragt zu werden, zuckte ein wenig zusammen, antwortete aber schnell: "Das hängt davon ab, ob die Sache friedlich enden soll oder nicht."
Hilgorn nickte zustimmend. "Ich würde sagen, wir versuchen es zunächst friedlich. Unnötiges Blutvergießen würde ich gerne vermeiden."
"Wenn es nur Söldner sind, lassen sie sich vielleicht schon verschrecken, wenn wir in voller Stärke ins Dorf einziehen", warf Madron kühn ein, und Hilgorn strich sich nachdenklich über den Bart. "Oder sie nutzen die Gelegenheit uns eine Falle zu stellen und kreisen uns ein", entgegnete er.
"Wir könnten zu zweit gehen", meldete sich Aerien zu Wort, die Hand auf den Schwertgriff gelegt. "So könnten wir prüfen, wie weit sie gehen würden. Währenddessen schleicht der Rest sich zwischen den Häusern hindurch und greift ein, falls sie angreifen."
Hilgorn wechselte einen Blick mit Ladion, und nickte dann langsam. "Ich stimme zu. Aerien und ich reiten auf der Hauptstraße ins Dorf, während ihr euch in Deckung begebt und im Notfall so schnell wie möglich eingreift. Wenn sie tatsächlich zum Kampf bereit sind haben wir weiterhin die Überraschung auf unserer Seite." Er verzichtete darauf, Aerien zu fragen ob sie sich sicher war - sie hatte schon deutlich größere Gefahren überstanden, also war die Frage vermutlich unnötig.
Das Dorf Tugobel war Tíncar relativ ähnlich, wenn auch ein wenig kleiner. Es lag ein wenig nördlich der Hauptstraße, direkt am östlichen Ende des Cenedril. Hilgorn und Aerien folgten zu Pferd der gepflasterten, menschenleeren Dorfstraße. Obwohl sich kein Dorfbewohner zeigte, glaubte Hilgorn doch geradezu ihre Blicke im Nacken zu spüren. Auch Aerien fühlte sich sichtlich unwohl. "Die Dorfbewohner haben wohl zu viel Angst sich zu zeigen", flüsterte sie Hilgorn über das leise Klappern der Hufe auf dem Straßenpflaster zu. "Kein gutes Zeichen."
Hilgorn nickte angespannt. Er hoffte eigentlich noch immer, dass sich die Situation friedlich lösen lassen würde, befürchtete aber genau das Gegenteil. Das Gasthaus befand sich genau in der Mitte von Tugobel, am Nordrand des kleinen und ebenfalls beinahe menschenleeren Marktplatzes. Vor dem Gasthaus lungerten drei Männer in Lederrüstungen und Kettenhemd herum, die bei Hilgorns und Aeriens Ankunft sichtlich aufmerkten.
"He, Boss", brüllte einer von ihnen über die Schulter in Richtung der offen stehenden Tür des Gasthauses. "Wir haben Besuch!" Er rückte seinen Schwertgurt zurecht, während der Rest der Besatzer aus dem Gasthaus hervorkam. Mit einem raschen Blick zählte Hilgorn ein wenig mehr als ein Dutzend - fünfzehn Söldner, den Anführer eingerechnet. Ein möglicher Kampf würde hart werden. Er saß ab, und versetzte Nacht einen Klaps sodass der Rappe sich langsam die Hauptstraße entlang verzog, und blickte dann dem Anführer entgegen. Er war nicht allzu groß aber sehnig und wies einige beeindruckende Narben auf den bloßen Armen auf.
"Sieh an, die alte Hexe von Tíncar schickt einen Einäugigen und ein Weib um uns zu verschrecken", sagte er, und spuckte auf den Boden. "Ist das alles, was sie zu unserer Unterhaltung zu bieten hat?"
"Das ist alles", erwiderte Hilgorn langsam. Er versuchte unauffällig die ganze Truppe im Blick zu behalten, was ihm aufgrund seines eingeschränkten Sichtfeldes allerdings schwer fiel. Hoffentlich würde Aerien alles bemerken, was ihm entging. "Ich schlage also vor, ihr verzieht euch friedlich, und wir klären diese Frage mit eurem Herrn persönlich."
"Friedlich?", stieß der Anführer verächtlich hervor. "Hmmm... diese Bauern hier taugen kaum zur Unterhaltung, sie laufen ja schon verschreckt davon, wenn man einmal Buh ruft. Also... schlage ich einen Handel vor. Einen Zweikampf. Du, Einäugiger, gegen einen meiner Jungs. Wenn du gewinnst, ziehen wir ab und du kannst dich mit Meister Gilanor selbst auseinandersetzen. Wenn nicht..." Er grinste hässlich. "Wenn nicht bleiben wir wo wir sind und bekommen außerdem dein Mädchen. Wirklich hübsch..."
Hilgorn warf einen raschen Seitenblick zu Aerien, die eine angewiderte Miene zeigte. Als sie seinen Blick erwiderte und beinahe unmerklich nickte, sagte er laut: "Einverstanden. Wer von euch wird mein Gegner sein?"
Der Anführer ruckte mit dem Kopf in Richtung eines sehnigen, südländischen Mannes der zwei gebogene Schwerter an den Hüften trug. "Yuldar. Viel Spaß." Der Südländer grinste, und ließ dabei eine Reihe gelber Zähne sehen, während er langsam seine Schwerter zog. Hilgorn legte eine Hand auf den Schwergriff, doch im selben Augenblick rief Aerien: "Vorsicht!"
Ihre Waffe fuhr schneller aus der Scheide als Hilgorn es für möglich gehalten hatte, und während er noch herum fuhr hatte sie dem Mann, der sich mit seinem Speer von hinten angeschlichen hatten, die Speerspitze abgetrennt. Sie trat dem überrumpelten Söldner mit einer raschen Bewegung die Füße weg, und setzte ihm die Schwertspitze auf den Hals.
"Genug", sagte sie ruhig, und wandte sich an den Anführer. "Verlasst das Dorf, oder er stirbt."
Der Anführer, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, zuckte mit den Schultern. "Meinetwegen. Jungs... bringt sie um!"
Noch im selben Augenblick hatte Hilgorn sein Schwert gezogen, während Aerien ihre Drohung kurzerhand wahr machte, und dem am Boden liegenden Söldner die Klinge in den Hals stieß. Blut von der Klinge spritzend fuhr sie herum um sich den heranstürmenden Söldnern zu stellen. Hilgorn postierte sich mit dem Rücken zu ihr, sodass sie sich gegenseitig decken konnten, und wehrte, das Schwert mit beiden Händen gepackt, den ersten Angriff ab.
Ein Pfeil zischte dicht an seinem Ohr vorüber, und traf einen der Söldner direkt ins Auge. Hilgorn erledigte den schreiend zu Boden gegangenen Mann kurzerhand mit einem Schwertstich, und musste dann einen Wirbel von Schwerhieben abwehren als sich der Südländer Yuldar auf ihn stürzte. Bevor ihn der nächste Söldner angreifen konnte, brachen mit Gebrüll die Männer von Tíncar zwischen den Häusern um den kleinen Marktplatz hervor und fielen den überraschten Söldnern in den Rücken.
Von da an war der Kampf bald vorbei. Die Söldnertruppe war zwar in der Überzahl, doch sie hatten sehr schnell zwei ihrer Männer verloren und die plötzliche Verstärkung hatte sie überrascht. Ladions Pfeile fuhren zielsicher auf das Schlachtfeld nieder, und Aerien kämpfte mit einer Schnelligkeit und Gewandtheit, die jedem der Söldner weit überlegen war. Hilgorn parierte einen weiteren Krummschwerthieb, erkannte, dass Yuldar seine Deckung geöffnet hatte und stieß zu. Sein Schwert versetzte seinem Gegner einen klaffenden Schnitt am Oberschenkel und brachte ihn ins Stolpern. Hilgorn nutzte die Gelegenheit, ihm eine zweite Wunde am Arm beizubringen und schlug ihm eines der Schwerter aus der sich öffnenden Hand. Der Südländer warf einen Blick über den Platz, und ließ dann auch das zweite Schwert fallen.
Hilgorn nickte knapp, und warf einen Blick zu Madron, der bleich aber unverletzt war. "Nehmt ihm alle Waffen ab und bindet ihn", befahl er, und fügte mit einem Blick auf seinen Gegner hinzu: "Und verbindet seine Wunden, sonst verblutet er uns." Die restlichen Söldner waren sämtlich gefallen, beinahe die Hälfte von ihnen durch Ladions Pfeile. Zu Aeriens Füßen lagen, abgesehen von dem Speerkämpfer den sie zu Anfang getötet hatte, drei weiter Leichen, und der Rest hatten die Männer von Tíncar erledigt.
"Gut gekämpft, Männer", meinte Hilgorn anerkennend. "Und Frauen", fügte er hinzu, und klopfte Aerien auf die Schulter, während Ladion elegant von dem Dach, auf dem er sich postiert hatte, hinunterglitt.
"Der Anführer hat sich nach drinnen geflüchtet", berichtete er. "Wir sollten ihn einfangen, bevor er durch eine Hintertür flieht." Hilgorn nickte. "Richtig. Männer, seht nach ob vielleicht noch einer von ihnen lebt. Ladion, Aerien - mit mir." Als er den dämmrigen Innenraum des Gasthauses betrat, musste sein Auge sich erst ein wenig an die Lichtverhältnisse gewöhnen. Im ganzen Innenraum waren leere Weinkrüge und schmutzige Teller verstreut, und an einem der Tische saß der Anführer der Söldner, die Ellbogen auf den Tisch gestützt.
"Nun, das war ein wenig mehr Unterhaltung als erhofft", stellte er trocken fest. "Yóbun von Gorak, zu euren Diensten."
"Ihr hättet es anders haben können", erwiderte Hilgorn, das Schwert noch immer in der Hand. Yóbun zuckte mit den Schultern. "Manchmal verschätzt man sich eben. Ich nehme an, ich bin euer Gefangener?"
"Allerdings. Legt eure Waffen ab und lasst euch fesseln." Ohne eine Miene zu verziehen erhob sich der Ostling und warf sein Schwert, zwei Dolche und eine kleine Axt auf den hölzernen Fußboden, bevor er seine verschränkten Hände darbot. Auf ein knappes Nicken Hilgorns fesselte Ladion seine Handgelenke.
Yóbun betrachtete seine gefesselten Hände versonnen. "Ihr wisst, dass das Meister Gilanor nicht abschrecken wird? Das nächste Mal wird er mehr Männer schicken."
"Dann müssen wir ihm eben zuvorkommen", meinte Hilgorn ruhig, und trat wieder hinaus ins helle Sonnenlicht. Draußen hatten seine Männer begonnen, die toten Söldner auf einen Haufen zu legen, und am Rand des Platzes hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Als Hilgorn und hinter ihm Aerien und Ladion mit dem gefesselten Anführer das Gasthaus verließen, brachen die Dorfbewohner in Jubel aus. Ein alter, gebeugter Mann den Hilgorn vage als den Dorfvorsteher in Erinnerung hatte, trat vor und verneigte sich ein wenig unbeholfen. "Danke, Herr, dass ihr uns von diesen Rohlingen befreit habt. Wir stehen in eurer Schuld."
Hilgorn schüttelte den Kopf. "Nein. Ich entschuldige mich im Namen meines Neffen, Belegorns von Tíncar, für das, was Tugobel widerfahren ist. Wir haben nur unsere Schuldigkeit getan." Als der Alte wieder beiseite getreten war, wandte Hilgorn sich an Madron. "Ihr kehrt nach Tíncar zurück, und nehmt die Gefangenen mit. Sperrt sie irgendwo ein, bis ich zurück komme."
Madron salutierte, fügte dann aber etwas unsicher hinzu: "Und ihr? Was habt ihr vor?"
"Ich werde Gilanor von Bar-Erib einen Besuch abstatten", erwiderte Hilgorn grimmig. Madron wurde blass, was seine Sommersprossen noch deutlicher hervortreten ließ. "Allein?"
Hilgorn blickte zu Ladion und Aerien. "Nicht ganz allein, hoffe ich."
Fine:
"Wir kommen selbstverständlich mit," sagte Aerien prompt, und der Elb Ladion nicht bestätigend. Und so kam es, dass sie sich zu dritt auf den Weg in Richtung des Anwesens von Gilanor machten, während die Wachsoldaten von Tíncar die Gefangenen zurück in Hilgorns Heimatdorf brachten.
Während sie ritten, begann Aerien sich mit Ladion zu unterhalten. Er war der erste Elb nach Níthrar, bei dem sie die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch hatte, und sie ritten langsam und ohne Eile, weshalb sie nicht schreien mussten, um einander zu verstehen. Laut Hilgorn würden sie eine knappe Stunde benötigen, um Bar-Erib zu erreichen. Hilgorn selbst war etwas schweigsamer, auch wenn er hin und wieder etwas zum Gespräch beitrug - er wirkte konzentriert auf das, was nun vor ihnen lag: die Konfrontation mit Gilanor.
"Aus welchem Elbenreich stammt Ihr?" wollte Aerien gerade wissen, als der Weg vor ihnen eine scharfe Kehre entlang eines kleinen Hangs machte.
"Aus dem Golden Wald," sagte Ladion mit etwas Schwermut in der Stimme. "Doch nun... ist Dol Amroth meine Heimat."
Aerien erkannte an dem feinen Unterton in seinem Tonfall, dass sie besser in dieser Richtung nicht weiterfragen sollte. "Ihr habt Verbindungen zur Familie des Fürsten, nicht wahr?"
"Meine Mutter, Mithrellas... ist die Ahnherrin der Fürstenfamilie," erklärte Ladion.
"Ich verstehe... ist sie noch, nun...."
"Sie ist weder in den Westen gefahren noch gestorben," sagte Ladion freundlich. "Ich könnte ein Treffen arrangieren, sobald diese Angelegenheit hier erledigt ist."
"Es wäre wundervoll," gab Aerien zu. "Sie kennt noch das alte Gondor der Königszeit... es ist allein schon faszinierend, sich nur auszumalen, was für Geschichten Eure Mutter erzählen könnte."
Ladion warf ihr einen abschätzenden Blick zu. "Dieses Menschenreich hat es Euch wirklich angetan, nicht wahr?"
Aerien schaute etwas verlegen drein, als der Elb den Nagel auf den Kopf traf. "Ich weiß nicht, ob Ihr im Bilde seid über..."
"Ich weiß, woher du stammst," sagte Ladion und hob mit einem Lächeln eine Hand, dabei auf eine vertraulichere Anrede wechselnd. "Ich denke, nun, da wir Seite an Seite gekämpft haben, brauchen wir uns nicht mehr mit Formalitäten aufhalten. Ich bin Ladion von den Erben Lenwes, nicht mehr und nicht weniger. Und du... bist Aerien."
"Die bin ich," sagte Aerien und lächelte. "Ich danke dir, das macht es mir einfacher."
Hilgorn warf ihnen beiden einen Blick über die Schulter zu, denn er ritt vor ihnen. "Schön zu sehen, dass ihr zwei euch gut versteht. Ein Streit wäre das Letzte, was wir jetzt gebrauchen könnten."
Eine halbe Stunde verging, in der Aerien Ladions Fragen zu ihrer Mission zur Befreiung Aragorns beantwortete und er ihr im Gegenzug von einigen seiner Abenteuer entlang der Grenzen Gondors berichtete. Immer wieder war Aerien darüber erstaunt, wie lang die Leben der Eldar sein konnten und nahm sich fest vor, mit der Herrin Mithrellas zu sprechen, so bald es ihre Zeit erlaubte. Sie kamen derweil über den sich immer wieder windenden Pfad einen relativ steilen, dicht bewaldeten Hang hinauf, der von einer Vielzahl kleiner Bächen durchflossen wurde. Das sanfte Rauschen des Wassers, wie es in hunderten kleinen Wasserfällen den Hang hinab floss, war allgegenwärtig, bis sie den oberen Rand des Hanges erreichten und die Straße wieder eben wurde.
"Der Wald zieht sich noch ungefähr eine knappe Meile hin, und jenseits seiner Grenze liegen die Felder, die zu Bar-Erib gehören. Es ist nicht mehr weit," erklärte Hilgorn. "Wir befinden uns quasi schon fast auf Gilanors tatsächlichem Grundbesitz - dass ihm Tugobel nicht gehört, wird er wohl hoffentlich bald verstehen."
Nun, da das Rauschen des Wassers verschwunden war, war der Wald viel stiller als zuvor. Aerien unterbrach ihre Unterhaltung mit Ladion und lauschte. Eine wachsame Stille legte sich über die drei Reiter, während sie ihre Pferde im Schritt gehen ließen.
Ohne Vorwarnung hielt Ladion sein Pferd an. "Was ist los?" fragte Hilgorn sofort mit alarmierter, gesenkter Stimme.
"Ich kann es nicht genau sagen," raunte der Elb. "Es ist, als ob..." Er brach ab und hob langsam eine Hand zu seiner Schulter, über der er seinen Langbogen geschlungen trug.
Ein Vogelruf durchschnitt die Stille, dann noch einer. Beide waren aus unterschiedlichen Richtungen gekommen. Aerien glitt hastig aus dem Sattel und wäre beinahe gestolpert. Der Laut war ihr bekannt vorgekommen. Wo hatte sie ihn nur schon einmal zuvor gehört? Es war... dunkel gewesen, sie hatte nichts sehen können... Sie war geführt worden, ihre Hände waren gebunden gewesen...
"Wartet!" rief sie Hilgorn und Ladion zu. "Wartet, legt die Waffen weg, lasst mich vor gehen..."
"Aerien!" zischte Hilgorn. "Komm zurück, was ist denn in dich gefahren?"
Doch Aerien blieb nicht stehen, erst als sie erneut den Vogelruf hörte, diesmal näher und deutlicher, hob sie beide Hände. "Zeig euch!" rief sie so laut sie konnte.
Dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Ein entzückter Aufschrei antwortete ihr, das Unterholz begann heftig zu rascheln, und eine kleine, grüne Gestalt schoss daraus hervor, noch ehe Ladion oder Hilgorn reagieren konnte, und Aerien fand sich in einer engen Umarmung wieder, die sie fast umgeworfen hatte. "Du bist es wirklich!" sagte eine Stimme, die sie schon sehr lange nicht mehr gehört hatte.
"Eine Freundin von dir?" wollte Ladion wissen, der die Hand vom Bogen genommen und ebenfalls abgestiegen war.
Aerien befreite sich so weit aus der engen Umarmung, dass sie sehen konnte, wer sie da so liebevoll angefallen hatte. Zerzaustes, hellbraunes Haar lugte unter einer grünen Kapuze nach Art der Waldläufer hervor, und ein sommersprossiges Gesicht, geziert von einem strahlenden Grinsen offenbarte sich ihr. "Serelloth!" entfuhr es Aerien.
"Endlich hab' ich dich gefunden!" jubelte Serelloth, als langsam drei weitere Waldläufer aus dem Wald auf die Straße traten. "Aber wo ist denn Narissa? Ist sie etwa nicht mehr bei dir?"
"Sie ist nach Harad zurückgekehrt, einstweilen," antwortete Aerien. "Verrätst du mir bitte, was du hier machst?"
Ein Schatten schob sich vor Aeriens Gesicht, als sich hinter Serelloth ein hochgewachsener Waldläufer aufbaute. "So sieht man sich wieder, Kleine." Erst auf den zweiten Blick erkannte Aerien Serelloths Vater Damrod. Er sah abgekämpft und müde aus, der Gesichtsausdruck grimmig wie gewohnt. "Du bist weit weg von Ithilien, Mädchen."
"Es ist... viel passiert, seitdem Ihr mich mit Beregond nach Ain Séfra entsandt habt," gab Aerien zu. "Ich hoffe, ich bin mittlerweile Eures Vertrauens würdig."
"Werden wir sehen," brummte Damrod, dann nickte er Hilgorn respektvoll zu. "General."
"Der Anführer der Partisanen, nicht wahr?" stellte Hilgorn schnell fest. "Was verschlägt Euch so weit ins Landesinnere?"
"Wir verfolgen eine Gruppe Ostlinge, die die Grenze am Gilrain unter der Vorgabe überquert haben, Flüchtlinge zu sein," erklärte der Waldläufer-Veteran. "Die Wachen in Linhir sind zu gutgläubig. Diese Ostlinge werden nichts als Unheil stiften, wenn wir sie nicht zur Strecke bringen."
"Nun... wie es scheint, haben wir Euch in dieser Hinsicht die meiste Arbeit bereits abgenommen, wenn auch unabsichtlich," meinte Ladion. "Die Ostlinge, die ihr sucht, sind besiegt worden und befinden sich gerade auf dem Weg in die Verliese von Tíncar."
"Das sind erfreuliche Nachrichten," sagte Damrod.
"Werden wir sehen?" wiederholte Serelleth die Worte ihres Vaters empört. "Sag bloß, du vertraust Aerien immer noch nicht? Nach allem, was sie geleistet hat?"
Damrod warf Aerien einen Blick aus zusammengekniffenen Augen ab. "Mhm... es machen seltsame Gerüchte die Runde dieser Tage. Wer weiß schon, ob sie wirklich..."
"Ich bürge für sie," sagte Hilgorn und legte Aerien eine Hand auf die Schulter. "Sie ist für die Rückkehr des Königs verantwortlich, an ihrer Loyalität zur Sache Gondors besteht kein Zweifel."
"Rückkehr des Königs? Ja, davon haben wir gehört..." Damrod kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Wird wohl Zeit, in Dol Amroth Bericht zu erstatten und auf den neusten Stand zu kommen..."
"Jetzt sag' schon, was macht ihr hier?" wollte Serelloth ungeduldig von Aerien wissen.
"Wir sind auf dem Weg zum Anwesen jenseits dieses Waldes," sagte diese. "Dort lebt der Mann, der eure gesuchten Ostlinge angeheuert hat. Wir wollen ihn zur Rechenschaft ziehen."
"Dann geht uns die Sache ebenfalls etwas an," beschloss Serelloth in einem Ton, der keine Widerrede duldete. "Wir kommen mit euch."
"Nun, ich denke, du schuldest mir ohnehin einen Gefallen, nach deinem spurlosen Verschwinden bei unserer letzten Begegnung," sagte Hilgorn mit einem Schmunzeln, vermutlich meinte er es damit aber nicht sonderlich ernst. "Wenn ihr uns in Bar-Erib helfen wollt, nehme ich das Angebot gerne an."
Serelloth kicherte, dann nickte sie. „Und wenn das erledigt ist, reiten wir alle gemeinsam nach Dol Amroth," sagte Serelloth, als wäre es damit beschlossen.
Damrod und Hilgorn tauschten einen Blick aus, dann hoben sie beide die Schultern. "In Ordnung, schätze ich," sagte der Anführer der Waldläufer.
So verstärkt führten sie die Pferde noch aus dem Wald heraus, und banden sie dann an einem Baum an. Zu sechst folgten sie dem Weg, der sie nun über die Felder rings um das Anwesen von Bar-Erib direkt zum Tor Gilanors führen würde...
Hilgorn, Aerien, Ladion, Serelloth und Damrod nach Belfalas
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