Ryltha und Cyneric vom Gasthaus 'Uldors Rast'"Wie ich sehe schließst du schnell Freundschaft, Cyneric," sagte Ryltha nachdem sie einige Zeit schweigend nebeneinander her gegangen waren. Da sie noch immer ihre offizielle Kommandantenrüstung trug hielt niemand die beiden auf ihrem Weg auf, der sie zum Hafen führte wie Cyneric nach einiger Zeit feststellte.
Cyneric wusste sofort, worauf sie anspielte. "Ich habe Milva nichts über... eure Geheimnisse verraten," stellte er klar.
Ryltha warf ihm einen wissenden Blick zu. "Du hast den Brunnen erwähnt," sagte sie und in ihrer Stimme schwang Ärger mit. "Ich dachte, du hättest verstanden, dass es sich dabei um eine absolut vertrauliche Angelegenheit gehandelt hat."
"Ich nahm an, Milva gehört zu euch - ebenso wie diese Lilja," versuchte er sich zu verteidigen.
"Lilja? Sie gehört genausowenig zu den Drei wie du, Cyneric," korrigierte Ryltha. Dann schien ihr etwas einzufallen. "Moment mal - hat Lilja dich kontaktiert seit der Sache im Palastgarten?"
Cyneric nickte und erzählte leise und mit wenigen Sätzen, wie Lilja ihn gebeten hatte, ein Päckchen zu den Sachen eines der anderen Gardisten zu schmuggeln. Ryltha reagierte mit einem genervten Seufzen. "Ich dachte mir schon, dass Lilja ihr eigenes Spiel spielt. Wir werden sie im Auge behalten müssen..."
"Vielleicht solltet ihr etwas mehr mit offenen Karten spielen," schlug Cyneric vor. "Bei all der Heimlichtuerei weiß man ja selbst kaum noch, wer Freund und Feind ist."
"Die
Heimlichtuerei ist es, was die Essenz eines Schattens ausmacht," gab Ryltha kryptisch zurück.
Sehr hilfreich, dachte Cyneric.
Der Vollmond spiegelte sich in geheimnisvollem Licht auf der glatten Oberfläche des Meeres von Rhûn als Ryltha und Cyneric am mit steinernen Mauern eingerahmten Ufer ankamen. Vor dem ungewöhnlich hellem Mondlicht zeichnete sich die schlanke Silhouette einer schattenhaften Gestalt ab, die etwas erhöht auf einem der großen Poller stand, an dem normalerweise große Schiffe angetäut wurden. Als sie näher kamen fiel zu ihrer Rechten von einem der flachen Hausdächer ein zweiter Schatten herab und rollte sich geschickt ab. In dem Moment wusste Cyneric, dass sich alle drei Schattenläufer versammelt hatten - doch den Grund dafür kannte er nicht.
Ryltha setzte die Kapuze ihres Umhangs auf und ihr Gesicht verschwand in der Dunkelheit. Sie trat neben die anderen beiden Frauen, die sich am Kai versammelt hatten. Die größte der Drei gab Cyneric ein Zeichen, näher zu kommen und zog ein Fläschchen hervor.
"Trink das," sagte sie im befehlsgewohnten Ton. Es war Morrandir.
Cyneric nahm den Gegenstand entgegen, doch er zögerte. "Was ist das?" fragte er misstrauisch.
"Ein Gift," gab Morrandir ungerührt zu.
"Dann versteht ihr sicher, dass ich ablehnen muss," stellte Cyneric klar.
"Denk nach, Cyneric," sagte Ryltha. "Welchen Sinn würde es ergeben, dich jetzt umzubringen?"
Das ist schon wieder einer ihrer Tests, dachte Cyneric und starrte unentschlossen auf das Fläschchen in seiner Hand. Die Flüssigkeit darin war klar wie Wasser und glitzerte im Mondlicht, als er das Behältnis hin- und herbewegte.
"Du hast die Wahl," flüsterte Morrandir. "Wählst du Vertrauen, werden auch wir dir weiter vertrauen, trotz deiner Fehler heute. Wählst du Misstrauen, werden wir Abstand nehmen... und weitere Blicke in Anntírads Tiefen bleiben dir verwehrt."
Die dritte Frau stand schweigend neben Morrandir. Ihr Name lautete Teressa, erinnerte sich Cyneric. Auch als er sie zuletzt gesehen hatte - bei seinem Blick in den Brunnen - hatte sie kein Wort gesprochen. Er fragte sich, was es damit auf sich haben mochte.
"Bei Merîl," stieß Ryltha hervor und riss ihn aus seinen Gedanken. "Entscheide dich, Cyneric."
Also gut, dachte er.
Vielleicht ist das von all den schlechten Entscheidungen in letzter Zeit die verheerendste, aber was soll's. Er entkorkte das Fläschchen und leerte es in einem Zug. Die Flüssigkeit rann seine Kehle hinab und hinterließ einen Geschmack, der dem Geruch von Blüten stark ähnelte. Sofort breitete sich eine seltsame Leere in seinem Inneren aus, die abschweifende Gedanken unterband und ihn aufmerksam auf das machte, was sich vor seinen Augen abspielte. Und als Cyneric die vom Schatten ihrer Kapuzen halb verdeckten Gesichter der drei Frauen studierte blitzten die Augen Teressas für einen kurzen Augenblick auf, und Cyneric ahnte, dass auch sie unter dem Einfluss des Trankes stand, den er soeben zu sich genommen hatte. Morrandir und Ryltha hingegen strahlten Zufriedenheit aus.
"Jetzt, wo du Vertrauen gewählt hast, können wir dir gefahrlos mehr darüber erzählen, worum es uns wirklich geht," sagte Ryltha. "Der Trank stellt sicher, dass du es nicht weitererzählen wirst."
Cyneric wollte "Wie?" fragen, doch er stellte fest, dass es ihm nicht möglich war. Und schon einen Moment später dachte er nicht einmal mehr daran.
"Die Drei bilden das Herz der Schattenläufer," begann Morrandir mit einem bedeutungsvollen Ton in der Stimme.
"
An der Zahl drei seien wir, keiner weniger, keiner mehr. Drei Namen seien uns gegeben: Einer aus unserem Volke, einer aus unserer Seele und einer aus unserem Schicksal. Mór die Dunkelheit, Daé der Schatten und Ránt der Fluss mögen uns in Zeiten der Not den Weg erleuchten." intonierte Teressa und ihre Stimme klang tonlos, ohne Emotionen.
"Wir sind die Drei: Mór, Dáe, und Ránt," erklärte Ryltha ungewohnt ernsthaft. "Und unser Ziel ist es, die Ordnung in Rhûn wiederherzustellen."
"Dazu muss vor allem eines geschehen: Die Fürsten und der König müssen entmachtet werden. Sie richten dieses Land zugrunde," sagte Morrandir.
"Sie richten dieses Land zugrunde," wiederholte Teressa ausdruckslos.
"Unsere Mission ist von größter Wichtigkeit," fuhr Morrandir fort. "Durch den Angriff auf Thal und den Erebor hat sich die natürliche Ordnung verschoben. Das Reich von Gortharia ist zu groß geworden. Es muss beschnitten werden, wie eine Rose, damit es im vorgesehenen Maße weiterleben kann."
Und da verstand Cyneric. Durch den Sturz der Fürsten und den Tod oder die Absetzung des Königs würde die herrschende Schicht so sehr destabilisiert, dass überall Machtkämpfe um die frei gewordenen Posten ausbrechen würden. Vielleicht würden sich sogar einige der Fürstentümer vom Ostlingreich abspalten. In jedem Fall wäre das Reich für einige Zeit gelähmt und könnte niemals die Kontrolle über die eroberten Gebiete rings um Thal aufrecht erhalten.
"Seid ihr Agenten Thals?" äußerte er seine Vermutung.
"Wir sind Diener Merîls," gab Morrandir zurück, als würde dies alles erklären. Und erneut fand sich Cyneric nicht im Stande, nachzuhaken.
"Also gut," sagte er und kämpfte innerlich mit den Auswirkungen des Trankes. "Stürzen die Fürsten bricht das Land auseinander."
"Nur, wenn wir bald handeln," sagte Morrandir. "Die Zwerge der Eisenberge haben den Gesandten Gortharias mit Beleidigungen davon geschickt. Wenn der König davon hört wird sein Zorn grenzenlos sein und er wird den Großteil seines Heeres nach Khadar-zarâk, der Festung Gráin Feuerfausts, entsenden. Die Zwerge werden diesen Angriff nicht abwehren können. Noch können wir für einige Zeit verhindern, dass der Bote dem König Bericht darüber erstattet, aber jeder Tag der uns noch bleibt ist kostbar."
"Du verstehst also, wie wichtig die Arbeit der Schattenläufer ist, Cyneric," sagte Ryltha geradezu sanft.
"Vieles kommt mir noch äußerst geheimnisvoll vor," gab Cyneric ehrlich zu. "Aber ich verstehe, warum ihr den Umsturz in Rhûn verursachen wollt."
"Das sollte für den Moment genügen," befand Morrandir. "Halte dich bereit bis wir dich erneut brauchen - und halte geheim, was du heute gehört hast."
"Mit deinen neuen Freunden werde ich mich morgen befassen," sagte Ryltha.
Das Treffen der Schattenläufer war vorbei. Morrandir und Teressa verschwanden in südlicher Richtung entlang der großen Straße, die zum Hafen führte während Ryltha noch für einige Minuten verweilte. Ihre dunkelblonden Haare schimmerten im Mondlicht als sie die Kapuze absetzte und Cyneric einige Momente lang mit einem seltsamen Gesichtsausdruck musterte.
"Die Wirkung lässt nach, nicht wahr?" fragte sie.
"Ich glaube schon," antwortete Cyneric, der spürte, wie die Leere in seinem Inneren zu schwinden begann. "Was ist das nur für ein Gift?"
"Eigentlich ist es kein Gift - Morrandir hat es nur so bezeichnet um dich zu testen. Wir nennen es Winterblütensaft. Es ist sehr nützlich wenn es darum geht, Geheimnisse zu bewahren."
"Hat... Teressa auch davon getrunken?" fragte er.
Ryltha blickte zur Seite. "Sie ist noch nicht lange Dáe. Sie braucht es um ihre Aufgaben erfüllen zu können."
Cyneric beschloss, es dabei zu belassen. Er vermutete, dass Ryltha ihm sowieso nicht mehr erzählen würde. Als er sich verabschieden wollte sah er, dass die Schattenläuferin bereits mehrere Schritte von ihm weg gemacht hatte und langsam davon ging. Kurz bevor sie im Schatten der nahen Gebäude verschwand blieb sie noch einmal stehen und warf Cyneric einen letzten Blick über die Schulter zu. Dann tauchte Ryltha ins Dunkel ein und ließ Cyneric allein am Ufer zurück.
Cyneric zur Taverne 'Zum einbeinigen Zweibein'