Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Tol Thelyn

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Fine:
Aerien erwachte früh. Die ersten Sonnenstrahlen drangen gerade erst durch das Fenster und tauchten den Raum in ein geheimnisvolles, bronzefarbenes Licht. Aerien richtete sich im Bett auf - leise und vorsichtig, um Narissa nicht zu wecken, deren Oberkörper sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Aerien betrachtete sie einen langen Moment und sah zu, wie die Sonne ihre tastenden Finger langsam über Narissas schlafende Gestalt wandern ließ und ihr weißes Haar einen silbrig-rötlichen Farbton annahm. Dieser Anblick ist definitiv den ganzen Ärger wert, den ich seit der Flucht aus Minas Tirith erdulden musste, dachte Aerien. Ich bin froh, dass mich mein Pfad hierher geführt hat.
Rasch zog sie sich an und wählte eines der leichteren Kleider, die sich in Lóminîths Truhe befunden hatten. Selbst so früh am Morgen drang bereits warme Luft von draußen herein. Die Sommer auf Tol Thelyn waren nur wenig kühler als im Landesinneren Harads und seine Bewohner vertrauten auf die Winde, die vom Meer her über die Insel wehten, um sie ewas abzukühlen. Doch als Aerien vorsichtig eine Hand aus dem Fenster streckte, stellte sie fest, dass sich im Moment kein Lüftchen regte.
Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, Narissa aufzuwecken, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie hatte begonnen, ihre Zeit auf Tol Thelyn als eine Art Urlaub zu betrachten, der nicht ewig anhalten würde. Wer weiß, wann wir nach unserem Aufbruch von hier wieder die Gelegenheit haben werden, so richtig auszuschlafen. Also stahl sie sich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, so dass selbst Narissas geschärftes Gehör nichts davon mitbekam.

Im Eingangsbereich des Turms traf sie auf Minûlîth, die augenscheinlich niemals zu schlafen schien, sondern ständig dieses und jenes organisierte. Sie war wirklich eine äußerst beschäftigte Frau.
"Guten Morgen, Aerien!" rief die Herrin der Insel und umarmte Aerien herzlich, ehe sie dem Mädchen die Hände auf die Schultern legte. "Ich wünschte, meine Schwester könnte dich jetzt gerade sehen. Sie wäre entzückt darüber, wie gut dir ihre Sachen stehen! Weißt du, sie hat sich nur sehr schweren Herzens von diesen Kleidern getrennt. Aber es war nicht zu ändern; das Schiff, dass sie und ihren Verlobten nach Gondor trug, war bis zum Rand vollgestopft. Außerdem haben die meisten der Kleider, die sie hier gelassen hat, einen Schnitt und Muster, die zu sehr nach Umbar und den Südlanden aussehen. Das würde am Hofe von Dol Amroth nicht gut ankommen, wenn du verstehst was ich meine."
Und Aerien verstand. Am Hofe des Fürsten von Durthang war es nicht anders gewesen. Sitten und Moden zu befolgen war ein essentieller Teil davon gewesen, sich dort zu behaupten. Sie war jedoch der Meinung, dass es in Dol Amroth sicherlich nicht ganz so schlimm wie in der Festung der Schwarzen Númenorer zugehen musste. Also nickte sie.
"Ich bin froh darüber, hier einige Sachen zum Wechseln zu haben," sagte sie höflich. "Wenn ich ehrlich bin, hat es mich schon gestört, den ganzen Weg von Mordor bis Ain Séfra immer dieselbe Kleidung zu tragen."
"Das kann ich dir nicht verdenken," meinte Minûlîth. "Wo wir gerade davon sprechen: deine Rüstung habe ich Gardír, dem Schmied gegeben. Du kannst sie dir später bei ihm abholen. Ich habe ihm gesagt, er soll die Siegel Mordors entfernen und die Beulen heraushauen. Er sorgt dafür, dass du im Kampf einen weniger düsteren Eindruck machst; jetzt, wo du nicht mehr für den Schatten kämpfst."
"Ich danke dir, Herrin," antwortete Aerien und wollte respektvoll das Haupt senken, aber Minûlîth hielt sie zurück.
"Nicht so förmlich, meine Liebe, du gehörst doch zur Familie!" rief sie belustigt und versetzte Aerien einen geradezu spielerischen Stups gegen den Oberarm. "Du wirst mich Melíril oder Tante nennen, hörst du?"
"Wie du wünschst, Melíril," sagte Aerien mit einem kleinen Lächeln.
Minûlîth erwiderte das Lächeln. "Du könntest meine Tochter sein, wir sehen uns sogar ein wenig ähnlich - kein Wunder bei unserer Verwandschaft. Weißt du, ich habe mir schon immer ein Mädchen gewünscht - doch dann kam Túor."
"Er ist ein guter Junge," versuchte Aerien dagegenzuhalten.
"Nein, er ist ein Wirbelwind," seufzte Minûlîth. "Und sein Vater stachelt ihn umso mehr auf, mit seinen Geschichten vom Reich der Turmherren und seinen Abenteuern im Süden. Du bist die Einzige, die hier noch etwas Vernunft zeigt, ganz im Gegensatz zu meiner anderen Ersatztochter. Sag' Narissa, dass sie aufhören soll, Túor ihre gefährlichen Kampftricks beizubringen, ja? Er ist noch nicht alt genug für diesen Unsinn... und wenn er es ist, wird sein Vater seine Ausbildung übernehmen. Er hat mehr Erfahrung in solchen Dingen."
"Ich werde es ihr ausrichten," versprach Aerien, auch wenn sie nicht daran glaubte, dass Narissa sich an Minûlîths Anordnung halten würde.
Minûlîth nickte zufrieden. "Wenn du mir noch weiter behilflich sein möchtest, könntest du Serelloth ihr Früstück bringen. Es müsste gleich fertig sein. Würdest du das für mich tun, Aerien?"
"Ich wollte Serelloth sowieso bald besuchen," antwortete Aerien. "Ich gehe sofort. Bis später, Melíril."
Die Herrin der Insel strich Aerien zum Abschied quer über den Kopf und eilte dann geschäftig davon.

Aerien stieß die Tür zu Serelloths Zimmer mit dem linken Fuß auf, denn ihre Hände waren damit beschäftigt, das schwer beladene Tablett zu tragen. Serelloth bekam ein reichhaltiges Frühstück seitdem sie Minûlîth gegenüber erwähnt hatte, dass sie nach dem Aufstehen den größten Hunger des Tages hatte und sich dafür mittags und abends beim Essen eher zurückhielt. Serelloth war bereits wach und war so sehr in ein altes Buch vertieft, dass sie nicht einmal aufblickte sondern nur sagte: "Stell es auf den kleinen Tisch neben mir und dann lass' mich in Ruhe - es ist gerade zu spannend um des Frühstücks wegen mittendrin aufzuhören."
Offensichtlich hatte sie nicht erwartet, dass Aerien diejenige sein würde, die ihr das Frühstück brachte, sondern eine der Bediensteten Minûlîths, weshalb Aerien ihr diese Begrüßung nicht übel nahm. Sie stellte das Tablett wie angeordnet neben Serelloths Bett ab und erwog, ihrer gondorischen Freundin das Buch einfach aus der Hand zu schnappen. Und dabei fiel ihr auf, dass das genau das wäre, was Narissa getan hatte. Sie färbt wohl auf mich ab, dachte Aerien lächelnd und setzte sich auf die Bettkante um abzuwarten.
"Was ist denn noch?" fragte Serelloth, wandte ihr jedoch noch immer nicht den Blick zu.
"Muss wohl wirklich fesselnd sein was du da liest," sagte Aerien schmunzelnd. "Worum geht es denn?"
"Um die Legenden von... Moment mal, Aerien? Du bist das? Oh, ich hatte ja keine Ahnung..."
"Hättest du mich wenigstens eines kurzen Blickes gewürdigt würde dein Gesicht jetzt nicht roter als die Schlange Sûladans werden," neckte Aerien als Serelloth das Buch endlich sinken ließ.
Serelloth entgegnete nichts, ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben - etwas, das nur äußerst selten bei ihr vorkam.
"Ich hätte von einer erfahrenen Waldläuferin eigentlich erwartet, dass sie sich ihrer Umgebung ständig bewusst ist - schließlich könnte überall Gefahr lauern," sagte eine neue Stimme. Es war Edrahil, der im Türrahmen lehnte. "Aber keine Sorge, Serelloth - wenn Aerien nichts verrät, wird niemand je herausfinden, dass du dich in einen Bücherwurm verwandelt hast."
"Guten Morgen Meister Edrahil," sagte Aerien und stand auf. Dem Gondorer gelang es noch immer, dass sie sich etwas unbehaglich unter seinem scharfen Blick fühlte. Obwohl er gerade für seine Verhältnisse gute Laune zu haben schien, gab er Aerien dennoch das Gefühl, dass sie sich seines Vertrauens noch immer als würdig erweisen musste.
"Guten Morgen, Aerien. Ich nehme an, Narissa schläft noch?" fragte der Herr der Spione und ging von der Türe weg, bis er neben Serelloths Bett stand, Aerien gegenüber.
Aerien nickte, und Serelloth sagte: "Das passt zu ihr. Kaum ist sie nach Hause zurückgekehrt, wird sie faul." Das Mädchen grinste - ein Anblick, der Aeriens Seele unendlich gut tat. Sie war froh, dass Serelloth die Begegnung mit Karnuzîr überlebt hatte und schon bald nicht mehr ans Bett gefesselt sein würde.
"Edrahil sagt, ich solle nach Ithilen zurückkehren wenn ich wieder reisen kann," erzählte Serelloth. Das machte Aerien nachdenklich, denn sie hatte sich zwar damit abgefunden, mit Narissa auf Arandirs geheimem Weg nach Mordor zu reisen, hatte sich dabei jedoch noch keine Gedanken darüber gemacht, was dann aus Serelloth werden würde. In ihrer bisherigen Vorstellung hatte sie die Straße nach zum Schattenland mit Narissa alleine eingeschlagen. Sie vermutete, dass Edrahil Serelloth zu Damrod schicken wollte, um Verbündete für Dol Amroth und die Insel zu gewinnen, und stellte dem älteren Mann diese Frage.
"Gut erkannt," bestätigte Edrahil. "Imrahil, der Truchsess Gondors, stand bereits seit der Schlacht um Linhir mit Damrod von Ithilien in Verbindung, doch es war nie ein besonders enges Band. Doch dank der Rückeroberung des Ethirs ergeben sich neue Möglichkeiten für Gondor, eine längerfristige Verbindung aufzubauen. Und auch für Tol Thelyn könnte sich eine Allianz mit den Waldläufern als vorteilhaft erweisen."
"Ich verstehe," sagte Aerien. "Und was hältst du davon, Serelloth?"
Das gondorische Mädchen verzog das Gesicht.. "Edrahil hat recht," sagte sie, klang jedoch unglücklich dabei. "Ich sollte gehen, sobald es mir möglich ist. Aber ein Teil von mir würde alles dafür geben, Narissa und dich dorthin zu begleiten, wo euch euer Weg hinführen wird. Ich will nicht, dass ihr euch von mir im Stich gelassen fühlt."
Aerien setzte sich wieder auf die Bettkante und nahm Serelloths Hand. "Nein, Serelloth. Ich weiß, dass du uns nie im Stich lassen würdest."
"Und was habe ich dann bei Qafsah getan?" brach es aus Serelloth hervor. "Sieh doch nur, welches Leid ich dabei verursacht habe. Du wärst um ein Haar zurück nach Mordor gebracht worden!"
Das erinnerte Aerien an das Gespräch, das sie mit Serelloth nach ihrer Rückkehr auf die Insel gehabt hatte - nur hatte sich damals Aerien die ganze Schuld gegeben. "Das hatten wir doch alles schon," sagte sie daher. "Ich glaube, wir hatten uns darauf geeinigt, dass Karnuzîr an allem schuld ist - und nicht du. Ich glaube, Herr Edrahil hat Recht - du solltest nach Ithilien gehen. Und das sage ich nicht, weil ich dich loswerden möchte, sondern weil ich glaube, dass der Wege, der vor Narissa und mir liegt, zu gefährlich ist, um ihn zu dritt zu beschreiten. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst, verstehst du?"
Das brachte ihr einen wütenden Blick von Serelloth ein. "Du weißt ganz genau dass mich keine Gefahren davon abhalten würden, dir zu helfen," presste sie hervor. "Aber ich will mich nicht streiten. Ich weiß, dass Tol Thelyn Verbündete braucht, und mein Vater wird mir zuhören. Also werde ich gehen - aber nur, wenn du mir versprichst, dass ihr mich nach eurem Abenteuer in Mordor auf dem Weg nach Gondor abholt, ja? Ich werde in Ithilien auf euch warten. Versprich es mir!"
"Ich verspreche es," sagte Aerien, und sie meinte es auch so.

Edrahil hatte die Auseinandersetzung bislang stumm verfolgt, doch nun sagte er: "Ihr beiden habt da zwei wichtige Punkte angesprochen. Der Weg nach Mordor wird kein Leichter sein, das ist offensichtlich. Und Tol Thelyn braucht Verbündete, das ist ebenso klar. Deswegen schlage ich vor, dass Aerien und Narissa so bald wie möglich aufbrechen sollten - in Richtung des Königreiches von Kerma."
"Kerma?" wiederholte Aerien verwundert. "Das Reich König Músabs?"
"Ganz genau," erwiderte Edrahil. "Wie ich höre, bestanden einst freundschaftliche Beziehung zwischen den Kermern und den Thelynrim. Und König Músab scheint dir wohlgesonnen zu sein, Aerien. Diese Gelegenheit sollten wir nicht verstreichen lassen. Überdies würde diese Reise sicherlich eine gute Übung für euch sein. Ich werde Narissa wecken und es ihr sagen."
"Sie weiß schon Bescheid," sagte Narissa und kam herein. Sie trug die Haare offen und war wie am Vortag in die Tracht Tol Thelyns gekleidet. Und ganz offensichtlich hatte sie an der Türe gelauscht.
Edrahils linke Augenbraue fuhr in die Höhe. "Nun, wenn dem so ist, habe ich mir den Weg zu deinem Zimmer gerade gespart."
"Und ich finde, wir sollten diese Reise machen," erklärte Narissa. "Kerma liegt am östlichen Meer - damit wäre für dich ein Anreiz geschaffen, dem Reich einen Besuch abzustatten," fügte sie in Aeriens Richtung hinzu.
Aerien hingegen war nicht sonderlich begeistert. Sie hatte sich darauf gefreut, mit Narissa nach Gondor zu gehen, nachdem ihr Auftrag in Saurons Land beendet war. Doch Kerma lag in der entgegengesetzten Richtung. Dennoch verstand sie die Argumente, die dafür sprachen. Also atmete sie tief aus und sagte: "Also gut. Statten wir meinem königlichen Verwandten einen Besuch in seiner Heimat ab...."

Eandril:
Die nächsten beiden Tage vergingen rasch. Narissa las alles, was sich im Turm an Informationen über Kerma finden ließ - was leider nicht allzu viel war - und begann sich, wie sie sagte, für die Reise aufzuwärmen. Morgens lief sie im Dauerlauf zu den Felsklippen im Südwesten der Insel, an denen die während ihrer Ausbildung gelernt hatte, kletterte rasch hinauf und wieder hinunter und lief wieder zurück.
Ihr Onkel schüttelte den Kopf über diesen Eifer, und sagte dazu: "Ihr werdet mit König Músab verhandeln, mehr nicht. " Aber er hielt sie nicht ab.
Am Morgen des dritten Tages ließ Narissa sich von Minûlîth die Haare schneiden. Vorher waren sie mehr als schulterlang und entsprechend auffällig gewesen, jetzt reichten nur einige Strähnen, die zu beiden Seiten des Kopfes locker herunterfielen bis auf die Schultern. Die restlichen Haare band Narissa im Nacken zu einem losen Knoten zusammen und machte sich auf die Suche nach Aerien.
"Du siehst... anders aus", sagte diese, nachdem Narissa sie auf dem Hof vor dem Turm gefunden hatte.
"Ich dachte mir, es wird vielleicht Zeit ein wenig unauffälliger zu sein", erklärte Narissa, und biss sich auf die Unterlippe. "Gefällt es dir nicht?" Sie fuhr sich ein wenig unsicher mit der Hand über den freien Nacken. Früher hatte sie nie großen Wert auf ihr Äußeres gelegt und es war ihr egal gewesen, was andere von ihr dachten. Viel hatte sich daran eigentlich nicht geändert, doch jetzt gab es eine Person, deren Meinung für sie zählte.
"Es ist nur ungewohnt", erwiderte Aerien mit einem beruhigenden Lächeln, und lehnte ihr Schwert, dass sie geschärft hatte, an die von der Sonne warme Außenmauer des Turmes. "Ich finde, es steht dir durchaus."
Narissa versetzte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange, fragte aber: "Meinst du wirklich?" "Natürlich", gab Aerien mit gespielten Vorwurf zurück. "Glaubst du, ich würde ich anlügen?"
"Hm. Nein."
"Na also. Aber warum ausgerechnet jetzt? Ich glaube nicht, dass König Músab dich an Suladân verkaufen würde." Narissa zog die Schultern noch. "Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass an dieser Sache mehr dran sein wird, als wir jetzt denken."
"Dann hoffe ich, dass dein Gefühl sich täuscht", meinte Aerien. "Ich würde mich jedenfalls über eine angenehm friedliche Reise, hin und wieder zurück, nicht beschweren - wenn man bedenkt was noch vor uns liegt."
"Mhm." Narissa zog sie am Ärmel mit sich. "Lass uns um die Wette laufen, zu den Felsen im Süden. Wer zuletzt da ist, der... das überlege ich mir noch."
"Ich werde nicht in einem Kleid um die Wette laufen!", protestierte Aerien.
"Dann zieh dich eben um - ich warte solange hier. Oder ich verschaffe mir schon einen kleinen Vorsprung...", erwiderte Narissa mit einem Grinsen, und Aerien drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger. "Du bist wirklich unmöglich. Wag es ja nicht!"
Narissa lehnte sich an die waren Steine der Mauer und sagte mit einem frechen Grinsen: "Hast Recht, ich habe es nicht nötig, mir einen Vorsprung zu verschaffen. Also los, lass mich nicht zulange warten!"

Nicht allzu lange Zeit später ließ sie sich unterhalb des Kletterfelsens ins dichte Gras fallen. Ihr Atem ging ein wenig schneller als üblich und auf ihren Schläfen und der Stirn glitzerten feine Schweißtropfen. Trotzdem war sie zufrieden, denn sie war schneller als Aerien gewesen.
Diese ließ sich einige Herzschläge später neben Narissa zu Boden gleiten, atmete allerdings ein wenig ruhiger und wirkte weniger angestrengt. "Das nächste Mal laufen wir in voller Rüstung", schlug sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen vor.
"In voller Rüstung? Darin kann man sich ja nicht einmal richtig bewegen!", wehrte Narissa ab, und begann unbewusst mit Aeriens Pferdeschwanz zu spielen, ließ die seidigen schwarzen Haare durch die Finger gleiten. "Du vielleicht nicht", stichelte Aerien. "Ich wette mit dir, in voller Rüstung würdest du doppelt so lange brauchen, und ich wäre genauso schnell wie jetzt."
"Ha! Das ist doch Angeberei", meinte Narissa, aber sie sagte es ohne Schärfe. Auf der Lichtung unterhalb der Felsen war es friedlich und ruhig, und einige Vögel sangen in den Bäumen und vom Meer her waren leise die Schreie der Möwen zu hören. Diesem Geräusch entging man auf der Insel nirgends, und es war für Narissa ein Stück Heimat. "Höchstens ein bisschen", sagte Aerien ein wenig schläfrig. Narissa hatte sich inzwischen aufgesetzt, und Aerien hatte den Kopf auf ihren Oberschenkel gebettet.
Sie blieben einige Zeit schweigend so sitzen, und Narissa wünschte sich beinahe, nie wieder fortgehen zu müssen. Doch irgendwann sagte sie ein wenig wehmütig: "Wir sollten zurückgehen. Sonst kann Serelloth sich nicht von uns verabschieden, und du kannst dir ja vorstellen, was sie davon halten würde."
Aerien seufzte, lächelte aber als sie antwortete: "Ja, das kann ich mir nur allzu lebhaft vorstellen..."

An dem Kai, an dem die Thoroval vor Anker lag, hatten sich eine kleine Menge versammelt, als Aerien und Narissa den Hafen erreichten. Hallatan, der Kapitän der Thoroval verabschiedete sich gerade von seinem Sohn Hírilorn. Ta-er, die Serelloth als Vertreterin des Silbernen Bogens nach Gondor begleiten würde, sprach leise mit Eayan, während Serelloth mit Edrahil, Thorongil und Minûlîth redete. 
Als Narissa und Aerien zu ihnen traten, sagte Serelloth: "Da seid ihr ja. Ich dachte schon, ihr wolltet mich aufbrechen lassen, ohne mich zu verabschieden." Sie sagte es im Scherz, doch es war deutlich zu erkennen, dass ihre Aussage einen wahren Kern hatte. Bei aller äußerlichen Unbeschwertheit schien Serelloths Selbstsicherheit in letzter Zeit ein wenig gelitten zu haben. Narissa hoffte, dass sie in Ithilien zurechtkommen würde - doch mit Ta-er an Serelloths Seite brauchte sie sich vermutlich keine Sorgen zu machen.
"Das würde uns doch nie einfallen", erwiderte Aerien, und schloss das Mädchen fest in die Arme. "Sei vorsichtig und pass auf dich auf. Und grüß deinen Vater von mir, wenn du ihn siehst - und Beregond, falls er dort ist."
"Das mache ich, 'Rien... und ich werde ihm auch erklären, warum du einfach verschwunden bist", sagte Serelloth mit einem Augenzwinkern, und Aerien räusperte sich ein wenig unbehaglich. "Ja bitte, erklär es ihm und sag ihm, dass es mir leid tut ihn einfach alleine gelassen zu haben."
Als nächstes umarmte Serelloth Narissa, und sagte: "Pass gut auf Aerien auf - obwohl, das tust du wahrscheinlich sowieso."
Narissa nickte, und Aerien warf ein: "Und wer passt auf sie auf?" Serelloth lachte. "Dann passt eben aufeinander auf. Bitte."
Verstohlen schob Narissa ihre Finger durch Aeriens, als sie antwortete: "Natürlich. Irgendwann treffen wir uns alle heile in Gondor wieder. Das verspreche ich, Serelloth."
"Man sollte nur Dinge versprechen, die man halten kann", sagte Edrahil leise, und Minûlîth verdrehte die Augen.
"Was ich verspreche, halte ich", gab Narissa entschlossen zurück. Sie würde sich nicht von einem alten Mann ihre Zuversicht nehmen lassen. Edrahil schwieg, doch der Zweifel in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Serelloth verabschiedete sich auch von Minûlîth und Thorongil und bedankte sich für ihre Gastfreundschaft, und sagte zuletzt Edrahil Lebwohl. Sie umarmte den Spion kurz, obwohl dieser nicht unbedingt damit einverstanden zu sein schien, und Narissa nahm sich vor, sich seinen verdutzten Gesichtsausdruck zu merken um sich später aufzuheitern.
"Auf dem Schiff wirst du etwas finden, um dir die Zeit auf der Reise zu vertreiben", sagte Edrahil leise. "Jetzt geh, Serelloth."
Nacheinander kletterten Serelloth, Hallatan und Ta-er an Bord der Thoroval. Die Leinen wurden losgemacht, und ein leichter Wind trieb das Schiff langsam aus dem Hafen und in Richtung Norden.
Während das Schiff sich langsam entfernte, fragte Narissa: "Was habt ihr gemeint, Edrahil? Womit soll Serelloth sich die Zeit vertreiben?"
"Ich habe... einige Bücher die ihr gefallen könnten aus der Bibliothek des Turmes entwendet", antwortete der Spion, und Thorongil wandte ihm überrascht den Kopf zu. "Ihr habt was? Ihr hätte auch einfach fragen können, das wisst ihr."
"Durchaus", erwiderte Edrahil. "Aber das hätte die Überraschung verdorben. Ihr hättet es womöglich eurer Frau erzählt und Minûlîth ist, wie wir alle, der Verbreitung von Gerüchten nicht allzu abgeneigt..." Die Angesprochene schnappte empört nach Luft, doch alle anderen lachten - selbst Eayan, der normalerweise nur selten überhaupt lächelte.

Langsam zerstreute sich die Menge, doch Narissa und Aerien blieben noch einige Zeit am Hafen stehen und sahen der Thoroval nach, bis sie am Horizont verschwand. "Ich wünschte, wir hätten mitfahren können", meinte Narissa. "Gemeinsam Gondor erkunden, Dol Amroth und Ithilien sehen..."
"Eines Tages", sagte Aerien leise. "Eines Tages werden wir zusammen nach Gondor gehen, und selbst die Weiße Stadt sehen, frei von Saurons Dienern, wie sie sein sollte. Aber vorher gibt es noch viel zu tun."
"Ich weiß." Narissa seufzte. "Also dann... morgen sind wir an der Reihe."

Fine:
Aerien saß in Narissas Turmzimmer am Fenster und sah der Sonne dabei zu, wie sie langsam über dem rotgoldenen Ozean Belegaer versank. Auf dem Rückweg zum Turm war Aerien bereits wortkarg gewesen, und nun, da sie für einige Momente alleine war, hatte sie endlich Zeit, ihre durcheinander geratenen Gedanken zu ordnen. Narissa war ihr bislang nicht die Treppe des Turmes hinauf gefolgt, sondern war in Richtung der Küche abgebogen. Wahrscheinlich wollte sie sich dort nach Essen umsehen. Aerien hingegen verspürte kaum Appetit. Serelloths Abschied hatte sie an etwas erinnert. Schemenhafte Bilder aus ihrer Vergangenheit zogen vor ihrem inneren Auge herauf...

~~~
Azruarî Minluzîrith stand neben der dreizehnjährigen Azruphel und hatte die Hand ihrer Enkelin fest ergriffen. Hinter ihnen ragte das düstere große Tor Durthangs in den von dicken Wolken bedeckten Himmel Mordors hinauf und versprach all jenen, die seine Schwelle ohne Erlaubnis überquerten, ein grausames Schicksal. Dies war Azruphels Zuhause... der einzige Ort, den sie kannte. Hier waren ihre Familie und alle, die sie kannte... doch dies änderte sich nun.
"Dies ist eine große Ehre für deinen Vater," sagte Azruphels Mutter Lóminzîl leise. "Er wird zum Dunklen Turm gerufen und vor den Großen Gebieter treten. Dies wird nur den würdigsten Dienern des Auges gewährt." Neben ihr standen zwei schweigsame Gardisten, deren Namen Azruphel nur deshalb kannte, weil ihr Vater seit seiner Ernennung zum Fürsten von Durthang dazu übergegangen war, selbst den niedersten Bediensteten mit vollem Namen anzusprechen; eine Geste des Respekts, die ganz und gar ungewöhnlich für den Bâr n'Adûnâi, den Herrn der Erben Númenors, war. Azruphels Großmutter hatte ihr einmal erklärt, dass ihr Vater Varakhôr einen anderen Ansatz verfolgte als sein Vorgänger, der in Lugbûrz saß und dort als Mund des Großen Gebieters bekannt war. Varakhôr herrschte nicht durch Furcht, sondern durch Respekt. Er war weniger grausam, doch dabei nicht weniger konsequent. Er gab jenen eine Chance, die sich durch ihre Talente hervortaten und stellte selbst die hochgeborensten Söhne und Töchter Durthangs auf die Probe. Und bislang schien diese Methode zu funktionieren. Niemand stellte die Autorität von Azruphels Vaters infrage. Seit seinem Amtsantritt hatte es nicht einen einzigen Attentatsversuch gegeben. Dennoch ließ er seine Familie stets gut bewachen. Die Gardisten - Aglarân und Zaphrakár - waren altgediente Veteranen und erledigten ihre Aufgaben ohne zu murren. Azruphel war das ganz recht, denn so konnte sie die Gegenwart der schwer gepanzerten, furchteinflößenden Gestalten recht gut ausblenden.

Eine Bewegung zu ihrer Rechten erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr schwarzsilbernes Kleid flatterte leicht im Wind, der durch das Tal von Durthang glitt und Azruphel ließ die Hände an ihren Seiten hinabgleiten, um den Saum unten zu halten. Als sie wieder aufblickte stand jemand vor ihr. Es war Arnakhôr, Abrazîrs Sohn, gehüllt in dunkelgraue, edle Gewänder. Er war sechs Jahre älter als Azruphel und nach dem Gesetz der Númenorer ein ausgewachsener Mann. Aber Azruphel erinnerte sich noch an den Jungen, der er gewesen war, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. Rasch unterdrückte sie jegliche Anspannung und begegnete seinem Blick mit der für solche Anlässe angebrachte Neutralität. Eine Pause trat ein, während ihr Vater im Hintergrund in den Sattel seines schwarzen Rosses stieg.
"Was gibt es, Arnakhôr?" fragte Azruphel schließlich, nachdem sie innerlich bis siebzig gezählt hatte.
"Wie fühlst du dich?" konterte ihr Gegenüber und brachte Azruphel damit aus dem Konzept. Zwar hatte ihre Mutter bereits damit begonnen, ihr die Feinheiten der Gesprächskunst beizubringen, doch Azruphel war noch immer ein Mädchen, das gerade erst an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, und hatte die unterschütterliche, ruhige Miene, die ihre Mutter so perfekt beherrschte, noch längst nicht vollständig unter Kontrolle. "Es ist das erste Mal, dass dein Vater Durthang für längere Zeit verlassen wird," fuhr Arnakhôr fort. "Wirst du ihn vermissen?"
Das war eine sonderbare Frage. Natürlich würde Azruphel ihren Vater vermissen. Aber wieso wollte Arnakhôr das wissen? "Es geht mir gut," sagte sie diplomatisch und wiederholte, was ihre Mutter zuvor gesagt hatte: "Ihm wird eine große Ehre zuteil."
Arnakhôr betrachtete sie mit einem seltsamen Blick, unter dem Azruphel sich noch unbehaglicher als zuvor fühlte. Sie fühlte sich nackt und schlang unbewusst die Arme um den Oberkörper.
"Geh deiner Wege, Junge," zischte Azruphels Großmutter Azruarî. "Sie verabschiedet sich von ihrem Vater, und du bist ihr im Weg. Vergiss nicht, wo dein Platz ist."
"Ich kenne meinen Platz, Herrin," gab Arnakhôr zurück. "Ich kenne ihn sehr genau." Damit gab er den Weg frei und verschwand in der Menge.

Azruphel lief rasch auf die andere Seite der Straße, wo sich die Eskorte ihres Vaters um sein Pferd sammelte. Die in graue, düstere Rüstungen gehüllten Krieger bildeten eine Gasse für das Mädchen und sie blieb neben den Vorderbeinen des Pferdes stehen. "Vater," rief Arzuphel und erregte Varakhors Aufmerksamkeit, als er gerade seinen Helm aufsetzte.
"Ich erwarte, dass du deine Studien in meiner Abwesenheit nicht vernachlässigst, Azruphel," erwiderte er und strich ihr über den Kopf.
"Das werde ich nicht, Vater. Ich verspreche es!"
"Wenn ich zurückkehre, werden wir gemeinsam herausfinden, ob du dich für das Erlernen der dunklen Künste eignest," versprach Varakhôr im Gegenzug. "Der Große Gebieter hat einen Auftrag in Khand für mich. Es werden viele Tage vergehen, bis wir uns wiedersehen. Bleibe unerschrocken, und höre auf deine Mutter. Gib immer dein Bestes - für das flammende Auge."
"Für das flammende Auge," wisperte Azruphel andächtig.
Varakhôr gab seinem Pferd die Sporen und preschte davon, gefolgt von seiner Eskorte. Azruphel blieb allein zurück.

~~~
Serelloths Abschied war eine ganz andere Sache als der Aufbruch ihres Vaters gewesen, aber in Aerien hatte er ähnliche Gefühle der Veränderung und des Verlusts ausgelöst. Sie hatte damals natürlich gewusst, dass ihr Vater zurückkehren würde; hatte fest damit gerechnet und war nicht enttäuscht worden. Aber mit Varakhôr war damals ein fester Bestandteil ihres Lebens für eine Zeit lang verschwunden, und hatte Azruphel damit aus ihrem gewohnten Alltag gerissen. Das Gefühl, das sie gehabt hatte als sie der Thoroval nachgesehen hatte, war beinahe exakt dasselbe gewesen, das die dreizehnjährige Azruphel damals empfunden hatte, als sie ihren Vater davonreiten sah. Und damals wie heute blieb sie in der Geheinschaft von Menschen zurück, die sie als ihre Familie bezeichnete. Dennoch würde für einige Zeit jemand fehlen.

Als Aerien an ihre neue Familie dachte kam wie aufs Stichwort Narissa hereingeplatz, voll beladen mit allerlei Köstlichkeiten, die sie später als "das beste Abendessen, das Tol Thelyn je gesehen hat" bezeichnete. Sie stellte kurzerhand alles auf ihr Bett und kam zu Aerien hinüber. "Du kannst ein andermal trübsinnig sein, Sternchen. Heute ist unser letzer Abend auf der Insel. Und den werden wir feiern, hörst du? Ich will keine traurigen Gesichter sehen."
"Wie hast du mich gerade genannt, Rissa?"
Narissa stupste mit ihrem Zeigefinger gegen Aeriens Medaillon, das aus ihrem Ausschnitt hervorragte. "Finde dich damit ab. Es war an der Zeit, dir einen Spitznamen verpassen. Das fand zumindest Túor, und ich stimme ihm voll zu."
"Túor nennt mich..."
"Er ist ein aufgewecktes Kerlchen, findest du nicht?"
"Du hast ihn auch noch ermuntert? Du bist wirklich unmöglich!"
Narissa grinste unverschämt. "Das wusstest du schon bevor du dich mit mir eingelassen hast, und es hat dich nicht davon abgehalten, mir deine..."
"Kein einziges Wort mehr!" unterbrach Aerien ihre Freundin, ehe sie weitersprechen konnte. "Dir werd' ich's zeigen!"
Und damit stürzte sie sich auf Narissa.

Am späten Vormittag des nächsten Tages standen Túor und Thorongil nebeneinander am Kai von Tol Thelyn und sahen zu, wie sich ein Ruderboot vom Festland näherte. Narissa hatte darauf bestanden, keines der großen Schiffe für die Überfahrt zu benutzen, da "kleine Boote viel aufregender sind". Sie hielt Aeriens Hand und wippte aufgeregt mit den Beinen auf- und ab, bis Aerien ihr einen gereizten Klaps auf den Rücken versetzte. "Bei den... silbernen Glocken von Valimar," wisperte sie. "Nächstes mal werde ich den Wein so gut verstecken, dass ihn selbst der beste Meisterdieb Mittelerdes nicht finden kann."
Narissa hingegen grinste breit. "Du wolltest doch wohl nicht gerade Bei den Sternen sagen, hmm?"
"Untersteh' dich," drohte Aerien, und tatsächlich beschränkte sich Narissa darauf, einen Stern mit ihrem Finger in die Luft zu malen. Aerien schlug danach, doch Narissa zog die Hand aus ihrer Reichweite.
"Deine gute Laune ist wohl nicht ganz so ansteckend wie ich dachte," sagte Minûlîth, die das Ganze mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete. "Aerien scheint zumindest völlig immun dagegen zu sein."
"Wenigstens eine, die den Ernst der Lager erkannt hat," sagte Edrahil, der gerade herbeikam. "Vergesst nicht, wie wichtig euer Auftrag ist, Mädchen. Ihr müsst bei König Músab einen guten Eindruck machen und die Insel würdig vertreten. Wir brauchen dieses Bündnis."
"Ich weiß das, Meister Edrahil," sagte Aerien betont. "Und ich gebe Euch mein Wort, dass ich mein Bestes dafür tun werde, dass das Königreich von Kerma ein Bündnis mit Tol Thelyn schließt."
"Ich verlasse mich darauf, Aerien," schärfte Edrahil ihr noch einmal ein. "Und der Herr und die Herrin der Insel tun es ebenso."
Thorongil, der Túor inzwischen auf die Schultern gehoben hatte, meinte: "Sie schaffen das schon, Edrahil. Vergesst nicht, auf eurer Reise auf hin und wieder ein wenig Spaß zu haben! Dass ihr vorsichtig sein und um Sûladans Reich einen weiten Bogen machen solltet wisst ihr ja bereits. Vertrödelt nicht zu viel Zeit in Kerma! Es ist ein faszinierendes Land, das viel zu bieten hat, aber wir brauchen euch bald wieder hier."
"Rissa und Sternchen machen das schon," stellte Túor zuversichtlich klar. "Ich habe euch nämlich nicht erlaubt, zu versagen."
"Na wenn das so ist," lachte Narissa, während Aerien nun doch den Anflug eines Lächelns zeigte. Sie hatte Túor trotz des fürchterlichen Spitznamens, den er ihr verpasst hatte, ins Herz geschlossen.
Endlich erreichte das Boot den Kai und drei Thelynrim sprangen von Bord, während der vierte sitzen blieb und die Vorräte entgegennahm, die man ihm reichte. Aerien und Narissa kletterten an Bord - Aerien vorsichtig und bedacht, Narissa mit einem übermütigen Sprung - und machten es sich im Bug gemütlich.
Jetzt beginnt es also, dachte Aerien.
Thorongil, Túor, Minûlîth und sogar Edrahil winkten ihnen zum Abschied, als das Boot wieder in See stach und sie in Richtung des Festlandes trug.

Aerien und Narissa nach Weit-Harad

Eandril:
Edrahil öffnete die eisenbeschlagene Tür im untersten Keller des Turmes und trat in den dunklen Raum hinein. Seine Fackel bot die einzige Lichtquelle im Raum und enthüllte einen Boden aus nacktem Stein, der nur mit einer dünnen Strohschicht bedeckt war. In einer Ecke kauerte Karnuzîr. Eine recht kurze Kette verband seinen rechten Arm mit der Wand, und schränkte ihn stark in seiner Bewegungsfreiheit ein. Als er das Licht der Fackel bemerkte, hob Aeriens Vetter kurz den Kopf, ließ ihn allerdings sofort wieder sinken als er Edrahil erkannte.
Edrahil befestigte die Fackel in einem Halter an der Wand und ließ sich schweigend auf einem Stuhl nieder, der Karnuzîrs Ecke gegenüberstand - zu weit entfernt als dass Karnuzîr ihn erreichen konnte. Eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, denn selbst so gründlich geschlagen wie er war, schätzte Edrahil Karnuzîr noch immer als extrem gefährlich ein.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, während dem Edrahil den Gefangenen nicht außer Augen ließ. Es war wichtig, dass Karnuzîr den ersten Schritt machte, denn wenn er das Gespräch eröffnete, würde er eher bereit sein, zu reden.

Schließlich hob Karnuzîr den Kopf. Das Fackellicht spiegelte sich flackernd in seinen dunklen Augen, als er fragte: "Was wollt ihr? Mich foltern? Dann nur zu..."
"Nicht foltern", erwiderte Edrahil. Seine Stimme war weich wie Samt, weise und gütig. Er hatte diese Stimme lange geübt, und in Dol Amroth oft eingesetzt um gefangene Kriminelle auf seine Seite zu ziehen. Ehemalige Kriminelle boten oftmals die besten Spione unter dem gemeinen Volk, und viele besaßen äußerst nützliche Kontakte. "Nur reden."
Karnuzîr schnaubte verächtlich. "Reden. Natürlich. Vielleicht wollt ihr mir beim Reden noch den ein oder anderen Finger abnehmen?" Seine Stimme klang bitter, offenbar hatte Thorongils Folter ihn doch stärker getroffen als er zeigen wollte.
Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, das ist nicht wirklich meine Art." Das war nicht die ganze Wahrheit. Er sah durchaus den Sinn darin, gefangene Feinde zu foltern um an Informationen zu kommen. Doch in diesem Fall hatte Thorongil bereits die Vorarbeit geleistet, und nun würde er etwas anders - feinfühliger - vorgehen können. "Sagt mir, Karnuzîr, wisst ihr, wer ich bin?"
Der Gefangene schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht die geringste Ahnung - wahrscheinlich seid ihr irgendeiner der Folterknechte dieses Turmherren. Also tut endlich, wozu ihr hergekommen seid." Edrahil seufzte. Offensichtlich hatte Karnuzîr überhaupt keine Ahnung davon, dass es auch in einer solchen Situation noch andere Methoden gab, das zu bekommen was man wollte, als brutale Folter.
"Eher sein Verbündeter", erwiderte er. "Mein Name ist Edrahil - von Linhir, wenn man so will, obwohl ich strenggenommen kein Adeliger bin. Ich bin der Herr der Spione von Dol Amroth."
Zum ersten Mal flackerte ein Hauch von Interesse in Karnuzîrs Augen auf. Damit hatte er offenbar nicht gerechnet. "Ihr seid weit weg von zu Hause, alter Mann."
"Ihr hingegen nicht", gab Edrahil zurück.
"Mordor ist weit weg von hier."
"Oh, ich spreche nicht von Mordor." Edrahil lächelte. Es war immer ein Vorteil, den Schwachpunkt des Gegners zu kennen, und Aeriens Erzählung über Kanuzîr hatte sich in dieser Hinsicht als überaus aufschlussreich erwiesen. "Das große weite Land Harad liegt gleich auf der anderen Seite der Bucht - und ihr seid ja immerhin zur Hälfte haradischer Abstammung, nicht wahr?"
Karnuzîr spuckte verächtlich zur Seite aus. "Mein Vater stammt aus dem Haus der Fürsten von Durthang, den einzig wahren Erben Númenors."
"Das mag sein. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ein solch edles Haus jemanden mit eurer Abstammung zu sich zählen würde..." Karnuzîr schwieg und sah zu Boden. Offenbar hatte Edrahil mit seiner Vermutung goldrichtig gelegen, und seinen wunden Punkt direkt getroffen. "Deswegen wolltet ihr Aerien entführen und als eure Frau nach Durthang führen", fuhr er mit weicher Stimme fort. "Ihr wolltet euch auf diese Weise legitimieren, und endlich wirklich zu ihnen gehören."
"Schweigt", sagte Karnuzîr leise und tonlos, doch Edrahil ließ sich nicht beirren. "Aber ist das wirklich nötig, Karnuzîr? Warum um die Anerkennung von Leuten kämpfen, die euch nie wirklich als einen der ihren anerkennen wollen, egal was ihr tut? Warum nicht jemand anders sein, nicht sein, wer ihr sein könnt? Ich hätte ein Fischer sein sollen, aber das wollte ich nicht - also habe ich einen anderen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird es auch für euch Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen."
"Ich... werde nicht... kann nicht..." Unsicherheit flackerte auf Karnuzîrs bleichem Gesicht auf. Edrahil stand auf. Für heute war es genug - es war nicht möglich, jemanden an einem einzigen Tag zu ändern. Er musste Karnuzîr für sich allein nachdenken lassen, und später wiederkommen - so oft es nötig sein würde.
"Denkt über meine Worte nach", sagte er, als er an der Tür war. "Ich lasse euch die Fackel da - noch etwa eine Stunde Licht. Vielleicht beginnt ihr dann, den Wert des Lichts in der Dunkelheit zu begreifen."
Mit diesen Worten verließ er das Verließ, und stieg langsam die Treppe hinauf zurück in das Licht des Tages.

Eandril:
Karnuzîr blickte Edrahil mit versteinerter Miene entgegen, offenbar hatte er ihn bereits erwartet. Einige Tage waren seit Edrahils letztem Besuch vergessen, doch die Zeit in der Dunkelheit schien den Gefangenen nicht gebrochen zu haben - noch nicht, zumindest.
"Habt ihr mich vermisst, alter Mann?", fragte Karnuzîr mit einer vor Hohn triefenden Stimme. "Oder warum seit ihr hier?" "Natürlich habe ich euch vermisst", entgegnete Edrahil mit kaum verhülltem Spott, und befestigte die Fackel in der Wandhalterung, von wo sie ein sanft flackerndes Licht über den kleinen, steinernen Raum warf. "Wie könnte ich auch nicht, bei eurer natürlichen Freundlichkeit?"
Karnuzîr schnaubte verächtlich und wandte den Kopf ab. "Fangt schon an. Droht mir damit, meine Mutter oder meinen Vater in eure Gewalt zu bringen und zu foltern, bis ich euch gebe was auch immer ihr von mir wollt. Denkt nicht, ich hätte nicht verstanden, was ihr letztes Mal sagen wolltet, als ihr sie erwähnt habt." Er hob den Kopf wieder und strich sich mit der freien Linken einige verfilzte schwarze Haare aus dem Gesicht. Seine dunklen Augen brannten. "Aber ihr werdet keinen Erfolg haben - sie bedeuten mir nichts. Nichts im Vergleich zu der Sache, der ich diene."
Edrahil schlug ein Bein über das andere und legte die Fingerspitzen zusammen. "Das ist überaus schade, Karnuzîr. Sollte ich Thorongils Männer gänzlich umsonst zu eurer Mutter geschickt haben?" Natürlich hatte er nichts dergleichen getan, aber er hatte das unmerkliche Zittern in Karnuzîrs Stimme bemerkt. So hart und unbeeindruckt Aeriens Vetter auch tun mochte, in seiner Mutter besaß er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen einen deutlichen Schwachpunkt. Vielleicht sollte er seine Lüge doch noch zur Wahrheit machen, überlegte Edrahil.
"Aber sprechen wir doch über etwas anderes", wechselte in einem munteren Plauderton das Thema, während Karnuzîr ihn aus seiner dunklen Ecke misstrauisch beobachtete. Nicht ohne Grund fürchtete er sichtlich eine Falle. "Wie wäre es mit Serelloth? Es wird euch sicherlich beruhigen, dass das Mädchen inzwischen vollständig genesen und in ihre Heimat zurückgekehrt ist. Immerhin wart ihr dafür verantwortlich, dass sie beinahe gestorben ist."
"Das war notwendig", erwiderte Karnuzîr nach kurzem Zögern mit flacher, ausdrucksloser Stimme. "Hätte ich sie nicht verwundet, hätte diese weißhaarige Schlampe und sofort verfolgt."
"Nun nun. Ich würde euch raten, Narissa ein wenig höflicher zu bezeichnen - immerhin hat ihr Onkel sie sehr gern. Und wozu er fähig ist wenn er zornig ist, hast du selbst erlebt." Edrahil deutete mit einem Nicken auf Karnuzîrs verstümmelte und vernarbte linke Hand. Karnuzîr zuckte mit den Schultern. "Die Schmerzen bedeuten mir nichts."
Edrahil nickte langsam, ohne jedoch weiter auf Karnuzîr einzugehen. "Jedenfalls stimme ich die vollkommen zu, in der Situation in die du dich gebracht hattest, war es notwendig, Serelloth zu verwunden. Noch besser wäre es gewesen, Narissa zu töten, aber ich bezweifle, dass euch das ohne Schwierigkeiten gelungen wäre. Oder vielleicht..."
"Sie sollte es sehen", unterbrach Karnuzîr ihn mit nur unzureichend unterdrücktem Zorn. "Sie hatte mir gestohlen was mir zusteht, sie hatte mir Azruphel gestohlen, die mir gehören sollte. Und sie sollte leben und sehen, wie ich sie mir zurückhole."
"Wir sind uns denke ich einig, dass sich das am Ende als Fehler erwiesen hat", meinte Edrahil mit einem Lächeln, und beugte sich ein Stück vor. "Aber das klang beinahe so, als würdest du Aerien... lieben?" Er sagte es leichthin, in verwundertem Tonfall, so, als würde er es für völlig unmöglich halten, und Karnuzîr reagierte wie erwartet.
"Ich begehre sie", höhnte er. "Welcher Mann würde das nicht tun? Selbst in eurem Alter sollte euch aufgefallen sein, dass sie eine schöne Frau ist, oder hat eure Sehkraft bereits soweit nachgelassen? Und außerdem stand sie mir zu." Eine erneute Lüge, dachte Edrahil bei sich.
"Anstatt ihr und Narissa also geplant und überlegt eine Falle zu stellen, sobald die die Insel verlassen hätten, habt ihr und eure Freunde beschlossen euch in die Höhle des Löwen zu wagen - nur wegen eures gekränkten Stolzes." Edrahil lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. "Vergebt mir, aber das klingt nicht die die Diener Mordors, die ich bislang kennengelernt habe. Diese sind kühl und überlegt, und lassen sich nicht von niederen Bedürfnissen dazu hinreißen, ihren waren Zweck zu erfüllen. Oh, natürlich gibt es jene die von Habgier, Eifersucht, und Hass getrieben werden, aber dass sind solche, die euer Herr lieber früher und später seinen Zwecken opfert. Ich hatte euch nicht für einen solchen gehalten, Karnuzîr."
"Das bin ich auch nicht", widersprach der Gefangene heftig. "Ich bin Auge und Ohr des Gebieters in Harad, einer seiner treuesten Diener, und..."
Edrahil lächelte mitleidig. "Ach bitte. Glaubt ihr, Sauron würde einem seiner wichtigsten Diener gestatten, für einen solch unbedeutenden Rachefeldzug sein Leben und das seiner Männer zu riskieren? Und seht nur, was ihr angerichtet habt. Ihr habt eure Männer verloren, habt euch gefangen nehmen lassen, und das Band zwischen zwei von Saurons Widersachern so eng geschmiedet, dass es ihm schwer fallen wird, in Zukunft einen Keil zwischen sie zu treiben. Selbst wenn ihr für Mordor das wart für das ihr euch haltet, diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei."
Einen Moment herrschte Schweigen. Die schmutzigen schwarzen Haare waren Karnuzîr in Strähnen vor das Gesicht gefallen und verbargen seine Augen, doch Edrahil spürte seinen Blick.
Schließlich sagte Aeriens Vetter tonlos: "Dann tötet mich und bringt es zu Ende. Welchen Zweck hat es für euch, mich in diesem Loch zu quälen?"
"Ich kann mir einiges vorstellen", gab Edrahil zurück. "Aber..." Er zog ein kleines rundes Fläschchen aus schwarzem Glas aus der Tasche und schwenkte es sanft im Licht der Fackel. In dem Fläschchen befand sich ein schnell und zuverlässig wirkendes Gift, dass einen Mann innerhalb von Minuten umbringen würde - erst recht, wenn er sich in einem so geschwächten Zustand befand wie Karnuzîr gerade. "Ich habe euch etwas mitgebracht." Minûlîth hatte das Mittel besorgt, und Edrahil hatte nicht gefragt wie und woher.
Karnuzîrs Augen verfolgten das Fläschchen unablässig. Offensichtlich hatte er bereits begriffn, worum es sich dabei handelte. "Und was wollt ihr für diese Gnade von mir haben? Informationen über die Verteidigung von Mordor? Über Saurons Diener in Harad? Über meine erlesene Verwandtschaft in Durthang?" Sein Tonfall war verächtlich, doch Edrahil antwortete: "Das würde mir alles sehr gut gefallen. Aber nein, ich erwarte dafür nur, dass ihr mir noch ein wenig zuhört, bevor ich es euch gebe." Es war ein riskantes Spiel, doch nach allem was Edrahil über Karnuzîr wusste, und nach allem was er gesehen hatte, war er sich beinahe vollständig sicher was den Ausgang anging.
"Sprecht."
"Ich habe es euch beim letzten Mal bereits gesagt", begann Edrahil sanft. "Ihr könntet einen anderen Weg einschlagen - jetzt, da euer Weg in Mordors Diensten unwiederbringlich zu einem Ende gekommen ist. Narissas Weg wird sie nach Mordor führen, und Aerien wird sie begleiten."
"Das wird ihr Ende sein", warf Karnuzîr ausdruckslos ein. "In Mordor ist inzwischen sicherlich Nachricht über Azruphels Verrat eingetroffen."
"Das ist uns bewusst. Aber wird man diesen Nachrichten glauben, wenn sie selbst das Gegenteil behauptet?"
"Bei Verrat wird sich in Mordor nicht lange mit Höflichkeiten und Verhandlungen aufgehalten." Obwohl Karnuzîrs Stimme ausdruckslos blieb, flackerte sein Blick. "Sie werden sterben, langsam und qualvoll, wenn sie nach Mordor gehen, denn Azruphels Treue ist nun zweifelhaft." Diese Befürchtung hegte Edrahil allerdings auch, und nur aus diesem Grund war er überhaupt zu Karnuzîr gekommen.
"Während niemand in Mordor einen Grund hat, an eurer Treue zu zweifeln, nicht wahr?" Edrahil erhob sich, und ließ das Fläschchen über den Boden zu Karnuzîr rollen, der es mit einer schnellen Handbewegung ergriff. "Überlegt euch also gut was ihr tut. Ob ihr lebt oder sterbt könnte auch darüber entscheiden, ob eure Cousine lebt oder stirbt."
Er wandte sich zum Gehen, doch an der Tür angekommen sagte er noch: "Ihr habt bis Morgen früh Zeit, euch zu entscheiden."

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