Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Tol Thelyn

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Die Súlrohír lag mit gerefften Segeln im Hafen der Insel und wartete geduldig darauf, dass sich ihre Besatzung an Bord begab. Am Kai hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden um die Abreisenden zu verabschieden, und nicht jedem fiel dieser Abschied leicht.
"Vater, ich will nicht, dass Lómi weggeht," schniefte der kleine Túor, der wieder auf Thorongils Schulter saß und seiner Tante traurig zuwinkte.
"Keine Sorge, mein Sohn," sagte Thorongil gut gelaunt. "Für dich würde es keinen Unterschied machen. Wir gehen mit deiner Mutter und Meister Edrahil auf eine Reise und suchen die Rossigil, in der Zeit würdest du Lóminîth sowieso nicht sehen können. Und wenn Ciryatans Schiff gefunden und der Turm wieder instand gesetzt ist fahren wir beide nach Dol Amroth und besuchen deine Tante."
"Versprichst du es?" forderte Túor.
"Ich verspreche es dir," bekräftigte Thorongil.
Lóminîth stand ihrer Schwester gegenüber und hatte beide von Minûlîths Händen mit ihren eigenen ergriffen. Valion wusste, dass die beiden Minluzîri-Schwestern bisher nur selten getrennt gewesen waren und dass der Augenblick des Abschiedes, nun da der tatsächlich gekommen war, ihnen schwerer fiel als sie erwartet oder gedacht hatten. Also gab er ihnen die Zeit, die sie benötigten und machte sich auf die Suche nach Edrahil.

Er musste sich nicht lange umsehen. Der Herr der Spione stand an der Spitze des Kais und blickte nachdenklich auf das ruhig vor ihm liegende tiefblaue Meer hinaus. Valion trat schweigend neben den älteren Mann und folgte seinem Blick, der nach Norden in Richtung Dol Amroths gerichtet war. Valion blieb noch einen Augenblick länger still, dann sagte er leise: "Ihr könnt noch immer mit uns gehen, Edrahil."
"Mein Platz ist fürs Erste hier," antwortete Edrahil, doch in seiner Stimme lag nicht die übliche Festigkeit.
"Ihr gebt Euch noch immer die Schuld für Hasaels Rückkehr," stellte Valion fest.
Edrahil wandte sich ihm zu, einen Anflug von Zorn im Gesicht. "Wem soll ich sie sonst geben? Dir etwa? Nein, Valion, dass Umbar nun wieder in Hasaels Hand ist ist allein meinem Versagen zuzuschreiben."
"Ihr seid nicht immer für alles verantwortlich," versuchte es Valion erneut. "Jemand anderes hätte daran denken können, Hasael zu Pferde verfolgen zu lassen."
Statt einer Antwort kniff Edrahil die Augen zusammen und starrte wieder aufs Meer hinaus.
"Er braucht jetzt Zeit für sich," sagte Minûlîth, die leise an Valion herangetreten war und ihn sanft von Edrahil wegführte. Doch plötzlich wandte dieser sich um und packte Valion fest am Arm. "Du bringst Lothíriel sicher nach Hause, hast du verstanden?" knurrte er. "Und wenn sie wohlbehalten in Dol Amroth angekommen ist schickst du mir sofort eine Nachricht - lass dir vom Amrodin einen Botenvogel geben. Habe ich dein Wort, Valion vom Ethir?"
"Ich habe verstanden, Meister Edrahil. Mein Wort habt Ihr selbstverständlich," antwortete Valion und hielt Edrahils stechendem Blick stand. Dieser nickte einigermaßen zufrieden und zog einen versiegelten Brief hervor. "Hier, nimm. Nicht vor eurer Ankunft in Dol Amroth öffnen," schärfte er Valion ein. Dann wandte er sich wieder ab.

Nachdenklich folgte Valion Minûlîth zurück zu der Rampe, die die Súlrohír mit dem Festland Tol Thelyns verband. Dort wurde er Zeuge einer eindeutig für beide Seiten merkwürdigen Umarmung zwischen Bayyin und Valirë. "Wir sehen uns," sagte Valirë und ging an Bord des Schiffes. Oben angekommen lehnte sie sich über die Reling und Valion konnte deutlich sehen, wie ihr Blick an der einsamen Gestalt Edrahils hängenblieb. Bayyin hingegen blieb noch einige Augenblicke etwas ratlos an Ort und Stelle stehen und kratzte sich verlegen am Kopf.
"Mach dir nichts draus," sagte Valion freundschaftlich und klopfte dem Schreiber aufmunternd auf die Schulter. "Du bist wahrlich nicht der Erste."
"Der Erste... worin?" fragte Bayyin verständnislos.
Doch Valion nur leicht den Kopf schief, lächelte, und der Schreiber blickte verlegen zur Seite als er verstand. Dann warf er einen letzten Blick auf Valirë und marschierte dann in Richtung der Lagerhäuser davon.

Lothíriel, die bei Thorongil und Minûlîth stand, verabschiedete sich von dem frisch verbundenen Paar. "Ich halte meine Versprechen," sagte die Prinzessin als Valion herankam. "Ich werde mit meinem Vater sprechen und ihn darum bitte, Vorräte und Arbeiter hierher zu entsenden, sobald er sie entbehren kann. Ich weiß, dass dies niemals vergelten kann, dass Tol Thelyn von Gondor vergessen wurde, aber..."
"Ihr seid äußerst freundlich," unterbrach Thorongil Lothíriel sanft. "Wir sind dankbar für jegliche Hilfe. Und ich verstehe, wenn man in Dol Amroth zuerst an Gondor denkt. Wenn Gondor fällt, wird sich auch Tol Thelyn nicht lange vor dem Schatten verbergen können."
"Ich wünsche Euch eine angenehme Reise," sagte Minûlîth lächelnd und umarmte Lothíriel freundschaftlich. "Richtet Eurem Vater die besten Grüße von mir aus."
"Das werde ich," versprach die Prinzessin.
"Du hast schon als Kind immer länger als alle anderen zum Aufbrechen gebraucht," kommentierte Valion mit einem schiefen Grinsen, was ihm einen bösen Blick von Lothíriel einbrachte.
"Zeig etwas Respekt, Valion vom Ethir," gab sie mit fester Stimme zurück. "Ich bin die Prinzessin von Dol Amroth."
"Ja, genau das hast du früher schon gesagt," erwiderte Valion ungerührt. "Das hat dir beim "Braten-Vorfall" trotzdem nichts genutzt."
Das brachte Lothíriel dazu, in herzliches Gelächter auszubrechen. "Oh, ich erinnere mich noch genau an Edrahils Gesicht als er das Schlamassel sah, das ihr und Erchirion angerichtet hattet," prustete sie.
"Einen ähnlichen Blick hat er jetzt auch wieder drauf," verriet Valion ihr. "Er hat miese Laune. Vielleicht könntest du ein Wörtchen mit ihm reden, ehe wir gehen?" Valion ertappte sich dabei, dass es ihm tatsächlich nicht egal war, wie es Edrahil ging. Zuviel hatten sie in Umbar gemeinsam durchgestanden. Und wenn es jemand schaffen konnte, den alten Spion wieder etwas aufzumuntern, dann war es Lothíriel. Sie nickte und marschierte im Eilschritt zum Ende des Kais hinüber, und ihr hellblaues Kleid flatterte im Wind hinter ihr.

In der Zwischenzeit verabschiedete sich Valion vom den neuen Herren der Insel. "Melíril vom Turm, ich wünsche Euch und Eurer Familie nichts als das Beste für die Zukunft," sagte er und machte eine etwas übertriebene Verbeugung vor Minûlîth.
"Du darfst mich auch weiterhin Minûlîth nennen, Witzbold," gab die Adelige lächelnd zurück. "Bitte pass auf dich auf, Valion," fügte sie etwas ernster hinzu. "Auf dich und deine Schwester, hörst du?"
"Oh, Ihr wisst genau, dass Valirë gut auf sich selbst aufpassen kann," sagte er lächelnd. "Eher müsste ich Veantur und seine Seeleute vor ihr bewahren, wenn sie es schaffen, meine Schwester zu verärgern."
"Sieh zumindest zu, dass sie das Kleid findet, dass ich ihr zu ihrem Gepäck gelegt habe," fuhr Minûlîth fort. "Es ist das gleiche, das sie damals getragen hat als ihr beiden für zwei Tage Unterschlupf bei mir gesucht habt."
"Ich werde mein Bestes geben," versprach Valion.
Thorongil legte Valion die breite Hand auf die Schulter und lächelte freundlich. "Wir kennen uns erst kurz, aber du erinnerst mich an mich selbst, als ich deinem Alter war, mein Junge. Lass mich dir einen Rat geben: Fasse dir ein Herz und stelle die entscheidende Frage, wenn dir die Frau deines Herzens über den Weg läuft. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich und warte viel zu lange!"
Das brachte Minûlîth zum Lachen. "Beorn, vergisst du da nicht etwas?" Sie deutete auf ihre Schwester, die gerade zu ihnen herüber kam.
"Oh," machte Thorongil. "Nun - noch seid ihr beiden ja nur verlobt, nicht wahr?"
"Das sind wir," bestätigte Lóminîth. "Aber wir werden schon bald heiraten."
"Werden wir?" wunderte sich Valion, der zum ersten Mal davon hörte.
"Und ihr seid selbstverständlich eingeladen," fuhr Lóminîth unbeirrt fort ohne auf Valions Protest einzugehen. "Wir werden sogar Meister Edrahil einladen."
"Augenblick mal!" wagte Valion zu widersprechen, doch seine Verlobte brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
"Schätze mal ihr beiden werdet schon miteinander auskommen," lachte Thorongil. "Jetzt seht zu, dass ihr aufbrecht, ehe der günstige Wind vergeht! Der gute Veantur hat schon mindestens fünfmal zu euch herübergewunken. Lasst den Mann nicht warten!"
Minûlîth schloss ihre Schwester in eine letzte Umarmung. "Wir sehen uns bald, kâli," sagte die neue Herrin von Tol Thelyn leise. "Ich komme dich mit Túor und Thorongil in Dol Amroth besuchen, nachdem wir die Rossigil gefunden haben.
"Viel Erfolg bei der Suche," wünschte Valion.

Am Zugang zur Súlrohir fanden sie Edrahil vor, dessen Miene nun wieder so ausdruckslos wie eh und je war. Einer nach dem anderen gingen die Aufbrechenden an Bord des schlanken Schiffes, bis Valion als letzter noch an Land stand. Ehe er das Schiff betrat, beugte er sich leicht zu Edrahil hinüber und sagte leise: "Ich hoffe, nach allem was ich getan habe, habt Ihr mir den Braten-Vorfall allmählich vergeben?"
Sofort zogen sich Edrahils Augen missgelaunt zusammen. "Du warst das also. All die Jahre... ich hätte es mir denken können."
"Leinen los, ehe er dich sein Messer kosten lässt!" rief Minûlîth und brach in herzliches Gelächter aus. Und Valion hörte auf ihren Rat.
Die Súlrohír setzte sich in Bewegung und brach unter besten Wünschen der Thelynrim in die Heimat auf.


Lothíriel, Valirë, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír zur Bucht von Belfalas

Eandril:
Edrahil blickte der Súlrohír nachdenklich hinterher, während das Schiff mit den blauen Segeln allmählich am nördlichen Horizont verschwand. So sehr er sich auch geärgert hatte, als er die Zwillinge in Umbar gesehen hatte, jetzt wo sie unwiederruflich nach Gondor zurückkehrten, fühlte er sich seltsam - beinahe, als hätte er seine rechte Hand verloren. Nun, vielleicht einen Finger der rechten Hand. Er dachte kurz an Valirës schelmisches Lächeln und schüttelte den Kopf. Es war wirklich besser so.
"Du wirst sie vermissen", stellte Minûlîth fest, die leise neben ihn getreten war. "Ich?" Edrahil schnaubte belustigt. "Vermutlich eher nicht."
Minûlîth zog skeptisch eine schmale Augenbraue in die Höhe, sagte aber: "Ganz wie du meinst." Nach einem Augenblick des Schweigens fragte sie: "Was ist der Braten-Vorfall?"
Unwillkürlich musste Edrahil lächeln. "Nun, das geschah vor einigen Jahren, als die Zwillinge und die jüngeren Söhne des Fürsten noch Kinder waren. Eines Tages vor einem Bankett mit einigen wichtigen Adligen aus Belfalas..." Er unterbrach sich, und schüttelte den Kopf. "Nein, ich denke nicht. Manche Geheimnisse können ruhig geheim bleiben."
"Das ist ungerecht!", protestierte Minûlîth, und Edrahil fiel nicht zum ersten Mal auf, wie viel gelöster sie in Thorongils Anwesenheit wirkte als noch in Umbar. "Ich bin mir sicher, alle in Dol Amroth wissen darüber Bescheid."
"Ziemlich sicher", bestätigte Edrahil, und verzog das Gesicht. "Mir wäre es anders lieber, schließlich stand ich dabei nicht unbedingt als Meisterspion da."
"Kaum vorstellbar", stichelte Minûlîth. Edrahil wandte sich vom Meer ab, und begann mit ihr gemeinsam zurück zu Thorongil zu gehen, der sich leise mit seinem Sohn unterhielt. Túor sah sich dabei mit leuchtenden Augen an, und schien zumindest jetzt kein Problem damit zu haben, seine Heimat in Umbar durch diese zu ersetzen.
"Und leider doch wahr", meinte Edrahil. "Doch genug von Braten, wir haben einiges anderes zu tun."
"Allerdings", sagte Thorongil, der sein Gespräch mit Túor unterbrochen hatte, und seinen Sohn nun auf der kräftigen Schulter trug. "Ich habe einen meiner Männer ausgesucht um in Aín Sefra nach meiner Nichte zu suchen - oder ihrer Spur zu folgen, falls sie nicht mehr dort ist. Er heißt Hares und ist haradischer Abstammung, was ihm helfen dürfte nicht aufzufallen."
"Gehörte er zu denen, die Suladâns Männern entkamen?", fragte Edrahil, und Thorongil durchschaute ihn mühelos. "Er ist mit Sicherheit kein Verräter, falls ihr darauf hinauswollt. Er war auf Befehl meines Vaters seit mehreren Jahren in Ain Salah stationiert, wo ich ihn aufgespürt habe, nachdem ich von dem Angriff hörte."
"Dann will ich eurer Einschätzung vertrauen", erwiderte Edrahil. Zwar war Thorongil eindeutig kein so misstrauischer Mann wie er selbst, doch Edrahil glaubte nicht, dass ihm ein Verräter in den eigenen Reihen entgehen würde. "Wann wird er aufbrechen?"
"Sobald er bereit ist, vermutlich heute abend - Hares reist gerne bei Nacht."

"Widmen wir uns dem zweiten Ziel: Der Suche nach eurem Schiff."
"Meinem Schiff!", sagte Túor von der Schulter seines Vaters herunter, der ihm einen leichten Klaps versetzte und ihn auf die Füße stellte. "Nicht, solange ich lebe", meinte Thorongil, und Minûlîth fügte hinzu: "Was hoffentlich noch sehr lange sein wird."
"Ich zähle darauf", murmelte Thorongil, während er sie in seine Arme zog und ihre Schläfe küsste.
Edrahil räusperte sich hörbar. "Ihr seid beinahe so schlimm wie Valion und Lóminîth", sagte er tadelnd. "Wie habt ihr bereits nach der Rossigil gesucht?"
"Ich habe so viele Männer ausgeschickt wie ich gewagt habe und entbehren konnte", erklärte Thorongil, den Edrahils Tadel kein bisschen berührt zu haben schien. "Hallatan hat mit seinem Schiff die Küste zwischen hier und Umbar abgesucht, und andere haben sich in den Dörfern an der Küste umgehört, doch bislang vergebens. Nur hier und da gab es Gerüchte über ein großes Schiff in einem Sturm, aber alles führte in eine Sackgasse."
"Klingt, als hättet ihr viele Informationen, aber nicht genug Zeit um damit etwas anzufangen", sagte Edrahil langsam, und strich sich über das Kinn. "Ich könnte euch dabei behilflich sein - die richtige Information aus einem Berg von Gerede zu finden ist gewissermaßen meine Spezialität."
"Ich nehme eure Hilfe gerne an, damit ich mich dem Wiederaufbau widmen kann", erwiderte Thorongil, und streckte Edrahil die Hand entgegen. Als Edrahil die Hand ergriff, fragte Minûlîth leise: "Aber warum?"
"Weil ich eine Pause brauche", antwortete Edrahil offen. "Doch wenn ich nichts zu tun habe, werde ich verrückt, und die Suche nach einem verschwundenen Schiff ist in diesem Fall genau das richtige. Und außerdem... helfe ich meinen Freunden gerne."

Eandril:
Edrahil legte den Bericht beiseite, den er gerade gelesen hatte, und machte eine weitere Markierung auf der Karte, die die ganze Westküste von Harad darstellte - von Umbar im Norden bis über die große Gebirgskette im Süden hinaus.  In den vergangenen Tagen hatte er viele Berichte gelesen, die Thorongils Leute auf ihrer Suche nach der Rossigil gesammelt hatten, und einige Markierungen auf der Karte gemacht, wo angeblich ein großes Schiff númenorischer Bauart gesichtet worden war, und wann.
Zwei der Markierungen lagen in der Nähe alter Verstecke der Turmherren, die auf der Karte eingezeichnet waren, und Edrahil vermutete, dass die Besatzung des Schiffes sich dort jeweils einige Zeit versteckt gehalten hatte. Aber das Schiff war nicht mehr dort, sondern hatte nach den Berichten der Küstenstämme seine Irrfahrt entlang der Küste fortgesetzt. Eine Irrfahrt, die schwer zu rekonstruieren war, da in diesen Berichten zu Edrahils Ärger meistens präzise Zeitangaben fehlten, wann das Schiff gesehen worden war. Dennoch, inzwischen glaubte er herausgefunden zu haben, wohin die Rossigil zuletzt gefahren war, und sich vermutlich vor sehr kurzer Zeit noch aufgehalten hatte.

Ein wenig mühsam erhob er sich hinter dem Schreibtisch des kleinen Hauses, das Thorongil ihm für die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung geschickt hatte, und trat aus der Tür hinaus auf den sonnendurchfluteten kleinen Platz, um den sich die meisten Häuser der kleinen Siedlung gruppierten. Thorongil hatte eines der leerstehenden Häuser bezogen, solange die Arbeiten am Turm nicht vollendet waren. Edrahil blickte nach Norden, wo sich der Turm wie eine Säule aus der grünen Landschaft erhob. Inzwischen waren Teile des Gebäudes vom Ruß gesäubert worden und erstrahlten wieder in einem reinen Weiß, und auch die Arbeit an den teilweise eingestürzten oberen Stockwerken schien gut voranzugehen.
Auf seinem Weg begegnete ihm Hallatan, der Kapitän des einen Schiffes, das den Turmherren - die Aglarbalak nicht mitgezählt - geblieben war, und grüßte ihn freundlich. Edrahil erwiderte den Gruß, und fügte hinzu: "Wenn ich richtig liege, könnt ihr bald auf eine größere Reise gehen..." Ein Lächeln breitete sich auf Hallatans Gesicht aus, während er stehen blieb und die Hände in die Seiten stützte. "Ihr habt sie gefunden", sagte er, doch Edrahil hob abwehrend beide Hände und erwiderte: "Ich habe herausgefunden, wo die Rossigil vielleicht vor kurzer Zeit gewesen sein könnte. Das heißt nicht, dass sie noch dort ist, und ich könnte mich irren."
"Und selbst wenn", gab Hallatan zurück, und deutete mit einer ausschweifenden Bewegung über die kleine Siedlung, den reparierten Hafen und den Turm. "Durch eure Hilfe konnte Thorongil sich ganz darauf konzentrieren, unsere Heimat wieder aufzubauen. Ganz gleich ob ihr das Schiff tatsächlich gefunden habt oder nicht, wir sind euch zu Dank verpflichtet."
"Seht es als Bezahlung für meine Aufnahme hier an", meinte Edrahil während er dem Kapitän auf die Schulter klopfte und weiter ging.

Als er Thorongils Haus erreichte, hörte er durch das offene Fenster eine ihm bekannte weibliche Stimme sagen: "Ich bringe eine Botschaft von einem der euch wohlgesonnen ist." Edrahil betrat den Flur durch die Tür, die vermutlich Túor offen stehen gelassen hatte, und legte die Hand auf den Griff der Tür zu Thorongils Arbeitszimmer. "Und Warnung bringe ich ebenfalls", fuhr die weibliche Stimme fort, und Thorongils Stimme antwortete: "Ich werde euch gerne anhören - wenn ihr mir zuerst euren Namen verratet." Nach einem Moment der Stille erwiderte die Frau: "Ich bin..."
"Ta-er as-Safar", beendete Edrahil den Satz für sie, während er die Tür aufzog und in den Raum trat. Ta-er fuhr herum, und ihre Augen weiteten sich einen winzigen Augenblick vor Überraschung, bevor sie ihr Gesicht wieder völlig unter Kontrolle hatte.
"Edrahil", sagte sie. "Ihr seid also aus Umbar entkommen."
"Mit der nicht unbeträchtlichen Hilfe des Mannes, vor dem ihr steht." Edrahil nickte in Thorongils Richtung, der hinter seinem Schreibtisch, die Hände auf die Tischplatte gestützt, stand, und die beiden aufmerksam beobachtete.
"Ihr seid also jene Ta-er", sagte er schließlich. "Die meinen Plan zu Hasaëls Ermordung gewaltig ins Wanken gebracht hat", ergänzte Edrahil, und ein Anflug der Verärgerung huschte über ihr Gesicht. "Ihr seid nicht der einzige in Umbar mit Plänen gewesen, und falls es euch besänftigt - ich wusste von eurem Plan ebenso wenig wie ihr von meinem. Wir sind uns nicht mit Absicht in die Quere gekommen."
"Was geschehen ist, ist geschehen", meinte Edrahil darauf. "Und ich bin auch nicht daran interessiert, jemandem die Schuld dafür zu suchen - und wenn, würde ich eher in Salemes Richtung blicken. Was mich viel mehr interessiert, ist der Grund für eure Anwesenheit hier."
"Das würde mich auch interessieren", warf Thorongil ein, der dem Austausch aufmerksam gelauscht hatte. "Ihr habt unsere Wachtposten an der Küste gefunden, und verlangt, dass man euch zu mir bringt - nun, hier seid ihr."
"Wie ich bereits sagte, komme ich mit einer Botschaft zu euch - und mit einer Warnung", begann Ta-er, und warf Edrahil einen Seitenblick zu. Als dieser keine Anstalten machte, zu gehen, und Thorongil ihn nicht aus dem Raum schickte, fuhr sie fort: "Wie Edrahil bereits weiß, gehöre ich dem Silbernen Bogen an, einer Gruppe, die an Frieden und Ordnung in ganz Harad interessiert ist - ganz ähnlich wie ihr."
"Das war vor Suladâns Angriff", erwiderte Thorongil. "Im Augenblick sind wir nur mit dem Wiederaufbau beschäftigt."
Ta-er trat einen Schritt an den Tisch heran. "Und danach?", fragte sie. "Was werdet ihr dann tun?"
In Thorongils Gesicht zuckte ein einzelner Muskel, doch er antwortete ohne Zögern: "Was wir immer getan haben. Mein Vater ist dafür gestorben, meine Schwester ist dafür gestorben, und meine Nichte musste dafür aus ihrer Heimat fliehen."
"Ich weiß wo sie ist", sagte Ta-er unvermittelt. Edrahil richtete sich ruckartig aus seiner an die Wand gelehnten Position auf und ließ sie bislang vor der Brust verschränkten Arme sinken. Das war interessant.
Auch Thorongil hatte sich abrupt aufgerichtet. "Ihr habt Narissa gesehen?"
"Allerdings. Im Augenblick ist sie in der Festung des Silbernen Bogens, in Sicherheit. Und bevor ihr fragt: Ja, sie ist freiwillig dort."
Thorongil warf Edrahil einen Blick zu, der lächelte und sagte: "Anscheinend haben wir den armen Hares umsonst auf die Suche geschickt."
"Das ist die Botschaft, die mir aufgetragen wurde zu überbringen, falls die Insel bewohnt ist", fuhr Ta-er fort. "Doch jetzt, wo ich sie gesehen habe, sollten wir vielleicht etwas weitergehen. Ich schlage vor, dass wir uns..."
"... verbünden?", beendete Thorongil den Satz fragend, und begann nachdenklich hinter seinem Schreibtisch hin und her zu gehen. Als sein Blick Edrahil streifte, nickte dieser langsam. Nach dem, was er in Umbar von Ta-er gesehen hatte, waren die Mitglieder des Silbernen Bogens äußerst fähige Kämpfer und Spione, und schienen ähnliche Absichten wie er und Thorongil zu haben. Er sah es zumindest als lohnenswert an, über ein Bündnis zu sprechen.
Schließlich blieb Thorongil stehen, und sagte: "Also gut. In Angesicht dessen, was ihr in Umbar getan habt, und der Tatsache, dass sich meine Nichte bei euch befindet, werde ich eine Zusammenarbeit in Betracht ziehen. Allerdings... würde ich zuvor gerne mit eurem Anführer sprechen. Herausfinden, was wirklich eure Ziele sind. Denn, verzeiht wenn ich das sage, in diesen Zeiten fällt es schwer, einfach so zu vertrauen."
Ta-er neigte zustimmend den Kopf. "Ich bin nicht beleidigt, denn ihr habt recht - erst Recht seit Salemes Verrat."
Edrahil war erleichtert. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, Thorongil könnte einem Bündnis einfach so zustimmen, doch der Herr des Turmes war ebenso geschickt wie Edrahil gehofft hatte.
"Ich werde diese Botschaft überbringen", sprach Ta-er weiter. "Doch mein Besuch hat einen weiteren Zweck: Eine Warnung. Der Silberne Bogen ist nicht der einzige, der von der Rückkehr der Turmherren in ihre Heimat Gerüchte gehört hat. Wir haben erfahren, dass auch andere davon wissen könnten - Andere, die euch nicht wohlgesonnen sind."
Thorongils Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten. "Ich hatte gehofft, ein wenig länger verborgen zu bleiben. Sei es wie es sei, ich danke euch für die Warnung. Kehrt schnell zu euren Leuten zurück, denn vielleicht würde ein Bündnis uns helfen, diesen Sturm zu überstehen."
"Ich werde sofort aufbrechen", erwiderte Ta-er mit einem Nicken, doch Thorongil schüttelte den Kopf. "So habe ich es nicht gemeint. Ihr könnt die Nacht hier verbringen und morgen gestärkt aufbrechen."
Ta-er lächelte, und meinte: "Das wird nicht nötig sein. Ich bin es gewohnt, schnell und lange zu reisen und wie ihr schon sagtet, in dieser Sache ist Eile von Nöten."
Mit diesen Worten wandte sie sich in einer fließenden Bewegung ab, und verließ den Raum. Edrahil seufzte. "Einen Hang zu dramatischen Abgängen hat sie jedenfalls."
"So wie ihr einen zu dramatischen Auftritten, mein Freund", gab Thorongil zurück, und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. "Also, was führt euch herüber - falls es nicht ausnahmsweise ein reiner Freundschaftsbesuch ist?"
Edrahil lächelte, und zog die Karte hervor, die er zusammengerollt in seinem Ärmel getragen hatte. "Kein reiner Freundschaftsbesuch, aber etwas erfreuliches, denke ich." Er breitete die Karte aus und deutete auf eine schmale Bucht südlich von ihnen, am Fuß der großen Gebirgskette sie sich von dort entlang der Küste nach Süden zog. "Hier ist die Rossigil zuletzt gesehen worden, und nach allem was ich weiß... könnte sie auch jetzt noch dort sein."
Thorongil sprang so heftig von seinem Stuhl auf, dass Edrahil unwillkürlich zusammenzuckte. "Ihr habt sie gefunden?"
"Vermutlich", wehrte Edrahil ab. "Wie ich schon sagte, ganz sicher kann ich nicht..."
"Ich werde sofort aufbrechen", fiel Thorongil ihm ins Wort. "Und wer wird mit Ta-er und ihrem Anführer sprechen?", fragte Edrahil, doch Thorongil winkte ab. "Bis dahin bin ich längst zurück. Und wenn nicht... Melíril und ihr. Ich vertraue euch beiden, und ihr seid beide fähig zu erkennen, ob ein Bündnis lohnenswert wäre, oder eine Gefahr für uns darstellen könnte."

Eandril:
Narissa und Aerien aus der Mehu-Wüste

Das kleine Ruderboot schaukelte sanft auf den kleinen Wellen, während sie rasch dem Hafen von Tol Thelyn näher kamen. Narissa, die sich im Heck des Bootes niedergelassen hatte und gespannt nach vorne blickte, fragte: "Ist die Thoroval nicht hier?"
"Nein", erwiderte Langlas hinter ihr. Die Anstrengung des Ruderns war seiner Stimme beinahe nicht anzumerken, denn er war ein kräftiger Mann. "Sie ist losgesegelt um die Rossigil zu suchen."
Narissa wandte den Blick nicht vom Hafen ab, in dem ein weiteres Schiff vor Anker lag, dessen gereffte schwarze Segel ihr ein flaues Gefühl im Magen verursachten. "Und was ist das? Habt ihr ein Korsarenschiff gekapert?"
Langlas lachte, und schüttelte den Kopf. "Nein, das nicht gerade. Aber trotzdem ist es ihm zu verdanken, dass wir hier sind." Und auf den misstrauischen Blick, den Narissa ihm zuwarf, ergänzte er: "Nein, das heißt nicht, dass wir ein Bündnis mit Umbar oder irgendwelchen Korsaren eingegangen sind. Du wirst es sehen."

Schließlich stieß der Bug des Bootes, in dem Aerien saß und die ganze Zeit über stumm auf die Wellen geblickt hatte, mit einem dumpfen Geräusch gegen die niedrige Kaimauer des Hafens, auf der sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt hatte. Viele Gesichter waren ihr bekannt, doch auch das ein oder andere neue Gesicht entdeckte sie. Als sie hinter Langlas an Land kletterte, ergriff Aerien, die das Boot als erste verlassen hatte, ihre Hand und drückte sie. "Das müssen wir unbedingt nochmal machen", sagte sie leise und mit leuchtenden Augen, und Narissa flüsterte zurück: "So oft du willst - und ich hatte dir ja versprochen, dass wir irgendwann eine Schiffsreise machen."
Bevor Aerien etwas erwidern konnte, trat eine elegant gekleidete, dunkelhaarige Frau, die einen Jungen von vielleicht acht Jahren an der Hand hielt, vor, und sagte: "Willkommen zuhause, Narissa." Obwohl die Frau Narissa unbekannt war, war ihre Stimme warm, und so erwiderte Narissa ohne Misstrauen: "Ich danke euch für das Willkommen - auch wenn ihr mir gegenüber im Vorteil seid, denn ihr kennt meinen Namen und ich euren nicht."
Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel der Frau, als sie antwortete: "Mein Name ist Minûlîth, einst aus dem Haus Minluzîr und nun... aus dem Haus der Turmherren." Auch wenn die Namen, die Minûlîth genannt hatte, eindeutig nach Schwarzen Númenorern klangen, konnte Narissa nicht umhin, sie auf Anhieb zu mögen. Die Menschen hier schienen sie ohne Widerspruch als eine Anführerin zu akzeptieren, und außerdem hatte Narissa Ta-ers Bericht über die Geschehnisse in Umbar nicht vergessen.
"Auch wenn ihr meinen Namen schon wisst: Ich bin Narissa, Tochter Herlennas vom Turm, und dies", sie machte eine Bewegung in Richtung Aerien, "ist Aerien Bereneth - die beste Freundin die man sich wünschen kann."
"Ich freue mich, euch kennen zu lernen", sagte Aerien ein wenig zurückhaltend, und bevor Minûlîth etwas erwidern konnte, deutete der Junge an ihrer Hand in Richtung des Turmes und sagte: "Seht nur, er leuchtet!" Alle wandten sich in diese Richtung um, und tatsächlich - die Sonne war erneut durch die Wolken gebrochen, und ließ den Turm in ihrem Schein geradezu erstrahlen.
"Ein merkwürdiger Zufall...", meinte Minûlîth leise. "Sie sind gerade heute erst damit fertig geworden."
"Und die Zufälle werden noch merkwürdiger", brummte eine Narissa bekannte Stimme, und zu ihrer Überraschung sah sie Edrahil ein Stück abseits stehen und mit einem Stock in Richtung Süden, aufs Meer hinaus deuten. "Dort kommt der Herr des Turmes." Von dort näherten sich zwei Schiffe mit weißen Segeln, die Narissa sofort erkannte. Vorneweg kam die Thoroval, Hallatans Schiff, und das größere Schiff dahinter war die Rossigil, das Schiff, mit dem Ciryatan von Eldalondë nach Mittelerde gesegelt war.
"Jetzt bekommst du noch mehr alte Dúnedain-Geschichte zu Gesicht", wisperte sie Aerien zu, während ihr Herz beim Anblick der Schiffe immer schneller schlug.

Sobald die Rossigil am Kai angelegt hatte, sprang ein Mann, der Narissa wie eine jüngere Version ihres Großvaters vorkam, leichtfüßig über die Reling an Land, ohne auf eine Planke zu warten. "Sind wir etwa erwartet...", rief er laut und fröhlich, doch als sein Blick auf Narissa fiel, verstummte er. "Nein, das ist doch... du siehst aus wie sie", sagte er leise, und Narissa versuchte mit trockenem Mund etwas zu sagen, brachte aber keine Ton heraus. Es war Minûlîth, die geistesgegenwärtig die Vorstellung übernahm. "Dies ist Thorongil, Sohn Hadors, Herr von Tol Thelyn... und Narissa, Tochter Herlennas vom Turm."
Thorongil kam langsam heran, und Narissa war froh, Aeriens beruhigende Gegenwart an ihrer Seite zu spüren. "Du siehst ihr wirklich ähnlich", sagte Thorongil heiser, und Narissa brachte ebenso mühsam heraus: "Und du siehst aus wie Großvater." Ihr Onkel zog sie plötzlich in eine feste Umarmung, die Narissa erst zaghaft und dann ebenso fest erwiderte. Auch wenn sie ihn an diesem Tag zum ersten Mal in ihrem Leben sah, war er doch alles, was ihr an Familie geblieben war - fast alles. Sie lächelte, als sie an Aerien dachte, während Thorongil sie plötzlich hochhob als wäre sie ein kleines Mädchen, und lachend einmal im Kreis herum herumwirbelte. Als er sie wieder auf die Füße stellte lachten beide. Thorongil legte Narissa den Arm um die Schultern und führte sie in Richtung Minûlîth, die lächelnd zugesehen hatte.
"Auch wenn ich sicher bin, dass Melíril sich bereits angemessen vorgestellt hat, hat sie doch gewiss das wichtigste ausgelassen."
"Angedeutet", warf Minûlîth ein, und Thorongil zog eine Augenbraue in die Höhe. "Nun, auf jeden Fall ist dies Melíril, oder Minûlîth, die Herrin meines Herzens." Minûlîth errötete leicht, während Thorongil den Jungen zu sich heranzog und fort fuhr: "Und dies ist Túor - unser Sohn, und Erbe des Turmes."
Narissa ging langsam vor Túor auf die Knie. Von ihrer Familie war mehr übrig, als sie zu hoffen gewagt hatte - und durch Túor würde sie sogar fortbestehen. "Ich bin Narissa", sagte sie leise, und als sie seine Hand ergriff ging ein Strahlen über das Gesicht des Jungen. "Und ich bin Túor", erwiderte er. "Kannst du mir beibringen, wie man kämpft?"
"Túor!", sagte Minûlîth streng, und Thorongil schüttelte langsam den Kopf. "Eins nach dem anderen, junger Mann. Fürs erste sollten wir Narissa ankommen lassen, und ihr alles erzählen, was geschehen ist."
Narissa beugte sich vor, und flüsterte Túor verschwörerisch ins Ohr: "Natürlich kann ich dir ein paar Sachen zeigen." Erneut erstrahlte ein Lächeln auf seinem kindlichen Gesicht, und Narissa erhob sich rasch. "Das würde mir sehr gefallen", sagte sie Thorongil gewandt, und zog dann Aerien, die ein wenig abseits gestanden hatte am Arm neben sich. "Aber vorher möchte ich dir Aerien vorstellen, die beste Freundin die ich jemals hatte."
"Jeder Freund meiner Familie ist ein Freund von mir", erwiderte Thorongil, ergriff Aeriens Hand und hauchte einen Kuss darauf. "Sei willkommen."
"Danke", sagte Aerien, und an ihrer Stimme erkannte Narissa, dass sie glücklich und zugleich ein wenig überwältigt war. "Ich bin froh, dass ich hier sein kann."
"Tut mir leid, dass ich das jetzt tun muss", warf Narissa ein. Zum Glück hatte sich die Menge inzwischen einigermaßen aufgelöst. "Aber... Aeriens Familie kommt aus Mordor."
"Mordor...", stieß Thorongil hervor, und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Auch Aerien war blass geworden, und warf Narissa einen Blick zu, der nur Was tust du? bedeuten konnte. Lediglich Minûlîth zeigte keinen Schrecken, oder verbarg ihn zumindest äußerst gut.
"Ah, dann kommst du aus dem Haus Balákar?", fragte sie interessiert. "Es freut mich sehr, dass du jetzt stattdessen hier bist." Noch immer herrschte betretenes Schweigen, und Minûlîth ließ einen beinahe genervten Blick über Thorongil, Edrahil, Hallatan und Langlas schweifen, die ihren Schock in verschiedensten Stufen der Offenheit zeigten. "Meine Güte", sagte sie schließlich. "Nun tut nicht so, als hättet ihr einen Geist gesehen. Habt ihr alle vergessen, aus was für einer Familie ich komme?" Ihr Finger deutete der Reihe nach auf die Männer, als sie fortfuhr: "Und trotzdem hast du mich eben als die Herrin deines Herzens bezeichnet - was ich übrigens sehr schön fand. Und du, Edrahil, warst bereit mit mir in Umbar zu bleiben und gegen Hasaël zu kämpfen und bist mir sogar in in brennendes Haus gefolgt, und ihr beiden", die deutete auf Hallatan und Langlas, "hattet offensichtlich kein Problem damit, mich als Herrin der Insel zu akzeptieren. Also lasst das arme Mädchen in Ruhe, sie ist mit ihrer Familie genug gestraft, und freut euch lieber dass sie hier ist und nicht in Mordor."
Narissa wäre Minûlîth in diesem Moment am liebsten um den Hals gefallen, und ein Blick auf Aeriens Gesicht verriet ihr, dass es ihrer Freundin kein bisschen anders ging. Schließlich räusperte Thorongil sich verlegen, und sagte: "Melíril beschämt uns alle - und zu recht. Verzeih mir meinen Schrecken, Aerien, und sei erneut willkommen auf Tol Thelyn." Als Narissa Aeriens Hand ergriff, sagte Edrahil: "Und es war gut getan, es zu verraten - denn ein solches Geheimnis kommt früher oder später ans Tageslicht, und dann wäre unsere Reaktion vermutlich anders ausgefallen."
Mit einem leicht gezwungenen Lächeln erinnerte Narissa sich an den Moment, in dem sie selbst von Aeriens Abstammung erfahren hatte - und an ihre eigene Reaktion darauf.
"In jedem Fall gibt es viel zu erzählen und zu besprechen", ergriff Thorongil wieder das Wort. "Aber ich denke, das hat bis morgen Zeit. Für heute sollten wir uns von unseren Reisen erholen - zumindest die, die auf Reisen gewesen sind." Er zwinkerte Minûlîth und Edrahil zu, ergriff Minûlîths Hand und ging mit ihr und Túor in Richtung eines der reparierten Häuser davon.
"Ich erwarte nach wie vor einen Bericht über Qúsay", sagte Edrahil, der zurückgeblieben war, mit strenger Stimme. "Aber das hat wohl ebenfalls bis morgen Zeit. Vielleicht solltet ihr die Gelegenheit nutzen..." Mit einem Augenzwinkern ging er ebenfalls langsam davon, und ließ Narissa und Aerien inmitten des geschäftigen Treibens am kleinen Hafen alleine zurück.

Narissa atmete tief durch, und genoss den Augenblick, bevor sie sagte: "Im Südwesten der Insel gibt es einen kleinen Bach. Er fließt zwischen zwei Hügeln hindurch zum Meer hinunter, und an seiner Mündung liegt ein kleiner Sandstrand." Als Kind war sie oft dort gewesen, wenn sie Zeit für sich gebraucht hatte. "Etwas oberhalb des Strandes steht ein alter Leuchtturm, der seit über tausend Jahren nicht mehr benutzt wurde." Narissa hoffte, dass dieser Ort unbeschädigt geblieben war, denn dort gab es nichts was für die Angreifer von Interesse gewesen wäre. Im dem Turm gab es hinter ein paar lockeren Steinen einen kleinen Hohlraum, in dem Narissa heimlich einige Kissen und Decken aufbewahrt hatte, denn hin und wieder hatte sie in dem alten Leuchtturm eine Nacht verbracht, wenn sie sich mit ihrem Großvater gestritten hatte - was nicht allzu selten vorgekommen war.
"Such den Leuchtturm, und warte dort auf mich", schloss sie, und Aerien fragte verwundert: "Und was machst du in der Zeit?"
"Das... ist ein Geheimnis", erwiderte Narissa lächelnd, und gab Aerien in aller Öffentlichkeit einen raschen Kuss, woraufhin diese ihr mit dem Finger drohte. "Na los, auf mit dir. Geh ein bisschen erkunden."

Fine:
Aerien beschloss, auf Narissas Rat zu hören, und sich die Insel genauer anzusehen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den kleinen Hafen, dessen Anlegeplätze nun durch die drei großen Schiffe bis auf einen gefüllt waren, zog es sie zu dem großen weißen Turm, der sich in der Ferne erhob. Sie schloss sich einer kleinen Gruppe von Menschen an, die dem ausgetretenen Weg vom Hafen zum Turm folgten und offensichtlich Bauarbeiten daran durchführen wollten, was Aerien an den Werkzeugen erkannte, die sie trugen. Nachdem die Thelynrim ihre anfängliche Skepsis überwunden hatten kam schnell ein angenehmes Gespräch auf.
"Das sieht man selten, dass einem jemand, der aus Mordor stammt, nichts Übles will," sagte eine Frau in Aeriens Alter, die ihre langen blonden Haare zu einem kunstvollen Zopf geflochten trug. "Wobei ich zugeben muss, dass die Insel erst zweimal angegriffen wurde, und noch nie von Orks oder anderen Wesen des Dunklen Herrschers - bislang waren es immer fehlgeleitete Haradrim. Ich heiße übrigens Laedris. Und du bist Aerien, richtig?"
"Genau," bestätigte Aerien. Laedris war ihr sofort sympathisch, und schon nach kurzer Zeit plauderten sie über dies und das, als würden sie sich schon lange kennen. "Ich hoffe, mit der Zeit vertrauen die Thelynrim mir nicht nur wegen dem Wort eurer strengen Herrin," sagte Aerien.
"Nein, sorge dich nicht," antwortete Laedris. "Herrin Melíril hat ja selbst eine ähnliche Vorgeschichte wie du. Das große Schiff mit den schwarzen Segeln gehört ihr und war bei vielen Korsarenangriffen mit dabei. Fürst Beorn sollte die Segel wirklich durch weiße ersetzen, wie er schon mehrfach vorgeschlagen hat."
"Ist Beorn der richtige Name von Narissas Onkel?" fragte Aerien neugierig.
"Ja - er ist Beorn III., Hadors Sohn, Herr des Turms und von Tol Thelyn. Beeindruckend, nicht wahr? Zu schade, dass sein Sohn noch so jung ist!" meinte Laedris mit einem Zwinkern.
"Du bist sowieso viel zu geschwätzig für meinen kleinen Túor," mischte sich eine belustigte Stimme ein. Die beiden jungen Frauen fuhren überrascht herum. Hinter ihnen stand Minûlîth, die der Gruppe offenbar gefolgt war.
"Verzeiht meine Worte, Herrin!" entschuldigte Laedris sich hastig. "Ich habe unbedacht gesprochen."
"Das hast du," bestätigte Minûlîth streng - doch dann lächelte sie. "Keine Sorge, Mädchen. Es ist gut. In diesen Zeiten tun uns Späße hin und wieder gut."
"Kanntet Ihr meine Großmutter, Azruarî?" fragte Aerien höflich.
"Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie fortging um das Falkenauge von Aglarêth zu heiraten," erzählte Minûlîth. "Ist sie noch am Leben?"
"Ja," bestätigte Aerien. "Ich habe sie nur selten zu Gesicht bekommen, aber meine Mutter sagte mir, sie habe alles, was sie wusste, von meiner Großmutter gelernt und sie ist der Grund, warum meine Eltern mir den Namen Azruphel gaben."
"Ein ungewöhnlicher Name für jemanden, der so weit weg vom Meer wohnt," sagte Minûlîth lächelnd. "Und wie ich sehe, hast auch du deinen Namen in die Elbensprache übersetzt, wie meine Schwester und ich es getan haben."
"Ich tat es auf Anregung Aragorns, des Königs von Gondor," gab Aerien zu.
"Interessant," befand Minûlîth und betrachtete Aerien einen langen Moment. Dann sagte sie: "Du musst mich nicht als Herrin ansprechen. Wir sind Verwandte - durch Blut vereint, und, wenn mich nicht alles täuscht, durch Liebe zum Haus der Turmherren. So ist es doch, oder nicht?"
Aerien errötete und blickte zu Boden. "Du hast natürlich recht, Melíril."
Minûlîth lachte leise. "Oh, ich sehe schon, die Erziehung von Mordor steckt noch sehr tief in dir. Du hat nie gelernt, was Liebe wirklich bedeutet, nicht wahr? Dann sei froh, dass du jemanden gefunden hast, die dir dabei hilft, es herauszufinden."
"Das bin ich," sagte Aerien. "Das bin ich."

Sie kamen in Sichtweite der kleineren Gebäude, die rings um den Turm standen und eines nach dem anderen repariert wurden. Minûlîth erzählte Aerien und Laedris gerade von einer ihrer Reisen mit Thorongil in den tiefen Süden, doch dann sagte sie entschuldigend: "Ich werde euch beide auf später vertrösten müssen. Es gibt im Turm einige Dinge, um die ich mich kümmern muss. Laedris, du kennst deine Aufgaben. Aerien - für dich werde ich sicherlich etwas finden, falls du helfen möchtest. Aber für heute schlage ich vor, dass du dir die Insel ansiehst, dich einlebst und dir alles ansiehst. Ich hoffe, wir können dir hier eine gute neue Heimat bieten." Sie hielt einen Moment inne, dann blickte sie Aerien nachdenklich an und sagte: "Du und Narissa - ihr bleibt doch hier, oder? Immerhin ist Tol Thelyn Narissas Zuhause, und ich glaube nicht, dass du dich freiwillig von ihr trennen willst. Nun - wie dem auch sei, Beorn und ich heißen dich willkommen, und du wirst hier immer eine Heimat finden, wenn du sie möchtest."
"Und wenn sie sich nicht doch als Verräterin herausstellt," fügte eine neue Stimme hinzu. Es war der Mann, den Narissa als Edrahil vorgestellt hatte.
"Edrahil, bitte. Sie hat sich von Mordor losgesagt. Lass das arme Mädchen in Ruhe," sagte Minûlîth befehlend. "Sie hat schon genug durchgemacht, da musst du ihr nicht noch mit deiner Griesgrämigkeit das Leben schwer machen. Du hast doch heute einiges zu feiern: Beorn hat dank deinem Hinweis die Rossigil gefunden, der Wiederaufbau geht gut voran, und ein Vogel aus Dol Amroth ist eingetroffen. Hast du die Nachricht schon gelesen?"
"Natürlich habe ich das," gab Edrahil etwas missmutig zurück. "Sie war das, was ich erwartete. Zufriedenstellend, aber nichts Überraschendes."
"Ich sehe schon, wir sollten wirklich eine Frau für dich finden, die dir hin und wieder die Ohren langzieht," scherzte Minûlîth. "Denn sonst muss ich das übernehmen, und das wird mir auf Dauer zu anstrengend."
"Wage es ja nicht, dich auch nur nach einer Kandidatin umzusehen," erwiderte Edrahil, doch inzwischen war ein kleines Lächeln auf sein Gesicht getreten. "Ich finde es sowieso heraus."
"Wir werden sehen, Meister Edrahil," gab Minûlîth ungerührt zurück. Und damit ließ sie ihn stehen und betrat den Turm.
"Mach bloß keinen Ärger, Mädchen," brummte der Gondorer in Aeriens Richtung.
"Ich gebe mir Mühe, Herr Edrahil," gab sie pflichtbewusst zurück. Die Art und Weise, wie Edrahil sie durchdringend anblickte, gab Aerien das Gefühl, dass dieser Mann tatsächlich alles sah und erfuhr, was auf der Insel geschah. Wie als ob er einen Palantír benutzen würde, dachte sie.

Edrahil hatte sie erfolgreich vom Turm verscheucht. Aerien beschloss daher, den Leuchtturm zu finden, den Narissa ihr beschrieben hatte. Auf dem Weg dorthin traf sie auf eine weitere Gruppe Thelynrim, die ebenfalls äußerst beschäftigt aussahen und einen halb zerstörten Bauernhof auf halbem Weg zum Leuchtturm wieder aufbauten. Als Aerien jedoch herankam, unterbrach einer der Arbeiter sein Werk und trat ihr entgegen. Er deutete eine Verbeugung an und stellte sich vor: "Mein Name ist Hírilorn, Hallatans Sohn. Was führt die edle Dame zu meinem bescheidenen Hof?"
Aerien fand nicht gerade, dass sie momentan nach einer edlen Dame aussah - sie trug einfache haradische Kleidung aus weitem, hellen Stoff und ihre graue Hose aus Durthang, dazu die breiten Lederstiefel die sie auf ihrem Weg von Mordor bis hierher getragen hatte, abgesehen von den beiden Anlässen in Qafsah an denen sie Sahírs Kleid getragen hatte. Ihr Haar war zum typischen Pferdeschwanz gebunden und auf ihrem Rücken hing ihr Bastardschwert.
"Hallo, Hírilorn," sagte sie daher einfach und ging nicht auf sein höfisches Gerede ein. "Ich bin auf dem Weg zum alten Leuchtturm, um mich dort mit Narissa zu treffen."
"Lasst mich Euch den Weg weisen!" bot der junge Mann hilfsbereit an. Aerien fragte sich, was wohl dahintersteckte, bis einer der übrigen Arbeiter rief: "Du musst dir schon mehr Mühe geben, wenn du über sie an Narissa herankommen willst, Hírilorn Silberzunge!" Die übrigen Männer lachten. "So ist das also," sagte Aerien lächelnd. "Hattest du gehofft, wenn du dich mit mir anfreundetst, stelle ich dich vielleicht Narissa vor? Die Erbin des Turms, noch unverheiratet?" Hírilorn blickte etwas betreten zu Boden, und das genügte Aerien als Antwort. "Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest - Fürst Beorn hat bereits einen männlichen Erben."
"Darum ging es mir nicht," gab Hírilorn zu. "Wir alle dachten, Narissa wäre beim Fall der Insel getötet worden. Und jetzt, da sie wieder aufgetaucht ist, und keinen Mann hat..." er ließ den Satz unvollendet.
Verdammt, Narissa, müssen dir denn wirklich überall wo wir hin kommen die Männer nachlaufen? dachte Aerien verärgert, doch sie ließ sich nichts anmerken. "Ich denke, ich finden den Leuchtturm alleine, vielen Dank," sagte sie. "Es sieht sowieso ganz danach aus, als hättet ihr hier noch genug zu tun."

Sie ließ Hírilorns Bauernhof hinter sich und kam nach einiger Zeit an den Bach, den Narissa ihr beschrieben hatte. Aerien folgte dem Verlauf des Gewässers, zwischen den Hügeln hindurch, und gelangte an den kleinen, versteckten Strand. Die Sonne schien noch immer warm auf sie herab, und so zog Aerien die Schuhe aus und rannte einige Minuten glücklich durch den warmen, weichen Sand, bis sie schließlich vor dem alten Leuchtturm stand. Die Tür war nur angelehnt und ließ sich problemlos öffnen. Drinnen war es weniger dunkel als Aerien erwartet hatte, denn durch viele kleine Fenster fiel das Tageslicht herein. Aerien wollte gerade die Stufen hinauf zur Spitze des Turms erklimmen, als ein plötzlicher Windstoß die Tür fest zuschlug und ihr einen ordentlichen Schreck einjagte. Und als sie versuchte, die Tür wieder zu öffnen, stellte sie fest, dass sie klemmte.
Bei allen sieben Sternen, dachte Aerien. Muss das gerade jetzt passieren? Sie versuchte, die Tür mit ihrem Schwert aufzuhebeln, doch diese gab nicht nach. Aerien gab den Versuch schließlich auf, da sie befürchtete, die Klinge könnte abbrechen. Sie beschloss, das beste aus der Situation zu machen und den Turm von oben bis unten zu durchsuchen. Narissa wird schon kommen und die Tür von außen aufbekommen, sagte sie sich. Und als sie schließlich hinter einem losen Stein eine alte Decke sowie mehrere Kissen gefunden hatte, machte sie es sich auf dem Teppich im oberen Stockwerk des Turms gemütlich, an einem der Fenster, das ihr einen wunderbaren Blick auf das Meer bot. Kaum hatte sie sich in die Decke gewickelt spürte sie, dass sie in der vorherigen Nacht zu lange wach geblieben war. Aerien gähnte, und es fiel ihr immer schwerer, die Augen offen zu halten während sie ihren Blick über das Meer schweifen ließ. Bereits nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

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