Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad
Tol Thelyn
Eandril:
Den ganzen Weg zum Turm hinauf hatte Narissa das dringende Bedürfnis zu singen, tanzen und springen. Doch sie beherrschte sich, und eilte ohne zu zögern weiter, antwortete nur kurz angebunden auf die freundlichen Zurufe alter Bekannter, und erreichte schließlich den Turm. Er sah genauso aus wie am Tag vor dem Angriff, doch als sie durch die Türöffnung, in der noch die Tür fehlte, hineintrat, sah sie, dass sich vieles verändert hatte. In der runden Halle, die das unterste Stockwerk des Gebäudes einnahm, fehlten noch sämtliche Einrichtungsgegenstände, und stattdessen war der Boden mit Werkzeugen und Baumaterialien vom Wiederaufbau übersät.
Narissa stieg langsam die Treppe hinauf, die sich an der äußeren Wand des Turmes emporwand. Die unteren Stockwerke schienen am meisten unter dem Feuer gelitten zu haben, denn hier war beinahe nichts wieder zu erkennen. Doch auch als sie weiter nach oben kam stellte sie fest, dass große Teile der Außenwand neu waren - offenbar hatte das Feuer auch hier gewütet, und Teile der oberen Stockwerke schienen eingestürzt gewesen zu sein.
Schließlich erreichte sie das zweitoberste Stockwerk, das sie selbst bis vor dem Angriff bewohnt hatte. Langsam und unsicher drückte sie die frisch getischlerte Holztür auf, und betrat das Zimmer, in dem sie über zehn Jahre lang gelebt hatte. Nur wenige Möbel standen dort, doch bei ihrem Anblick zog sich Narissas Herz zusammen. Das Bett hatte das Feuer anscheinend beinahe unbeschadet überstanden, nur zwei der Beine waren etwas geschwärzt, und auch der kleine Tisch vor dem Fenster, das auf den Hafen hinausblickte, war noch da. Dort hatte sie oft gesessen, gelesen und auf das Meer hinausgeblickt.
Gedankenverloren ließ sie sich auf der Bettkante nieder, und wessen Verdienst es gewesen war, das Zimmer wieder einigermaßen herzurichten - und wann es geschehen war. Narissas Blick fiel auf die schwere Truhe, die neben dem Bett stand. Sie stand auf, kniete sich davor auf den Boden und öffnete sie ein wenig mühsam. Drinnen lagen einige wenige Kleidungsstücke, die ihr gehört hatten, und zuunterst das, was sie gehofft hatte zu finden. Narissa nahm das dunkelblaue Kleid vorsichtig aus der Truhe, und hielt es sich vor den Körper. Wie hatte das das Feuer überstehen können?
"Als wir gehört haben, dass du noch lebst, hat Thorongil dafür gesorgt, dass dein Zimmer so gut wie möglich wieder hergerichtet wird", erklang Minûlîths Stimme von der offen stehenden Tür her. "Er hat mir erzählt, dass diese Truhe wohl durch den Fußboden gebrochen sein und im untersten Stockwerk gelandet sein muss. Dort hat er sie jedenfalls gefunden, die meisten Kleidungsstücke zerstreut und verbrannt, und drinnen nur dieses eine Kleid."
"Fast wie ein Wunder...", sagte Narissa leise, und strich über den samtigen Stoff des Kleides. Ihr Großvater hatte es ihr einmal, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, aus Umbar mitgebracht, und seit jenem Tag hatte sie es nie mehr getragen - schließlich waren Kleider unpraktisch zum Kämpfen und Klettern.
"Willst du es tragen?", fragte Minûlîth, und Narissa nickte. "Ja. Irgendwie... hatte ich gehofft, dass es überlebt hat."
"Ich kann dir dabei helfen", bot Minûlîth an, und betrachtete sie dabei prüfend. "Und dich dabei noch ein bisschen hübscher machen, als du ohnehin bist." Narissa spürte sich selbst ein wenig erröten, als sie antwortete: "Das... würde mich sehr freuen, denn ich... weiß nicht so recht, wie..."
Nur wenig später betrachtete Narissa sich in dem kleinen Spiegel, den Minûlîth ebenso wie eine Menge Schminkzeug irgendwo hergezaubert hatte. Sie trug das dunkelblaue Kleid, dass weniger prunkvoll war als jenes, das Aerien in Qafsah getragen hatte, aber trotzdem in seiner Schlichtheit elegant wirkte. Das Kleid ließ ließ Arme, Schultern und den oberen Rücken komplett frei. Darunter saß es eng am Körper, betonte die Taille, fiel von den Hüften an in lockeren glatten Falten über die Beine hinab und endete kurz über den Knien. Auch ihre gewohnten Stiefel trug Narissa nicht mehr, sondern feine weiße Schuhe, die Minûlîth ihr geliehen hatte, und die den Fußrücken freiließen. Die größte Veränderung hatte Minûlîth allerdings mit ihrem Gesicht vollbracht, ihre Haare zu einer ebenfalls schlichten, aber eleganten Frisur hochgesteckt sodass ihr zu beiden Seiten ein paar wenige Strähnen das Gesicht umrahmten. Dann hatte sie mit Puder ein wenig Farbe auf ihre Wangen gezaubert, die gebogene Narbe ein wenig abgeschwächt aber nicht ganz verdeckt, mit einem schwarzen Stift ein wenig Schatten unter die Augen und über die Augenlider gelegt, sodass Narissas Augen ein wenig größer wirkten, und zuletzt roten Lippenstift aufgelegt. Während Narissa sich jetzt im Spiegel betrachtete, roch Minûlîth nacheinander an mehreren Parfümfläschchen, bis sie Narissa eines davon entgegenstreckte und sagte: "Wie wäre es damit?"
Narissa nahm das Fläschchen vorsichtig entgegen, und roch daran. Der Geruch erinnerte sie ein wenig an einen Frühlingsmorgen auf der Insel, wenn Tau auf den Grasspitzen glitzerte und ein frischer salziger Wind vom Meer hereinwehte. "Das gefällt mir", erwiderte sie, und Minûlîth tupfte ihr ein wenig davon auf die Innenseiten beider Handgelenke, und unter die Ohren auf den Hals. Dann streifte Narissa sich das Medaillon von Elenosse wieder über den Kopf, dass genau auf ihrer Brust zu liegen kam und dessen Silber auf dem dunkelblauen Stoff besonders gut zur Geltung kam.
"Fertig", sagte sie, atmete tief durch, und Minûlîth nickte zufrieden. "Allerdings. Für wen du das tust, er kann sich glücklich schätzen... oder sie?" Narissa errötete zu ihrer Überraschung ein wenig unter Minûlîths Blick, und diese lachte. "Ich will nicht leugnen, dass ihr nicht ungewöhnlich seid. Aber mach dir keine Sorgen, ich verurteile keine Form der Liebe - in Umbar hatte ich zwei Wachen, die heimlich das Bett miteinander geteilt haben. Oder sie dachten zumindest, dass es ein Geheimnis wäre."
Narissa erwiderte das Lächeln zaghaft, und sagte dann: "Danke, Minûlîth. Ich glaube nicht, dass ich das ohne dich hinbekommen hätte."
"Alles für meine Nichte - so darf ich dich doch nennen?", fragte Minûlîth, und Narissa erwiderte sofort: "Ich würde mich freuen." Dann fiel sie Minûlîth um den Hals, die ihr sanft über den Rücken strich und dann sagte: "Na, vielleicht solltest du dir davon noch ein bisschen was aufsparen... Nun geh."
Als Narissa den Turm verließ, darauf bedacht, niemandem aufzufallen, sank die Sonne im Westen bereits. Sie folgte eilig dem Pfad zum alten Leuchtturm, bis sie zu Hírilorns halb zerstörtem Bauernhof kam, der offenbar langsam wieder aufgebaut wurde. Bereits aus der Ferne konnte sie Hallatans Sohn mit einigen anderen Männern arbeiten sehen, und beschloss, einen kleinen Bogen um den Hof zu machen, denn auch wenn Hírilorn nie aufdringlich geworden war, war seine Freundlichkeit ihr gegenüber doch so groß, dass seine Absichten nie wirklich ein Rätsel gewesen waren. Also gehörte er nicht zu den Personen, die sie in ihrem momentanen Aufzug unbedingt sehen sollten.
Ungesehen erreichte sie den kleinen Bach, und folgte ihm durch das Tal hinab zum Strand, wo Aeriens Schuhe einsam und verlassen im Sand standen. Aerien selbst war nicht zu sehen, doch im hellen Sand waren jede Menge Spuren von nackten Füßen, die schließlich zu dem alten Leuchtturm führten.
Die Tür des Leuchtturms war fest verschlossen, und Narissa musste grinsen. Auf diese Falle war sie selbst bereits hereingefallen, denn von innen ließ sich die Tür, deren Angeln sich mit der Zeit ein wenig verzogen hatten, wenn sie einmal zugefallen war nur mit einem bestimmten Trick öffnen. Das erste Mal als ihr das passiert war, hatte sie am Morgen an der Außenmauer herunterklettern müssen, was ihr Großvater als eine "gute Übung" abgetan hatte. Dennoch hatte er ihr kurz darauf gezeigt, wie die Tür von innen aufzukriegen war. Einen kurzen Moment spielte Narissa mit dem Gedanken, auch jetzt an der Mauer hinaufzuklettern und Aerien einen Schrecken einzujagen, doch die Gefahr dabei das Kleid zu beschädigen oder sich die Schminke zu verschmieren, war ihr zu groß. Stattdessen begnügte sie sich damit, leise die Tür aufzuziehen, und ebenso leise die gewundene Treppe nach oben hochzusteigen.
Als sie im oberen Stockwerk angekommen war, musste sie über den Anblick, der sich ihr bot, lächeln. Aerien hatte offenbar ihr altes Versteck gefunden, und lag nun in eine Decke gewickelt auf mehreren Kissen friedlich schlafend vor einem der Fenster. Narissa ging leise neben ihr in die Knie, und flüsterte ihr ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen, Schlafmütze."
Aeriens Augenlider flatterten, bevor sie langsam die Augen öffnete und verschlafen sagte: "Wie spät ist es?"
Narissa erhob sich wieder, und stemmte die Hände in die Hüften. "Du hast über hundert Jahre geschlafen. Ich bin Narissas Urenkelin, äh... ebenfalls Narissa."
Aerien rieb sich die Augen, blinzelte ein paar mal verwirrt bei ihrem Anblick, und dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. "Ich glaube dir", erwiderte sie, während sie sich aus der Decke schälte und auf die Beine kam. "Die echte Narissa hat nie so ausgesehen."
"Bis heute", gab Narissa zurück, und drehte sich einmal schnell im Kreis, wobei der Stoff ihres Kleides raschelte. "Ich musste mich schließlich revanchieren, auch wenn es nicht ganz so schön ist wie dein Kleid in... Qafsah."
"Es ist... wunderschön", erwiderte Aerien langsam, und verbesserte sich dann: "Nein. Du bist wunderschön." Erneut spürte Narissa sich erröten, und erwiderte: "Minûlîth hat mir dabei geholfen. Das Kleid hat mein Großvater mir zu meinem zwanzigsten Geburtstag aus Umbar mitgebracht, und durch irgendein Wunder hat es den Brand des Turmes überstanden. Gerade, als hätte es auf diese Gelegenheit gewartet..."
"Mhm...", machte Aerien nur, trat einen Schritt näher, zog Narissa dann plötzlich in ihre Arme und küsste sie, heftig, gierig, wie nie zuvor. Schließlich löste Narissa sich, rang um Atem und sagte keuchend: "So... stürmisch. Ich scheine wohl etwas richtig gemacht zu haben."
"Allerdings", flüsterte Aerien heiser, und sie prallten erneut zusammen. Diesmal strichen Aeriens Hände über Narissas nackten Rücken, fuhren die Konturen der Schulterblätter nach, während Narissas Hände bebend, unsicher unter Aeriens Obergewand glitten und langsam über die zarte Haut ihres unteren Rückens tasteten. Ein Kribbeln überlief Narissas ganzen Körper, als Aeriens Hände den kleinen Knoten erreichten, der ihr Kleid hinter dem Rücken zusammenhielt. Wenn dieser Knoten gelöst wurde, fehlte nicht viel, und das Kleid würde herunterfallen.
Sie unterbrach den Kuss, nahm Aeriens erhitztes Gesicht in beide Hände, und flüsterte: "Bist du dir sicher?" "Ich war mir noch nie zuvor bei etwas so sicher", erwiderte Aerien ebenso leise, und Narissa spürte ihr Herz einen kleinen Sprung vor Aufregung und Nervosität machen.
"Hast du sowas schonmal erlebt?", fragte sie, während Aerien langsam, viel zu langsam an dem Knoten zog. "Ich weiß nicht", wisperte Aerien, und der Knoten löste sich. "Im Traum?"
Nun hielt das Kleid nur noch an Narissas Körper, solange sie keine großen Bewegungen machte, und Aerien legte die Hände auf ihre Hüfte. Narissa biss sich auf die Lippe, und mit einer kleinen Bewegung von Aeriens Händen glitt das Kleid fließend herunter und landete um Narissas Füße. Aerien sog scharf die Luft ein, und Narissa konnte den Blick nicht von ihren leuchtenden Augen abwenden.
Aerien legte ihr die Hände auf die Schultern, fuhr mit den Daumen die Schlüsselbeine entlang, und wanderte dann langsam tiefer.
"Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe", flüsterte sie, und mit einem seligen Lächeln fragte Narissa: "Schöner als das Meer?"
"Mit Abstand", gab Aerien zurück, und als ihre tastenden Finger Narissas Brüste erreichten, atmete diese scharf ein und packte mit einer raschen Bewegung den Stoff von Aeriens Oberteil. "Ich finde es ungerecht, dass ich nackt bin und du nicht", sagte sie mit rauer Stimme. "Das sollten wir dringend ändern."
Fine:
Es war bereits spät in der Nacht, als Aerien erwachte. Neben ihr lag Narissa, halb verdeckt von einer der Decken, die sie sich teilten, und ihr regelmäßiger Atem schuf eine sehr friedliche und beruhigende Atmosphäre in dem kleinen, runden Raum. Durch das kleine Fenster fiel helles Mondlich hinein. Aerien stand mehrere Minuten staunend da und beobachtete, wie sich das Licht auf den Wellen spiegelte. Ein kühler Windhauch fuhr ihr durchs Haar und verwirbelte es. Sie hob eine der Decken auf und wickelte sie um ihren nackten Körper, ehe sie sich wieder dem Meer zuwendete.
Es sieht so friedlich und gleichzeitig so gewaltig aus, dachte sie. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, auf einem der großen Schiffe über die Wellen zu gleiten, einem unentdecken Land und unzähligen aufregenden Abenteuern entgegen. Wo wir gerade bei "aufregend" sind...
Sie drehte sich um und setzte sich neben Narissa auf eines der Kissen. Vorsichtig platzierte Aerien den Kopf ihrer schlafenden Freundin auf ihrem Schoß, ohne sie dabei zu wecken. Sie dachte daran, wie der Abend verlaufen war, und spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen bei der Erinnerung an das aufstellten, was Narissa getan hatte. Was sie mit ihr getan hatte. Aerien war keine Jungfrau mehr gewesen, doch die Gelegenheiten, bei denen sie in Mordor mit jemandem geschlafen hatte waren selten, und stets rein körperlicher Natur gewesen. Es hatte ihr sehr geholfen, dass Narissa diejenige gewesen war, die als erste die Hüllen fallen gelassen hatte. Die Sicherheit, die ihr die Insel und der abgelegene, vergessene Leuchtturm boten, waren ebenfalls dabei behilflich gewesen, dass Aerien sich schließlich sicher genug gefühlt hatte und Narissa nicht davon abgehalten hatte, sie auszuziehen. Und was dann folgte war... traumhaft gewesen.
Nach einer halben Stunde regte sich Narissa und schaute verschlafen zu Aerien hoch. "Das ist die beste Art und Weise, auf die man nur aufwachen kann," sagte sie lächelnd.
Aerien erwiderte das Lächeln und strich sanft durch das weiße Haar, das längst nicht mehr die kunstvolle Form hatte, in die Minûlîth es gebracht hatte. "Ich weiß," erwiderte sie leise.
"Also, das war..." begann Narissa, und Aerien beendete den Satz für sie: "...einfach wunderbar."
"Mhmmm," machte Narissa. "Du sagst es."
Noch immer streichelte Aerien ihr sanft durchs Haar. "Womit habe ich nur so ein Glück verdient?" fragte sie verliebt.
"Schätze, es hat mit deinem Aussehen zu tun," erwiderte Narissa. "Du bist nämlich einfach unwiderstehlich." Sie setzte sich auf und blickte Aerien erwartungsvoll an.
"Dasselbe könnte ich über dich sagen," sagte Aerien und schloss ihre Freundin in eine herzliche Umarmung, die nach einigen langen Minuten mit einem Kuss endete. "Ich hätte nie gedacht, dass wir..." setzte Aerien an, und ließ den Satz unvollendet. Sie spürte, wie die Hitze in ihre Wangen zurückkehrte.
"Ich schon," erwiderte Narissa mit einem schiefen Lächeln. Dann zog sie die Decke beiseite, die Aeriens Oberkörper bedeckte und war bei ihr, ehe Aerien reagieren konnte. "Ich habe es gehofft."
Der folgende Morgen kam, und mit ihm ein strömender Regen. Da das Fenster des kleinen Zimmers nicht verschlossen war, wurden Aerien und Narissa schließlich von den dicken Regentropfen geweckt, die der Wind hereinwehte. Hastig zogen sich die beiden an, und Aerien staunte erneut über das wunderschöne Kleid, das Narissa in Ermangelung anderer Bekleidung wieder angezogen hatte. Nun, da Aerien wusste, was darunter lag, fand sie den Anblick umso ansprechender. "Meine Stiefel!" fiel es ihr ein als sie sah, wie Narissa in die weißen Schuhe schlüpfte, die Minûlîth ihr geliehen hatte.
"Die stehen wohl noch vor der Tür," stellte Narissa fest und musste lachen.
"Wie kommen wir denn jetzt nur zurück zum Turm?" fragte Aerien verdrossen. Der Regen kam ihr sehr ungelegen - sie wollte die Insel erkunden, das Innere des Turms kennenlernen und vor allem dorthin gehen, wohin Narissa ging. Und ihre Freundin hatte ihr bereits gesagt, dass sie noch so einige wichtige Gespräche führen musste.
"Na wie wohl," sagte Narissa. "Wir laufen - oder hast du zufällig Grauwind irgendwo gesehen?" Sie hatten die Pferde bei Yinzen im Versteck am Festland gelassen und er hatte versprochen, sich gut um die beiden zu kümmern.
Als sie am Turm ankamen waren sie nass bis auf die Haut. Narissa klopfte lautstark an die Tür und war wenig erfreut, als der junge Hírilorn aufmachte. Das kurze Kleid verdeckte nun, da es nass war, weniger, als Aerien recht war. Sie stellte sich schützend vor Narissa, denn immerhin trug sie Kleidung, die Schultern und Arme bedeckte. "Kommt herein, kommt herein, meine Damen," beeilte Hírilorn sich zu sagen, als er seine Sprache wieder gefunden hatte. Seine Blicke waren Aerien unangenehm, weshalb sie erleichtert aufatmete, als Minûlîth die Treppe zu den höher gelegenen Stockwerken hinab kam.
"Ihr armen Dinger," sagte sie mitleidsvoll und mit einer befehlsgewohnten Geste gab sie einer Bediensteten zu verstehen, dass sie frische Kleidung für Aerien und Narissa holen sollte. "Wie ich sehe, habt ihr euch vom Regen überraschen lassen," fuhr die Herrin der Insel fort. "Am besten geht ihr erst einmal in dein Zimmer, Narissa. Ich lasse euch dann Sachen zum Umziehen bringen; ich habe da ein paar Stücke gefunden, die euch gut passen sollten."
"Du hast ein Zimmer im Turm, nur für dich allein?" fragte Aerien begeistert, und Narissa nickte. Sie ergriff Aeriens Hand und führte sie die Treppe hinauf, weiter und weiter in die Höhe, bis Aeriens Beine zu schmerzen begannen. Auf der zweitobersten Ebene hielt Narissa schließlich an und öffnete eine neu aussehende Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Als sie ihrer Freundin ins Innere folgte, ließ Aerien neugierig ihren Blick durch den Raum schweifen.
"Er sieht nicht mehr wirklich so aus wie vor einem Jahr," erklärte Narissa.
"Aber es ist deiner," erwiderte Aerien. "Hier bist du aufgewachsen." Es fühlte sich aufregend an, an einem so persönlichen Ort von Narissa zu sein. Der Blick, der sich ihr durch das Fenster bot, war atemberaubend, kein Vergleich zu der Aussicht aus dem kleinen Leuchtturm. Man konnte weit nach Norden über das Meer blicken und am rechten Rand des Sichtfeldes war die Küste zu sehen, die sich nach Nordwesten hin bis zum Kap von Umbar hinaufzog.
"Dann kennst du jetzt meine Heimat, und in Qafsah warst du auch schon," erwiderte Narissa. "Und eines Tages könnten wir vielleicht nach..."
"Sprich nicht davon," unterbrach Aerien sie etwas schärfer, als sie beabsichtig hatte. "Nicht hier. Nicht jetzt."
"Ich verstehe," antwortete Narissa und strich ihr beruhigend über den noch immer tropfnassen Kopf.
Minûlîth kam herein, gefolgt von Laedris, die einen Stapel Kleider trug. "Ihr habt Glück, dass meine Schwester nicht all ihre Sachen mit nach Gondor genommen hat," sagte Thorongils Frau im geschäftigen Ton.
"Deine Schwester ist in Gondor?" wiederholte Narissa neugierig. "Hat sie ebenfalls..."
"Sie dient Sauron ebenfalls nicht mehr - oder besser gesagt tat sie es niemals, genau wie ich. Sie hat ihren Verlobten nach Dol Amroth begleitet als dieser die Prinzessin nach Hause gebracht hat."
"Prinzessin?" wiederholte Aerien staunend, und gleichzeitig sagte Narissa: "Ich sehe schon, hier ist in meiner Abwesenheit so einiges passiert."
Minûlîth nickte. "Viel Gutes, aber auch einige nicht so gute Dinge. Wenn du dich umgezogen hast, solltest du mit Edrahil reden - er wartet auf deinen Bericht, Nichte. Er wird dir sicherlich gerne erzählen, was seit deinem Aufbruch aus Umbar passiert ist."
"So, werde ich das?" erklang Edrahils Stimme hinter ihr. Minûlîth drehte sich um und der Blick wurde frei auf Edrahil, der im Türrahmen lehnte.
"Kommt jetzt zu deiner Ungehaltenheit auch noch Ungeduld hinzu, Edrahil?" sagte Minûlîth. "Wie du vielleicht sehen kannst, ziehen sich die Mädchen hier gleich um. Zeig gefälligst etwas Anstand."
Edrahil zog eine Augenbraue nach oben. "Nun gut. Ich werde in meinem Arbeitszimmer zwei Stockwerke weiter unten auf dich warten, Narissa. Aber lass' dir bitte nicht zuviel Zeit."
"Ich mag ihn nicht sonderlich," flüsterte Aerien ihrer Freundin zu.
"Er ist nur ein alter, schlecht gelaunter Mann," gab Narissa ungerührt zurück. "Du wirst dich schon mit ihm vertragen."
Um Edrahil zu ärgern ließen sie sich besonders viel Zeit, während sie die nasse Kleidung gegen frische Sachen tauschten. Aerien ertappte sich dabei, wie sie Narissa beobachtete und blickte errötend zu Boden. Schließlich suchte sie sich ein recht schlichtes, rotes Kleid aus, das einen runden Ausschnitt und kurze Ärmel besaß. Narissa hingegen wählte ein ähnlich geschnittenes Kleid in den Farben der Turmherren: weiß bis zur Taille, Oberteil und Ärmel in saftigem Gelb. Aerien fand, dass sie darin ganz bezaubernd aussah. Sie umarmte Narissa und ergiff dann ihre Hand. "Komm, lassen wir Edrahil nicht noch länger warten, ehe er uns gar nicht mehr ausstehen kann," sagte sie.
"Du willst wirklich mitkommen?" fragte Narissa etwas verwundert.
"Natürlich," erwiderte Aerien. Wieso auch nicht?
"Ich dachte nur, es könnte vielleicht langweilig werden," sagte Narissa. "Wobei ich natürlich verstehen kann, dass du so sehr wie ich wissen willst, was in Umbar passiert ist. Also gut - gehen wir."
Gemeinsam stiegen sie die Treppen zu Edrahils Zimmer hinab.
Eandril:
Edrahil hob den Kopf, als Narissa und Aerien sein neues Zimmer im Turm betraten. Er hatte das halbrunde Gemach, das durch eine hölzerne Wand in Schlaf- und Arbeitsbereich geteilt wurde erst am Tag zuvor bezogen, und verfluchte seine Entscheidung im Stillen bereits - die lange Treppe tat seinem Knie keineswegs gut.
"Meine Einladung galt eigentlich nicht euch beiden", sagte er ungehalten, aber wenig überrascht. Er sah den rebellischen Ausdruck auf Narissas Gesicht, und kam ihrem Widerspruch zuvor: "Also, Narissa: Raus." Der rebellische Ausdruck verwandelte sich in Überraschung, als die Mädchen rasche Blicke tauschten.
"Aber ihr habt gesagt...", setzte Narissa an, doch Edrahil unterbrach sie kurzerhand: "Ich weiß was ich gesagt habe. Entweder geht ihr beide, oder nur du."
Erneut tauschten die beiden intensiv Blicke aus, bis Aerien Narissas Hand drückte und beinahe unmerklich nickte. Edrahil konnte sich gerade noch daran hindern die Augen zu verdrehen, und bedeutete Aerien, sich auf den Stuhl ihm gegenüber zu setzen, sobald Narissa das Zimmer verlassen und die Tür dabei ein wenig zu heftig hinter sich zugezogen hatte. Und dabei hatte Edrahil geglaubt, nach Valion und Valirë auf alles vorbereitet zu sein.
"Du weißt vermutlich bereits, worum es mir geht", sagte Edrahil ohne Umschweife, beugte sich leicht vor und faltete die Hände auf dem bereits mit Papieren und Karten übersäten Tisch. Aerien nickte, und antwortete: "Ja. Es geht darum, wo ich herkomme, und ihr wollt wissen, ob ich wirklich und endgültig mit Mordor gebrochen habe." Edrahil stellte fest, dass sie ihm direkt ins Gesicht blickte, seinem forschenden Blick nicht auswich und nicht nervös wirkte. Lediglich ein kleines bisschen Unbehagen glaubte er zu erkennen, doch sie verbarg es meisterhaft. Wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte, könnte ihm aus Mordor eine überaus wertvolle Waffe in die Hände gefallen sein.
"Allerdings", erwiderte er. "Minûlîth ist eine äußerst kluge Frau, die ihr Vertrauen nicht leichtfertig verschenkt, und normalerweise würde ihr Urteil mir genügen. Doch in deinem Fall mag ihr Blick für die Wahrheit durch ihren Wunsch, dass mehr aus ihrem Volk ihrem Weg folgen, getrübt sein." Bevor Aerien etwas entgegnen konnte, hob er die Rechte und gebot ihr, zu schweigen - und stellte erfreut fest, dass sie keine Anstalten machte, trotzdem zu sprechen. Im Gegensatz zu Narissa hatte sie offenbar keine Schwierigkeiten damit, sich im rechten Moment unterzuordnen und zuzuhören, bevor sie sprach.
"Ich will dir damit nichts vorwerfen, denn ich glaube, dass du zumindest jetzt gerade aufrichtig bist." Das war die Wahrheit, denn mit den Jahren hatte Edrahil gelernt, Lüge sorgfältig von Wahrheit unterscheiden zu können, ohne dass sein Gegenüber viel sagte. Und entweder war Aerien eine unglaublich meisterhafte Lügnerin, wie sie ihm noch nie begegnet war, oder sie stand tatsächlich im Moment gegen Mordor - oder zumindest zu Narissa. Das war ein wichtiger Unterschied, und er plante herauszufinden, was von beidem es war.
"Worauf ich hinaus will - es ist nicht zu übersehen, was zwischen dir und Thorongils Nichte abläuft", fuhr er fort, und Aerien zeigte erneut kaum eine Reaktion außer einer leichten Röte auf den Wangen. Das ist gut, dachte er bei sich. Während Narissa ihm in diesen Belangen noch etwas ungeschliffen und ungestüm zu sein schien, würde Aerien eine perfekte Spionin abgeben können, falls sich die Gelegenheit ergab.
Edrahil sprach weiter: "Und da liegt das Problem. Bist du erst durch sie auf den Gedanken gekommen, dich von Mordor abzuwenden? Denn die Liebe ist eine gefährliche Sache, und sollte sich eines Tages etwas ändern - was ich euch nicht wünsche - muss ich wissen, ob du eine Gefahr für uns wärst." Er verstummte, und wartete ruhig Aeriens Antwort ab.
Schließlich sagte sie langsam, wohlüberlegt: "Als ich Narissa das erste Mal traf, hatte ich bereits lange zuvor mit Mordor gebrochen. Ich begann an den Wahrheiten, die mir über den Westen erzählt wurden zu zweifeln, als ich etwas über Tar-Míriel las, und herausfand, dass sie ebenfalls diesen Anhänger getragen hatte." Sie zog den fünfzackigen Stern aus dem Ausschnitt ihres Kleides hervor, und Edrahil merkte sich sein Aussehen genau. Später würde er versuchen, etwas darüber herauszufinden um zu überprüfen, ob dieser Teil von Aeriens Geschichte der Wahrheit entsprechen konnte.
"Je mehr ich über Gondor und Arnor und die Dúnedain des Westens las, desto mehr wollte ich auch ihre Seite der Geschichte kennenlernen", fuhr Aerien fort. "Und so sprach ich schließlich im Dunklen Turm mit dem einzigen Menschen, der mir die Wahrheit darüber erzählen konnte: Aragorn, dem König von Gondor."
Edrahil gab sich die größte Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, doch es schien ihm nicht ganz zu gelingen und ein kleines Lächeln erschien auf Aeriens Gesicht. Also sagte er: "Nun, ich will nicht leugnen, dass mich das überrascht. Es war also wirklich keine Lüge Saurons, dass er noch am Leben ist, und du weißt, wo er gefangen gehalten wird..." Er verstummte, und begann nachzudenken. Auf der einen Seite hatte er Aerien, die sich in Mordor auskannte und wusste, wo Aragorn gefangen gehalten wurde - und auf der anderen Narissa, die ihr Leben lang darin ausgebildet worden war, heimlich in feindliches Territorium einzudringen. Die offensichtliche Beziehung der beiden gab dem ganzen allerdings eine gewisse Unwägbarkeit - dass beide bereit wären, sich für die jeweils andere in größte Gefahr zu begeben, mochte hilfreich sein, doch falls es notwendig sein sollte, die andere für das Gelingen der Mission zu opfern auch den Erfolg ihrer Aufgabe gefährden.
Edrahil unterbrach seinen Gedankengang, und bedeutete Aerien, fortzufahren. "Er brachte mich schließlich zu dem Entschluss nach Gondor zu gehen, denn ich hatte begriffen, dass Sauron der Grund für den Krieg, den die Nachfahren Númenors gegeneinander führen, ist. Er ist böse, und er muss besiegt und vernichtet werden."
"Darin sind wir uns einig", erwiderte Edrahil. "Wenn ich dich richtig verstehe, richtest du dich allerdings gegen Sauron selbst, und nicht unbedingt gegen deine Verwandten in Mordor."
Aerien erwiderte seinen Blick standhaft, und nickte. "Ich glaube, kein Mensch wird böse geboren - und erst recht keiner der Númenorer. Sie werden dazu gemacht, und wenn Sauron fort ist... vielleicht könnten wir Frieden haben, und diesen lange geführten Krieg beenden." Bei diesen Augen glänzten Aeriens graue Augen. Offensichtlich stand sie fest hinter dieser Idee, die ein Problem sein konnte. Denn Edrahil würde nicht zögern, sämtliche Schwarzen Númenorer in Mittelerde auszulöschen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Und deshalb würde die nächste Antwort auch darüber entscheiden, ob er Aerien trauen konnte - oder nicht.
"Antworte mir ehrlich, auch dir selbst gegenüber", forderte er sie auf. "Falls es dazu kommt, wärst du dennoch bereit, auch gegen deine Familie zu kämpfen und sie im Zweifelsfall zu töten?" Aerien schwieg einige Zeit, und Edrahil drängte sie nicht zu einer Antwort. Er wusste, dass er eine überaus schwierige Entscheidung von ihre verlangte, und schuldete ihr die Zeit, ausreichend darüber nachzudenken.
Irgendwann antwortete Aerien langsam: "Ich habe in Qafsah gegen meinen Vetter Karnuzîr gekämpft und habe ihn aus einem Fenster gestoßen, obwohl ich wusste, dass er dabei sterben könnte." Sie sah auf, und blickte Edrahil fest in die Augen. "Nicht alle von ihnen sind rettungslos verloren - einige von ihnen sicherlich, aber vielleicht nicht alle. Ich würde versuchen, sie zu retten, doch wenn es nicht anders geht, keinen anderen Weg gibt... dann würde ich nicht zögern."
Edrahil verspürte Erleichterung über diese Antwort. Es war nicht ganz das gewesen, was er sich erhofft hatte, und Aerien musste es gewusst haben. Und trotzdem war sie absolut ehrlich gewesen, und nun wusste Edrahil, woran er war.
"Nun, in diesem Fall...", begann er, und lächelte. "Ich freue mich, dich hier zu haben, Aerien. Und ich hoffe, du nimmst mir mein Misstrauen nicht allzu übel - jahrelange Gewohnheit."
Aerien schüttelte den Kopf, und Edrahil sagte ein wenig lauter, doch ohne zu rufen: "Narissa."
Sofort wurde die Tür aufgestoßen, und Narissa stürmte mit funkelnden Augen ins Zimmer. Edrahil seufzte, und sagte: "Ich hätte wissen müssen, dass du lauschen würdest."
Ohne Aufforderung ließ das Mädchen sich in den Stuhl neben Aerien fallen, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und entgegnete: "Was hätte ich denn solange machen sollen, nachdem ihr mich rausgeworfen hattet?"
"Ich weiß nicht", meinte Edrahil gedehnt. "Karten spielen? Ein neues Kleid anprobieren? Messer werfen?" Der vernichtende Blick, den Narissa ihm zuwarf, genügte als Antwort.
"Nun, ich hoffe das Gehörte war auch für dich interessant - um nichts in der Welt würde ich dich langweilen wollen", fügte er ironisch hinzu, und Narissa, die Aeriens Hand ergriffen hatte, erwiderte ein wenig abwesend: "Ihr habt kaum etwas über mich gefragt."
Edrahil schnaubte amüsiert. "Mein liebes Mädchen, du bist nicht der Mittelpunkt von allem. Und außerdem gibt es über dich nicht viel, was man nicht erfahren kann, wenn man dich ein wenig beobachtet und dir zuhört. Du trägst das Herz auf der Zunge, könnte man sagen, hast es aber auch am rechten Fleck. Und deshalb würde ich nun gerne wissen, was du von Qúsay hältst."
Einen kurzen Augenblick schwieg Narissa rebellisch, doch als weder Edrahil noch Aerien eine Regung zeigten, ächzte sie. "Großartig. Lauter ernsthafte, beherrschte Menschen." Sie schnitt eine Grimasse, und Edrahil sah Aeriens Mundwinkel zucken, als Narissa berichtete: "Nun, ich glaube Qúsay meint es tatsächlich ernst mit dem was er sagt. Er plant nicht, nur die Herrschaft über Harad an sich zu reißen und dann gegen Gondor vorzurücken, und auch nicht, den Thron Gondors zu beanspruchen. Und er scheint tatsächlich ein überzeugter Feind Mordors zu sein."
Edrahil nickte langsam. Qúsays Abstammung von Castamir war ihm inzwischen nicht mehr unbekannt, und es erleichterte ihn, dass der Malik diesen offenbar nicht durchsetzen würde. "Das war auch mein Eindruck, als ich ihn getroffen habe", ergänzte Aerien zu Edrahils Überraschung. "Ich war in Begleitung eines Mannes namens Beregond aus Minas Tirith in Aín Sefra, und wir sind sogar ein Stück gemeinsam mit Qúsay gereist - auch, wenn er sich uns da noch nicht als Qúsay vorgestellt hatte."
"Also gut", meinte Edrahil. "Wie es aussieht, können wir diesem Bündnis vertrauen - ich werde sehen, was ich tun kann um Qúsay zu helfen. Falls ihr erfahren wollt, was in Umbar alles geschehen ist, muss ich euch leider enttäuschen, denn ich habe einiges zu erledigen. Aber ihr könntet Minûlîth danach fragen... oder Bayyin."
"Bayyin?", stieß Narissa hervor, und sprang von ihrem Stuhl auf. "Er ist auch hier? Warum habe ich ihn noch nicht gesehen?"
"Er ist vermutlich dabei zusammenzutragen, was von der Bibliothek das Feuer überstanden hat, und..." Edrahil unterbrach sich, als Narissa bereits aus dem Zimmer gestürmt war, und schüttelte langsam den Kopf. Dann sagte er zu Aerien, die sich mit einem etwas unsicheren Gesichtsausdruck erhob und in Richtung der Tür ging: "Mach dir keine Sorgen - der Schreiber ist in Umbar auf ganz andere Gedanken gebracht worden, was Frauen angeht."
Fine:
Der Turm von Tol Thelyn verfügte über weitläufige Kellergewölbe, in denen unter anderem eine kleine Bibliothek untergebracht war. Aufgrund der unterirdischen Lage war nur ein kleiner Teil davon den Flammen zum Opfer gefallen. Als Aerien (die sich unterwegs mehrfach verlaufen hatte, da Narissa längst außer Sicht gewesen war als sie Edrahils Zimmer verlassen hatte) endlich dort ankam fand sie ihre Freundin dort an einem großen Tisch stehend vor, in der Gemeinschaft eines jungen haradischen Mannes, der die weiten und einfachen Gewänder eines Schreibers trug und sich gerade prüfend über eine alte Karte beugte.
"Hier, siehst du?" sagte Bayyin (denn um ihn handelte es sich bei dem jungen Mann offensichtlich) und zeigte auf eine Stelle auf der Karte. "Dort entspringt der Harnen-Fluss und nur eine Meile nördlich davon ist der Zugang eingezeichnet."
Aerien kam näher und erkannte, dass die Karte die Gebiete um Mordor, Harondor und Nah-Harad zeigte.
"Ist das Arandirs Karte von dem angeblichen geheimen Weg nach Mordor?" fragte Aerien mit einem etwas schärferen Unterton als sie beabsichtigt hatte und setzte sich neben Narissa auf einen der Hocker, die im Raum verteilt herumstanden.
Bayyin blickte erstaunt auf. "Ja, das ist die Karte, die ich in den Archiven des Fürstenpalastes von Umbar fand," erklärte er und wandte sich ihr dann zu. "Mein Name ist Bayyin," stellte er sich höflich vor. "Und du musst Aerien sein, wenn mich nicht alles täuscht." Er beobachtete sie interessiert.
"Ganz richtig," bestätigte Aerien und schenkte Bayyin ein Lächeln. Doch dann blickte sie zu Narissa hinüber, die noch kein Wort gesagt hatte und weiterhin auf die Karte starrte. Aeriens Gesichtsausdruck wurde vorwurfsvoll als sie ihrer Freundin leise zuflüsterte: "Du bist einfach weggerannt und hast nicht auf mich gewartet."
Narissa blinzelte und wandte schließlich den Blick von der Karte ab. "Was? Äh - ach so; ich dachte, dich interessiert dich vielleicht gar nicht so sehr, was ich mit Bayyin zu bereden habe. Oder - vielleicht auch nicht. Als Edrahil sagte dass er hier ist, bin ich gleich losgelaufen um ihn zu sehen," sagte sie.
"Ohne mir zu sagen wohin du gehst," erwiderte Aerien und ertappte sich dabei, dass sie schmollend die Lippen verzog.
Narissas Verwunderung wurde größer. "Du hast mich doch jetzt auch so gefunden, oder etwa nicht?"
"Ich habe mich einige Male verlaufen in diesen blöden Kellern hier," antwortete Aerien. Sie konnte nicht verstehen, warum es Narissa so egal zu sein schien. "Ich wollte doch... bei dir sein." fügte sie leise hinzu.
"Ich gehe ja nicht weg," erwiderte Narissa. "Ich wollte nach Bayyin sehen und ihn fragen, wie es ihm ergangen ist, und was er herausgefunden hat."
An dieser Stelle räusperte sich der Schreiber und sagte etwas unbeholfen: "Ja, also... dazu vielleicht noch folgendes... die Informationen über den geheimen Pfad sind wirklich nur aus dieser einen Quelle belegt; niemand sonst (abgesehen von Arandir vom Turm) hat jemals davon berichtet. Ob dieser Weg also tatsächlich existiert kann ich momentan nicht sicher sagen."
Aerien vergaß ihren Ärger auf Narissa und studierte die Karte nachdenklich. "In Mordor ist dieser Pfad jedenfalls nicht bekannt, und man sollte eigentlich meinen, dass der Dunkle Herrscher sein Land in- und auswendig kennt nachdem er bereits zwei Zeitalter dort gelebt hat."
"Wenn Arandir den Weg hier so deutlich und eindeutig eingezeichnet hat, dann muss es ihn geben," entgegnete Narissa entschlossen. "Es gäbe keinen Grund für ihn, so etwas einfach zu erfinden."
"Nehmen wir für den Moment einmal an, der Pfad existiert wirklich," sagte Bayyin bedacht und fuhr die blaue Linie, die den südlichen Grenzfluss Harondors darstellte mit seinem Zeigefinger nach. "Man müsste dem Verlauf des Harnen hier... bis zu seiner Quelle folgen, und von dort... hier in den niedrigen Ausläufern des Schattengebirges ungefähr eine Meile weiter nach Norden wandern. In Arandirs Reisebericht steht, dass es dort einen großen Felsen gibt, der den Pfad verdeckt, und in den er einen weißen Baum eingraviert hat. Wie der Weg all die Jahrhunderte über unentdeckt geblieben ist, kann ich auch nicht sagen."
"Auf der anderen Seite liegt der südwestliche Teil von Nurn," stellte Aerien fest. "Nurn ist der einzige Ort in Mordor, an den etwas wächst, und dort werden Sklaven zur Arbeit auf großen Feldern gezwungen. Aus Nurn kommt die Nahrung für die Armeen Mordors."
"Ist der südwestliche Teil in irgend einer Art besonders?" fragte Narissa.
"Dort gedeiht nur sehr wenig, weil das Land von Gebirge zum Salzmeer von Rhûn sehr steil abfällt und sehr felsig ist," erklärte Aerien. "Außerdem gibt es dort berüchtigte wilde Bestien, die in Höhlen leben und nachts zwischen den Klippen umherstreifen. Das sind zwar nur Gerüchte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da etwas wahres dran ist."
"Klingt nicht sehr einladend," kommentierte Narissa.
"Nun, es ist jedenfalls äußerst interessant, die Sichtweise von jemanden kennenzulernen, der Saurons Land von innen gesehen hat," sagte Bayyin. "Wenn du einmal etwas Zeit übrig hast, würde ich gerne alle wichtigen Informationen darüber schriftlich festhalten... dabei würde ein Dokument entstehen, wie es in keiner anderen Bibliothek Harads zu finden wäre!" Bayyin Augen hatte einen Glanz angenommen, der die beiden Mädchen nun doch etwas überraschte.
"Nur zu," ermutigte Narissa. "Ich werde derweil nach meinem Onkel suchen; ich habe noch ein paar Fragen an ihn."
"Aber..." begann Aerien, doch Narissa unterbrach sie. "Wir sehen uns dann später wieder," sagte sie etwas kurzangebunden und eilte hinaus.
Etwas missmutig beantwortete Aerien Bayyins Fragen, die sich vor allem um Gebräuche und Gesetzesgebung in Mordor drehten, doch auch über die Befestigungsanlagen wollte der Schreiber alles wissen. Eine ganze Stunde dauerte es, bis Bayyin sich schließlich höflich bei Aerien bedankte und sich dann seinen Notizen widmete. Aerien fand den Ausgang diesmal ohne Umwege und stand schließlich unentschlossen in der Eingangshalle des Turmes. Sie wusste nicht, ob sie Narissa suchen sollte; zumal sie nicht einmal wusste, wo sie anfangen sollte. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass Narissa an diesem Tag auf Abstand zu ihr ging und verstand nicht, wieso. Nachdem sie sich am vergangenen Abend so nah wie noch nie gekommen waren... Was, wenn sie plötzlich gemerkt hat, dass ihr all das zu viel ist? Was wenn ich irgend etwas gemacht oder gesagt habe, das sie verschreckt hat? Was wenn sie mich nicht mehr haben will? Ein schrecklicher Gedanke jagte den nächsten und Aerien musste sich erst einmal setzen und tief durchatmen. Doch es gelang ihr einfach nicht, sich zu beruhigen.
"Du hast nichts falsch gemacht," sagte Minûlîths Stimme neben ihr und Aerien blickte auf. Die Herrin des Turms stand auf der Treppe, auf die Aerien sich gesetzt hatte und blickte wissend auf sie herab. "Aber du musst etwas langsamer machen, mein liebes Mädchen. Jetzt, wo du die Liebe entdeckt hast, stürzt du dich darauf wie jemand, der seit Wochen nicht richtig gegessen hat. Du bist... ein klein wenig zu anhänglich, Aerien."
"Anhänglich?" wiederholte Aerien betroffen. "Was meinst du damit?"
"Narissa und du, ihr teilt jetzt eure Leben miteinander, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass ihr auch jede einzelne Minute miteinander verbringen müsst." Minûlîth machte eine Pause und blickte Aerien prüfend ins Gesicht. "Etwas hat sich seit gestern verändert, nicht wahr? Ich kann mir denken, was geschehen ist, und ich freue mich für euch beide. Aber diese Nähe, die du erlebt hast, ist nichts, was für einen dauerhaften Zustand tauglich ist. Du musst Narissa auch etwas Freiraum lassen, verstehst du? Dann wird sie ganz von allein wieder deine Nähe suchen, wie es sicherlich auch vor... gestern Abend war."
Aerien musste zugeben, dass Minûlîth auf eine Art recht hatte, aber noch wollte sie es sich nicht eingestehen. Also schwieg sie und starrte die Eingangstür des Turms an, die wegen des anhaltenden Regens geschlossen war und nicht wie am Vortag offen stand.
"Ein Vorschlag meinerseits," sagte Minûlîth sanft. "Setz dich in Narissas Zimmer ans Fenster und schau ein Weilchen auf das Meer hinaus. Es übt noch immer Faszination auf dich aus, das spüre ich. Sei geduldig und mach deine Gedanken frei von allen Ängsten, einen Fehler gemacht zu haben. Wenn du abwartest, bis Narissa zu dir kommt, wirst du, glaube ich sehen, dass sie deine Nähe nicht abgeschreckt hat."
Aerien blickte der Frau ins Gesicht, die ungefähr im selben Alter wie ihre Mutter sein musste. Und sie erkannte, wie weise Minûlîth war.
"Vielleicht hast du recht," murmelte Aerien nachdenklich und stieg langsam die Treppen hinauf.
In Narissas Zimmer angekommen stellte sie das Bett unter das Fenster und kniete sich darauf so hin, dass sie ihre Arme auf das Fenstersims abstützen und aufs Meer hinaus blicken konnte. Der Regen hielt noch immer an, doch im Westen schien die Sonne hinter den Wolken hervor und zauberte etwas an den Himmel, das Aerien noch nie gesehen hatte und nun staunend betrachtete: einen Regenbogen.
Eandril:
Narissa fand ihren Onkel in dem kleinen Garten hinter dem Turm, in dem sie als Kind viel Zeit verbracht hatte. Er saß auf einer der steinernen Bänke mit dem Rücken zur Mauer des Turmen, unter eine über drei hölzernen Pfählen aufgespannten Plane, die den sanften Regen abhielt. Als er Narissa durch den Regen herankommen sah, lächelte er und sagte zu Túor, der neben ihm auf der Bank gesessen hatte: "Na los, mein Sohn - such dir jemand anderen zum ausfragen. Vielleicht erzählt dir Hallatan ein bisschen was über sein Schiff, oder über die Rossigil..."
Der Junge glitt langsam von der Bank, doch die Enttäuschung in seinem Gesicht war sichtbar, bis Narissa leise zu ihm sagte: "Morgen zeige ich dir ein paar Tricks zum Kämpfen - wie versprochen." Ein Strahlen ging über das Gesicht ihres jungen Vetters, und er eilte deutlich fröhlicher in Richtung des Hafens davon. Narissa ließ sich an seiner Stelle neben ihrem Onkel auf der Bank nieder, und sagte nach einem Moment des Schweigens: "Großvater hat nie viel von dir gesprochen - bis vor einiger Zeit dachte ich sogar, du wärst tot."
"Das kann ich mir denken", erwiderte Thorongil mit einem leicht gequälten Lächeln. "Mein Vater und ich... hatten leider nie das beste Verhältnis. Wir hatten oft Streit, und als ich neunzehn Jahre alt war, lief ich davon."
"Er war nicht immer einfach...", meinte Narissa. "Aber... ich hätte ihn nie im Stich lassen können."
Thorongil schüttelte den Kopf. "Ich habe meinen Vater immer geliebt, auch nach unserem Streit. Doch ich war jung und dumm und die Verantwortung, eines Tages seinen Platz einzunehmen, so zu sein wie er... der Gedanke machte mich verrückt."
Narissa wollte gerade widersprechen, einwerfen, dass sie ebenfalls jung war und trotzdem nicht davonlaufen würde... bis sie sich daran erinnerte, wie erleichtert sie bei der Erkenntnis gewesen war, dass sie niemals das Erbe ihre Großvaters antreten müsste.
"Ich verstehe, glaube ich", antwortete sie langsam, und Thorongil fuhr fort: "Das einzige, was ich damals bedauerte war, meine Schwester zurück zu lassen." Er lächelte bei der Erinnerung, und Narissa spürte ihr Herz schneller schlagen, als das Gespräch auf ihre Mutter kam. "Herlenna war damals... dreizehn, und der Mensch auf der Welt, den ich am meisten liebte. Sie war immer fröhlich, trug gerne helle Kleider, und hatte ein Talent dafür, jeden aufzumuntern. In ihrer Anwesenheit war die Welt ein besserer Ort. Sie konnte allerdings auch so stur sein, dass nicht einmal unser Vater dagegen ankam. Doch er konnte nie lange böse auf sie sein... auf mich leider schon."
Er sah Narissa eine zeitlang an, betrachtete sie eindringlich. "Du erinnerst mich an sie - sie hatte dieselben grünen Augen, und diesen Hauch von Sommersprossen. Und wie mir scheint, hast du eine gehörige Portion ihrer Sturheit geerbt."
Narissa errötete ein wenig, und blickte zu Boden, auf den hellen Kies des Gartenwegs, an dem die Bank stand. Sie wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte, und so schwieg sie bis ihr Onkel mit rauer Stimme sagte: "Es ist ein kaum vorstellbarer Gedanke, dass sie... nicht mehr da ist. Dass sie tot ist. Denn das ist sie, nicht wahr?"
Narissa nickte zur Antwort nur stumm, und eine einzelne Träne tropfte in ihren Schoß. Sie hatte den Tod ihrer Mutter akzeptiert, doch das machte es nicht viel leichter, darüber zu sprechen. Ebenso wortlos legte Thorongil ihr einen Arm um die Schultern, und nach kurzem Zögern bettete sie den Kopf auf die Schulter ihres Onkels.
"Ich war bei ihr, kurz bevor...", brachte sie schließlich mühsam heraus. "Sie war... sie hatte Frieden gefunden, und sie wollte gehen."
"Das ist alles, was ich wissen muss", erwiderte Thorongil. "Dass sie nicht gelitten hat."
Erneut schwiegen sie eine Weile, während der Regen sanft auf die Plane trommelte. Schließlich fragte Thorongil leise: "Wer... ist dein Vater? Lebt er noch?"
Narissa befreite sich sanft aus seinem Arm, blickte ihm in die Augen und schüttelte dann langsam den Kopf. "Mein Vater war Yaran, ihm gehörte ein Gasthaus in Qafsah. Er hat meine Mutter sehr geliebt und sie ihn, glaube ich, auch. Jedenfalls waren sie glücklich miteinander."
"Es freut mich, das zu hören", erwiderte Thorongil. "Sie hatte es verdient, glücklich zu sein - solange es möglich war." Bei dem Ausdruck in Augen schmerzte Narissa, was sie als nächstes sagen musste, umso mehr: "Yaran war allerdings nicht... mein leiblicher Vater. Das ist Suladân."
"Suladân", sagte Thorongil zunächst verständnislos. "Der Herr von Qafsah, der sich Sultan der Haradrim nennt... und Mordors treuester Diener."
Narissa nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Bei dem Gedanken an den Sultan ergriff sie wie immer ein großer Zorn. Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, wenn sie ihm ihren Dolch ins Herz rammen würde, doch vergeblich - sie wusste nicht einmal, wie er aussah.
"Und er hat Herlenna... hat sie...", sagte Thorongil stockend, und Narissa sah, wie sich der selbe Zorn in seinem Gesicht ausbreitete, als sie antwortete: "Sie hatte keine Wahl, außer sich stattdessen töten zu lassen."
Sie sahen sich schweigend an, während etwas Finsteres in Thorongils Augen trat. "Ich werde ihm für dich danken", sagte er schließlich langsam und mit fester Stimme. "Ich werde ihm danken... bevor ich ihn töte. Bevor ich ihm sein schwarzes Herz aus dem Leib schneide. Ich werde jeden töten, der meiner kleinen Schwester etwas angetan hat."
"Nein, Onkel", erwiderte Narissa, und schüttelte langsam den Kopf. "Suladân gehört mir. Durch ihn mag mein Leben begonnen haben, doch danach hat er Stück für Stück alles zerstört, was mir lieb und teuer war - fast alles." Dabei wanderten ihre Gedanken zu Aerien, die womöglich noch immer in der Bibliothek war, und sich von Bayyin ausfragen lassen musste, und mit einem Mal überkam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihre Freundin nicht einfach so stehen lassen sollen - und das zwei Mal an einem Tag, und nachdem sie...
"Ich verstehe", meinte Thorongil. "Doch ich werde alles tun, damit es so geschieht. Er muss bestraft werden." Ruckartig erhob er sich von der Bank, und ging zwei Schritte den kiesbestreuten Weg entlang, bevor er sich erneut zu Narissa umdrehte und traurig lächelte. "Ich wollte dir eigentlich einiges über mich erzählen - was ich all die Jahre getrieben habe, und wie ich zurückgekehrt bin. Wie ich Edrahil und Minûlîth aus Umbar herausgeholt habe, und wie wir die Rossigil aufgespürt haben... Und ich wollte so viel über dich erfahren. Aber jetzt nicht, jetzt... kann ich nicht."
Narissa nickte langsam, und spielte unbewusst mit einem kleinen Blatt, dass sie von einer Blume abgerissen hatte. "Wir haben Zeit", antwortete sie leise. "Und ich... könnte jetzt ebenfalls nichts über mich erzählen. Morgen vielleicht."
Als ihr Onkel den Garten mit langen, langsamen Schritten verlassen hatte, blieb Narissa noch einige Zeit sitzen, lauschte dem sanften Geräusch des Regens, und drehte das Blatt gedankenverloren zwischen ihren Fingern. Das Gespräch hatte sie mehr mitgenommen als sie zuerst gedacht hatte. Ihr war zuvor nicht bewusst gewesen, wie gern ihr Onkel seine Schwester gehabt hatte, und wie schwer ihn die Nachricht von ihrem Tod getroffen haben musste - und die Nachricht, wer ihr Vater war. Mit einer raschen Bewegung riss Narissa das Blatt in zwei Teile, ließ die Hälften zu Boden schweben, und stand auf. Sie wollte sich nicht in diesen Gedanken verlieren, und sehnte sich nach Gesellschaft. Nach der Gesellschaft einer bestimmten Person.
Im Keller des Turmes traf sie nur Bayyin an, der tief über seine Notizen gebeugt an einem Tisch stand, und ihr nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Anscheinend war Aerien ihm inzwischen entkommen, und so fragte Narissa: "Weißt du, wohin Aerien gegangen ist?"
Bayyin hob nur kurz den Blick, schüttelte den Kopf und antwortete: "Nein, keine Ahnung." Narissa wandte sich ab, denn offensichtlich wollte er nicht gestört werden, und eilte die Treppe wieder nach oben in die Eingangshalle, wo sie Laedris über den Weg lief.
"Laedris!", sprach sie die blonde junge Frau an. Laedris war nur ein Jahr älter als sie und als sie auf die Insel gekommen war, die Wortführerin unter den Kindern in der kleinen Siedlung gewesen. Sobald Narissa sich jedoch ein wenig eingewöhnt und Schock und Trauer überwunden hatte, hatte es einen kleinen Machtkampf zwischen ihr und Laedris gegeben, aus dem Narissa siegreich hervorgegangen war. Aus der Rivalität war schließlich Freundschaft geworden, zwar keine besonders enge, doch Narissa freute sich, dass Laedris dem Angriff entkommen war. "Hast du Aerien gesehen?"
"Ja, sie hat eben mit Herrin Melíril gesprochen - du hast sie nur knapp verpasst", antwortete Laedris, und stellte den Eimer mit Wasser, den sie getragen hatte, ab. "Ich glaube, sie ist hochgegangen in dein Zimmer - oder sollte ich euer Zimmer sagen?" Sie zwinkerte Narissa zu, die zu ihrer eigenen Überraschung spürte, wie sie errötete. Es hatte anscheinend nicht einmal einen Tag gebraucht, bis sich die Art der Beziehung zwischen ihr und Aerien unter sämtlichen Thelynrim herumgesprochen hatte.
"Danke, Laedris", sagte Narissa, und begann rasch die Treppe hinaufzusteigen, bevor Laedris ihr womöglich weitere Fragen stellen konnte. Sie wollte jetzt nicht über Aerien sprechen, sondern bei ihr sein.
In ihrem Zimmer angekommen, sah sie Aerien auf ihrem Bett am Fenster knien, und hinaus auf das Meer schauen. Narissa lächelte, zog leise die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel ebenso leise im Schloss herum. Dann trat sie hinter Aerien an das Bett, blickte an ihr vorbei durchs Fenster und sah den Regenbogen, der sich über dem Wasser gebildet hatte.
"Wunderschön, nicht wahr?", fragte sie leise, und Aerien gab zur Antwort nur einen zustimmenden Laut von sich. Narissa ließ ihre Finger leicht von Aeriens rechter Schulter zur linken und zurück wandern, und fragte ein wenig besorgt: "Du bist mir doch nicht etwa böse, weil ich dich mit Bayyin allein gelassen habe."
Aerien schüttelte den Kopf, wobei ihre Haarspitzen über Narissas Hand strichen. "Nein, bin ich nicht." Dann riss sie den Blick vom Regenbogen los, sah Narissa an und lächelte ein wenig verlegen. "Naja, vielleicht ein bisschen. Und ich hatte Angst, dass... ich dich verschreckt habe, und dass... dass du nicht..."
Narissa lächelte, und stieß sie sanft rückwärts auf die Matratze des Bettes. "Dass ich nicht was, hm?" Dann küsste sie Aerien leidenschaftlich und lange, und als der Kuss endete sagte sie ein wenig atemlos: "Nie im Leben könntest du mich damit verschrecken... ich werd's dir zeigen!" Damit kniete sie sich über Aerien, nahm ihr Gesicht in ihre Hände, und küsste sie erneut.
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