Edrahil blickte Valion und Lóminîth hinterher, und schüttelte den Kopf. "Du wirkst nicht allzu glücklich", meinte Minûlîth, die ihm gegenüber saß. "Diese Verlobung war immerhin deine Idee."
"Tatsache", gab Edrahil kurz zurück. Er wusste, er sollte glücklich darüber sein, dass dieser Teil seiner Pläne so perfekt funktioniert hatte, und dennoch... er vertraute Minûlîth, nicht ihrer Schwester. Minûlîths Worte über Lóminîth hatte er nicht vergessen, und wer konnte schon wissen, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg? Es war unwahrscheinlich, dass Lóminîth sich als Verräterin herausstellen würde, doch falls es so war, war sein Plan ein wenig zu gut gelungen. "Ich hoffe nur, dass Valion weiß, was er tut. Ein Bastard zur unrechten Zeit hat schon vielen Häusern Probleme bereitet."
"Keine Sorge", erwiderte Minûlîth mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Wir Frauen haben unsere... Methoden."
"Die nicht immer erfolgreich sind", warf Thorongil ein, der neben Minûlîth saß und ihre Hand in seiner hielt, und deutete mit der freien Hand auf Túor. Sein Sohn stand einige Meter entfernt von ihnen, und unterhielt sich angeregt mit Hallatan und Kapitän Veantur. "Túor ist der beste Beweis dafür." Über Minûlîths Wangen zog sich eine zarte Röte, als sie antwortete: "Nun, ihr habt recht. Aber trotzdem finde ich, dass wir ihnen die Gelegenheit lassen sollten."
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auf See die ein oder andere Gelegenheit gefunden haben...", meinte Edrahil, ohne eine Miene zu verziehen, und Lóthiriel warf ihm einen tadelnden Blick zu. "Das war nun schon der zweite vollkommen untypische Witz in kurzer Zeit, Edrahil. Was ist los?"
"Vielleicht habe ich endlich den Humor gefunden, den viele so schmerzlich an mir vermisst zu haben scheinen", antwortete Edrahil. Dann blickte er in die Gesichter der drei anderen, und beschloss für einen Moment, die Maske fallen zu lassen - auch vor sich selbst. "Nein, es ist wie Valion gesagt hat.
Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen. Und was ich gesagt habe?
Im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen Das war eine Lüge, zumindest was mich betrifft. Ich bin gescheitert, und das schon zum zweiten Mal."
"Gescheitert?", fragte Lóthiriel ungläubig. "Edrahil, ohne deine Hilfe wäre ich vermutlich noch immer in Hasaels oder sogar schon in Suladâns Händen, Bayyin hätte nie gefunden was... auch immer er gefunden hat, und vermutlich wären wir alle nicht hier."
"Und wir hätten vermutlich noch ewig damit gewartet das zu tun, was wir heute erreicht haben", ergänzte Thorongil, und strich mit dem Daumen zärtlich über Minûlîths Handrücken, doch es besänftigte Edrahil nicht.
"Aber das alles war nicht meine
Aufgabe." Beim letzten Wort hieb er mit der Faust auf den Tisch, lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, sagte er: "Verzeihung. Was ich sagen will ist dies: Lóthiriels Rettung war nicht meine Aufgabe, sondern Valions. Das Aufspüren dieser geheimnisvollen Informationen war Bayyins Aufgabe, und bei beidem habe ich lediglich geholfen. Meine Aufgabe hingegen... war Hasaels Sturz, und danach sieht es im Augenblick nicht wirklich aus, nicht wahr?" Er hörte selbst, wie bitter seine letzten Worte klangen, doch er kam nicht gegen das nagende Gefühl, versagt zu haben, an.
"Vielleicht nicht", sagte Thorongil langsam. "Aber wenn die Gerüchte stimmen, bereitet sein Neffe Qúsay einen Krieg gegen Suladân und Hasael vor." Edrahil und Lóthiriel wechselten einen Blick, dann nickte die Prinzessin. "Die Gerüchte stimmen."
"Nun, in diesem Fall hat Hasaels Sturz, so kurzlebig er auch gewesen war, Qúsay Zeit und einen Vorteil verschafft. Das mag das Zünglein an der Wage sein, das Qúsay am Ende den Sieg bringt - und wenn man es so betrachtet, habt ihr damit auch für Hasaels endgültigen Fall gesorgt."
"Ihr habt eine interessante Art, die Welt zu sehen", erwiderte Edrahil nachdenklich, und strich sich über das Kinn. Lóthiriel lachte leise. "Seht, da ist der Herr der Spione wieder."
"Mag sein...", meinte Edrahil, weiter in Gedanken versunken. Wenn er Hasael von Innen heraus nicht stürzen konnte... vielleicht sollte er es auf eine neue Art probieren, von außerhalb.
"Du wirst nicht mit nach Dol Amroth kommen, oder?", fragte die Prinzessin, und Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, ich werde einige Zeit hierbleiben - wenn ihr erlaubt." Er blickte Thorongil fragend an, und der Herr des Turmes lächelte und drückte Minûlîths Hand. "Wir würden uns sehr darüber freuen."
Edrahil warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen auf Bayyins verwaistem Platz zurückgeblieben war, und seine Augen blieben an dem Namen hängen, den Valirë vorhin vorgelesen hatte. "Fíriel Aeriell... merkwürdig."
"Gar nicht so sehr", erwiderte Thorongil. "In Harad gibt es die ein oder andere Legende über sie, aber hier kennen wir die wahre Geschichte."
"Hm... wenn ich mich recht erinnere hatte einer der Fürsten von Dol Amroth eine uneheliche Tochter mit diesem Namen, die auf See verschollen ist." Als Herr der Spione hatte Edrahil sich einst einen Überblick über sämtliche ehelichen und unehelichen Abkömmlinge der Fürsten verschafft, denn man konnte nie wissen. Dieser Fíriel hatte er allerdings keine große Beachtung geschenkt, sondern diese Linie unter "erloschen" eingeordnet. "Fürst Húrin, glaube ich", ergänzte Lóthiriel, und Thorongil meinte: "Sehr richtig - wie es aussieht, hat sie meinen Vorfahren die Wahrheit erzählt."
"Wollt ihr damit sagen, dass es sich um die selbe Fíriel handelt?", fragte Edrahil, und der Turmherr nickte. "Allerdings. Sie erlitt einst während eines Sturmes hier auf der Insel Schiffbruch. Der Erbe des Turms, Barahir, nahm sie auf, pflegte sie gesund, verliebte sich in sie und nahm sie schließlich zur Frau. Was euch, verehrte Lóthiriel, zu meiner - wenn auch entfernten - Verwandten macht."
"Ha", machte Lóthiriel ungläubig. "Verwandte findet man offenbar an den ungewöhnlichsten Orten."
"Und Freunde ebenfalls", ergänzte Edrahil, und wechselte einen nachdenklichen Blick mit Minûlîth.
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Etwa eine Stunde war vergangen, als Valirë und Bayyin zurückkehrten. Während Bayyin etwas beschämt wirkte, benahm Valirë sich als wäre nichts geschehen und fragte unbeschwert: "Sind Valion und Lóminîth noch nicht zurück?"
"Nein - und damit sollte klar sein, wer die größere Ausdauer hat", erwiderte Lóthiriel, und schlug sofort entsetzt die Hände vor den Mund. "Oh, bei allen Sternen. Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe."
"Mehr Ausdauer, hm?", fragte Valirë, und warf Bayyin, der sofort errötete, einen anzüglichen Blick zu. "Vielleicht sollten wir..."
"Nicht nötig", hielt Edrahil sie zurück. "Allzu viel haben die beiden euch nicht voraus." Er deutete in Richtung der Schiffe, aus der Valion und Lóminîth sich näherten. Lóminîths Haar war zerzaust und Valions Kleidung saß ein wenig schief, doch beide wirkten äußerst zufrieden mit sich selbst. Edrahil verdrehte die Augen, und bedeutete allen vieren, sich zu setzen.
"Also", begann er. "Nach dem gewisse Personen ihre Bedürfnisse... befriedigen konnten, ist es allmählich an der Zeit zu erfahren, was du, Bayyin, in Umbar gefunden hast."
Der Schreiber räusperte sich, und legte die Hände vor sich flach auf den Tisch. "Ich habe in Hasaels Bibliothek einen Reisebericht gefunden - gut versteckt und verschlüsselt, doch inzwischen ist es mir gelungen ihn zu lesen. Es ist ein Bericht über die Reisen Arandirs vom Turm."
"Vom
Turm?" Thorongil beugte sich interessiert vor. "Allerdings. Wir vermuten, dass es sich dabei um den jüngeren Sohn von Elendar, dem Erbauer des ersten Turmes auf Tol Thelyn, also... hier... handelt."
"Ihr scheint euch gut in unserer Geschichte auszukennen", sagte Thorongil, doch Edrahil griff ein, bevor Bayyin ihm die Überraschung verderben konnte: "Später. Zuerst mehr von diesem Bericht."
"Nun, ja. Arandir beschreibt darin sehr detailliert einen Pass in der Südkette des Schattengebirges - einen Pass nach Mordor, den Sauron nicht kennt", berichtete Bayyin, was ungläubige Gesichter rings um den Tisch hervorrief.
"So etwas kann es nicht geben", meinte Minûlîth. "Der Dunkle Herrscher hat Jahrtausende über Mordor geherrscht, und wird dort jeden Winkel und jede Felsspalte kennen."
"Ich stimme Melíril zu", sagte Thorongil. "Daran ist nur schwer zu glauben."
"Das ist wahr." Edrahil blickte nachdenklich gen Himmel, bevor er Bayyin in die Augen sah. "Glaubst du, dass es wahr ist?", fragte er, und der Schreiber schien einen Augenblick nachzudenken. Dann antwortete er: "Ich weiß nicht, ob dieser Weg noch existiert, oder ob er den Dienern des Dunklen Turms noch immer verborgen ist... aber ja. Ich glaube, dass Arandir die Wahrheit geschrieben hat."
"Und selbst wenn... Was sollten wir damit anfangen?", warf Valirë ungehalten ein. "Es wird mit Sicherheit kein Weg sein, auf dem wir ein großes Heer nach Mordor schicken könnten - wenn wir denn eines hätten."
"Sehr richtig, wir haben keines. Und gerade deshalb wäre ein geheimer Weg in das Schwarze Land für uns von Nutzen", erwiderte Edrahil. "Wir könnten die Heer des Feindes ausspionieren, seine Nachschublinie durchbrechen..."
"Und wir könnten noch etwas tun", sagte Lóthiriel leise, doch in einem Tonfall der alle Anwesenden aufhorchen ließ. "In Mordor wird Aragorn gefangen gehalten, der König von Gondor. Mit seinem Leben erpresst Sauron einen Waffenstillstand vom freien Gondor, während er im Norden gegen andere Gegner kämpft."
"Nur um uns zu vernichten, wenn er sie besiegt hat", sagte Edrahil langsam. Allmählich begann vieles Sinn zu ergeben, und er begriff, welches Geschenk Bayyin ihnen gemacht haben könnte. "Und mit diesem Wissen könnten wir ihn befreien." Lóthiriels Augen glitzerten, und Edrahil hatte seine Prinzessin noch nie zuvor derart kämpferisch gesehen.
"Nur - wer sollte das tun?", fragte Thorongil. "Ich würde selbst gehen, aber... ich kann nicht." Sein Blick schweifte vom Turm über Minûlîth zu Túor, und Edrahil nickte. "Nein, ich verstehe. Aber es gibt jemand anderen, der eine ähnliche Ausbildung genossen hat wie ihr, und es tun könnte."
Er wechselte einen Blick mit Bayyin, der bestätigend nickte. "Ich denke, es ist an der Zeit euch zu verraten, dass ihr und Túor nicht die letzten Überlebenden, aus dem Haus der Turmherren seid", fuhr Edrahil fort.
"Nicht... die letzten?" Thorongil blinzelte mehrmals rasch hintereinander. "Sagt es mir, Edrahil. Wer hat überlebt?"
"Die Tochter eurer Schwester." Es war Bayyin, der antwortete. "Narissa. Ich entkam mit ihr gemeinsam von hier, als Suladâns Truppen angriffen, und gelangte schließlich mit ihr nach Umbar, wo wir Edrahil trafen. Sie ist mir... eine gute Freundin." Er warf Valirë einen nervösen Seitenblick zu, und errötete erneut ein wenig.
"Narissa..." Thorongil sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte. "Herlennas Tochter. Und sie
lebt?"
"Allerdings", sagte Edrahil lächelnd. "Wenn alles gut gegangen ist, ist sie sogar in Sicherheit in Aín Sefra. Ich habe sie dorthin geschickt, um Qúsays Motive zu ergründen."
"Das ist die beste Nachricht, die ich gehört habe seit..." Thorongil sah Minûlîth an. "Nun, eigentlich seit vorhin." Er wandte sich wieder Edrahil zu, und sein Gesicht wurde wieder ernst. "Ihr würdet sie nach Mordor schicken? Mitten in das Land des Feindes."
"Ja", erwiderte Edrahil, und blickte dem Turmherren fest in die Augen. "Wenn es die einzige Möglichkeit ist und sie dazu bereit ist, würde ich es tun."