Narissa kniete neben Serelloth, deren Bewusstsein bereits zu schwinden schien, und betrachtete verzweifelt die Verletzung, die Karnuzîr dem Mädchen zugefügt hatte. Der Wurfstern war ein winziges Stück rechts des Brustbeines tief eingedrungen, genau zwischen zwei Rippen hindurch und steckte noch immer tief im Fleisch. Narissa zog leicht an dem kalten Metall, doch der Stern besaß Widerhaken und rührte sich nicht. Stattdessen stöhnte Serelloth dumpf vor Schmerzen auf, und aus der Wunde trat ein Schwall Blut aus und mischte sich mit Narissas Tränen, die die ganze Zeit über auf den Oberkörper des Mädchens tropften.
"Was mache ich nur?", flüsterte Narissa vor sich hin, und sah sich verzweifelt auf der kleinen Lichtung um. Sie verdrängte jeden Gedanken an Aerien - Azruphel - aus ihrem Geist, denn sonst wäre sie hier und jetzt zusammengebrochen. Für den Moment zählte nur Serelloth.
Der Atem des Mädchens ging schnell und flach, doch ansonsten normal und es war kein Blut an ihrem Mund zu sehen - also war die Lunge vermutlich durch ein Wunder (oder Karnuzîrs Wurfkünste) unverletzt geblieben. Narissa ordnete mühsam ihre Gedanken. Wenn die Lunge unverletzt geblieben war, ging die größte Gefahr von der Blutung aus, die die Wunde verursachte. Also riss sie ohne zu zögern ein breites Stück Stoff vom Saum ihres Kleides ab, legte es rund um den Wurfstern herum auf die Wundränder, und drückte vorsichtig leicht darauf, um die Blutung zu stoppen. Serelloth erzitterte leicht, und lag dann wieder still, das Gesicht bleich wie der Tod und die Augen geschlossen.
"Du darfst nicht sterben, hörst du?", flüsterte Narissa. Sie wagte es nicht, um Hilfe zu rufen, denn vielleicht war auch das hier nur eine weitere Falle, um mehr ihrer Freunde in den Tod zu locken. "Es sind nur noch wir beide übrig, und selbst wenn du mich hasst, will ich nicht, dass du stirbst." Weitere Tränen tropften auf Serelloths blutgetränkte Kleidung. ´
In ihrem Kopf jagten die Gedanken umher wie kleine Fische, gefangen in einem Netz. Wie war Serelloth überhaupt in Karnuzîrs Hände gelangt? Was war mit Níthrar geschehen, der sie doch begleitet hatte, hatte sie diesen Freund auch verloren? Azruphel musste Karnuzîr verraten haben, in welche Richtung Níthrar und Serelloth aufgebrochen waren - wie genau, spielte keine Rolle. Und dann... arbeitete Saleme mit Karnuzîr zusammen? Hatte Azruphel - Narissa weigerte sich, von ihre als
Aerien zu denken - ihr die Position der Burg des Silbernen Bogens verraten?
"So viel Verrat..."
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als aus Richtung der Straße drei Männer zwischen den Bäumen hervorkamen. Es waren Edrahil, auf seinen Stock gestützt, keuchend und mit Schweißperlen auf der Stirn, ihr Onkel Thorongil, der beinahe so grau im Gesicht war wie Serelloth, und Hírilorn, dem der Schock ebenfalls deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
"Was... ist hier passiert?", stieß Edrahil scharf hervor, während Thorongil neben Serelloth auf die Knie ging, Narissas Hände sanft von der Wunde zog und de Stoff selbst darauf drückte. Über die Schulter sagte er rasch zu Hírilorn: "Hol jemanden, der ihr helfen kann - sofort." Ohne ein Wort verschwand Hallatans Sohn zwischen den Bäumen, und Thorongil wandte sich wieder Narissa zu, die sich nicht gerührt hatte und auf ihre blutigen Hände starrte.
"Wer ist sie?", fragte er, und deutete mit einem Nicken auf Serelloth. "Und wer hat das getan?"
"Se-Serelloth", sagte Narissa mit schwankender, brüchiger Stimme. Sie hatte beiden Männern erzählt, wer Serelloth war, deshalb erklärte sie nicht weiter, sondern fuhr langsam und mühsam fort: "Und das war... Karnuzîr. Er hat... Er hat sie verwundet, damit... damit er entkommen konnte, mit, mit, mit... Azruphel." Ihre Stimme war immer leiser geworden, sodass sie am Ende nur noch ein Flüstern war und schließlich brach.
"Azruphel...", sagte Edrahil langsam, und blickte aus dunklen Augen auf sie hinunter. "Das heißt also..."
"Sie hat mich verraten!", stieß Narissa hervor, kam unbeholfen auf die Füße und taumelte einen Stück zurück. Es auszusprechen war beinahe so schlimm wie es mit anzusehen, zu sehen wie ihre
Freundin neben Karnuzîr stand und mit keiner Miene erkennen ließ, dass es Lügen waren, was er sagte. Es auszusprechen bedeutete, es zur Wahrheit zu machen, und das riss Narissas Herz beinahe entzwei.
In Edrahils Augen las sie etwas, was sie dort nicht erwartet hatte, zu sehen: Mitleid, und Bedauern. Doch der Spion äußerte diese Gefühle nicht, sondern sagte leise: "Wir haben ein Warnsignal vom Festland erhalten, dass sich Feinde in der Gegend befinden. Wir waren gerade auf dem Weg zum Hafen, als ich eine kleine geschwärzte Stelle neben der Straße entdeckte, von der Spuren tiefer in den Wald führten - hierher. Du musst mir erzählen, was geschehen ist."
Thorongil, der noch immer auf Serelloths Wunde drückte, blickte zu Edrahil auf und sagte: "Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, um..."
Narissa schüttelte den Kopf, und unterbrach ihn. Ihre Tränen waren versiegt, ausgetrocknet, und nur langsam begriff sie die Tragweite des Geschehenen. "Sie hat... mich hierher gelockt", begann sie stockend. "Karnuzîr war hier, und sagte, dass sie immer für ihn gearbeitet hätte, und dass sie nun wüssten... dass der Silberne Bogen hier Zuflucht sucht... dass die Turmherren wieder hier seid... dass ihr aus Umbar hierher geflohen seid... und dass Suladân uns wieder angreifen würde. Nur weil ich so dumm war, und geglaubt habe, sie wäre meine
Freundin!" Den letzten Teil schrie sie beinahe, trat gegen einen kleinen Stein der zwischen den Bäumen davon flog, und spürte, wie ihr erneut Tränen über das Gesicht zu strömen begannen. Serelloth zuckte in ihrer Ohnmacht unruhig, und Edrahil betrachtete Narissa aus beinahe schwarz erscheinenden Augen, die jetzt keine Emotion mehr zeigten.
"Vielleicht hast du dich tatsächlich in ihr getäuscht", sagte er ruhig. "Doch vielleicht... es braucht viel, um mich zu täuschen. Und ich habe Aerien geglaubt."
"Niemand ist unfehlbar", gab Narissa bitter zurück. "Vielleicht seid ihr auch nur ein alter Mann, dessen Urteilsvermögen nachlässt."
Edrahil zuckte unmerklich zusammen, ließ sich aber nichts anmerken als er erwiderte: "Mag sein. Dennoch denke ich wird es interessant sein, zu hören was die junge Serelloth zu sagen hat, wenn sie überlebt..."
Zwei Stunden später kniete Narissa auf ihrem Bett, dass sie vor das Fenster gezogen hatte, und blickte auf das Meer hinaus. Das Wetter war noch schöner als an den vergangenen Tagen, die Sonne strahlte vom wolkenlosen, hellblauen Himmel und glitzerte auf dem Wasser des Meeres, und ein leichter Wind von Westen sorgte dafür, dass es nicht unangenehm heiß war - ein krasser Gegensatz zu dem, wie Narissa sich fühlte.
War alles nur ein Schauspiel gewesen, eine Lüge... wirklich alles? Und war es wirklich nötig gewesen, ihr Liebe vorzugaukeln - oder nur ein grausames Schauspiel, um ein wenig Spaß zu haben? Hatte Azruphel daher gewusst, sie in Ain Salah zu suchen? Aber warum hatte der Nazgûl dann versucht, sie mitzunehmen... nichts ergab mehr Sinn.
Als sie mit der verwundeten Serelloth in den Turm zurückgekehrt waren, hatte Narissa mit niemandem gesprochen - sie war sofort in ihr Zimmer geflüchtet, und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Der Raum duftete noch immer nach
ihr und hier zu sein war eine langsame, schmerzhafte Qual - und dennoch wollte Narissa nirgendwo anders sein. Sie hatte gehört, wie sich Thorongil und Edrahil vor der Tür leise berieten - offenbar hatten Karnuzîr und seine Schergen Yinsen und Langlas überrascht und überwältigen können. Yinsen war tot, doch Langlas hatten sie nur für tot gehalten und so war es ihm gelungen, später das Warnsignal zu geben.
Jetzt klopfte es leise an Narissas Tür, und sie hörte Minûlîth fragen: "Narissa?" Narissa antwortete nicht, und rührte sich auch nicht vom Fleck sondern starrte weiter auf das Meer hinaus. Sie wollte mit niemandem reden. Sie wollte nicht denken, nicht fühlen... nicht existieren. Vorhin, auf der Lichtung, hatte sie kurz geglaubt, Azruphel zu hassen. Doch das Gefühl war vorübergegangen, und zurückgeblieben war nur eine gewaltige Leere in ihrem Inneren.
"Ich weiß, dass du allein sein möchtest...", fuhr Minûlîth auf der anderen Seite der Tür fort. "Aber... Serelloth ist aufgewacht, und sie will mit dir reden."
Bei diesen Worten zuckte Narissa zusammen, sprang ruckartig vom Bett auf und eilte zur Tür. Als sie diese entriegelte und aufriss, stand Minûlîth ihr direkt gegenüber, und lächelte traurig.
"Sie ist unten im Erdgeschoss", sagte sie. "Aber wenn du möchtest..."
Weiter kam sie nicht, denn Narissa fiel ihr in die Arme und ließ den Tränen ein weiteres Mal freien Lauf - obwohl sie eigentlich gedacht hatte, keine einzige Träne mehr in sich zu haben. Minûlîth strich ihr sanft über den Rücken, doch sie sagte nichts, und das war gut so. Narissa brauchte niemanden zum Reden, denn sie hatte nichts zu sagen, nur jemanden, der für sie da war.
Schließlich löste sie sich aus der Umarmung, trocknete sich mit einem Ärmel ihres Kleides das Gesicht ab, und rang sich etwas ähnliches wie ein Lächeln ab. "Ich bin bereit."
Serelloth lag in einem Bett, einen dicken Verband quer über der Brust und im Gesicht beinahe so weiß wie die Laken unter ihr. Dennoch, ihre Augen waren offen, und suchten sofort Narissas Gesicht. Hinter Narissa betraten Edrahil und ihr Onkel das Zimmer, und sie schickte sie nicht fort. Die beiden mussten ohnehin erfahren, was Serelloth zu sagen hatte, und das Mädchen schien es nicht zu stören. Als Narissa sich neben dem Bett auf einem Hocker niederließ, tastete Serelloth nach ihrer Hand und ergriff sie. Zu Narissas Erleichterung war sie nicht länger eiskalt, sondern warm.
"Ich scheine euch nur Schwierigkeiten zu machen", flüsterte das Mädchen, und trotz allem spürte Narissa ihre Mundwinkel zucken.
"Ich hoffe, du bist nicht wütend auf mich, weil ich weggelaufen bin?"
Narissa schüttelte langsam den Kopf. Was geschehen war, wäre ohnehin irgendwann geschehen, und Karnuzîr hätte einen anderen Weg gefunden, sie von der Verfolgung abzuhalten.
"Gut", stieß Serelloth mühevoll hervor. "Ich hasse dich nämlich gar nicht. Elendar ist ebenso wie ich freiwillig mitgekommen, und wusste um die Gefahr - Aerien hatte recht."
"Das ist nicht ihr Name", erwiderte Narissa langsam und mit zusammengepressten Kiefern. "Sie heißt Azruphel von Aglarêth, und ist eine treue Dienerin Mordors."
Der Schrecken in Serelloths Augen überraschte sie. "Nein, du... irrst dich", erwiderte Serelloth, und hustete angestrengt. "Sie wollte nur mich... mich..."
Ihre Augenlieder flatterten, und Narissa erkannte, dass das Bewusstsein sie wieder zu verlassen begann. Mit letzter Kraft sagte das Mädchen: "Sie wollte mich... beschützen." Dann fiel ihr Kopf zurück in das Kissen, und ihre Augen schlossen sich in erneuter Bewusstlosigkeit.
Als sie das Zimmer verlassen hatten, sagte Edrahil: "Nun, dass deckte sich mit meinem Eindruck. Vielleicht solltest du..." Narissa wartete nicht ab, was er zu sagen hatte, sondern eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ihr Herz klopfte wie wild, und in ihrem Kopf kämpften Unglauben und Hoffnung miteinander. Sie wollte glauben, dass es stimmte, dass sie nicht verraten worden war, dass Ae... Azruphel tatsächlich nur Serelloths Leben retten hatte wollen. Sie wollte es so sehr glauben wie sie nie zuvor etwas gewollt hatte, doch sie konnte es nicht. Erst wenn sie ihrer
Freundin in die Augen gesehen hatte und die Wahrheit gehört hatte, würde sie ihr glauben... oder sie töten.
In ihrem Zimmer angekommen riss sie sich das Kleid herunter, und schlüpfte in ihre übliche Reisekleidung: Ein lockeres Hemd aus weißem Stoff, dass genug Platz zum Bewegen ließ, eine Hose aus weichem, hellbraunem Leder und Stiefel, die kurz unter dem Knie endeten. Dann, mit zwei Wurfmessern auf dem Rücken und ihren Dolchen - Ciryatans Dolch und das verbliebene Geschenk König Músabs - an beiden Seiten, eilte sie wieder die Treppe hinunter.
Unten stand Edrahil noch immer vor Serelloths Zimmer, und wirkte kein bisschen begeistert. Der Grund wurde Narissa klar, als ihr Onkel kurz nach ihr die Treppe hinunter kam, ebenfalls in etwas abgetragene Reisekleidung gehüllt, an der rechten Seite ein Schwert und an der linken einen Dolch.
Als er Narissa erblickte, nickte er grimmig. "Ich wusste, dass du gehen würdest", sagte er, und blickte Edrahil an: "Herr des Turmes oder nicht, ich werde jemanden, der meiner Nichte so etwas antut, nicht ungestraft davonkommen lassen."
Der alte Spion seufzte und nickte dann langsam. "Ich schätze, ich könnte euch ohnehin nicht davon abhalten. Aber ihr solltet euch wenigstens von eurer Frau verabschieden..."
Ein seltsames Jagdfieber hatte Narissa erfasst, und den Schmerz über die Geschehnisse in eine tiefe Ecke ihres Geistes verdrängt - er war noch immer spürbar, in jeder Faser ihres Körpers, doch er beherrschte sie nicht mehr. Sie würde Karnuzîr und seine Schergen finden, und sie töten. Und dann würde sie die Wahrheit über Azruphel von Aglarêth herausfinden.
Narissa und Thorongil zur Mehu-Wüste...