Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Südöstliches Harad
Der königliche Palast
Curanthor:
Aglarân aus Eryan
Er hatte nicht erwartet besonders freundlich empfangen zu werden. Seine Erwartung traf auch zu, denn sobald Aglarân die große Treppe zu dem Palast betrat, stellten sich ihm die Palastwachen in den Weg. Mit barscher Stimme wurde er aufgefordert sich zu erkennen zu geben. Im gleichen Tonfall blaffte er zurück, dass er einen Spion gefasst hatte, der sich mit wichtigen Informationen davonstehlen wollte. Wie zur Bestätigung wollte der Mann erneut die Flucht antreten, wurde aber von dem Speer der Wache daran gehindert.
"Nun gut, ihr dürft eintreten, aber wir behalten Euch im Auge", sagte der Wächter widerstrebend und gab seinen Männern einen Wink. Vier Wächter flankierten Aglarân, während der Wortführer dem Spion ein gebogenen Dolch an den Hals legte. Derart bewacht betraten sie den prunkvollen Palast über einen Nebeneingang für Bedienstete, der sich neben dem großen Haupttor befand. Kurz meinte Aglarân auf einem Balkon eine Bewegung zu sehen, doch eine der Wachen gab ihm einen Stoß, sodass er eintrat. Mit einem bedrohlichen Knurren rückte er seinen Mantel gerade. Die Wachen legten ihre Hände auf die Griffe ihrer Schwerter, was ihn zum Schmunzeln brachte.
"Ganz ruhig", sagte er und nahm seinen schwarzen Mantel auf dem Arm. Den Reiseumhang hatte er draußen liegen gelassen. Er folgte den Wachen, bis sie in einem nicht weniger prunkvollen Wartesaal. Vor ihnen erhob sich ein doppelflügeliges Tor, das in einem reich verzierten Rundbogen saß. Aglarân hatte nicht die Zeit die Stuckarbeiten zu bewundern, denn die Wache sprach mit einem der Palastbediensteten. Die sechs kermischen Männer wirkten ein wenig nervös, bis Aglarân aufging, dass er noch voll bewaffnet war. Nachdenklich legte fuhr seine Hand zu der Hüfte. Umständlich schnallte er sein Seitschwert Dôlguzagar ab und nahm es locker in die Hand. Kurz darauf schwang auch das große Tor zu dem Thronsaal auf.
Betont langsam übergab Aglarân sein Schwert und kam somit der Wache zuvor, die ihn wohl darauf hinweisen wollte, dass er unbewaffnet vor dem König treten solle.
"Euren Helm solltet ihr ebenfalls abnehmen", empfahl der Wachmann, doch als Aglarân nicht reagierte, zuckte er mit den Schultern und trat ein.
Sie folgten ihnen, während der Spion Ketten angelegt bekam und kurz darauf hinterhertaumelte. Zufrieden bemerkte Aglarân, dass man in Kerma offensichtlich sehr vorsichtig war und hoffte, dass er irgendwie Vertrauen gewinnen konnte. Ihm war schon, seitdem er die ersten Worte mit den Wachen gewechselt hatte eine gewisse Anspannung aufgefallen, doch noch war ihm schleierhaft, was es war.
Sie durchquerten den Raum und hielten auf drei Männer zu, die sich scheinbar über etwas Wichtiges unterhielten. Sofort erkannte Aglarân den König, dessen schlanke Statur in gehobenen Gewänder aus Rot- und Bronzetonen steckte. Goldene Stickereien verzierten die Schulterpartien und hoben den Träger somit von der Masse ab. Der Mann hatte kurze schwarze Haare und einen Vollbart. Den Blick der er aus braun-grünen, den er ihm zuwarf war fragen und misstrauisch zugleich. Als sie näher kamen, konnte er noch aufschnappen, wie der König gerade eine Liste durchging und sich durch den Bart strich. Schließlich befahl er mehr Wein zu besorgen, sowie ein Dutzend Körbe Feigen. Mit einem knappen Nicken verschwanden die beiden Männer und der König wandte sich zu ihnen um.
"Eure Majestät, dieser Mann bittet um eine Audienz bei euch", sagte eine der Wachen. Músab musterte den in schwarzen Stahl gerüsteten Mann. Dessen breite, muskulöse Erscheinung einen gewissen furchteinflößende Eindruck vermittlete. "Ein Schwarzer Numenorer bittet um eine Audienz bei mir?", fragte Músab mit einem Funken Misstrauen in der Stimme.
Aglarân deutete knapp eine Verneigung an und wies auf den angeketteten Mann.
"Ihr sagt es, König. Ich habe diesen Mann auf dem anderen Ufer des Golfes von Kerma aufgegriffen. Er und sein Kumpane haben in Euren Königreich spioniert und bei ihrer Flucht ein Fischerpaar gezwungen sie überzusetzen und wollten sie danach noch ausrauben. Seinen übereifrigen Kumpanen musste ich ausschalten, da er schon auf der Flucht war." Er ließ seine Worte kurz wirken und setzte nach: "Ich bin mir sicher, dass der Kerl hier nützlich sein wird, denn er wollte mehrfach fliehen. Seht es als kleine Gefälligkeit, Majestät."
Músab nickte. Mit einer kaum sichtbaren Handbewegung winkte er seinen Bruder zu sich, der einen kurzen Moment später neben ihm stand. Er verschränkte die Arme und blickte den Schwarzen Númenorer misstrauisch an. "Wachen bringt diesen 'Spion' in den Kerker, wir werden sehen, ob er uns nützlich sein wird," befahl Músab den beiden Wachen die hinter dem Schwarzen Numenorer standen.
"Nun gut, wem dürfen wir für die Auslieferung dieses Spiones danken?" fragte Alára schließlich.
Zwar wollte Aglarân eigentlich nur mit dem König sprechen, jedoch schien der Mann, der sich an ihn wandte ein Vertrauter des Herrschers zu sein.
"Man nennt mich Aglarân", beantwortete er knapp die Frage und verschränkte nun seinerseits die muskulösen Arme.
"Wir sollten es kontrollieren", flüsterte Alára zu Músab während er durch eine einstudierte Handbewegung dem Hofmeister symbolisierte, den Thronsaal mit dem restlichen Bediensteten zu verlassen.
Nachdem der Hofstaat den Thronssaal verlassen hatte begann Músab sich vorzustellen:" Mein Name Músab bin Kernabes, König von Kerma."
Er blickte zu Alára und erhoffte sich das er sich selbst vorstellen würde, dennoch kannte er seinen Bruder gut genug. Doch bevor er ihn vorstellen konnte, kam ihm Alára zu seiner Verwunderung bereits im strengeren Ton zuvor: "Man nennt mich Alára, Sohn Kernabes. In Kerma spricht man für gewöhnlich von Angesicht zu Angesicht."
"Majestät", grüßte Aglarân den König und nickte zu Alára, "Ihr habt Recht. Mir lag es fern Eure Sitten zu missachten, doch waren sie mir fremd." Langsam griff er nach seinem Helm und sagte: "Ein Vertrauensbeweis meiner Seite, denn sobald ich mein Gesicht zeige, bin ich aus allen Reihen ausgeschlossen und ohne Heimat."
Mit den Worten zog er den Helm vom Kopf und klemmte sich ihn unter den Arm.
"Euch sei vergeben", sagte Músab mit einem kleinem, kaum sichtbaren Lächeln, während er bemerkte das sein Bruder das Gesicht des schwarzen Numenorer genau begutachtete. "Doch was versucht ein schwarzer Numenorer in meinem Land zu finden."
"Hmmm", machte Aglarân und blickte an die Decke, "Eine gute Frage. Ich kam her auf Anraten eines Eurer Anwerber in Yamama. Man mag mich und meines Gleichens zwar als Schwarze Númenorer bezeichnen, jedoch denke ich, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Was ich suche? Eine zweite Chance."
"Ihr wollt euch also unter dem Dienste meiner Krone stellen?" fragte Músab. "Doch wieso sucht ihr eine zweite Chance?"
"Ich möchte nicht unhöflich sein, jedoch werde ich niemals wieder in irgengjemandes Diensten stehen. Jedoch biete ich Euch meine Hilfe als Verbündeter an, maße mir aber nicht an mich über Euch zu stellen. So muss ich mich niemanden unterwerfen und Ihr habt einen unabhängigen Streiter in Euren Reihen." Aglarân ließ die Arme sinken, "Verzeiht mein Herr, aber warum ich mich dazu entschieden habe ist mir zu persönlich. Noch bin ich nicht bereit dazu." Er hasste es über seine Vergangenheit zu sprechen. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er wieder an die Gräueltaten in dem langen Krieg denken musste. Deutlich hatte er die Qualen seiner Mutter vor Augen, zumindest so, wie er sich es immer aus den Erzählungen vorstellen konnte. "Es ist etwas Persönliches, ich denke, dass ist Motivation genug."
"Wenn ihr wollt... dennoch ich würde eure Dienste gerne in Anspruch nehmen", sagte Músab und fuhr sich einige Male durch den Bart. "Doch ich schulde euch für die Auslieferung des Spiones meinen Dank. Wie kann ich mich dafür erkenntlich zeigen?" Músab überließ äußerst Selten die Entscheidungsgewalt über Belohnungen dennoch war im die Mögliche Bedeutung des Spiones für den Feind bewusst.
"Vertrauen", gab Aglarân schlicht zurück und brachte ein Lächeln zustande, was nur aus dem kurzen Zucken seiner Lippen bestand, "Gebt mir die Chance zu zeigen, dass ich es ernst meine. Jedoch würde ich mich zuvor ein wenig ausruhen, die Reise war anstrengend. Meinetwegen könnte Ihr mir auch einen Wächter zur Seite stellen, der mich überwacht."
Músab nickte. "Alára schicke unseren Hofstaat wieder herein. Er möge für unseren neuen Gast ein Zimmer für die Nacht vorbereiten." Alára schaute in verwundert an befolgte jedoch anschließend seinen Befehl. "Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ich muss mich nun einem festlichen Anlass widmen. Der Hofmeister wird euch zu eurem Zimmer geleiten."
Aglarân nickte dankend und setzt sich prompt den Helm auf, sobald der Hofstaat wieder in den Thronsaal strömte. Offensichtlich war es eine Abendgesellschaft, denn sie trugen Kleider, die er noch nie gesehen hatte. Er erwiderte die feindseligen oder misstrauischen Blicke ruhig und wartete auf den Hofmeister, der auch nicht lange brauchte. Schweigend führte der Mann ihn durch die langen Gänge, fort von dem Thronsaal. Aglarân versuchte sich es so gut es ging zu merken welche Wege er nehmen musste. Er wollte sich nicht die Blöße geben und später andere nach den Rückweg fragen müssen.
Nach ein paar schweigsamen Augenblicken erreichten sie eine unscheinbare Tür, die der Hofmeister sogleich öffnete.
"Euer Gemach. Gehabt Euch wohl", sagte der Kerl rasch und suchte das Weite.
Zweifelnd trat Aglarân ein, wurde jedoch von der Ausstattung überrascht. Ein üppig ausgestattetes Bett lag links an der Wand, rechts vom ihm stand ein langes Bücherregal. Der Blick geradeaus ging geradewegs auf die erleuchtete Stadt. Aglarân ließ die Tür in das Schloss fallen und betrachtete die dunklen Umrisse von Kerma, die sich in gegen den Lichtschein unzähliger Laternen und Fackeln abzeichneten. Es hatte ein merkwürdiges Gefühl den fremdartigen Baustil zu erblicken, bei solch einer eindrucksvollen Beleuchtung. Es war etwas ganz Neues. Manchmal fragte er sich, wie normale Menschen in dieser Welt aufwuchsen und ob sie diesen Anblick öfters erlebten als er. Nachdenklich ließ er sich auf einem der beiden Sessel nieder, die einladend am Fenster bei einem kleinen Tisch standen. Die Polsterung war erstaunlich weich. Erst jetzt bemerkte Aglarân den dampfenden Becher auf dem Tisch und roch daran. Der süßliche Duft stieg in seine Nase und versprach eine Köstlichkeit. Neben dem Becher lagen kleine Gebäcke, von denen er noch nie gehört hatte. Prüfend hob er den Becher an und erinnerte sich, dass er in Yamama von einem Händler gehört hatte was das war. Er nahm einen vorsichtigen Schluck und genoss den süßlichen Geschmack. Tee, so nannte man das Gebräu, das man aus getrockneten Früchten und bestimmten Blättern zubereitete. Aglarân verspürte das erste mal in seinem Leben ein befriedigendes Gefühl, als er ein zweites Mal von dem Becher trank. Er hatte bisher nie den Sinn dafür gehabt, was gut schmeckte und ob er etwas mochte. Nun hatte er eine Ahnung davon, was noch auf ihn wartete.
Einige Minuten saß er am Tisch und blickte auf die kuppelartigen Dächer hinaus und genoß seine wohlverdiente Ruhe nach der anstrengenden Reise. Noch war er zu aufgewühlt von den ganzen Eindrücken der Reise. Er hatte nie Gelegenheit dazu gehabt, sich einfach zurück zu lehnen und gar nichts zu tun. Die plötzliche Stille um ihn herum wirkte sonderbar, auch wenn seine Müdigkeit ihn dazu drängt, sich in die weichen Kissen des Bettes fallen zu lassen. Nachdem er seinen Tee austgetrunken hatte, tat er das auch und erhob sich aus seinem Sessel. Kurz überprüfte er, ob der Riegel fest saß und verkeilte einen Dolch daran, sodass niemand in das Zimmer kam. Dann zog er umständlich seine Rüstung aus, was eine ganze Weile dauerte. Nachdenklich grübelnd zog er seine Stiefel auf und legte sich auf das Bett. Sein Schwert legte er griffbereit neben sich auf die hölzerne Befestigung an der Wand.
Es dauerte auch nicht lange, bis ihn der Schlaf übermannte.
Fine:
Aerien eilte mit hastigen Schritten durch die nur wenig beleuchteten Hallen des schlafenden Palastes. Eine Viertelstunde war vergangen, seit sie den dunklen Besucher am Tor des Haradrim-Königs erspäht hatte und mit weit aufgerissenen Augen verfolgt hatte, wie die königlichen Wächter den Mann hereingelassen hatten. Obwohl es bereits spät abends war, war sich Aerien sicher, dass der König von Kerma den Schwarzen Númenorer noch empfangen würde. Sie hatte nicht den Eindruck, dass König Músab wichtige Angelegenheiten oft auf den nächsten Morgen verschob. Und von Asáta hatte Aerien erfahren, dass der Qore nur selten früh zu Bett ging.
Sie hatte daher keine Zeit zu verlieren. Wenn Músab mit dem Gesandten aus Mordor sprach, würde er erfahren, dass er eine gesuchte Verräterin unter seinem Dach beherrbergte. Zwar hatte sich das Reich von Kerma mit dem Rest des Malikats Harad von der Knechtschaft Saurons losgesagt, aber dennoch war der Besucher in den Palast gelassen worden. Sicherlich hatte er den Wachen am Tor den Grund seines Eintreffens genannt. Es konnte sich dabei kaum um etwas anderes handeln als die Jagd auf die Verräterin Azruphel. Und da die Wachen den Mann hereingelassen hatten, war ihnen dieser Grund offensichtlich gut genug gewesen, um den König damit zu behelligen.
Wenn Músab erfährt, was ich getan habe, und woher ich wirklich stamme, dann... Aeriens Gedanken rasten während sie sich im hohem Tempo ihrem Zimmer näherte. Doch dann hielt sie inne und wurde langsamer. Was wird er tun? Er steht nicht mehr in Mordors Diensten. Sicherlich wird er nicht erfreut darüber sein, dass ich ihn in die Irre geführt habe und ihn habe glauben lassen, dass ich wie Narissa von der Weißen Insel stamme. Doch wie wird er auf die Nachricht meiner Flucht aus Mordor reagieren? Wird er vielleicht erkennen, dass ich - wie er - jetzt ein Feind Saurons bin? Oder wird er mich nur allzu gerne meinem Häscher übergeben, im Austausch dafür, dass Kerma bis auf Weiteres keinen Angriff aus Mordor fürchten muss? Aus Gesprächen mit Kani und mit Prinzessin Asáta wusste Aerien, dass ein Krieg an den Grenzen Kermas heraufzog. Es gab Gerüchte über die Rückkehr von Músabs tyrannischem Bruder, der nur wenige Jahre zuvor in einem blutigem Kampf gestürzt worden war. Und auch die Gefolgsleute Súladans schliefen nicht. Kerma hatte sich den Rebellen Qúsays angeschlossen und war damit ein Feind des Sultans von Harad. Und Qafsah war nicht so weit von Kerma entfernt, wie es sich Aerien wünschen würde... Es wäre also nur logisch, wenn er mich gegen die Sicherheit seines Reiches eintauschen würde, schoss es ihr durch den Kopf. Sie beschleunigte ihre Schritte und hastete weiter.
Die Tür ging mit einem Knall auf und Narissa fuhr überrascht aus dem Schlaf hoch. Schneller als man es sehen konnte hatte sie einen ihrer Dolche unter dem Kissen hervorgezogen und ihn wachsam in Richtung des Eingangs gestreckt.
"Verdammt, Sternchen, was soll denn dieser Aufruhr um diese Uhrzeit?" beschwerte sie sich, als sie Aerien erkannt hatte. "Ich habe gerade von der Insel geträumt. Und von meinem Großvater."
Aerien hatte keine Zeit dafür. Rasch trat sie neben das Bett und ergriff Narissas Arm. "Wir müssen sofort hier weg," zischte sie energisch.
"Gibt es ein Problem? Was ist denn auf einmal in dich gefahren?" wollte Narissa wissen und befreite ihren Arm aus Aeriens Griff. Sie setzte sich vollständig auf und zog die Bettdecke um ihre Knie.
"Und wie es ein Problem gibt. Ein großes. Ein Mann aus Mordor ist hier, und er spricht jetzt gerade mit dem König!" Aerien hatte auf dem Weg hierher mit einem der Bediensteten gesprochen und erfahren, dass der dunkle Besucher tatsächlich zu Músab vorgelassen worden war. "Rissa, das kann nur eines bedeuten. Er ist wegen mir hier, und König Músab wird mich ihm ausliefern!"
"Das weißt du nicht," erwiderte Narissa beschwichtigend. "Der Herrscher von Kerma kommt mir nicht wie ein Mann vor, der rasche und unüberlegte Entscheidungen trifft. Was auch immer dieser Bote Mordors zu ihm sagen wird; ich bin mir sicher, dass er zunächst deine Version der Geschichte hören wollen wird."
"Aber dann wird er wissen, dass ich ihm nicht die Wahrheit über meine Herkunft gesagt habe! Wahrscheinlich weiß er es jetzt bereits!"
"Du hast ihn nicht belogen," stellte Narissa klar. "Du hast lediglich ein paar Details ausgelassen. Außerdem wärst du nicht die erste schwarze Númenorerin, mit der Músab in Kontakt kommt. Dein seltsamer Onkel steht in seinen Diensten, oder etwa nicht?"
"Mein Onkel Aglazôr ist... " Aerien machte eine frustrierte Geste. "Sein Herz gehört dem Gold. Damit ist er eine Ausnahme. Eigentlich alle Adûnâi die ich kenne, folgen dem Herrn von Mordor aus Überzeugung und wenden sich nicht von ihm ab."
"Ich kenne eine, die genau das getan hat," sagte Narissa und stupste Aerien liebevoll gegen die Wange.
"Nun... ich schätze, ich bin auch eine Ausnahme," erwiderte Aerien und spürte, wie sie rot wurde. Doch dann fiel ihr wieder ein, weshalb sie hier war. "Rissa, was tun wir jetzt?" fragte sie und umrundete das Bett. Sie schob die hellbraunen Vorhänge beiseite und starrte durch das Fenster hinaus auf dem Kampfplatz, der weit unterhalb lag und von einigen fernen Fackeln erhellt wurde. Noch immer waren dort einige schemenhafte Gestalten zu sehen, die ihre Kampffähigkeiten trainierten.
"Wir sehen uns diesen Boten Mordors genauer an," entschied Narissa und sprang aus dem Bett. "Hol dein Schwert, Sternchen. Ich lasse nicht zu, dass dich mir jemand jemals wieder wegnimmt. Nicht einmal der Dunkle Herrscher höchstpersönlich."
Aerien war etwas mulmig zumute, doch sie gehorchte. Rasch zog Narissa sich ihren Wappenrock mit dem Siegel Tol Thelyns darauf über und schob die schlanken Dolche in die Scheiden an ihrem Gürtel. Aerien hängte sich ihr Bastardschwert über die Schulter und sie zogen los.
Der Thronsaal war finster und verlassen. Offenbar war die Audienz bei Músab bereits vorbei. Der Hofstaat, der vor kurzer Zeit noch hier gewesen sein musste, hatte sich inzwischen zerstreut. Einer der königlichen Gardisten, der durch den Palast patrouillierte, erzählte den beiden Mädchen, dass man dem Besucher eines der Gästezimmer gegeben hatte - ganz in der Nähe des Raumes, in dem Aerien und Narissa wohnten. Und so machten sie sich auf den Weg dorthin - Narissa mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck und zu Fäusten geballten Händen, Aerien mit äußerlich neutraler Miene, doch in ihrem Inneren schwelte etwas, das sie eigentlich gerne vollständig unterdrückt hätte: Furcht.
Sie erreichten das Gästezimmer nur wenige Minuten später. Seitdem sie im Thronsaal gewesen waren, hatten sie geschwiegen, doch nun hielt es Aerien nicht länger aus. "Hast du vor, ihn zu töten?" wisperte sie.
Narissa schien einen Augenblick darüber nachzudenken. "Es könnte dazu kommen," sagte sie kurz darauf. "Wenn er nicht von seinen Absichten absieht."
"Ein Mord, innerhalb der Mauern des Palastes? Was, wenn wir dabei entdeckt werden?"
"Werden wir nicht. Ich wurde dafür ausgebildet, schon vergessen? Behalte einfach die Tür und den Gang im Auge, wenn ich dir ein Zeichen gebe. Wenn eine Wache - oder sonst jemand - den Gang entlang kommt, musst du für mich eine Ablenkung schaffen. Das kriegst du hin, oder?"
"Ich - ich denke schon."
Narissa nickte zufrieden. "Dann wollen wir doch mal sehen, was dieser Mann aus Mordor zu sagen hat."
Sie drückte den Griff der Tür nach unten, doch es war vergebens. "Von innen verschlossen," murmelte Narissa. "Dieser gerissene Bastard. Aber das wird mich nicht aufhalten."
Mehrere Minuten machte sie sich am Schloss zu schaffen, bis sie frustriert aufgab. "Er muss den Riegel mit etwas verklemmt haben," stieß sie hervor. "Bist du sicher, dass das das richtige Zimmer ist?"
"Der Gardist hat uns genau hierher geschickt," antwortete Aerien. "Es muss hier sein."
Ohne Vorwarnung schwang die Türe nach innen auf und eine (für Aerien) geradezu albtraumhafte Gestalt ragte vor ihnen auf. Der aus schwarzem Metall gefertigte Helm verbarg das Gesicht vollständig, denn aus dem jschmalen Sehschlitzen drang nichts als Dunkelheit hervor. Die Rüstung war unverkennbar die eines der Wächter von Durthang - schwer und stahlhart, und ebenso dunkel wie die Seele der Bewohner der düsteren Festung. Schwert und Schild hielt der Krieger kampfbereit in seinen Händen und eine bedrohliche Aura ging von ihm aus. Und als er sprach, war es als hätte der Dunkle Herrscher der Finsternis selbst eine Stimme verliehen, so dunkel und gefühllos drang es unter dem Helm hervor:
"Was hat diese Störung zu bedeuten? Sprecht, ehe Blut vergossen wird!"
"Du kriegst sie nicht," zischte Narissa feindselig und stellte sich schützend vor Aerien, die Dolche kampfbereit in beiden Händen. "Geh zurück zu deinem Meister und lass sie in Frieden!"
Der Krieger hob langsam und drohend das Schwert. "Ich habe keinen Meister", knurrte er gefährlich leise. "Ich bin es leid, ständig Erklärungen abzugeben. Ich bin mein eigener Meister." Daraufhin ließ er das Schwert sinken, behielt es aber im Anschlag.
"Was hast du dann hier verloren, wenn du nicht im Auftrag Mordors hier bist?" verlangte Narissa zu wissen. Aerien machte einen Schritt zur Seite und trat neben ihre Freundin. Sie hatte etwas in der Stimme des Kriegers gehört, das sie aufhorchen ließ. Er sprach nicht in demselben Ton wie es die Gardisten Durthangs normalerweise taten. Irgendetwas ist mit ihm, dachte sie. Doch worum es sich dabei handelte, konnte sie noch nicht sagen. Sie musste mehr hören.
Es verging einige Zeit, bis der schwarze Númenorer wieder antwortete. "Ich schulde dir keine Rechenschaft für mein Tun, noch bin ich verpflichtet jemanden zu antworten, der sich wie ein Schurke nachts an meiner Tür zu schaffen macht", sagte er schließlich und legte den Kopf schief. "Was soll der Aufstand?"
Narissa ließ die Dolche etwas ratlos sinken. Aerien wusste, was sie dachte. Dass sie versucht hatte, das Schloss aufzubrechen und bewaffnet in das Zimmer eindringen wollte, war nicht allzu subtil gewesen. Sie beschloss, mit Besonnenheit vorzugehen und ergriff das Wort. "Wir sind hier, weil wir glaubten, einen Gesandten Mordors hier vorzufinden, der hier in Kerma eine Abtrünnige jagt," sagte sie im neutralen, erklärenden Ton. "Ist dies nicht der Fall?"
Als Narissa die Dolche sinken ließ, steckte der Krieger sein Schwert fort und legte den Schild ab. "Nein. Ich weiß nichts von einer Abtrünnigen in Kerma," sagte er. Er seufzte kaum hörbar und verschränkte die Arme, soweit es die Rüstung erlaubte. "Warum? Ist hier eine? Wenn, dann sollte sie sich auf keinen Fall auf diese Art davon überzeugen, ob sie verfolgt wird. Andere hätten euch... anders empfangen, auch wenn ich kurz davor war."
"Nun, da muss ich Euch Recht geben," erwiderte Aerien, nun mit einem etwas freundschaftlicherem Klang in der Stimme. Die akute Gefahr schien gebannt zu sein. Doch noch immer verspürte sie Unsicherheit in ihrem Inneren. Sie musste herausfinden, weshalb der Mann hier war, und was seine Absichten waren. Narissa kam ihr allerdings zuvor.
"Was führt einen Krieger, der wie ein Mann aus Mordor aussieht, so weit in den Süden?" wollte sie wissen.
Als Aerien sprach ließ ihr Gegenüber die Arme sinken und antwortete auf Narissas Frage in einem ebenfalls umgänglicheren Ton: "Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie aber nicht für alle Ohren auf einem Flur, außerdem bin ich weniger an einem Verhör interessiert." Er nickte kurz in Aeriens Richtung. "Sie kennt mich. Ihr könnt mich Aglarân nennen. Wenn du mir deinen Namen nennst, können wir uns woanders weiterunterhalten. Der Flur hat zu viele Ohren."
"Du kennst ihn?" fragte Narissa halb empört, halb verwundert, doch Aerien tat die Frage mit einem energischen Abwinken ab.
"Dies ist Narissa, Abgesandte von Tol Thelyn." stellte Aerien rasch vor. "Meinen Namen scheint Ihr ja bereits zu kennen. Ihr habt ganz Recht - wir sollten hier nicht über diese Dinge sprechen. Wenn Ihr gestattet, werden wir uns in Eurer Unterkunft unterhalten - mit verschlossener Türe."
Es war etwas, das sie bereits als junges Mädchen gelernt hatte: ein diplomatisches Gespür in Gesprächen zu entwickeln und das Beste aus einer Situation wie dieser zu machen. Als der Krieger seinen Namen genannt hatte, war eine Erinnerung in Aerien aufgestiegen. Aglarân, einer der kampfgestählten Gardisten von Durthang. Schweigend, effizient und loyal. So hatte sie ihn in Erinnerung. Wie bei allen Sternen ist er nur hier gelandet?
"Narissa also...", wiederholte er den Namen leise und nickte ihr kaum merklich zu, ehe er an Aerien gewandt weitersprach: "Das Verhandlungsgeschick ist nicht nötig, ich bin ein einfacher Mann und meine Ziele sind klar. Tretet ein", bat er und trat zur Seite, auf die beiden Stühle deutend, die am Ende des Raumes sichtbar wurden.
Sie schoben sich rasch an ihm vorbei in das Zimmer, das recht gemütlich wirkte, auch wenn es etwas kleiner war als der Raum, den Narissa und Aerien im kermischen Palast bewohnten. Aerien nahm als erste Platz, rasch gefolgt von Narissa, die sich wachsam im Zimmer umsah.
"Aglarân," begann Aerien vorsichtig. "Es ist lange her, dass Ihr vor meiner Tür in der Festung meines Vaters Wache standet." Es war nicht unfreundlich gemeint, auch wenn sie ihre innere Anspannung noch immer nicht ganz abgelegt hatte. Es galt nun, die Absichten des Mannes herauszufinden. Er hatte zwar gesagt, keinem Meister zu dienen, doch Lügen waren nur eines unter vielen Täuschungsmitteln im Arsenal eines schwarzen Númenorers, wie Aerien nur allzu gut wusste. Als Aglarân an den Tisch trat und sich zu ihnen setzte, beobachtete sie ihn genau. Doch der Helm verbarg jegliche Gefühlsregung. Ob er eine Bedrohung ist, wird sich jetzt zeigen, dachte Aerien.
Curanthor:
Die Überraschung über die beiden jungen Frauen vor seiner Türe hatte ihn nicht lange im Griff. Er war es gewöhnt seine Gefühle schnell unter Kontrolle zu bringen. Er war es gewöhnt stets auf der Hut zu sein. Sein Schwert hatte er nicht umsonst in Griffnähe abgelegt. Ebenso die Angewohnheit die Tür mit einem Dolch zu verrammeln war ihm nicht abhanden gekommen. Eine der nützlicheren Erfahrungen aus seiner unbeliebten Kindheit.
Zwar hatte er seine Waffe nicht sichtbar, aber sein Morgenstern lag griffbereit auf dem Bett. Als er zur Seite trat um die beiden Frauen in das Zimmer zu lassen, kam es aber nicht zu einem Angriff. Nachdenklich betrachtete er Azruphel, die sich auf einen der beiden Stühle niedergelassen hatte. Sie bewegte sich anders, das fiel ihm sofort auf, doch ihre grundlegende Art sich zu bewegen war nicht von ihr abgefallen. Sein Blick ging zu der Begleiterin der Schwarzhaarigen. Ihr Blick war berechnend und äußerst wachsam. Die weißen Haare der jungen Frau waren ungewöhnlich, das musste Aglarân zugeben, doch sagte es nicht so viel aus, wie die Art sich umzusehen. Ständig huschte ihr Blick umher und blieb hin und wieder an seinem Helm hängen. Selbst Azruphel blickte immer wieder zu seinem Helm, als er die Tür geschlossen und sich ihnen gegenüber gesetzt hatte.
Je mehr Azruphel sprach, umso mehr fühlte Aglarân sich in die Zeit in Mordor zurückversetzt. Er hatte sie oft sprechen hören. Sie dagegen, hatte sehr wenig von ihm gehört. So war er überrascht, dass sie sich überhaupt an ihn erinnerte. Eigentlich war er sich sicher gewesen, dass die Gardisten von Durthang in den Augen der Bewohner dort nur Schatten waren. Bewaffnete Schatten, die über den Herrscher der Schwarzen Númenorer und dessen Familie wachten. Es war umgewohnt der Tochter von Varakhôr so direkt gegenüber zu sitzen.
"Aglarân," riss sie ihn aus den Gedanken. Ihre Stimmelage war vorsichtig, abschätzend, vielleicht mit einer Spur Unsicherheit gespickt, aber schwer wahrnehmbar, "Es ist lange her, dass Ihr vor meiner Tür in der Festung meines Vaters Wache standet."
Ihm entging nicht die leichte Anspannung in der Luft. Er war sich sicher, dass die urpsrüngliche Absicht hinter dem Besuch nicht in Azruphels Abendplänen zu finden war. Sein Blick ging zu Narissa, die scheinbar die treibende Kraft hinter dem Besuch war. Je länger er sie anblickte, umso sicherer wurde er sich. Die Weißhaarige saß steif im Sessel und hatte sämtliche Muskeln angespannt. Sie war es außerdem, die sich mit Waffen vor seinem Gemach an der Tür zu schaffen gemacht hatte. Agarlân beschloss sie gut im Auge zu behalten. Dolch gegen Schwert und Schild. Kurz verzog sich sein Gesicht zu einem Stirnrunzeln. Schwert und Streitkolben gegen zwei Dolche, das würde eine interessanter Kampf werden. Seufzend schob er den Gedanken zur Seite.
"Ja, Azruphel, es ist in der Tat lange her," antwortete er schließlich und kratzte etwas festgebackenen Sand von seinen Unterarmschienen, "Ich schwelge ungern in Erinnerung an diese Zeit. Ich sah Euch aufwachsen und beschützte Euch und euren Vater, verhinderte Attentate und widmete meinem Leben der Sache des Dunklen Herrschers. Damit ist es aber vorbei."
"Ihr wart mir stets ein guter Leibwächter, Aglarân," antwortete Aerien und schob eine Strähne, die ihr linkes Auge verdeckt hatte, beiläufig hinter ihr Ohr. "Und nun sagt Ihr, damit ist es vorbei. Sicherlich werdet Ihr mir gerne erklären, was es damit auf sich hat, doch wisst, dass auch ich mich verändert habe und nicht länger die hochmütige Adelige bin, die ich in jener Zeit war, als ich Euch und Euresgleichen kaum Beachtung schenkte." Sie deutete eine entschuldigende Geste an und blickte Aglarân offen in die Augen.
Er nahm Nickend zu Kenntnis, was Azruphel sagte und erwiderte den Blick. "Ich habe nur das getan, was mir aufgetragen wurde, würde ich jetzt sagen, aber ich kannte nichts anderes. So wir Ihr nichts anderes als die Hallen eures Vaters kanntet. Doch jetzt sind wir hier, weit fort von dem Ort, der uns noch verbindet." Er ballte seine gepanzerten Hände, sodass die eisernen Gelenke knirschten, "Nichts würde ich lieber wünschen, als ihn brennen zu sehen." Aglarân atmete tief aus und schüttelte den Kopf, "Das versteht Ihr nicht. Das könntet Ihr auch nicht."
"Nein, Aglarân. Ich verstehe es nicht," erwiderte Aerien mit fester Stimme und hielt seinem Blick stand. "Durthang ist meine Heimat, und seine Bewohner sind mein Volk. Ich wünsche ihnen kein Leid, sondern will sie von Saurons Herrschaft befreien. Mein Herz gehört allen Nachfahren des ruhmreichen Númenors, ob sie nun aus Gondor, Arnor, Umbar oder Durthang stammen. Ich wünsche mir nichts mehr, als sie alle wieder vereint zu sehen... Vereint im Kampf gegen den Dunklen Herrscher."
"Ihr versteht es nicht", wiederholte er aufbrausend und musste an sich halten nicht auf den Tisch einzuprügeln. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Jene, die in den Tagen spielten, an denen er erstmals mit seinen Zieheltern über seine Mutter gesprochen hatte, "Durthang hat keine zweite Chance verdient! Ihr wart nie in den Kerkern. Dort gingen keine ruhmreichen Númenorer runter und noch weniger kehrten von dort zurück. Die, die es verdient hätten kehrten nicht zurück. Es ist naiv zu glauben, dass sich Durthang gegen den Dunklen Herrscher stellen würde..." Seine Stimme wurde zum Ende hin wieder ruhiger und er griff nach seinem Helm. Flüchtig sah er, dass Narissa die Hände von ihren Dolchgriffen nahm, doch er sorgte sich nicht weiter darum.
Langsam zog er ihn ab und legte den Kopfschutz auf den Tisch, "Dort gibt es keine Hoffnung mehr."
Aerien warf ihm einen Blick zu, in dem für einen kurzen Moment große Verärgerung aufblitzte, doch rasch hatte sie sich wieder unter Kontrolle und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder neutral. Sie legte die Fingerspitzen zusammen und sagte leise und betont: "Es gibt immer Hoffnung, Aglarân. Gebt Euch nicht der Verzweiflung hin." Ein mitfühlender Ausdruck zog über ihr Antlitz und sie schien etwas aufzutauen, ehe sie hörbar ausatmete und fortfuhr: "Ich bin mir sicher, dass Ihr keine Bedrohung für mich darstellt, und auch nicht vorhabt, mich nach Mordor zurückzubringen. Was also habt Ihr stattdessen nun vor, wenn Ihr die Frage gestattet?"
Aglarân runzelte die Stirn und beugte sich leicht vor. "Glaub Ihr euren eigenen Worten? Habt Ihr das gesehen, was ich gesehen habe?". Seine Hand fuhr zu seinem vernarbten Gesicht, "Die Hälfte der Narben stammen nicht von Kämpfen, sondern aus der Zeit vor meiner Reife. Unser Volk, Azruphel, ist der Dunkelheit verfallen. Was ich nun vorhabe? In dieses dunkle Loch eine brennende Fackel reinzuhalten und Licht dort hineinbringen. Vielleicht mag ich schon danach aussehen, doch um Bestien zu schlagen, muss man selbst eine werden." Er lehnte sich wieder zurück und goss ihnen Dreien einen Tee ein, eine Geste die er noch nie gemacht hatte. "Was ich meine ist, dass Ihr unbehelligt von den Machenschaften der anderen aufgewachsen seid. Ihr habt nicht gesehen was ich in dem Kerker gesehen habe." Sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse, als er die Folterinstrumente dachte, die er dort gesehen hatte. Mit denen seine Mutter aus Spaß malträtiert wurde. Das Blut hatte niemand entfernt, selbst nach all den Jahren nicht. Es waren Trophäen gewesen. "Ihr versteht es nicht. Ein Teil von mir beneidet Euch darum...", setzte er leise nach und rührte seinen Tee um, während er ihr die Tasse zuschob. Er hatte nur ein einziges Mal ein Gemälde seiner Mutter gesehen, doch sein Verstand war noch zu jung, konnte nicht begreifen, dass diese schöne und stolze Frau seine Mutter war. Jetzt wo er älter war, verfluchte er den Tag, an dem man die Sachen seiner Familie einfach verbrannt wurden. Er selbst konnte sich gar nicht mehr daran erinnern. Die Schwarzhaarige Adûna riss ihn aus den Gedanken und er widmete sich wieder dem Gespräch.
"Dann frage ich mich, weshalb Ihr diesen Menschen so lange gedient habt," sagte Aerien und nahm die Tasse entgegen. Sie nippte kurz daran und nickte zufrieden, offenbar schmeckte ihr der Tee. "Wieso kehrt Ihr Mordor erst jetzt, nach all den Jahren den Rücken?" Ihre Stimme war frei von jeglicher Anklage. Stattdessen war echtes Interesse herauszuhören.
"Das Gleiche könnte ich Euch fragen", gab Aglarân zurück und trank ebenfalls von seinem Getränk, "Schließlicht sitzt Ihr hier mit mir und trinkt Tee." Er stellte die Tasse ab, was mit der Panzerhandschuhen gar nicht so einfach war. "Glaubt mir, ich habe lange darüber nachgedacht. Wie würdet Ihr euch fühlen, wenn Euer Körper über Jahre zerschunden wird. Ihr seht Kameraden sterben. Für was? Für einen Herrn, der Knechtschaft und Unterwerfung plant. Ihr seid ihm egal, genau wie die Númenorer. Ich bin nur ein Mittel zu Zweck, ein Werkzeug, das man nach Gebrauch wegwirft. So war es mit Sauron, so war es mit Euren Vater. Ihre Werkzeuge sind überall und führen die Horden. Einst tat ich es auch, aber nicht lange wie Ihr wisst. Ich will keine Kinder mehr sehen, die in diesem Krieg von Orks-" Er brach grob den Satz ab und biss so fest die Zähne zusammen, dass seine Kiefer knackten, "Und die Númenorer stehen einfach daneben und schauen zu. Nein, so etwas möchte ich nicht unterstützen, es gehört bekämpft. Mit aller Macht. Deswegen bin ich hier."
"Und ich bin hier, weil ich Saurons Herrschaft beendet sehen möchte," erwiderte Aerien. "Er ist es, der für all das Übel verantwortlich ist, auf die eine oder andere Art und Weise. Ich habe mich von Mordor abgewandt und werde von seinen Dienern gejagt. Mein Wissen über meine Heimat stelle ich Saurons Feinden zur Verfügung und hier in Kerma versuche ich dafür zu sorgen, dass ein Bündnis zwischen dem Reich König Músabs und der Heimat meiner Freundin Narissa -" sie stupste die Angesproche an, die offenbar aus einem Tagtraum aufschreckte und heftig blinzelte "- zustande kommt. In diesen dunklen Tagen müssen alle Menschen vereint gegen Sauron stehen, Nur so kann er besiegt werden."
Fast hatte er schon so eine Antwort erwartet und musterte die Weißhaarige mit dem Namen Narissa. Scheinbar mischte sie sich nicht in die Angelegenheit der Adûna ein. Ihm war es auch Recht, es war schon unangenehm genug mit ihr zu sprechen. Bei zwei Gesprächspartnern würde er sich wie in einem Kreuzverhör fühlen. Einen kurzen Moment dachte Aglarân über die Worte von Azruphel nach und rieb sich die Augen.
"Ich bin nach einem Auftrag nicht wieder zurückgekehrt. Ob ich bereits als Abtrünniger gelte weiß ich nicht. Über Abwesenheit weiß ich auch nichts, ich war sehr lange unterwegs. Was ich aber weiß ist, dass wir keine Feinde sind, Azruphel. Falls sich das hier doch als Falle entpuppt, weiß ich mich zu verteidigen. Das Gleiche gilt natürlich für euch beide, allerdings denke ich, dass wir für's erste Frieden schließen. Symbolisch natürlich, denn ich war nie Euer Feind." Er blickte Narissa in die Augen, "Auch nicht Euer Feind, das wollt ihr nicht", setzte er mit einem bösen Grinsen nach. Sie erwiderte das Lächeln ebenso böse, und antwortete mit einem Zwinkern: "Ihr aber auch nicht, glaubt mir."
Er schnaubte nur anstatt einer Antwort und ließ sich nicht auf ein Wortgeplänkel ein. Narissa begnügte sich damit, ihn nicht aus den Augen zu lassen, während sie sich in dem Sessel zurücklehnte. Unbeeindruckt davon, zog sich Aglarân seinen linken Panzerhandschuh umständlich aus. Das was Azruphel gesagt hatte, brachte ihn zum Nachdenken, doch er wollte später darüber grübeln, wenn er alleine war. Er glaubte ihren Worten, auch wenn er sehr wohl sich bewusst war, dass sie lügen konnte. Das konnten alle in Durthang ausgezeichnet, doch er hatte während des Gesprächs einen Weg gefunden, der das Lügen erschweren würde.
"Symbolisch oder nicht. Frieden mit Blut geschlossen, auf dass er nicht von Lügen und Verrat vergiftet wird. Was haltet ihr davon?" Mit den Worten drückte er seinen Ringfinger der linken Hand - der Herzhand - auf die spitzen Knöchelpanzer seiner Handschuhe. Es zwickte kurz, was er gar nicht richtig wahr nahm und verzog keine Miene. Als er Azruphel die linke Hand reichte, tropften zwei kleine Perlen Blut seine Handfläche hinab. "Es mag barbarisch wirken, aber es hat eine deutliche Wirkung, so seid Ihr auf der sicheren Seite und ich. Schließlich seid Ihr in der Überzahl." Er zwinkerte bei dem letzten Satz und nickte ihr auffordernd zu.
Aeriens linke Augenbraue hob sich um einen Milimeter an, ansonsten blieb ihr Gesichtsausdruck unverändert, als sie rasch mit ihrem Fingernagel ebenfalls den Ringfinger ihrer linken Hand einrizte und einen kleinen, hellroten Blutstropfen auf ihre Handfläche rinnen ließ. Dann ergriff sie Aglarâns angebotene Hand und drückte sie - fester, als er erwartet hatte. "Wir sind keine Feinde," wiederholte sie seine Worte.
Ihre anfängliche Reaktion belustigte ihn ein wenig, doch als Azruphel einschlug, entspannte Aglarân sich und schüttelte die Hand. "Danke für die Geste, auch wenn sie Euch seltsam erscheinen mag. Ich erkläre es Euch gern später." Sie hatte einen starken Griff, was ihn gefiel, er hatte selten Hände geschüttelt und noch seltener hatte er einen festen Händedruck gespürt. Als sich ihre Hände wieder trennten, hatte sich auf beiden Innenflächen zwei Flecken Blut gebildet. Aglarân bemerkte den missbilligenden Blick Narissas, sagte aber nichts weiter. Wortlos reichte er Azruphel ein Tuch, das eigentlich für verschütteten Tee gedacht war, doch für Blut reichte es auch. Wähernd sie sich ihre Hände säuberten sprach Aglarân freundlich, aber bestimmt: "Ich denke, wir können ein anderes Mal uns weiter unterhalten. Es ist bereits spät und ich würde mich gern von den Strapazen meiner Reise erholen."
Er mochte es nicht so geschwollen zu reden und beherrschte sich, kein unzufriedenes Gesicht zu ziehen. Die beiden jungen Frauen verstanden sein Anliegen und erhoben sich. Sie verabschiedten sich höflich und wünschten sich eine gute Nacht. Aglarân geleitete sie zur Tür hinaus, wie er es öfters von den Empfängen von Gästen in Durthang kannte und schloss sie, nachdem Azruphel und Narissa das Zimmer verlassen hatten. Tief seufzend beugte er sich nach dem Dolch und rammte ihn wie gewohnt hinter den Riegel, sodass man ihn nicht von außen aufhebeln konnte. Klackend drehte der den Schlüssel im Schloss und begann seine Rüstung wieder abzulegen. Selten hatte er sich so schnell gerüstet wie in dem Moment, an dem er den Aufbruchversuch seiner Zimmertür bemerkte. Nun konnte er hoffentlich entspannen und darüber nachdenken, was Azruphel ihn erzählt hatte. Ob sie die Wahrheit sprach war ihm zweitrangig. Sie hatte mit Blut Frieden geschlossen und da sie ihr Volk der Númenorer so hoch schätzte, war das Blut eben jener besonders kostbar. Ob ihr die Bedeutung dieser Geste bewusst war? Er glaubt es nicht und setzte sich in seinem Untergewand auf die Bettkante. Sein Blick fiel auf die beiden Sessel, auf dem seine zuvor unerwünschten Besucherinnen gesessen haben. Noch nie hatte er an einem Abend so viel gesprochen wie heute. Seufzend ließ er sich in die Kisse fallen und schob alle Gedanken beiseite. Der Schlaf kam rasch und er fiel in einem erholsamen, traumlosen Schlummer.
Eandril:
"Bist du eigentlich verrückt geworden?", zischte Narissa leise, sobald sie sich durch den dunklen Gang ein gutes Stück von Aglarâns Tür entfernt hatten.
"Wieso?", gab Aerien offensichtlich verwundert zurück. "Du hast doch gehört, was er gesagt hat: Er hat sich von Mordor losgesagt - ebenso wie ich." "Sagen kann er viel. Er kommt aus Mordor, also liegt ihm das Lügen vermutlich im Blut." Narissa stockte, als Aerien unvermittelt stehen blieb, die Arme vor der Brust verschränkte und eine Augenbraue in die Höhe zog. "Entschuldige. Ich... mache mir nur Sorgen. Und ich habe bislang nicht allzu viele gute Erfahrungen mit Leuten aus Mordor gemacht. Ich wollte nicht..."
"Nein, ich weiß", meinte Aerien seufzend, und ging langsam weiter. "Aber ich habe mehr Erfahrung - und andere Erfahrung - mit Menschen, die aus Mordor stammen. Und Aglarân meinte es ehrlich, da bin ich mir sicher. Jedenfalls einigermaßen."
Sie hatten die Tür ihres Zimmers erreicht, und Narissa hielt sie für Aerien auf. Sie war nicht vollständig überzeugt, was die wahren Absichten dieses Finsterlings aus Mordor anging. Natürlich vertraute sie Aerien, und glaubte auch nicht, dass sie ihr etwas bewusst verschwieg. Aber Aerien träumte davon, die Nachfahren Númenors in Mittelerde wieder zu vereinigen. Vielleicht stand dieser Traum ihr im Weg wenn es darum ging, Aglarâns Täuschung zu durchschauen.
"Du bist dir so sicher, dass du einen Blutschwur mit ihm eingegangen bist." Narissa sagte es möglichst neutral, bemüht nicht vorwurfsvoll zu klingen, trat ans Fenster und sah hinaus in die sternenklare Nacht.
"Ich... ja, das bin ich wohl", erwiderte Aerien, und trat mit langsamen Schritten neben sie.
"Ich habe von solchen Blutschwüren gehört", sagte Narissa, und sah Aerien ins Gesicht. "Sie sind in Harad nicht allzu häufig, aber bei den barbarischen Völkern weit im Süden sollen sie üblicher sein. Du hast geschworen, dass ihr keine Feinde seid. Aber was ist mit mir? Oder mit König Músab und seiner Familie? Was, wenn Aglarân sie angreift? Solange er dich nicht bedroht, musst du nicht tatenlos dabei stehen und zusehen?"
"Ich bin mir ziemlich sicher, wenn Aglarân dir etwas antun will, dann..." Aerien legte einen Arm um Narissa. "Dann bedeutet das, dass er auch mich als Feind sieht, und hat seinen Schwur damit als erster gebrochen. Und auch der König und seine Familie sind meine Verbündeten, auch wenn er sie angreift, bricht er seinen Schwur zuerst."
Narissa spürte, wie sich ihre eigenen verkrampften Schultern plötzlich entspannten. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass Aerien immer an ihrer Seite stehen würde - Blutschwur hin oder her - aber es aus ihrem eigenen Mund zu hören war erleichternd. "Und bis es soweit ist werde ich einfach besonders wachsam in seiner Nähe sein." Aerien seufzte. "Manchmal bist du fürchterlich misstrauisch, meine Liebe. Meinst du nicht, es könnte sinnvoller sein, Brücken zu bauen als sie einzureißen, um Sauron zu besiegen?"
"Das Brücken bauen überlasse ich gerne dir", erwiderte Narissa, und musste unwillkürlich grinsen. "Ich stehe nur daneben und passe auf, dass sie dir nicht unter den Füßen zusammenbrechen - und wenn doch, um dich wieder aus dem Fluss zu ziehen."
"Du bist wirklich unmöglich", meinte Aerien, doch ihre Stimme war sanft. "Ich zähle darauf, dass du mich aus dem Wasser ziehst, wenn ich den Boden unter den Füßen verliere." "Natürlich... immerhin kannst du nicht schwimmen." Aeriens Lachen ließ Narissa einen angenehmen Schauer den Rücken hinabrieseln. So ernst ihre Situation auch sein mochte, es konnte nie schaden zu lachen - und in letzter Zeit hatten sie das wirklich zu wenig getan.
Als sie schließlich im Bett lagen und Narissa die Augen geschlossen hatte, waren Aglarân und ihre Befürchtungen schon beinahe vergessen. Zumindest bis zum nächsten Morgen.
Aerien und Narissa in die Stadt
Fine:
Narissa und Aerien aus der Stadt
Als Aerien und Narissa am frühen Abend zum Palast von Kerma zurückkehrten, wartete eine Überraschung auf sie. Prinzessin Asáta stand vor der Tür zu ihrem Zimmer, mit gutgelaunter Miene und in Begleitung mehrerer Palastdiener.
"Ich habe mit meinem Vater gesprochen," sagte sie und nickte selbstzufrieden. "Er möchte heute beim Abendessen mit euch beiden über die Angelegenheit sprechen. Das ist ein gutes Zeichen, wie ich finde. Es beginnt in einer Stunde - kommt nicht zu spät!"
Narissa warf Aerien einen entschlossenen Blick zu. "Jetzt werden wir endgültig Schluss mit König Músabs Heiratsplänen machen."
"Hoffen wir, dass er auf die Alternative eingeht, die ihm seine Tochter vorgeschlagen hat," meinte Aerien, die sich mit Optimismus noch ein wenig zurückhielt.
"Das wird schon werden, Sternchen," erwiderte Narissa aufmunternd. "Du wirst es sehen."
Exakt eine Stunde später führte ein Palastwächter sie beide in einen der kleineren Räume im Palast, wo sie bereits von König Músab, seiner Tochter Asáta und seinem ältesten Sohn Tamal erwartet wurden, die gemäß der Sitte in Harad von ihren Stühlen am Tisch aufstanden und den Besuchern freundlich zunickten. Aerien stellte erfreut fest, dass neben zwei weiteren Kermern, die sie nicht kannte, auch Kani anwesend war, und ihr aufgeregt und fröhlich zuwinkte. Neben Kani waren zwei Plätze frei, und dort nahmen Narissa und Aerien rasch Platz, nachdem sie die Grußgeste vor dem König erwidert hatten - Narissa mit einer angedeuteten Verbeugung, Aerien mit einem angemessenen Knicks. Sie trug das schwarzsilberne Kleid, das Sahír ihr in Aín Séfra geschenkt hatte, während Narissa wieder die Tracht von Tol Thelyn trug, denn sie war der Meinung gewesen, dass dies an jenem Abend angemessen war - immerhin würde sich heute entscheiden, ob ein Bündnis zwischen Kerma und der Weißen Insel entstehen würde.
"Ich grüße euch, Narissa vom Turm, Enkelin des Hador Dúnadan, und Aerien von Haus Bereneth aus dem fernen Gondor," sagte der König. "Wie schön, dass ihr pünktlich hier seid."
"Vielen Dank für die Einladung, Qore Músab bin Kernabes von Kerma," antwortete Aerien.
"Ja, vielen Dank," fügte Narissa nach einer kleinen Pause hinzu.
Músab stellte die beiden anderen Kermer als Akhraten und Aspelta vor und gab dann seinen Dienern, die wartend in etwas Abstand zum großen Tisch gestanden hatten, ein Zeichen. Rasch begannen sie, das reichhaltige Essen aufzutragen. Der Raum, in dem sie saßen, schien eine direkte Verbindung zu den Küchen des Palastes zu besitzen. Der Tisch stand beinahe genau in der Mitte des Raumes. Músab, der am Kopfende des Tisches auf einem erhöhten Sitz saß, nickte seinen Gästen auffordernd zu, und sie begannen, zu essen.
Während der Mahlzeit tauschte Aerien sich mit Kani über ihren Besuch auf den Märkten aus, wenn sie nicht gerade mit Narissa auf Sindarin sprach. In der Elbensprache konnten sie ungestört darüber reden, ob ihnen das Essen schmeckte, was sie von den Gästen hielten und ob sich ihre Erwartungen an den Abend bislang erfüllt hatten.
Viele Trophäen der Jagd hingen an den Wänden des Raumes, und hinter Músab ragte eine große, gemauerte Feuerstelle samt Kamin auf. Die Wand, die Aerien und Narissa gegenüber lag, war von großen Fenstern eingenommen, die nun, da es draußen dunkel geworden war, von schweren, tiefroten Vorhängen bedeckt waren.
"Hinter dir hängen die Stoßzähne eines der mächtigen Mûmakîl, Aerien," sagte Kani stolz. Aerien drehte den Kopf herum und staunte nicht schlecht über die Größe der gekreuzt an der Wand hängenden Trophäen, die bis an die hohe Decke des Raumes ragten und geradezu unheilvoll hoch über ihrem Kopf in scharfen Spitzen endeten.
Als alle ihre Mahlzeit beendet hatten, klatschte Músab in die Hände, und die Diener räumten den Tisch ab. Einen der Bediensteten nahm Músab beiseite, raunte ihm einige Anweisungen zu und übergab dem Kermer einen versiegelten Brief. Rasch eilte der Mann damit hinaus. Dann wandte sich der König wieder seinen Gästen zu.
"Ihr alle seid heute Abend hier, weil es wichtige Angelegenheiten zu besprechen gibt," sagte er mit einem strengen Unterton. "Ihr wisst, wovon ich spreche: Die Frage, ob das Königreich von Kerma ein Bündnis mit den Turmherren von Tol Thelyn eingehen soll, und welche Bedingungen wir dafür einfordern."
Prinzessin Asáta nahm das Wort. "Ich habe nach einem Gespräch mit Aerien und Narissa lange über diesen Vorschlag nachgedacht und bin der Meinung, dass nur eine Heirat zwischen unseren beiden Häusern beiden Seiten genug Sicherheit und Vertrauen verschafft, um dieses Bündnis einzugehen."
Neben Aerien regte sich Narissa in ihrem Stuhl, doch es gelang Aerien, ihre Freundin zu beruhigen, indem sie ihr sanft die Hand auf den Unterarm legte. "Daro," wisperte sie so leise sie konnte in der Elbensprache. Warte.
Asáta sprach weiter. "Narissa, ich verstehe, dass du darauf nicht eingehen willst. Dass dir der Preis zu hoch ist. Ich verstehe es nur allzu gut, denn auch ich wäre womöglich eines Tages als Besiegelung für ein Bündnis mit einem Fremden verheiratet worden, wenn mein Vater dies nicht von Anfang an ausgeschlossen hätte." Bei diesen Worten warf sie dem König einen raschen, dankbaren Blick zu. "Und deshalb habe ich nach einem Weg gesucht, um dir dieses Schicksal zu ersparen. Ihr wisst bereits, wovon ich spreche, denn ich hatte es vor einigen Tagen kurz angedeutet: Das Königssymbol von Kerma."
Alle anwesenden Kermer bis auf Músab und Asáta selbst sogen scharf die Luft ein, als die Prinzessin diese Worte sprach. Sie erhob die Hand und fuhr fort: "Vor langer Zeit ging das wichtigste Erbstück von Anlamanis Linie verloren, und alle, die seither danach gesucht haben, sind entweder erfolglos geblieben oder haben nichts als den Tod gefunden. Dieses Symbol - geschnitzt aus dem Zahn des Schwarzdrachen Arkhasias - gehört in die Hände des Königs. Wer auch immer es dem Volk präsentiert, besitzt den stärksten Anspruch auf den Thron Kermas. In diesen schwierigen Zeiten, wo erneut Krieg über unsere Heimat zu ziehen droht, wäre dieses Erbstück noch von größerem, unschätzbarerem Wert. Es könnte den Krieg gänzlich abwenden."
"Das Königssymbol ist unauffindbar," warf Tamal, der Erbe von Kerma ein. "Du weißt, wie viele in all den Jahren danach gesucht haben. Die Gesandten von Tol Thelyn werden auf dieser Suche umkommen, und dann haben wir einen Feind mehr."
"Auch ich mache mir Sorgen um eure Sicherheit," warf Músab ein. "Zwar zweifle ich nicht an euren Fähigkeiten, doch um ehrlich zu sein: Es haben schon andere, deutlich erfahrene Abenteurer versucht, den Zahn des Arkhasias zu finden. Ihr beiden seid junge Frauen."
"Was soll das denn heißen?" empörte sich Narissa. "Glaubt Ihr etwa, wir hätten nicht das Zeug dafür?"
Músab hob beschwichtigend die Hände. "Wie mein Sohn korrekt erkannt hat, liegt ein gewisses Risiko für Kerma darin, euch beide auf die Suche nach dem Königssymbol zu entsenden. Was, wenn ihr scheitert und sterbt? Dann müsste ich einen Boten nach Tol Thelyn entsenden, und dem Herrn des Turms erklären, dass seine einzige Nichte durch meine Verantwortung umgekommen ist."
"Wir werden aber nicht scheitern," gab Narissa etwas patzig zurück. "Ihr werdet es sehen."
Aerien hatte einen Einfall, und sie sagte. "Gehe ich recht in der Annahme, dass all jene, die sich in den vergangenen Jahren auf die Suche nach dem Symbol gemacht haben, Kermer waren?" Als Asáta nickte, fuhr sie fort: "Nun, vielleicht gelingt es uns, die wir beide nicht von hier stammen, Hinweise aufzudecken, die den Kermern bislang entgangen sind."
Músabs Gesichtsausdruck zeugte von Misstrauen und Zurückhaltung, doch als er seine Tochter anblickte, schmolz ein Teil davon dahin. Schließlich seufzte der König leise und sagte dann: "Nun denn. Es sei also. Ich werde das Bündnis anerkennen, wenn ihr mir das Königssymbol Anlamanis bringt. Doch wenn ihr geht, geht ihr auf eigene Verantwortung. Ihr werdet eine Nachricht nach Tol Thelyn entsenden, ehe ihr aufbrecht, und darin die Umstände erklären. Ich werde nicht für euren Tod verantwortlich sein."
Erneut regte sich Narissa, um zu protestieren, doch Aerien hielt sie erneut zurück. "Wir schaffen das," erinnerte sie Narissa an ihre eigenen Worte."
Narissa blickte ihr in die Augen - eine Sekunde, eine weitere, und dann noch eine - ehe sie sich wieder Músab zuwandte. "Wir nehmen das Angebot an. Wir werden dieses Ding finden - verlasst euch drauf."
"Meine Tochter wird euch alle Hinweise zukommen lassen, die sich hier im Palast finden lassen," sagte der König. "Plant eure Reise sorgfältig. Es mag von eurem Erfolg abhängen, ob der Krieg in Kerma abgewendet werden kann."
Aerien und Narissa nickten, ehe sie sich erhoben und zum Abschied angemessen vor Músab verbeugten. Dann eilten sie aus dem Raum, beide mit gemischten Gefühlen. Doch auf Narissas Gesicht sah Aerien Entschlossenheit und Abenteuerlust, und das steckte sie an. Sie ergriff Narissas Hand, während sie sich auf den Rückweg zu ihrem Zimmer machten.
"Wir schaffen das!" rief Narissa.
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln