Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Südöstliches Harad
Der königliche Palast
Eandril:
"Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr gelangweilt?", fragte Asáta, als sie und Narissa außer Hörweite von Kani und Aerien waren und sich der breiten Steintreppe näherten, die von den Gärten wieder zum Palast hinaufführte. Auf die unerwartete Frage der Prinzessin hin wäre Narissa beinahe gestolpert, atmete allerdings insgeheim auf, als sie ein schalkhaftes Funkeln in Asátas Augen zu sehen glaubte. Offenbar nahm König Músabs Tochter ihr ihre unbedachte Aussage nicht allzu übel.
"Nun ja, also... Ich wollte dich nicht beleidigen, als ich das gesagt hatte", erwiderte sie entschuldigend, und Asáta schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf. "Das hast du nicht - und Ehrlichkeit und Offenheit gehören nicht unbedingt zu den schlechtesten Tugenden, die man besitzen kann." "Auch, wenn einen zu viel davon regelmäßig in Schwierigkeiten bringen kann", meinte Narissa, und erwiderte das Lächeln. Asátas Verhalten überraschte sie - die Prinzessin war doch sicherlich vier oder fünf Jahre jünger als sie, und wirkte dennoch so erwachsen. Narissa erinnerte sich noch gut daran, wie sie in Asátas Alter gewesen war, und sie hätte sicherlich deutlich anders reagiert.
"Eigentlich ist es ja nicht so, dass ich alles langweilig gefunden hätte", fuhr sie fort, verschwieg aber, dass sie damit an erster Stelle den Kampfplatz, den sie gesehen hatten, meinte. "Es ist nur..." Sie brach ab, und schüttelte den Kopf. Asáta war höflich genug, nicht nachzufragen, sondern erklärte stattdessen, als sie das obere Ende der Treppe erreicht hatten: "Man hat für dich und Aerien Zimmer im westlichen Flügel des Palastes vorbereitet, wo üblicherweise ausländische Würdenträger oder wichtige Adlige aus Kerma untergebracht werden. Ich hoffe, das ist ausreichen?" "Natürlich", erwiderte Narissa ein wenig abwesend, denn Aeriens Erwähnung hatte sie ein wenig aus dem Konzept gebracht. Als sie gegangen war, hatte sie sich nicht einmal verabschiedet, sondern Aerien einfach sitzen gelassen, und so sehr Aerien ihr auf der Reise auch auf die Nerven gegangen sein mochte, schämte sie sich ein wenig dafür. Sie würde es später wiedergutmachen, nahm sie sich vor.
"Sehr gut", sprach Asáta weiter. "Dann werde ich dich nun allein lassen, meine Schwägerin wartet vermutlich bereits auf mich - es gibt einiges vorzubereiten." Mit einem weiteren Lächeln eilte die Prinzessin in Richtung Süden entlang des Kampfplatzes davon. Narissa folgte ihr langsamer, wobei sie das Treiben auf dem Übungsplatz beobachtete. Nach der langen Zeit auf Grauwinds Rücken sehnte sie sich danach, ein wenig die Glieder zu strecken und ihre Kampfkünste zu üben.
Sie war gerade auf Höhe des Tores, das nach Osten in den Palast hineinführte, angelangt, als sie von links jemanden ihren Namen rufen hörte. Als sie sich umwandte, sah sie Gatisen an der Waffenkammer in der Mitte des Platzes stehen, auf einen Stab mit zwei flachen Enden gestützt. Narissa ging ihm langsam über den gepflasterten Weg, zu dessen beiden Seiten sich der mit feinem Sand bestreute Platz erstreckte, entgegen, wobei sie unwillkürlich einen prüfenden Blick über die Schulter zurück warf. Sie verspürte im Augenblick kein wirkliches Bedürfnis, einen Streit mit Aerien zu provozieren. "Erschöpft von der Reise?", fragte Gatisen, als Narissa ihn erreicht hatte, und Narissa zog eine Augenbraue in die Höhe. "So weit kommt es noch. Ich bin keine verhätschelte Prinzessin - oder Prinz, das kannst du mir glauben."
"Dass du kein Prinz bist, glaube ich auf den ersten Blick", gab Gatisen mit unbewegter Miene zurück, aber seine dunklen Augen funkelten. Das war etwas, was ihn von seinem ernsten Vater Alára deutlich unterschied: Hin und wieder besaß Gatisen einen starken Sinn für Humor, der Narissa sehr gefiel. "Und deshalb frage ich ja... Frauen sind immer hin schneller erschöpft."
"Pah." Narissa widerstand dem Drang, ihm die Zunge herauszustrecken. "Ich habe immer noch mehr als genug Kraft, um mit jedem eurer Krieger den Boden aufzuwischen - oder mit dir. Was ist das überhaupt für ein Teil? Ein Stab zum Stützen, damit du nicht umfällst?" Sie deutete auf die Waffe, die Gatisen in der Hand hielt.
"Oh, das?" Gatisen ließ den Stab einmal, zweimal in seiner Hand herumwirbeln, und zog dann die Lederscheiden von den Enden ab, was zwei reich verzierte, leichte gebogene Klingen zum Vorschein brachte. "Das, liebe Narissa, ist eine kermische Zweililie. Es gibt nicht allzu viele Männer, die damit umgehen können, aber mir gefällt sie."
"Hm", machte Narissa, und betrachtete sie Waffe sorgfältig. "Kein Grund, anzugeben. Sieht ziemlich unhandlich aus - ich wette, wenn ich meine Dolche dabei hätte, könnte ich dich besiegen." Gatisen deutete auf die Waffenkammer hinter sich. "Dolche haben wir hier genug", sagte er mit herausfordernder Miene. "Bedien dich - dann werden wir ja sehen, wer hier der Angeber ist. "Na schön", antwortete Narissa, und betrachtete die Tür zur Waffenkammer mit verengten Augen. "Herausforderung angenommen."
Nur wenige Augenblicke stand sie Gatisen gegenüber auf dem Sand des Übungsplatzes. Sie hatte sich zwei Dolche von der Art, wie König Músab sie ihr in Aín Sefra geschenkt hatte, ausgesucht, die sie nun locker in den Händen hielt. Gatisen stand ein wenig breitbeinig da, und hielt seine Zweililie mit beiden Händen ein Stück vor sich. Einige Atemzüge lang beobachteten sie einander aufmerksam. Narissa achtete auf die kleinste Gewichtsverlagerung, die kleinste Bewegung der Augen, die ihr verraten würde, ob und wie Gatisen angreifen würde.
Endlich zuckten seine Augen ein wenig nach rechts, und er verlagerte sein Gewicht ein wenig zur Seite. Narissa erkannte die Gelegenheit und schnellte vor, bevor Gatisen zum Angriff kam. Sie führte ihren rechten Dolch zum Angriff gegen seine linke Seite, wo er wider Erwarten funkensprühend gegen das eine Ende von Gatisens Waffe prallte. Gatisen nutzte ihren Schwung aus, drehte sich ein wenig auf der Stelle und schwang das andere Ende der Zweililie gegen Narissas linke Seite, was sie dazu zwang, mit dem linken ihrer Dolche zu pausieren.
So ging es immer weiter - Angriff, Gegenangriff, Angriff, Gegenangriff. Während sie Gatisen, der sich beinahe gar nicht vom Fleck bewegte, sondern nur auf der Stelle drehte, umtanzte, stellte Narissa fest, dass die Zweililie offenbar längst nicht so unhandlich war, wie sie vermutet hatte. Wo auch immer sie angriff - links oder rechts, gegen den Kopf, die Füße oder die Brust - prallte ihre Klinge gegen Gatisens Waffe, und beinahe jedes Mal schlug er sofort zurück. Er war weitaus schneller, als sie erwartet hatte. Obwohl er sich noch immer langsamer bewegte als sie, genügte es zusammen mit seiner größeren Reichweite, um Narissa ebenbürtig zu sein - keiner der beiden konnte die Deckung des anderen durchbrechen oder einen kurzfristigen Vorteil nutzen.
Irgendwann spürte Narissa, wie ihr Schweißtropfen den Nacken herunterliefen, und auch auf Gatisens Stirn glänzte inzwischen der Schweiß. Schließlich sprang Gatisen einen Schritt zurück, nahm eine Hand von der Waffe und hob sie mit der Handfläche nach vorne. "Ich glaube, das führt zu nichts", keuchte er, und Narissa nickte zustimmend. "Ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass ich nicht beeindruckt bin", fuhr Gatisen fort, und Narissa lächelte. "Ich ebenfalls", erwiderte sie. "Ich hätte nicht gedacht, dass man mit einer so großen Waffe so beweglich sein kann. Vielleicht sollte ich das auch lernen, hin und wieder könnte es ein Vorteil sein..."
"Es braucht viel Übungszeit", meinte Gatisen. "Ich übe schon mein halbes Leben damit, sonst wäre ich bei weitem nicht so gut wie jetzt." Er betrachtete Narissa einen Augenblick nachdenklich. "Aber vielleicht kann ich dir trotzdem ein paar Grundlagen zeigen - du müsstest gerade groß genug sein."
"Sicher bin ich groß genug", gab Narissa ein wenig empört zurück, und legte die beiden Dolche in den Sand am Rand des Platzes. "Also wirklich."
"Stell dich so vor mich", erklärte Gatisen, und zeigte ihr, wie sie die Füße stellen sollte. Dann ging er um sie herum, stellte sich hinter sie und hielt die Waffe vor sie, sodass Narissa nun zwischen Zweililie und Gatisen stand. "Leg die Hände neben meine an den Griff - richtig, nicht zu fest zupacken. Den Fehler machen viele am Anfang."
"Ich habe schon das ein oder andere bisschen an Erfahrung gesammelt", erwiderte Narissa spitz. "So dumm bin ich nun wirklich nicht."
"Verzeiht, eurer Hoheit", spöttelte Gatisen dicht neben ihrem Ohr. "Ich hatte vergessen, mit wem ich es zu tun hatte."
"Ja, daran solltest du dich besser..." Narissa verstummte, als sie den Blick hob und Aerien, die offenbar gerade mit Kani aus den Gärten hinaufgekommen war, am Rand des Platzes stehen sah. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, dann wandte sich Aerien ruckartig ab und ging mit langen und schnellen Schritten, so schnell, dass sie beinahe rannte, durch das Palasttor davon. Kani blieb offensichtlich verwirrt zurück, und Narissa stieß einen Fluch auf Sindarin durch die zusammengebissenen Zähne aus. Sie nahm die Hände von der Waffe, und duckte sich darunter Weg. "Bitte, finde irgendeine Beschäftigung für Kani", bat sie Gatisen, dessen Miene eine beinahe komische Mischung aus Überraschung und Verwirrung zeigte. "Ich will nicht, dass sie uns nachläuft."
Dann lief sie Aerien nach, wobei sie sich stumm verfluchte.
Fine:
So angenehm und entspannend es in den Gärten auch war - Aerien musste nach einiger Zeit feststellen, dass sie die Erholung nicht recht genießen konnte. Ganz im Gegensatz zu Kani, die mit geschlossenen Augen und wohligem Gesichtsausdruck neben ihr lag und offenbar auf dem besten Weg war, einzunicken. Aerien selbst wurde immer unruhiger, je mehr Zeit verstrich. Und nachdem sie sich auf ihr Inneres konzentriert und alles um sie herum ausgeblendet hatte, wusste sie auch, woran das lag.
Ich muss diese Sache zwischen Narissa und mir in Ordnung bringen. Das hat jetzt wirklich lange genug gedauert, und ich vermisse das, was vorher zwischen uns war. Ich vermisse es, jede einzelne Minute mit ihr zu verbringen. Und ich glaube, ich muss den ersten Schritt machen und endlich den Mund aufmachen. Ihr sagen, wie ihr Verhalten auf mich wirkt, wie es mich verletzt. Vielleicht wird sie es dann verstehen. Bislang habe ich ihr kaum die Gelegenheit dazu gegeben, weil ich dachte, dass sie sehen oder spüren sollte, wie es mir geht. Aber so einfach ist das wohl nicht...
Sie stieß mit einem langezogenen Seufzer die in ihr angestaute Luft auf und weckte damit Kani, die sich ruckartig aufsetzte und die beiden Kätzchen verjagte, die sich auf ihrem Bauch zusammengerollt hatten.
"Was ist los?" fragte das Mädchen mit einem teils neugierigen, teil besorgten Blick.
Ihr fällt es natürlich sofort auf wenn etwas nicht stimmt, dachte Aerien. Sie wünschte sich, bei Narissa wäre es ebenfalls so. Doch das war es nicht - zumindest nicht seit ihrem Aufbruch aus der Stadt Tindouf.
"Nichts, Kani," sagte sie und winkte ab. "Ich habe mich nur gerade dazu entschlossen, Narissa suchen zu gehen. Ich muss mit ihr reden."
Kani nickte. "Das solltest du. Sie hat gesagt, sie wollte sich ihr Zimmer ansehen, richtig? Wir sollten dort nachsehen."
"Ich muss alleine mit ihr sprechen, Kani."
"Das verstehe ich. Aber ich möchte bis zu unserem Zimmer mitkommen, wenn du erlaubst, Aerien. Ich werde euch dort natürlich ungestört sprechen lassen."
"Also gut. Machen wir uns auf den Weg. Weißt du noch, wo entlang die Prinzessin uns hier in diese Gärten geführt hat, und auf welchem Weg wir zurück zum Palast kommen?"
"Ich habe es mir gut eingeprägt. Hier entlang!"
Auf dem Rückweg zum Palast kamen sie erneut an dem östlich des großen Komplexes gelegenen Übungsplatz vorbei, auf dem noch immer ein reges Treiben herrschte. Aerien ließ nur kurz den Blick darüber schweifen und hielt in Gedanken fest, dass sie hier vielleicht später mit Narissa ein wenig die seit ihrer Reise nach Kerma wenig beanspruchten Muskeln verausgaben könnte. Wenn alles geklärt ist. Das wäre eine sehr schöne Beschäftigung. Hoffentlich schaffe ich es, ihr zu erklären was mit mir los ist...
Kani hingegen war ohne Vorwarnung stehen geblieben und Aerien prallte beinahe mit dem Mädchen zusammen. "Sieh nur, Aerien," sagte sie. "Das dort unten, in der Mitte des Platzes, das ist doch Narissa, oder? Jetzt müssen wir gar nicht bis zu ihrem Zimmer gehen, wie praktisch!"
Aerien sah genauer hin. Es war tatsächlich Narissa, die dort auf dem Sandboden des Platzes stand und eine Art Stangenwaffe in beiden Händen vor sich hielt, als würde sie üben, damit umzugehen. Aerien fragte sich gerade, wo Narissas geliebte Dolche waren, als sie den Mann erkannte, der hinter der Erbin des Turmes stand. Seine Brust berührte Narissas Rücken und seine Arme führten ihre Hände an den Griff der stabähnlichen Waffe. Der, der Narissa so in eine Art Umarmung geschlossen hatte, war niemand anderes als Gatisen, Prinz von Kerma.
Aeriens Herz setzte einen Schlag aus und ein schlimmer Fluch kam ihr über die Lippen: "Û-banâth kallabân khô," Seit ihrer Ankunft auf Tol Thelyn war ihr Adûnâisch nur noch selten über die Lippen gekommen, doch jetzt konnte sie nicht anders. Kein Satz in Westron oder Sindarin, den sie kannte, war stark genug dafür um auszudrücken, was in ihr vorging. Ich hätte es wissen müssen. Sie macht einfach weiter, ohne jegliche Zurückhaltung. Bestimmt liebt sie ihn. Bestimmt werden sie jetzt heiraten und sie bleibt für immer in Kerma! Oh, ihr Sterne...
Kani blickte sie mit einer Mischung aus Verwirrung und einem Anflug von Furcht an, denn sie hatte zwar die Worte, die Aerien von sich gegeben hatte, nicht verstanden, doch sie hatten böse genug geklungen, dass Kani sie gar nicht genau verstehen musste um die Bedeutung zu erahnen.
Narissa blickte auf und ihr Blick kreuzte Aeriens. Die Zeit schien in jenem Moment stillzustehen. In Narissas Miene las Aerien Kampfeslust, aber auch Verärgerung. Sie ertrug es nicht länger. "Ich... ich muss hier weg," stieß Aerien hervor und eilte davon, in Richtung des Palastes, und ließ Kani dort stehen.
Wie sie das geräumige Zimmer erreicht hatte, das man ihr und Kani zugewiesen hatte, wusste sie später nicht. Sie knallte die Tür hinter sich zu und warf sich auf das große Bett, das unter einem Fenster mit spitz zulaufendem oberen Rand stand. Sie war zu wütend um zu weinen, auch wenn ihre Augen wie Feuer brannten. In Aeriens Kopf herrschte Chaos. Ein Teil von ihr wusste, dass sie überreagierte und das, was sie auf dem Übungsplatz gesehen hatte, womöglich nicht das gewesen war, wonach es ausgehen hatte, doch ihr Herz war der Meinung, dass es zu viel Sinn ergeben hatte. Narissa und Gatisen hatten Freundschaft geschlossen. Eine Freundschaft, die womöglich schon bald zu etwas Größerem werden würde, wenn es nicht bereits soweit war.
Warum musstest du dich auch auf ihn einlassen, Narissa? Warum musstest du deiner Neugierde nachgeben? Wir... wir hätten gemeinsam mit ihm sprechen können, wenn du gefragt hättest. Hätten ihm von Anfang an klar machen können, wie es zwischen uns aussieht. Dass es keine Hochzeit geben wird. Er hätte das bestimmt verstanden. Aber du hast alleine mit ihm gesprochen und hast dich mit ihm angefreundet. Du musst doch auch wissen, wie Männer sind. Er wird es als Interesse deinerseits verstehen. Wie könnte er auch nicht? Du bist die schönste Frau, die ich kenne. Wer könnte dir widerstehen, wenn du ihm Interesse zeigst? Oh, bei allen verdammten sieben Sternen, Narissa...
Sie schlug voller Zorn auf das Kissen ein, das am Kopfende des Bettes lag, und es platzte mit einem leisen Geräusch auf. Daunenfedern stiegen in die Luft auf und rieselten sanft auf Aerien herab. Und da hielt sie inne. Atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Ich führe mich auf wie ein Kind, dachte sie beschämt. Was ist nur mit mir los? In Durthang war ich für meine Beherrschtheit bekannt und dafür, niemals ein Übermaß an Emotionen zu zeigen. Was ist nur mit mir geschehen? Ich darf nicht zulassen, dass mich solche Dinge so aus der Bahn werfen. Ich muss mich beruhigen.
Sie setzte sich aufrecht hin und machte eine Atemübung, die man ihr ganz zu Beginn ihrer Kampfesausbildung beigebracht hatte. Sie war eigentlich dafür vorgesehen, in Kampfpausen dafür zu sorgen, die Effekte von Kampfrausch zu lindern und den Kriegern wieder einen klaren Kopf zu verschaffen, doch Aerien stellte fest, dass die Atemübung auch in der Situation, in der sie sich gerade befand, wunderbar wirkte.
Als es einige Zeit später leise an der Tür klopfte, war sie bereit.
Sie hielt die Augen geschlossen und sagte: "Komm' rein." Ihr Tonfall war neutral; weder zornig noch herzlich. Sie würde mit Narissa sprechen und ihr endlich erklären, was los war. Und dann würde sie sehen, was Narissa daraus machen würde.
Die Türe ging mit einem leisen Geräusch auf und leichtfüßige Schritte kamen näher, bis an die Kante des Bettes. Aerien atmete tief durch und öffnete die Augen. Neben ihr stand Narissa, unbewaffnet und mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, den Aerien nicht deuten konnte. "Wir müssen reden," sagte sie und setzte sich neben Aerien.
Aerien spürte ihr Herz pochen. Erneut drohte Unsicherheit in ihr aufzusteigen und ihr die Worte im Hals festzuhalten, doch sie zwang sich dazu, die Ruhe zu bewahren. Sie gab sich einen Ruck und wandte Narissa das Gesicht zu. "Wirst du diesmal zuhören?" fragte sie und versuchte, keinen verärgerten Klang in ihre Stimme zu legen.
"Das werde ich. Du weißt hoffentlich, dass das da vorhin nicht das war, wonach es aussah, oder?"
"Ich weiß nicht, Narissa. Es sah für mich verdammt danach aus, als würden du und dieser Prinz Gatisen sich immer näher kommen."
"Aber nicht auf die Art und Weise, wie du denkst. Wie kannst du so etwas nur denken, Aerien? Ich dachte, du weißt, wie es in meinem Herzen aussieht."
"Das dachte ich auch. Aber es hat mich verletzt, dass du offenbar lieber Zeit mit ihm als mit mir verbracht hast."
Narissa gab ein leises Schnauben von sich. "Das... habe ich doch nur getan, um dich... ich habe es getan, damit du eifersüchtig bist."
"Das hat wunderbar funktioniert."
Eine Pause trat ein. Narissa drehte sich im Sitzen so, dass sie Aerien nun direkt gegenüber saß. Dann fuhr sie fort: "Du hast doch genau dasselbe mit Kani getan."
Aerien machte ein verständnisloses Gesicht. Kani? Wie bitte? "Wie meinst du das? Wir sind doch nur Freunde."
"Genau, nur Freunde - so wie ich und Gatisen," trumpfte Narissa auf. "Ich habe mich ursprünglich mit ihm unterhalten, weil ich neugierig war und wissen wollte, wen König Músab für mich oder dich ausgesucht hat. Und dann stellte ich fest, dass er eigentlich ganz nett ist. Er hat den einen oder anderen guten Witz gemacht und kann mit seiner merkwürdigen Waffe erstaunlich gut umgehen. Man nennt es eine "Zweililie", und es..."
"Wirklich? Nur Freundschaft, und nicht mehr?" unterbrach Aerien mit Dringlichkeit in ihrer Stimme.
"Natürlich. Denkst du wirklich, ich hätte vorgehabt, ihn zu heiraten?" Aerien sagte nichts, doch das schien Narissa als Antwort zu reichen. "Du hast es tatsächlich gedacht. Wirklich, Aerien, das hätte ich nicht von dir gedacht."
"Du hast nun einmal den Eindruck erweckt, dass du mehr als nur freundschaftliches Interesse an Gatisen hast," verteidigte Aerien sich.
"Aber so ist es nicht, Aerien. So ist es nicht," gab Narissa etwas ärgerlich zurück.
"Jedenfalls habe ich nicht vor, dich durch Kani zu ersetzen," erklärte Aerien rasch.
"Sie ist sowieso zu jung für dich," warf Narissa ein.
"Sie ist ein nettes Mädchen, aber du hattest recht: Hin und wieder redet sie zu viel."
"Und Gatisen ist hin und wieder zu sehr von sich selbst überzeugt. Ich hatte ihn in unserem Übungskampf fast gehabt, wenn er den Kampf nicht einfach abgebrochen hätte."
"Narissa... du willst ihn wirklich nicht heiraten oder?" Aerien musste sichergehen.
"Warum sollte ich ihn heraiten wollen, wenn ich dich schon habe?"
"Er ist klug und redegewandt..."
"Das bist du auch."
"Er sieht gut aus..."
"Du siehst besser aus. Viel besser."
"Er ist ein mächtiger Prinz aus einem Königshaus..."
"Ich will keinen Prinzen, sondern dich."
Aerien stellte fest, dass Narissas Gesicht verschwamm. Tränen füllten ihre Augen und sie presste ihr Gesicht an Narissas Schulter. Zwei Arme umschlossen Aerien und hielten sie, bis die Tränen der Erleichterung versiegt waren.
"Ich komme mir so dumm vor," sagte Aerien leise.
"Das waren wir beide," erwiderte Narissa. "Aber jetzt ist es vorbei."
Eandril:
Einige Augenblicke verharrte Narissa reglos, genoss den Moment. Sie hatte Aerien - ihre Aerien - zurück, und das war alles, was sie wollte. Sie strich Aerien mit der einen Hand sanft durch die schwarzen Haare, und hielt sie mit der anderen weiterhin fest an sich gedrückt. Narissa hatte gemeint, was sie gesagt hatte: Sie war dumm gewesen. Natürlich hatte Aerien Fehler gemacht, aber vieles hätte vermieden worden können, wenn Narissa nicht zu stolz gewesen wäre, um sofort mit ihr darüber zu sprechen. Erst jetzt wurde ihr wirklich klar, wie sehr sie es vermisst hatte, offen mit Aerien zu sprechen.
Schließlich löste Aerien den Kopf von ihrer Schulter, und blickte Narissa ins Gesicht. Die Tränen hatten sichtbare Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen, doch sie lächelte, und Narissa erwiderte das Lächeln freudig und erleichtert.
"Es tut mir wirklich leid", sagte sie. Dabei berührte sie leicht Aeriens Knie, und strich mit zwei Fingern langsam und sacht das Bein hinauf. "Ich hätte viel früher mit dir sprechen sollen... Ich finde, ich sollte es wieder gut machen." Ihre Finger erreichten Aeriens Hüfte und wanderten dann den Gürtel entlang. Als sie auf Höhe des Bauchnabels angelangt waren, legte Aerien ihre Hand auf Narissas, hielt sie fest und blickte ihr ins Gesicht. "Wirklich? Jetzt, und... hier?"
"Ich habe dich vermisst, das hier vermisst..." Narissa sprach leise, flüsterte beinahe, und blickte Aerien in die wundervollen silbernen Augen. "Es ist lange her, weiß du?"
"Ebenso gut wie du", erwiderte Aerien, und Narissa glaubte, ein wenig Atemlosigkeit aus ihrer Stimme herauszuhören. "Aber glaubst du wirklich, dass..." Narissa schnitt ihr das Wort ab, indem sie Aeriens Kopf zu sich heranzog und sie heftig küsste. Es war ihr egal, was klug oder vernünftig war, im Augenblick wollte sie nur eines - und das war Aerien.
Zu ihrer Erleichterung wehrte Aerien sich nicht, sondern erwiderte den Kuss, zuerst zaghaft und dann immer heftiger. Sanft befreite Narissa ihre Finger aus Aeriens Griff, doch im selben Augenblick fuhren sie auseinander, als die Tür des Raumes mit einem Knarren aufschwang, und eine männliche Stimme fragte: "Narissa, bist du hier..."
Narissa spürte, wie sich ihr Bauch zusammenkrampfte, als sie Gatisen in der Tür stehen sah, im Gesicht ein beinahe komischer Ausdruck der Überraschung. Die Situation über die er gestolpert war, war immerhin alles andere als uneindeutig gewesen. Ein Blick in Aeriens blass gewordenes Gesicht verriet Narissa, dass ihre Freundin kurz davor war, aufzuspringen und wegzulaufen - immerhin war genau das eingetreten, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Narissa hatte allerdings andere Vorstellungen.
Sie räusperte sich ein wenig verlegen, und sagte: "Nun... da du schon einmal hier bist, kannst du dich auch setzen." Sie deutete mit der linken Hand auf einen hölzernen Stuhl, der dem Bett gegenüber stand, und schob die Finger der anderen Hand unauffällig zwischen Aeriens Finger. Gatisen ging mit langsamen Schritten durch den Raum, setzte sich und betrachtete die beiden für einen Augenblick schweigend. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die dunklen Haare, und sagte: "Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht überrascht wäre."
"Das bedeutet wohl, dass wir bislang gute Arbeit geleistet haben", meinte Narissa leichthin, in einem vorerst vergeblichen Versuch, die Stimmung zu heben. Aerien war noch immer blass vor Schreck, rührte sich nicht, und sagte auch kein Wort.
"Allerdings", erwiderte Gatisen schwach. "Ich hätte nicht gedacht, dass... wieso..."
"Du meinst, wieso wir uns lieben? Zwei Frauen?", fragte Narissa herausfordernd, und Gatisen zeigte eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln. "Nein, das wollte ich nicht..."
"Nun, es könnte etwas mit ihrem unvergleichlich guten Aussehen und noch wundervollerem Charakter zu tun haben", unterbrach Narissa ihn kurzerhand, und deutete dabei mit einer knappen Kopfbewegung auf Aerien, die sich endlich ein wenig entspannte. "Warum sie es allerdings mit mir aushält..." Narissa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenigstens vor Gatisen musste sie das Versteckspiel und die Geheimnisse nicht länger aufrecht erhalten, und das war eine Erleichterung. "Keine Ahnung, das musst du sie fragen."
"Und so viel Zeit haben wir nicht, dass ich das alles erzählen könnte", sagte Aerien, und warf Narissa dabei einen zärtlichen Seitenblick zu, bei dem Narissa sie am liebsten erneut gepackt und geküsst hätte. "Manchmal weiß ich es allerdings selbst nicht..."
"Ich habe bereits gehört, dass die Liebe viele Formen annehmen kann, aber..." Gatisen brach ab, und schüttelte den Kopf. "Was soll's. Immerhin verstehe ich jetzt, warum Narissa so vehement abgelehnt hat, mich zu heiraten... wäre ich an ihrer Stelle, würde ich vermutlich genauso handeln." Er deutete eine Verbeugung in Richtung Aerien an, die zu Narissas Überraschung beinahe unmerklich errötete.
"Schmeichler...", sagte Narissa leise vor sich hin, und dann lauter: "Also, was wirst du tun, Prinz Gatisen? Wirst du uns an deinen Onkel verraten, oder unser Geheimnis wahren?"
"Ich bin mir sicher, Músab würde Verständnis haben", erwiderte Gatisen. "Und es würde erklären, warum du eine Verlobung ablehnst. Dann hätte er keinen Grund, deswegen gekränkt zu sein."
"Es wäre mir trotzdem lieber, wenn sich die Geschichte nicht noch weiter verbreitet." Aerien schien ihr Selbstbewusstsein vollends zurück gewonnen zu haben, und blickte Gatisen offen ins Gesicht. "Immerhin ist das unsere eigene Angelegenheit."
Gatisen seufzte. "Ich fürchte, die Privatangelegenheiten von Prinzen und Prinzessinen - wenn man so will, gehört Narissa dazu - sind nie wirklich allein ihre eigene Angelegenheit. Aber wenn ihr mich darum bittet, werde ich meinem Onkel nicht von selbst davon erzählen. Allerdings... wenn er mich danach fragt, werde ich ihn nicht anlügen. Immerhin ist er nicht nur mein Onkel, sondern auch der König von Kerma."
Aerien nickte anerkennend, und Narissa war froh, dass sie damit zufrieden war. Wenn es nach ihr ging, konnte die ganze Welt über sie und Aerien Bescheid wissen, doch sie würde Aeriens Wunsch auf jeden Fall respektieren.
"Ich will nicht unhöflich sein...", begann sie. "Aber da das nun geklärt ist, würdest du uns vielleicht allein lassen? Wir hatten einiges zu... besprechen, bevor du uns unterbrochen hast."
Gatisen errötete, und sprang von seinem Stuhl auf. "Oh, natürlich. Ich, äh... werde dafür sorgen, dass euch niemand belästigt." Er wandte sich ab und eilte zur Tür, und Narissa wartete ungeduldig, bis er sie von außen geschlossen hatte.
Fine:
Sie verbrachten den Abend mit einer Beschäftigung, die Narissa später als "Wiedergutmachung" bezeichnete. Aerien konnte ihr in dieser Hinsicht nur zustimmen, jedoch nicht ohne jedes Mal ein klein wenig zu erröten. Und sie genoss jeden einzelnen Augenblick. Doch je später es wurde, desto mehr stellte Aerien fest, dass sie einen langen Tag hinter sich hatte. Die Reise zur Hauptstadt Kermas war zwar zum Großteil ereignislos, aber dennoch durchaus anstrengend gewesen. Und jetzt, wo der emotionale Druck von ihr genommen worden war, der sich durch ihr Zerwürfnis mit Narissa aufgebaut hatte, fühlte sie sich müde und ausgelaugt.
Ohne miteinander darüber zu sprechen hatten Narissa und Aerien sich darauf verständigt, dass sie ab sofort im selben Zimmer schlafen würden. Und so lagen sie spät abends nebeneinander und betrachteten die Sterne, die durch das hohe, große Fenster neben ihnen herein schienen.
"Unsere Vorfahren haben sich auf See am selben Licht orientiert, das jetzt auf uns herab leuchtet," meinte Aerien leise und mit Verzückung in der Stimme.
"Und auch heute noch folgen die Erben Númenors den Sternen, wenn sie die Wasser Belegaers überqueren, so wie es Serelloth gerade tut," ergänzte Narissa etwas pragmatischer.
"Glaubst du, sie ist bereits in Gondor angekommen?"
"Bestimmt. Das Schiff, mit dem sie die Insel verlassen hat, sah wirklich schnell aus."
"Ich mache mir Sorgen, Narissa."
"Ta-er as-Safar ist bei ihr. Sie ist in Sicherheit."
"Hoffen wir es..."
Narissa drehte sich auf die Seite, sodass sie Aerien den Kopf zuwandte. "Du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, wie für uns der nächste Schritt aussieht. Wir haben noch immer das Problem, dass König Músab mich oder dich mit einem seiner Prinzen verheiraten will."
"Hmm," machte Aerien nachdenklich. "Vielleicht sollten wir darüber mit seiner Tochter Asáta sprechen. Sie scheint, nach allem was ich gehört habe, einen gewissen Einfluss auf ihren Vater zu haben. Vielleicht kann sie ihn umstimmen."
"Das wäre eine Möglichkeit. Am besten sprechen wir gleich morgen mit ihr."
Sie fanden Prinzessin Asáta am Haupteingang des Palastes, wo sie die täglichen Lieferungen an Nahrungsmitteln und Proviant beaufsichtigte und den Palastbediensteten ihre Anweisungen für den Tag erteilte. Narissa und Aerien warteten geduldig ab - in Narissas Fall etwas weniger geduldig als in Aeriens - bis Asáta sich ihnen zuwandte, und erklärten ihr die Angelegenheit rundheraus, ohne ein Detail zu verschweigen. Nach langer Überzeugungsarbeit vonseiten Narissas war Aerien schließlich dazu bereit gewesen, vor Asáta die Karten offen zu legen und ihr von der Beziehung zu erzählen, die sie führten, und die einer der wichtigsten Gründe dafür war, dass Narissa und Aerien nicht zu einer Vermählung mit einem der Prinzen Kermas bereit waren.
Asáta schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, sondern nickte nur wissend, als die Mädchen ihr alles erzählten. "Ich dachte es mir bereits," gab sie zu nachdem Narissa sie zu Wort kommen gelassen hatte. "Wer Augen hat, der kann viel in den Blicken lesen, die ihr einander zuwerft. Vor allem jetzt, da ihr euren Streit überwunden habt, was mich sehr für euch beide freut. Ich kann als Prinzessin der Krone Kermas und des ehrwürdigen Hauses von Anlamani nur allzu gut verstehen, dass ihr euch ungerne für einen politischen Vorteil verheiraten lassen wollt. Immerhin müsstest ihr dann womöglich den Rest eures Lebens mit einem Mann verbringen, den ihr nicht liebt. Mein Vater würde mir zwar niemals so ein Schicksal zumuten - er hat dies oft genug betont - doch ich weiß, dass Bündnisheiraten gerade hier im Süden Mittelerdes keine Seltenheit sind und dass viele meiner Vorfahrinnen in Anlamanis Haus einheirateten, um ein Bündnis mit Kerma zu besiegeln."
"Also verstehst du, weshalb wir die Bedinungen deines Vaters nicht annehmen können?" hakte Aerien nach.
Erneut nickte Asáta. Ihre Miene nahm einen betroffenen Ausdruck an. "Ich fürchte jedoch, dass mein Vater darauf bestehen wird, oder zumindest eine gleichwertige Entschädigung als Bedingung für ein Bündnis mit den Bewohnern von Tol Thelyn einfordern wird. Ich verstehe also euer Problem, sehe aber im Augenblick keine Möglichkeit, euch zu helfen."
Sie bedankten sich und überließen die Prinzessin wieder ihren Aufgaben.
Am Mittag schlossen sie sich Kani an, denn nach dem Misserfolg des Vormittags hatte Narissa eine unterhaltsame Ablenkung von ihren Problemen vorgeschlagen. Und so zogen sie zu dritt los und ließen sich von Kani alle für sie interessanten Orte im Palast zeigen und hörten vielerlei Geschichten, die Kani schier unermüdlich wiedergeben konnte. Aerien stellte erfreut fest, dass Narissas Abneigung gegenüber dem kermischen Mädchen nun deutlich geschwunden war und sie gut miteinander auskamen, seitdem der Streit beigelegt worden war. Und so verstrich der Nachmittag ihres zweiten Tages in der Hauptstadt von Kerma so rasch, wie die Worte aus Kanis Mund purzelten.
Als Aerien Kani schließlich davon erzählte, was Asáta zu ihnen gesagt hatte, verfiel das Mädchen für mehrere Minuten in ein für sie sehr untypisches Schweigen, während sie durch die langen Korridore des Palastes streiften. Schließlich blieb Kani ohne Vorwarnung stehen und schlug die Hände zusammen. "Ich habe eine Idee!" rief sie aus und zeigte ein fröhliches Lächeln. "Kommt mit!" Und voller Energie lief sie mit federndem Gang davon.
Kurze Zeit später erreichten die drei jungen Frauen einen etwas kleineren Raum, der offenbar als Bibliothek diente. Große Regale und Schränke voller Bücher und Schrifrollen standen an allen vier Wänden und verliehen diesem Ort eine geheimnisvolle Aura von Wissen und Geschichten. Kani eilte zielstrebig hindurch und blieb vor einem Podest stehen, auf dem ein in der Mitte aufgeschlagenes Buch aufgebahrt war. Auf der linken Seite waren Schriftzeichen zu sehen, die weder Aerien noch Narissa lesen konnten, und auf der rechten Seite war eine kunstvolle Zeichnung, die die ganze Seite ausfüllte. Sie zeigte einen spitz zulaufenden Keil, der an eine Speerspitze oder einen nur aus einer Klinge bestehenden Dolch erinnerte.
"Der Zahn von Arkhasias, dem Schwarzdrachen," sagte Kani ehrfürchtig. "Anlamani selbst entriss dem Maul der erschlagenen Bestie diese Trophäe, und formte daraus das Königssymbol von Kerma. Es ging schon vor vielen, vielen Jahren verloren."
"Warum zeigst du uns das, Kani?" fragte Narissa neugierig. Ihre Hand fuhr über die Zeichnung, als wolle sie den Griff des Dolches packen.
"Das hier könnte der Ausweg sein, den ihr sucht," erklärte Kani.
"Wie meinst du das? Ich verstehe nicht," sagte Aerien. "Was hat dieses uralte Artefakt mit dem Bündnis zu tun, das wir mit Kerma schließen sollen?"
"Wer auch immer das Königssymbol besitzt, wird als rechtmäßiger König Kermas angesehen," sagte Kani. "Die Krone wird bedroht, wie ihr vielleicht schon gehört habt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es erneut einen Krieg um den Thron geben wird. Besäße König Músab das Königssymbol, wäre sein Anspruch unangefochten. Wenn ihr also..."
"Wenn wir es ihm beschaffen, steht er tief in unserer Schuld," schlussfolgerte Narissa.
"Ganz genau," bestätigte Kani.
"Und er lässt diesen Unsinn mit der Vermählung fallen," fügte Narissa mit einem entschlossenen Lächeln hinzu.
"Davon gehe ich aus."
"Kani, du hast uns wirklich sehr geholfen," sagte Aerien voller Wärme. "Jetzt wollen wir doch mal sehen, was die Prinzessin dazu sagt."
Sie sprachen mit Asáta während einem gemeinsamen Abendessen darüber und stellten fest, dass die Tochter Músabs ihr Meinung teilte.
"Das Königssymbol wird schwer zu finden sein, doch wenn ihr es wirklich schafft, wird euch der ewige Dank meines Vaters sicher sein."
"Wir schaffen es," sagte Narissa. "Das habe ich gerade eben beschlossen."
Aerien lachte und sagte: "Ja, wir werden das Symbol finden und Kerma vor dem Krieg retten!"
"Gebt mir ein paar Tage Zeit, um mit meinem Vater darüber zu sprechen und alle Anhaltspunkte zusammenzusuchen, die ich über den Verbleib des Symbols finden kann," meinte Asáta. "Schon viele haben versucht, das verschollene Relikt Anlamanis aufzuspüren, doch keiner von ihnen hatte Erfolg. Ihr müsst wissen, dass ihr euch womöglich in große Gefahr begebt."
"Uns schreckt keine Gefahr," winkte Narissa selbstsicher ab. "Du wirst es schon sehen."
"Daran zweifle ich nicht. Ich hoffe, dass ihr Erfolg habt."
Als die Sonne untergegangen war und Narissa bereits eingeschlafen war, stand Aerien leise noch einmal vom Bett auf. Irgendetwas hielt sie vom Einschlafen ab, doch sie wusste nicht, worum es sich dabei handelte. Eine innere Unruhe trieb sie dazu, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Und so machte sie einen kleinen Spaziergang zu einem der Balkone, die oberhalb des großen Hauptportals des Palastes thronten. Dort stand sie, und betrachtete die trotz der fortgeschrittenen Stunde hell erleuchtete Stadt unter ihr. Einige Minuten lang starrte sie ohne klare Gedanken vor sich hin, doch dann hielt sie inne. Eine Bewegung auf den großen Stufen vor dem Palast hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Zuerst sah sie nur einen dunklen Fleck, der von den Lampen und den Fackeln der vielen Palastwächter nicht erhellt wurde, doch dann nahm dieser die Form einer menschlichen Gestalt an, die die Stufen hinauf stieg und auf dem Weg zum Eingang war. Genauer gesagt waren es zwei Menschen, die dort heran kamen, denn der Schatten zerrte einen Gefangenen hinter sich her. Aerien sah genauer hin, als beide näher kamen und konnte den Blick kaum noch abwenden. Zwei Gardisten folgten dem Mann in kurzem Abstand, die Waffen griffbereit, schienen ihn jedoch nicht angreifen zu wollen. Als die düstere Gestalt schließlich am Eingang angekommen war und sich leise mit den Wachen unterhielt, erkannte sie ihn schließlich. Zwar trug der Mann einen gewöhnlichen braunen Reiseumhang, wie ihn viele Wanderer im Süden trugen, doch darunter war eine dunkle Rüstung zu sehen, die im Licht der Fackeln unheilvoll schimmerte. Unverkennbar war der Helm, den der Schatten trug, aus schwarzem Stahl und mit einem Helmbusch versehen. Es war einer der Gardisten von Durthang, Aeriens ehemaliger Heimat. Ihr wurde eiskalt ums Herz. Es konnte keinen Zweifel geben: Einer der treusten Diener ihres Vaters hatte sie aufgespürt.
Ihre Vergangenheit hatte Aerien erneut eingeholt.
Melkor.:
"Wenn die Berichte wirklich stimmen, hat Kashta die Unterstützung der Banu Kashraj und Ashja auf seiner Seite. Zudem versammelt sich ein Heer in jenen Ländern. Der genaue Angriffspunkt ist uns noch unbekannt." berichtete Aspelta, der den genauen Bericht seines Spiones in der Hand hielt.
"Die Aktivitäten der Piraten im Kermischen Golf haben stark zugenommen, immer mehr unserer Handelsschiffe werden überfallen." sagte Alára, der mit seinem Bruder soeben das Zimmer betreten hatte. Mit einem Handzeichen schickte er die vier Leibwächter die im Raum standen heraus. Seitdem die alte Kandake, die Königsmutter ermordet worden war, hatte Alára die Wachen in und um den Palast verstärken lassen. Nachdem noch einige Pläne geschmiedet wurden wechselte Músab das Thema.
Das Krönungfest, das größte Fest Kermas, stand kurz bevor. Jenes Fest begann am selbenn Tag, an dem Anlamani zurück nach Toba gekommen war und dort zum Hochkönig Kushs gekrönt worden war. Das Fest an sich erstreckte sich über mehrere Tage. Dieses Jahr war ein besonderes Jahr, denn unter Kashta wurde die Verehrung Anlamanis durch Saurons Gesetze verboten und somit wurden auch die Krönungsfeste verboten. Zudem war das Fest dieses Jahr ein Jubiläumsfest. Unter Músab jedoch sollte die Verehrung Anlamanis als Gott wieder erlaubt werden.
Nachdem auch dieser Punkt abgehakt worden war, sprach Músab noch einige etwas weniger wichtigen Punkte an und beendete die Versammlung.
Am nächsten Mittag ging Músab mit Alára trainieren. Beide wollten an den Krönungsfestkämpfen teilnehmen. Es war keine Tradition dass der amtierende König an jenen Kämpfen teilnahm. Dennoch hatte bereits König Aburni, der Vater von Músabs Urgroßvaters, an den Kämpfen teilgenommen, obwohl er dort nur eine mäßig gute Platzierung erreicht hatte. Dies war eine Geste des Respekts von König zu Untertan und andersherum, wenn beide in gleichen Bedingungen um den Sieg kämpften.
Die Krönungsfestkämpfe hatten keine Regeln, dennoch war der Ehrenkodex eines kermischen Soldaten einzuhalten. So wurde es als ehrlos angesehen sich durch berauschende Mittel oder Verborgenheit einen unfairen Vorteil zu verschaffen. Dies wurde nicht immer eingehalten, aber so fiel jeder Kämpfer der sich übervorteilte in Ungnade unter der Bevölkerung.
Sie wählten einen der sandigen Übungsplätze im großen Hof. Die Sonne hatte bereits seit einiger Zeit ihren Zenit erreicht. Dennoch ging ein leichter, kühlender Wind. Músab griff wie gewohnt zu seinen beiden aus kermischen Stahl geschmiedeten Schwertern, Alára griff zu einer Zweililie. Er war bei weitem nicht so gut wie sein Sohn im Umgang mit dieser Waffe, jedoch hatte er bereits einige Erfahrung damit. Músab versuchte möglichst defensiv zu kämpfen, seine Kräfte für später zu sparen. Alára holte zum ersten Schlag aus, den Músab mit Leichtigkeit parieren konnte. Schnell folgten jedoch andere, die er immer noch parieren konnte, ihn jedoch schon zum Schwitzen brachten. Aláras wilde Schläge hielten einen kurzen Moment ein und Músab nutze die Chance; blitzschnell schlug er das linke Schwert auf die Klinge seines Gegners, während er das Rechte gegen seine Schulter schlagen wollte. Alára parierte den Hieb auf die Klinge, gab jedoch somit die Deckung seines Oberkörpers auf und das musste dort einen Treffer kassieren. Beide waren so auf dem Kampf konzentriert, dass sie nicht bemerkten, dass ihre Söhne sie schon länger beobachteten. Erst als Músab schließlich die Zweililie aus der Hand Aláras schlagen konnte und der Kampf endete, bemerkten die Brüder ihre Söhne.
"Ich fordere eine Revanche." sprach Alára, "Vater und Sohn gegen Vater und Sohn." Die Prinzen schauten sich verwundert an, hoben kurz ihre Schultern und gingen dann zur Waffenkammer. Músabs Sohn Tamal war ein begabter Schütze, jedoch eher ein mäßiger Schwertkämpfer. Er trainierte oft mit seinem Vetter und konnte schließlich gut mit dem Kampfstab umgehen. Nachdem Alára die Zweililie an Gatisen abgegeben hatte und seinen Zweihänder geholt hatte begann der Kampf. Sie übten mehrere Stunden lang. Músab wahr erleichtert, dass seine beiden Söhne die Verwaltung Kermas mit größter Sorgfalt nachkamen und er sich für die Trainigskämpfe vorbereiten konnte.
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