Milva und Salia von den Straßen GorthariasCyneric vom HafenTeressa führte sie den gleichen Weg wie Ryltha beim letzten Mal - zumindest glaubte Milva das. Sie hatte ihre Orientierung bereits bei der ersten Abzweigung, die sie genommen hatten, verloren, und würde alleine vermutlich nie wieder zurück ans Tageslicht finden.
Ganz gleich, welchen Weg Teressa sie führte, schließlich erreichten sie die in den felsigen Untergund gehauene Wendeltreppe, die Milva wiedererkannte. Teressa bog jedoch nicht wie Ryltha zuvor in den Raum zur Linken der Treppe ab, sondern begann die engen Windungen der Treppe hinunterzusteigen. Milva folgte ihr vorsichtig, und am unteren Ende traten sie in einen dunklen Gang, der nur von Teressas Fackel erhellt wurde. Die Luft war kühl und ein wenig feucht, als würde sie aus noch viel tieferen Gebieten kommen, und ein kalter Luftzug ließ die Fackel flackern.
Am Ende des Ganges konnte Milva ein schwaches Licht sehen, und als sie näher kamen, verschwanden plötzlich die Wände zu beiden Seiten. Sie trat hinaus in eine Grotte, deren Decke nicht zu sehen war - sie mussten tief unter der Stadt sein, noch tiefer, als Milva angenommen hatte. Sie schauderte bei dem Gedanken an die Massen an Stein und Erde über ihrem Kopf. Was, wenn die Decke nicht hielt? Sie würde hier lebendig begraben werden, oder, wenn sie Glück hatte, sofort erschlagen werden... Sie atmete tief durch, versuchte die Gedanken zu verscheuchen und sah sich stattdessen um, während sie Teressa weiter folgte.
In der Mitte der Grotte standen vier mächtige, offenbar direkt aus dem Stein geschlagene Säulen, an denen jeweils eine Laterne hing. Diese waren das Licht, dass Milva bereits aus dem Tunnel gesehen hatte.
Die Säulen waren im Kreis um ein rechteckiges Wasserbecken angeordnet, dass das Licht der Laternen und von Teressas Fackel glitzernd zurückwarf. Obwohl auch hier der kühle Luftzug wie in dem Gang zu spüren war, zeigte sich auf der Wasseroberfläche nicht die geringste Regung. Teressa legte ihre Fackel zu Füßen der nächsten Säule ab, ging um das Becken herum und gesellte sich zu den beiden anderen Gestalten, die Milva dort gegenüber standen. In der Mitte stand Ryltha, in einen schwarzen Umhang mit Kapuze gehüllt, ebenso wie Teressa links und eine Milva unbekannte Frau rechts von ihr.
Ein wenig abseits im Hintergrund entdeckte Milva Cyneric, der sich offensichtlich unwohl fühlte und dem Wasserbecken hin und wieder beinahe sehnsüchtige Blicke zuwarf.
"Willkommen, Milva", sagte die Frau zur rechten, und ihre Stimme hallte leise in der Höhle wieder. "Ich bin Morrandir von den Schattenläufern."
Milva, die ihnen gegenüber auf der anderen Seite des Beckens stehen geblieben war, nickte nur und wartete ab.
"Du hast die Aufgabe, die wir dir gestern gestellt haben, erfüllt", fuhr jetzt Ryltha fort. "Und du sollst deine Belohnung erhalten."
"Mir würde es reichen, wenn ihr mir eine Frage beantwortet: Wen habe ich gestern Nacht getötet?", fragte Milva, und die Schattenläufer wechselten rasche Blicke.
"Wozu willst du es wissen?", fragte Ryltha. "Du hast gezeigt, dass du in der Lage bist, unsere Aufträge ohne Fragen auszuführen - warum also jetzt? Lass mich dir verraten, dass es besser für dich ist, wenn du es nicht weißt."
"Das ist mir egal", gab Milva zurück, und versuchte Rylthas Blick so fest wie möglich zu erwidern. "Antwortet mir."
Ryltha seufzte. "Also schön. Der Mann, den du getötet hast, hieß Varan. Er war ein reicher Bürger, der für seine flammenden Reden gegen König Goran, Mordor und den Krieg bekannt war." Milva benötigte einen Augenblick, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann fragte sie ungläubig: "Also war er ein Feind des Königs - warum musste er dann sterben? Er hätte euer Verbündeter sein können!"
"Das war er - mit seinem Tod", erwiderte Morrandir ruhig. Ein Stück hinter Teressa regte Cyneric sich unbehaglich, und auch auf seinem Gesicht malte sich Unglauben. Offenbar hatte der Mann aus Rohan ebenso wenig davon gewusst wie Milva. "Der Pfeil, mit dem du ihn getötet hast, war einer von der Art, wie ihn die Attentäter des Königs benutzen", erklärte Morrandir weiter. "Nach dem angeblichen Anschlag auf Goran wirkt Varans Tod wie ein Gegenschlag des Königs und Zeichen seines Verfolgungswahns. Im Tod könnte Varan mehr dazu beitragen, dass sich mehr Leute gegen den König stellen, als im Leben."
Milva atmete tief durch, denn in diesem Moment wurde ihr zum ersten Mal klar, wie skrupellos diese Leute wirklich waren. Sie würden auch nicht zögern, sie selbst zu opfern um einen Vorteil zu erlangen - also würde sie sehr vorsichtig sein müssen. "Oder sein Tod schüchtert die Leute ein, und sie trauen sich nicht länger, etwas gegen die Macht des Königs zu unternehmen", sagte sie leise, und erntete einen kühlen Blick von Ryltha. "Dieses Risiko ist uns bewusst, und wir gehen es wissentlich ein. Also, wirst du deinen Lohn annehmen und in den Brunnen Anntírad schauen?"
Der Name löste irgendetwas in Milva aus, doch sie war sich nicht sicher, was.
"Was ist er?", fragte sie. "Und was werde ich sehen?"
"Viele Fragen auf einmal", sagte Morrandir ohne die Spur eines Lächelns. "Er ist uralt, älter als die Schattenläufer selbst. Die ersten von uns fanden ihn bereits hier, bevor Gortharia existierte. Er ist die Quelle unseres Wissens über die Geschehnisse in Mittelerde, selbst solche, die weit von hier stattfinden. Und was du sehen wirst, kann niemand vorhersagen. Aber du kannst ihn ein wenig lenken, wenn du die auf das konzentrierst, was auch immer du sehen willst."
"Wirst du hineinsehen?", fragte Ryltha, und nach kurzem Zögern nickte Milva.
Ryltha zog ein Fläschchen mit einer silbrig glänzenden Flüssigkeit aus dem Ärmel, öffnete sie und goss den Inhalt in den Brunnen. Sofort nahm das dunkle Wasser einen silbrigen Schimmer an, und Ryltha machte eine einladende Geste, und sagte: "Sie hinein. Konzentriere dich auf das, was du sehen möchtest, sonst weiß niemand, was du vielleicht sehen musst. Und gib acht", fügte sie mit einem merkwürdigen Lächeln hinzu. "Der Brunnen ist sehr tief, also fall nicht hinein."
Milva ging langsam am Rand des Brunnes auf die Knie, und blickte auf das schimmernde Wasser des Brunnens.
Dorwinion, dachte sie.
Zuhause.Sieben helle Lichtpunkte erschienen auf dem dunklen Wasser, und verschwanden einer nach dem anderen wieder. Nur der letzte blieb übrig, und wurde größer und größer, bis er die ganze Wasseroberfläche bedeckte. Dann erschien das Bild eines Flusses, der durch eine hüglige Landschaft floss. Das Bild wanderte den Fluss hinauf, und bis zu dem Dorf, das Milva sofort wiedererkannte. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht, bis ihr Vater gestorben war.
Auf dem Wasser erschien eine bescheidene Hütte, mit einem kleinen Grasflecken dahinter, umgeben von den Bäumen am Rand des Dorfes.
Ein kleines Mädchen in einem hellen Kleid hatte einen Bogen in der Hand und zielte angestrengt auf eine Zielscheibe am anderen Ende der Lichtung. Der Pfeil flog, ein ganzes Stück am Ziel vorbei und verschwand zwischen den Bäumen. Das Mädchen stieß einen Laut der Enttäuschung und der Frustration aus. "Ooch... ich werd's nie können."
"Du darfst beim Zielen nicht den Atem anhalten", sagte ein Mann, der neben dem Mädchen an einen wackligen Zaun gelehnt auf dem Boden saß.
"Aber wenn ich weiteratme, kann ich nicht richtig zielen!"
"Doch, du kannst. Versuch es noch mal, Maya." Milvas Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie beobachtete, die das Mädchen - sie - einen zweiten Pfeil auf die Sehne legte, zielte und schoss. Diesmal traf der Pfeil, zwar nicht die Mitte der Zielscheibe aber immerhin.
"Sehr gut, Mädchen. Sehr gut." "Haaa! Ich kann es, siehst du, Vater?"
"Ich sehe es..." Der Mann begann schrecklich zu husten, und als er aufhörte, war sein Ärmel rot gefleckt. "Ich hab dich sehr lieb, meine Kleine."
Eine einzelne Träne fiel auf das Wasser des Brunnens, und das Bild veränderte sich. Ein Strick wurde über einen kräftigen Ast gelegt. "Na los, hoch mit ihr", brummte eine Stimme.
Pfeile flogen, und schlugen in Körper ein. Ein schlaffer Körper mit einer Schlinge um den Hals fiel zu Boden.
Wieder wechselte das Bild. Eine große Frau mit langen, silbernen Haaren saß unter mächtigen Bäumen, vor einer Becken, das mit dunklem Wasser gefüllt war.
Die Herrin der Quelle, dachte Milva, und im nächsten Augenblick wandte die Herrin ihr den Kopf zu und
sah sie.
Milva, erklang die bekannte Stimme in ihrem Kopf.
Wie hast du meinen Brunnen gefunden?Ich... euren Brunnen? Und wie könnt ihr überhaupt...?, dachte Milva verwirrt, und etwas wie ein verhaltenes Lachen ertönte in ihrem Kopf. Die silbrigen Augen der Herrin schienen sich geradezu in die ihren zu bohren.
Der Brunnen Anntírand und meine Quelle hier sind verbunden, denn sie sind beide gewissermaßen ein Teil von mir. Den Brunnen erschuf ich in uralter Vorzeit, als ein älterer Schatten als heute über der Welt lag.Bilder blitzten auf, von einem gewaltigen schwarzen Gebirge mit einer riesigen Festung darunter, ein Heer mit blitzenden Schwertern, dass gegen eine schwarze Armee in die Schlacht zog, und ein Elb mit wunderschöner Gestalt und einem weisen, gütigen Gesicht, bei dessen Anblick Milva ein entsetzlicher, unerklärlicher Schrecken überkam.
Die Bilder verschwanden, und die Herrin der Quelle kehrte zurück.
Ich kenne die, die meinen Brunnen jetzt benutzen - auch wenn sie kaum wissen, was sie tun. Sie gehen auf dem falschen Weg, und sie verwechseln Himmel mit den Sternen, die sich auf einem Teich spiegeln, erklang ihre Stimme wieder.
Ich weiß nun, was dich hierher gebracht hat, und was du tun wirst. Ich werde Baldr sagen, was mit seinem Vater geschehen ist.Wie konntet ihr..., dachte Milva, doch die Herrin unterbrach ihre Gedanken.
Während du meine Gedanken gesehen hast, sah ich deine. Und ja, Baldr ist der Sohn und Erbe des Königs von Thal, wie du insgeheim bereits vermutet hast.Erneut flackerten Bilder über die dunkle Wasseroberfläche, von einer brennenden Stadt unter einem mächtigen Berg, über dem ein geflügelter Schatten kreiste.
Tu, was du tun musst, Weihe, erklang noch einmal die Stimme der Herrin.
Doch bedenke, dass unser Schicksal uns alle einholt.Ein gedrungener Mann mit gelblicher Haut und einer Krone auf dem Kopf stand einem alten Mann in blauen Gewändern gegenüber.
Ein Wolf lief auf zwei Beinen durch die Stadt, doch es war nur eine Maske, die er trug. Als er die Maske abnahm, sah Milva ein Gesicht, dass ihr entfernt bekannt vor kam, doch sie wusste nicht, woher.
Ein Schatten mit zwei mächtigen Flügeln zog über Gortharia hinweg.
Du musst nun gehen, denn deine Kraft schwindet - und meine auch.Eine Rose mit schwarzen Blüten, die sich an einer Säule vor einem brennenden Palast emporrankte.
Ein blondes Mädchen in einem roten Kleid rannte durch ein brennendes Dorf.
Reiter galoppierten durch eine Wüste aus gelbem Sand.
Und schließlich das Bild, von dem Milva in ihrer ersten Nacht im Sternenwald geträumt hatte, vor so langer Zeit. Ein Dolch in der Nacht, von dem Blut tropfte.
Sie spürte sich fallen, und im nächsten Augenblick lag sie neben dem Brunnen auf dem Rücken. Cyneric und Teressa knieten neben ihr. Cyneric stützte ihren Oberkörper, der ansonsten wohl auf dem kalten Steinboden aufgeschlagen wäre.
Milva blinzelte verwirrt. Für einen Augenblick glaubte sie, zwei formlose Schatten hinter Teressa gesehen zu haben, doch dort standen nur Ryltha und Morrandir und blickten auf sie hinab. Ryltha mit einer Spur von Besorgnis, Morrandir nur mit kühlem Interesse.
"Ich... habe mit ihr gesprochen", brachte Milva leise heraus, und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
"Mit wem hast du gesprochen?", fragte Teressa sanft.
"Mit... der Herrin. Der Herrin der Quelle. Sie lebt im Sternenwald, und sie hat den Brunnen erschaffen. Sie hat mich hierher geschickt", erklärte Milva mühsam, und richtete sich mit Cynerics Hilfe auf. "Sie sagte, ihr würdet den falschen Weg gehen."
In Teressas Augen spiegelte sich eine Mischung aus Bedauern und Überraschung, während Morrandir und Ryltha einen stummen Blick wechselten. Dann sagte Morrandir ausdruckslos: "Der Brunnen zeigt nur Bilder, niemals etwas anderes. Du musst dich geirrt haben. Wenn du diese Herrin kennst, hat der Brunnen dir vielleicht eine Erinnerung gezeigt."
Milva schüttelte den Kopf, und kam langsam ganz auf die Füße. "Nein, ich bin mir sicher, dass..." Das Bild des blutigen Dolches stand ihr wieder vor Augen, und ihre Füße hätten beinahe unter ihr nachgegeben.
"Du hast dich geirrt", sagte Ryltha fest. "Du brauchst nun Ruhe und Schlaf. Teressa wird dich zurück bringen."
Milva blickte von einem steinernen Gesicht ins andere, und nickte langsam. Sie würden nicht auf sie hören, das wusste sie.
Teressa führte sie ohne ein Wort zu sagen durch die endlosen Gänge des Untergrunds zurück zum Ausgang, und zu Milvas Überraschung begleitete Cyneric sie. Als sie draußen ankamen, atmete Milva tief die feuchte Nachtluft ein. Noch immer waren die Straßen von sanft ziehendem Nebel eingehüllt, und auf merkwürdige Art und Weise fühlte sie sich darin geborgen.
Einen Moment lang verharrten sie stumm vor der unscheinbaren Tür, bis Cyneric schließlich fragte: "Ist es wahr, was du gesagt hast? Hast du mit jemandem gesprochen?" Er blickte Milva aufmerksam an, und auch Teressa schien geradezu verzweifelt auf ihre Antwort zu warten.
Milva rieb sich die Schläfen, und antwortete: "Ja. Ja, ich habe mit der Herrin der Quelle gesprochen, oder zumindest habe ich es mir sehr glaubhaft eingebildet."
"Hm", machte Cyneric schließlich. "Das erinnert mich an alte Geschichten über Steine, die ähnliches vermögen. Vielleicht hast du tatsächlich recht."
"Oder nicht", warf Teressa ein, obwohl es sie große Mühe zu kosten schien. "Es nützt uns nichts, darüber nachzudenken."
"Es schadet aber auch nicht, mehr zu wissen", meinte Cyneric, doch Teressa schüttelte den Kopf. "Zu viel Wissen kann gefährlich werden - zumindest für euch." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und blieb wenige Meter entfernt von ihnen stehen, offenbar nicht länger an einer Unterhaltung interessiert.
"Also...", sagte Cyneric langsam an Milva gewandt. "Wenn du darüber reden möchtet, oder einfach so ein bisschen Gesellschaft brauchst..."
Milva schüttelte den Kopf. "Nein, danke. Ich muss jetzt ein wenig allein sein."
Für einen kurzen Augenblick wirkte Cyneric, als wollte er ihr etwas wichtiges sagen, doch dann verzog er das Gesicht und sagte nur: "Also dann... gute Nacht."
Milva wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht, und eilte so schnell wie möglich durch den Nebel davon, verwirrt und erschüttert von allem, was geschehen war.
Milva in Richtung ihrer UnterkunftCyneric und Salia auf die Straßen Gortharias