Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Burg des Silbernen Bogens

(1/4) > >>

Fine:
Aerien, Narissa und Eayan von der Gegend um Ain Salah


"Was ist passiert?"

Eine einfache Frage, doch die Antwort war alles andere als einfach. So viel war geschehen seit Aerien aus Ain Séfra aufgebrochen war. Sie war so weit geritten und beinahe - beinahe wäre es ihr sogar wirklich gelungen, Narissa zu retten. Doch im letzten Moment war Narissa schwer verwundet worden und hatte bald das Bewusstsein verloren. Aerien hatte ihr die Hand auf die blutende Wunde gepresst und Karab zur Höchstgeschwindkeit angetrieben, denn Eayan, ihr geheimnisvoller Retter, hatte ein sehr hohes Tempo vorgegeben. Sie waren wie wild durch die Straßen Ain Salahs geprescht, immer weiter in Richtung Süden. Als sie auf das südliche Tor der Stadt zugeritten waren hatte Eayan einen Bogen gezogen, der an seinem Sattel gehangen war, und hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Mit einer geübten Bewegung hatte er sich im Sattel aufgerichtet und einen Pfeil zielgenau in den Rücken eines der Torwächter geschossen. Der Tumult und die Verwirrung, die diese Aktion bei den übrigen Wächtern und den übrigen Menschen in der Nähe ausgelöst hatte hatte Eayan geschickt für ihre Flucht genutzt. Doch er war kein bisschen langsamer geworden sondern hatte das Tempo sogar noch erhöht als sie die gelben Mauern der Stadt hinter sich gelassen hatten. Erst mehrere Meilen später hatte er im Schatten einiger Palmen angehalten.

"Lass mich die Wunde sehen," hatte er gesagt und sich mit besorgtem Blick über die bewusstlose Narissa gebeugt, die von Aerien vorsichtig unter eine der Palmen abgelegt worden war. Für einen kurzen Moment hatte das weißhaarige Mädchen die Augen aufgeschlagen, und ihre Lippen hatten einige stumme Worte geformt, doch wenige Sekunden später war sie bereits wieder ohnmächtig geworden.
"Hier," hatte Eayan gesagt und Aerien einen Verband gereicht. "Du musst ihre Haare beiseite halten, und den Verband um die ganze linke Gesichtshälfte wickeln. Ja, genau so. Nicht sparen damit." Er hatte trotz allem ein Lächeln aufgesetzt. "Ich schätze, das wird eine üble Narbe hinterlassen. Aber das wusstest du schon, nicht wahr, Azruphel?"
"Wer seid Ihr? Und warum helft Ihr uns?" hatte Aerien voller Sorge um Narissa gefragt.
"Du kennst doch meinen Namen bereits: Eayan al-Tayir. Keine Sorge, ich bin ein Freund von Narissas Volk. Und da du offensichtlich Mordors entsagt hast, bin ich auch dein Freund."
Aerien hatte darauf nicht gleich geantwortet. Eayan schien genau über sie Bescheid zu wissen. "Ich - " hatte sie angesetzt, doch der Mann hatte lächelnd abgewinkt.
"Du musst dich nicht rechtfertigen, meine Liebe. Unser Gespräch heute Mittag hat mir alles gesagt, was ich über dich wissen muss. Du musst dir doch im Klaren darüber sein, dass deine Flucht aus Mordor nicht ganz unbemerkt geblieben ist. Ich habe davon gehört, doch ich glaubte lange, dies sei nur eine weitere List deines Vaters. Ja, ich kenne ihn," hatte er gesagt ehe sie nachhaken konnte. "Aber deine Taten und Worte - dass du alles riskiert hast, um die Erbin des Turmes zu retten - sprechen eine andere Sprache."
"Und was geschieht jetzt?" hatte Aerien zweifelnd gefragt.
"Jetzt bringe ich euch beide erst einmal in Sicherheit, zu meinen Freunden. Wir haben keine Zeit zu verlieren - Abel und dein Vetter werden diese Schmach gewiss nicht auf sich sitzen lassen. Wir müssen hier weg, ehe die Nacht anbricht."
"Wohin gehen wir?"
"An einen verborgenen Ort," hatte Eayan geheimnisvoll geantwortet.

Während die Sonne langsam im Westen untergegangen war, war der Weg, dem sie folgten, immer weiter angestiegen und sie waren mit der Zeit in eine gebirgige Landschaft gekommen. Riesige, zerbrochene Felsen lagen überall zwischen den Hügel und machten es nahezu unmöglich, sich zu orientieren. Glücklicherweise kannte Eayan sich aus und hatte sie zielsicher auf verschlugenen Pfaden zwischen Felsen und dichten braunen Sträuchern hindurch geführt, bis sie schließlich an einen Höhleneingang gekommen waren. Hier war Eayan abgesessen und hatte sein Pferd am Zügel weitergeführt und Aerien ein Zeichen gegeben, dasselbe zu tun.
"Shalem-la Al-Qaws fiḍḍiyy!(1)" hatte er in den Tunnel gerufen, doch keine Antwort war gekommen. Eayan erklärte ihr später, dass man sie im Dunkeln erschossen hätte, wenn er die Parole nicht gekannt hätte. Auf der anderen Seite hatten sie ein offen stehendes Tor durchquert und waren in einen großen Talkessel gekommen. Eayan hatte gesagt, dass sie sich im Schlot eines uralten, erkalteten Vulkans befanden. Und an die Innenwand des Berges schmiegte sich eine Burg - die Burg des Silbernen Bogens.

Aerien saß nachdenklich auf der Kante von Narissas Bett. Die Leute, die sie aufgenommen und verpflegt hatten, waren allesamt äußerst schweigsam gewesen. Aerien wusste nur, dass Eayan sie in das Versteck einer Gruppe gebracht hatte, die sich "Silberner Bogen" nannte - mehr nicht. Man hatte ihr und Narissa ein Zimmer zur Verfügung gestellt, dessen Fenster einen guten Blick über den Krater bot. Die Burg reichte bis zur Spitze des Vulkans und bot den Mitgliedern des Silbernen Bogens einen idealen Aussichtspunkt über die umliegenden Lande, ohne selber gesehen zu werden. Alle Menschen, die hier lebten, waren offensichtlich Kämpfer, denn man konnte die Vielzahl von Waffen, die in diesem Stützpunkt gehortet wurden, kaum übersehen. Doch Aerien wusste nicht, welchen Rang Eayan unter ihnen einnahm, und in welcher Verbindung er zu diesem Ort stand.

Narisse regte sich, und lenkte Aeriens Aufmerksamkeit auf sich als ihre Hände mühevoll nach ihrem Verband tasteten.
"Das solltest du lieber noch nicht machen", sagte Aerien sanft und hielt Narissas Handgelenkte fest.
"Aerien...", murmelte Narissa, und Aerien musste genau hinhören um sie zu verstehen. "Du kommst aus Mordor... warum hast du mir geholfen? Warum..." Sie brach ab und erschlaffte wieder.
Aerien seufzte leise, voller Sorge über das was noch kommen würde. Narissa würde sie zur Rede stellen und Aerien würde erklären müssen, warum sie ihre Herkunft geheim gehalten hatte.
Narissa schlief in der folgenden Nacht friedlich und ohne Unterbrechung, doch Aerien wollte nicht von ihrer Seite weichen. Ein Teil von ihr fürchtete, dass Narissa über Nacht erneut verschwinden könnte, auch wenn sie nicht wirklich glaubte, dass das Mädchen dazu körperlich in der Lage war. Dennoch blieb sie auf der Bettkante sitzen, bis sie schließlich von ihrer Müdigkeit überwältigt wurde. Sie schaffte es gerade noch, sich auf das andere Bett zu legen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen was Narissa sagen würde wenn sie erwacht wäre und Aerien schlafend im selben Bett vorgefunden hätte.

Am nächsten Morgen war Aerien trotz der Strapazen des vorherigen Tages früh auf den Beinen und nahm ein schnelles Frühstück zu sich, dass Eayan ihr bringen ließ. Sie erfuhr, dass ihnen vorerst das Verlassen der Burg verboten war bis der Meister dieses Versteckes zurückgekehrt und sich mit ihnen befasst hatte, doch Eayan ließ durchblicken, dass es sich dabei wohl nur um eine Formalität handeln würde. Und so wartete Aerien einigermaßen guter Dinge geduldig an Narissas Bett, bis diese schließlich die Augen aufschlug und sich einige Augenblicke orientierungslos umblickte, bis ihre Augen schließlich Aerien fixierte.
"Was ist passiert?" fragte sie.
Aerien atmete tief durch. "Du bist in Sicherheit," antwortete sie. "Zumindest fürs Erste." In einigen kurzen Sätzen fasste sie für Narissa die Flucht aus Ain Salah, den Weg ins Gebirge und die Ankunft in der Burg zusammen. Narissa hörte ihr aufmerksam zu und schien sich zumindest so weit von der Verletzung erholt zu haben, dass ihr Verstand klar blieb. "Eayan sagt, dass niemand diesen Ort finden kann, aber ich bin mir da nicht so sicher. Dieser Abel wirkte so, als könnte er uns aufspüren, ganz egal wo wir uns versteckten," sagte Aerien und stellte fest, dass sie der Frage bereits auswich, die Narissa noch gar nicht gestellt hatte: Wer bist du wirklich? Ein Teil von ihr hoffe, durch die Rettung bei Narissa genug Sympathien erwirkt zu haben um das Thema ihrer Herkunft einfach unter den Tisch fallen zu lassen, und ihre Freundschaft dort fortzusetzen, wo sie in Ain Séfra zerbrochen war, doch in ihrem Herzen wusste Aerien, dass diese Hoffnung trügerisch war. Sie zögerte, und der Moment schien sich beinahe ins Unendliche auszudehnen, während beide Mädchen nach den richtigen Worten zu suchen schienen.
"Hast du -" setzte Narissa an, doch gleichzeitig begann Aerien zu sprechen.
"Ich heiße nicht Aerien Bereneth," sagte sie leise. Und als das heraus war, die erste Lüge offengelegt war, ging ihr der Rest leichter über die Lippen, als sie befürchtet hatte. "Mein Name ist Azruphel, die Tochter Varakhôrs und Lôminzils, von Haus Balákar. Ich bin eine schwarze Númenorerin aus Durthang... aus Mordor."
Die Worte verhallten in dem kleinen Raum als Aerien - Azruphel - verstummte. Jetzt würde sich zeigen, wie viel die Wahrheit wert war....


(1) haradisch "Friede sei mit dem Silbernen Bogen"

Eandril:
Narissa atmete tief ein, und wich Aeriens Blick aus. All der Zorn und die Enttäuschung die während der letzten Ereignisse tief in ihr vergraben gewesen waren, kamen wieder an die Oberfläche, doch sie wurden von einer Tatsache im Zaum gehalten: Aerien war gekommen um ihr zu helfen, und hatte dazu ihr Leben riskiert. Und ohne sie wäre Narissa vielleicht aus der Arena gekommen, aber mit Sicherheit keinen Schritt weiter. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass das alles nur irgendein kompliziertes Spiel war, das Narissa nicht verstand, doch warum sollten ihre Feinde das tun, wenn sie sie bereits in ihrer Hand gehabt hatten?
Narissa kämpfte mit sich selbst, und stellte schließlich die Frage, die ihr am meisten auf der Seele lag - und deren Antwort sie bereits zu kennen glaubte. "Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?"
"Hättest du mir dann noch vertraut?" gab Aerien etwas verwundert zurück. "Ich weiß jetzt, dass ich deine Reaktion nur verzögert habe - irgendwann wäre die Wahrheit sowieso herausgekommen - aber irgendwie hatte ich gehofft... " Sie brach ab und blickte mit einer Mischung aus Verlegenheit und Bedrücktheit zur Seite.
Narissa zögerte einen Moment. Ihr erster Impuls war Natürlich hätte ich dir vertraut zu sagen, aber sie wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Ihre Reaktion wäre vermutlich weniger heftig ausgefallen als sie tatsächlich gewesen war, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wäre ihr Vertrauen zu Aerien auch dann stark beschädigt worden.
"Nein, hätte ich vermutlich nicht", gab sie langsam zu, und fuhr mit den Fingern der linken Hand nervös den Rand ihres Verbandes entlang. "Aber du hättest es trotzdem tun sollen", sagte sie etwas trotzig, und für für kurze Zeit herrschte Stille. Dann tastete Narissa mit der Rechten nach Aeriens Hand, und ergriff sie zögerlich. Zu ihrer Erleichterung zuckte Aerien nicht zurück. "Das ist jetzt egal. Ohne deine Hilfe wäre ich niemals aus dieser Arena gekommen." Bei dem Gedanken an das Geschehene schien sich eine Faust um ihr Herz zu klammern, und Narissa schluckte. "Vielleicht habe ich in Aín Sefra auch ein bisschen überreagiert..."
"Nein, hast du nicht," antwortete Aerien und drückte Narissas Hand sanft. "Ich kann dich verstehen - du hast dich verraten gefühlt. Und ich weiß, dass ich nicht das Recht habe, dass du mir wieder vertraust." Sie schwieg für einen Moment und starrte an Narissa vorbei durchs Fenster. "Und doch... wünsche ich es mir." Aerien suchte Narissas Blick und sagte: "Du kannst mich fragen, was du willst. Ich verspreche dir, es wird keine Lügen mehr geben."
Narissa erwiderte Aeriens Blick mit dem einen unverbundenen Auge, und erwiderte schließlich: "Ich werde... es versuchen. Es ist nur so... so seltsam mit jemandem zu sprechen, dessen ganze Familie Mordor dient." Immer, wenn sie Aerien ansah, sah sie für einen Moment nur die schwarze Númenorin vor sich, bevor die Freundin durchschimmerte. "Wie kommt es, dass du... anders als sie bist?"
"Ich habe mit Aragorn, dem König von Gondor gesprochen, als ich im Dunklen Turm war," sagte Aerien schlicht. "Mein Interesse galt schon davor den Nachfahren Númenors, doch er hat mir so viel Neues erzählt. Ich wollte wissen, warum mein Volk gegen Gondor kämpft, wenn wir doch alle von derselben Insel stammen. Als ich vom Bürgerkrieg erfuhr, wünschte ich mir, es gäbe einen Weg, dies zu beenden. Deshalb ging ich nach Gondor, wo ich Beregond traf."
Aragorn! Narissa versuchte sich in ihrem Bett aufzurichten, doch Schmerz schoss durch ihr Gesicht und sie ließ sich wieder zurückfallen. Wenn der König von Gondor in Mordor gefangen war, dann hatte Sauron ein mächtiges Druckmittel gegen den Westen in der Hand. Und vielleicht hatte sie einen Weg, etwas daran zu ändern. Doch sie schob den Gedanken daran zurück für einen anderen Tag. Sie würde später mit Aerien darüber reden. "Und... wie hast du mich gefunden?"
"Ich hatte Hilfe", antwortete Aerien. "Zuerst befragte ich den Wirt in dem Gasthof westlich von Ain Sefra, der mir sagte dass ein Mann namens Abel dich nach Ain Salah gebracht hat. Als ich schließlich dort angekommen war traf ich auf Eayan al-Tayir, der uns hierher gebracht hat und er verriet mir, wo dieser Kimyet seine Arena betreibt. Und von Karnûzîrs Gefolgsleuten erfuhr ich, dass du dort sein würdest. Also kam ich her und mischte mich unter die Zuschauer, auf eine gute Gelegenheit wartend. Glücklicherweise sorgte mein Vetter dafür. Ja - Karnûzîr ist der Sohn meines Onkels, den du in Ain Sefra getroffen hast und der dir meinen Namen verraten hat. Und Karnûzîr ist für den Schnitt in deinem Gesicht verantwortlich. Es tut mir Leid," sagte Aerien mitfühlend. "Falls es dir hilft: Ich konnte ihn schon davor nicht ausstehen."
Als Aerien ihre Verwundung erwähnte, setzte Narissa sich auf - diesmal etwas langsamer und vorsichtiger, und der Schmerz blieb erträglich. Dann fuhr sie sich mit den Händen an den Kopf, und riss den Verband auf, der seitlich an ihrem Kopf befestigt war. "Du solltest vielleicht lieber...", versuchte Aerien sie aufzuhalten, doch zu spät. Mit einer raschen Bewegung hatte Narissa sich den Verband heruntergerissen, und atmete jetzt tief ein und aus, um den Schmerz zu bekämpfen. Die kühle Luft auf der geschundenen Haut linderte den Schmerz außerdem etwas.
"Gibt es... gibt es hier einen Spiegel?", fragte sie, und Aerien griff auf den niedrigen Schrank hinter sich. "Hier", sagte sie, und hielt Narissa den Griff zögerlich entgegen. "Aber bist du sicher, dass du..."
Bevor sie zu Ende sprechen konnte, hatte Narissa ihr den Spiegel bereits aus der Hand gerissen und vor das Gesicht gehalten.
"Also...", sagte sie, und schluckte. Von ihrem Haaransatz zog sich eine rote Linie über die Stirn nach unten, über das linke Auge hinweg und setzte sich ein Stück weit auf der Wange fort. Die Wundränder waren geschwollen und rot, und die Wunde selbst mit dünnen schwarzen Fäden sorgfältig vernäht. Wer immer das getan hatte, hatte sein Handwerk verstanden, aber Narissa begriff sofort, dass eine lange Narbe zurück bleiben würde. "Also das..." Sie schluckte erneut, bis trotz der Schmerzen die Zähne zusammen und schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete und Aeriens mitfühlendem Blick begegnete, sagte sie, betont trotzig: "Hätte schlimmer kommen können. Immerhin habe ich noch zwei Augen."
Bevor Aerien etwas sagen konnte, trat ein Mann mit kurzen braunen Haaren an Narissas Bett und sagte: "So sehr ich mich auch freue euch in wachem Zustand zu sehen - euren Verband solltet ihr lieber nicht ablegen." Er kniete neben ihrem Kopf nieder, und nahm eine frische Rolle Stoff von einem Regalbrett hinter dem Bett. "Mein Name ist Eayan al-Tayir. Wir sind uns bei eurer Flucht aus Ain Salah bereits begegnet, auch wenn ihr beklagenswerterweise nicht in einem Zustand wart, mich wirklich kennen zu lernen." Während er sich mit dem Verband an ihrer Wunde zu schaffen machte, warf Narissa Aerien einen fragenden Blick zu, die beruhigend nickte. Anscheinend war es in Ordnung, Eayan zu trauen, auch wenn Narissa sich jetzt besonders wunderte, wo sie hier überhaupt waren.
"Fertig." Eayan erhob sich wieder, und betrachtete sein Werk mit dem zufriedenen Lächeln eines Künstlers. "Auch wenn ihr sicherlich viele Fragen habt, solltet ihr euch dringend wieder etwas Ruhe gönnen. Eine solche Wunde ist kein Zuckerschlecken."
"Ich denke... ihr habt Recht", erwiderte Narissa mühsam, denn sie spürte, dass das kurze Gespräch mit Aerien und der Schock ihres verwundeten Gesichts sie stark angestrengt hatten. Aerien drückte noch einmal ihre Hand, und erhob sich dann von der Bettkante. Bevor sie allerdings mit Eayan zusammen den Raum verlassen konnte, sagte Narissa: "Aerien... kann ich dich weiter so nennen?" Auf Aeriens Gesicht zeigte sich Besorgnis, denn ihr war offenbar nicht klar, worauf Narissa hinaus wollte, und fürchtete das schlimmste. Doch dann lächelte Narissa, auch wenn es schmerzte, und erklärte: "Azruphel ist mir nämlich zu kompliziert."
Aerien erwiderte das Lächeln und sagte: "Aerien... ist genau richtig."

Fine:
Aerien blieb noch ungefähr eine Minute im Türrahmen stehen bis Narissa eingeschlafen war. Der regelmäßige Atem des Mädchens wirkte auf eine seltsame Art und Weise beruhigend auf sie und ließ sie hoffen, dass Narissa sich schon bald vollständig erholen würde.
"Ich schätze, du hast einige Fragen," sagte Eayan und riss Aerien damit aus ihren Gedanken.
"Viele," gab sie zurück.
"Geh' ein Stück mit mir spazieren," forderte Eayan sie auf. "Im Gehen spricht es sich leichter." Er setzte sich in Bewegung und bedeutete Aerien, ihm zu folgen.

Gemeinsam gingen sie den Gang entlang, in dem das Zimmer der Mädchen lag. Auf beiden Seiten gab es viele verschlossene Türen, doch der Durchgang am Ende des Ganges stand offen und Licht flutete herein. Eayan trat hindurch und Aerien folgte ihm auf eine freie, ebene Fläche, ungefähr doppelt so groß wie ihr Zimmer, und gesäumt von steinernen Zinnen. Sie befanden sich auf mittlerer Höhe der Burg und konnten den Großteil des Kraters überblicken. Unterhalb ihrer Position lag der ebenerdige Teil der Festung, und am anderen Ende des Kraters lag der Tunneleingang, durch den sie diesen verborgenen Ort betreten hatten. Aerien blickte sich staunend um und warf einen Blick hinter sich, wo sich der Bergfried an die Wand des gewaltigen Schachtes klammerte, in dem die Burg sich befand. Die Mauern waren, soweit sie erkennen konnte, nicht von númenorischer Bauart. Doch sie wiesen auch keine Ähnlichkeit zum Mauerwerk auf, wie es in weiten Teilen Harads verwendet wurde. Auffällig war, dass beinahe nirgendwo in der Burg runde Formen zu finden waren, sondern immer eckige Kanten verwendet worden waren. Auch die Türme waren viereckig und die Torbögen wiesen nur an den oberen beiden Ecken jeweils eine Diagonale auf. Und es gab sehr, sehr viele Treppen.

"Was ist das für ein Ort?" fragte Aerien nachdem sie ihren Blick einzige Zeit über die Mauern hatte schweifen lassen.
"Einst war diese Burg ein Stützpunkt der Assassinen," erklärte Eayan. "Damals war es Brauch, dass Novizen des Ordens eine Reise durch Harad unternahmen und verschiedene wichtige Ort aufsuchten: die Spitze von Kap Umbar, die Quelle des Sobat-Stromes oder die Höhlen von Sayalbir. Auch der alte Krater gehörte dazu und man errichte den Aussichtspunkt um sicherzustellen, dass nur Eingeweihte hierhergelangen konnten. Doch als die Assassinen begannen, sich zu verändern, gerieten die alten Bräuche in Vergessenheit. Heute erinnert sich niemand von ihnen mehr an diesen Ort."
"Dann sind die Leute, die hier jetzt wohnen, keine Assassinen?" wunderte sich Aerien, denn dies war bislang ihr Verdacht gewesen.
"Sie waren es," sagte Eayan. "Bis vor ungefähr zehn Jahren, als die Führung des Assassinenordens umstritten war. Eine Person setzte sich dabei durch, die die Ideale der Assassinen mehr verriet als jeder ihrer Vorgänger. Die heutigen Assassinen kämpfen nur noch um Bezahlung und um die Mehrung ihrer eigenen Macht. Diejenigen, die dem Alten Weg folgten, spalteten sich ab. Sie nennen sich Al-Qaws fiḍḍiyy - der Silberne Bogen."
"Ich verstehe," meinte Aerien. "Wenn der Silberne Bogen nicht für Geld oder Macht kämpft, wofür dann?"
Eayan blickte sie mit ernster Miene an. "Für eine bessere Welt," antwortete er. "Für die Rechte des Volkes. Für Gerechtigkeit." In seiner Stimme lag ein ehrfürchtiger Klang. "Saleme und ihre Schlangen haben unser Erbe mit ihren Verbrechen beschmutzt. Und nun jagen sie uns, wie Tiere. Aber das werde ich nicht länger dulden." Er schien nun nicht mehr zu Aerien zu sprechen und sein Blick schweifte in die Ferne. "Ob nah oder fern, es wird keine Gnade für jene geben, die dieses Land mit ihren Taten vergiften."
"Meister?" sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um und fanden zwei junge Krieger vor, die eine Verbeugung vor Eayan andeuteten.
"Was gibt es?" antwortete er, nun mit einer neuen Autorität in der Stimme.
"Die Wachposten haben Feinde gesichtet. Vier Männer, die offenbar Eure Spur verfolgen."
Eayan nickte. "Sie sind schneller, als ich erwartet hatte. Also gut. Lasst die Falle zuschnappen."
Die Krieger nickten und eilten davon.
"Meister?" wiederholte Aerien. "Dann seid Ihr... der Anführer des Silbernen Bogens?"
"Ich bin der Schattenfalke, Meister des Silbernen Bogens," bestätigte Eayan. "Ich habe vielen Namen und viele Gesichter, denn meine Feinde sind zahlreich. Ich bin in den Wäldern der Elben gewandelt und habe die Bergwerke der Zwerge ebenso gesehen wie die Schrecken Mordors und die Weite von Rhûn." Er machte eine Pause und ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Aber du, meine Liebe, darfst mich weiterhin Eayan nennen."
"Sagtest du nicht, dass der Herr dieser Burg im Augenblick nicht hier ist?" wunderte sich Aerien.
"Ich mag der Meister des Silbernen Bogens sein, doch ich bin nicht der Herr der Burg," erklärte Eayan. "Eine gute Freundin von mir entdeckte sie in einem der alten Texte, die wir bei unserer Flucht aus dem Hauptquartier der Assassinen mitnahmen, und sie fand den Krater nach einer langen, beschwerlichen Suche. Dafür stand ihr das Recht zu, die Burg zu ihrem Eigentum zu machen, wie es im Alten Weg Sitte ist. Sie führt gerade einen Auftrag in Umbar aus, doch ich rechne mit ihrer baldigen Wiederkehr. Aber genug davon! Wir sollten uns jetzt mit den Eindringlingen befassen."

Er eilte los, die Treppen hinunter in Richtung des Tores, das Einlass durch die unterste Mauer der Burg bot. Aerien musste sich beeilen, um mit dem Schattenfalken Schritt zu halten. Sie überquerten den Kraterboden und kamen zum Tunneleingang, der jetzt von Fackeln erhellt wurde. Als sie eintraten erkannten sie, dass darin  große Gruppe Mitglieder des Silbernen Bogens standen und ihre Waffen bereit hielten. In der Mitte umzingelt knieten vier Männer, die Hände hinter dem Kopf verschränkt auf dem Boden, von gespannten Pfeilen in Schach gehalten. Eayan trat heran und warf einen ausführlichen Blick auf die Gefangenen, die seine Leute gemacht hatten.
"Ihr habt versucht, euch unerlaubt Zutritt zur Zuflucht zu verschaffen," sprach er. "Wer seid ihr, und was ist euer Begehr? Dient ihr der Schlange oder dem Aufstand? Sprecht schnell!"
Die Gesichter der Männer waren bis auf die Augen verhüllt, weshalb die Antwort leicht gedämpft erklang als einer sagte: "Wir sind im Auftrag Músabs von Kerma hier und auf der Suche nach... Eurer Begleiterin." Er warf Aerien einen finsteren Blick zu, der sie einen vorsichtigen Schritt rückwärts machen ließ.
"Músab von Kerma? Was hat er mit meinem Gast zu schaffen?" wollte Eayan wissen.
"Sie ist eine Dienerin Mordors," gab der kermische Krieger zurück. "Mein König verlangt Antworten."
"Er hat von mir alles erfahren, was er wissen wollte," mischte sich Aerien ein und spürte, wie sie zornig wurde. Offenbar hatte das, was ihr Onkel dem König Kermas erzählt hatte, Músab dazu gebracht, ihr einen Trupp seiner besten Leute hinterherzuschicken. Sie verstand es nicht. "Ich habe es ihm bereits gesagt: ich habe nichts mit dem Mord an seiner Mutter zu tun!"
"Aerien hat Mordors entsagt," bestätigte Eayan. "Wenn König Músab bessere Spione hätte, wüsste er, dass das die Wahrheit ist. Ihr seid hier nicht willkommen." Er gab seinen Leuten ein Zeichen, und etwas wie ein Windstoß fegte durch den Tunnel. Die vier Krieger aus Kerma fassten sich verdutzt zwischen die Augen, wo sie von winzigen Blaspfeilen getroffen worden waren. "Sie enthalten ein Gift, das euch vergessen lassen wird, wie ihr hierher gekommen seid, damit das Geheimnis dieses Ortes gewahrt bleibt. Ihr werdet erwachen und euch nur noch an diese Worte erinnern: Azruphel ist unschuldig." Als er geendet hatte lagen die Männer bereits bewusstlos am Boden. "Schafft sie weg," wies Eayan seine Leute an.

Aerien hofft, dass sich damit das Thema Kerma und dessen König bis auf Weiteres erledigt hatte. Sie begleitete Eayan zurück zur Burg. Inzwischen war es Mittag geworden, und sie stellte fest, dass sie Hunger hatte. An Verpflegung schien es dem Silbernen Bogen nicht zu mangeln, denn auf Eayans Geheiß durfte sich Aerien im Speisesaal der Burg bedienen. Sie vergaß jedoch nicht, dass auch Narissa etwas essen wollen würde, und beschloss, in das Zimmer, in dem sich das Mädchen von ihrer Verletzung erholte, zurückzukehren und nachzusehen, ob Narissa inzwischen wieder wach war. Sie nahm genug Essen für sie beide mit.

Eandril:
Einige Tage später stand Narissa am Fenster ihres Zimmers und blickte gedankenverloren über den Krater. Ihre Wunde war inzwischen einigermaßen verheilt, doch die lange Narbe würde bleiben. Auch wenn Narissa nach außen hin unbeschwert tat, zerfraß sie der Gedanke an ihre Entstellung innerlich. Sie hatte versucht, ihre Haare so ins Gesicht fallen zu lassen, dass die Narbe verborgen blieb, doch es war vergeblich gewesen. Sie würde lernen müssen, damit zu leben.
Zu der körperlichen Narbe kamen die seelischen. Beinahe jede Nacht träumte Narissa von Abel, von seinem Gesicht, knochig wie ein Totenkopf, mit schwarzen, kalten, toten Augen darin. Und sie träumte von der Arena, wie die Zuschauer sich gierig nach Blut über den Rand gebeugt hatten wie Geier. Oft schreckte sie schreiend aus dem Schlaf hoch, und weckte damit Aerien, die in ihrem Bett am Ende des Raumes schlief. Aerien... Narissa erinnerte sich an das erste wirkliche Gespräch, dass sie in der Festung geführt hatten.

~~~~
Als Aerien das Zimmer mit einem mit Essen beladenen Tablett in den Händen betrat, erwachte Narissa aus dem tiefen Schlaf, in den sie vorhin gefallen war. Der Geruch der Speisen ließ ihren Magen knurren, und erst jetzt bemerkte Narissa, wie hungrig sie eigentlich war.
"Essen!", sagte sie, richtete sich mühsam ein wenig im Bett auf, und lächelte Aerien zu. "Du bist eine Lebensretterin, Aerien - und das nicht zum ersten Mal."
Aerien errötete leicht und machte eine wegwerfende Geste. "Ach, das ist doch nicht der Rede wert...." sagte sie und stellte das Tablett vor Narissa ab. "Ich hoffe, es schmeckt dir - große Auswahl haben die hier nämlich leider nicht anzubieten."
Sie setzte sich auf die Bettkante und beobachtete, wie Narissa sich über das Essen hermachte. "Langsam, langsam," warf Aerien lachend ein. "Du wirst dich noch verschlucken!"
Kaum hatte Aerien das gesagt, verschluckte Narissa sich tatsächlich. Sie hustete bis ihr Tränen in die Augen traten, bevor sie wieder Luft bekam, und dann lachte sie. Es war ein befreiendes Gefühl, und etwas, dass sie seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Sie drohte der ein wenig verwundert dreinschauenden Aerien mit dem Finger und sagte: "Tu das nie wieder. Ich will nicht nach allem was geschehen ist am Essen ersticken." Narissa aß weiter, allerdings deutlich langsamer als zuvor. Noch kauend meinte sie: "Es ist nur so, ich habe schon lange kein Essen mehr wirklich genossen - in Frieden und Sicherheit." Sie ließ nachdenklich die Hand mit dem Löffel sinken und ergänzte langsam: "Das letzte Mal war eigentlich... auf der Insel."
"Die Insel?" wiederholte Aerien fragend und machte ein nachdenkliches Gesicht. "Ist das der Ort, wo du herkommst?" Ihre Augen hatten einen aufgeregten Glanz angenommen. "Bitte erzähl mir davon," bat Aerien. "Leben dort wirklich Nachkommen der Seefahrer von Westernis? Gehört sie zu Gondor? Wo liegt die Insel, und wie sieht es dort aus?" Sie unterbrach sich und man konnte ihr ansehen, dass sie versuchte, sich selbst zu bremsen. "Eine Frage nach der anderen," sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin gewandt.
Narissa lächelte, auch wenn ihr für einen Herzschlag das Bild des brennenden Turmes vor Augen stand. Aber sie würde sich von diesen Erinnerungen nicht beherrschen lassen, sie würde alle rächen, die an diesem Tag gestorben waren - und vielleicht, eines Tages, den Turm wieder errichten.
"Die Insel - Tol Thelyn - liegt vor der Westküste von Harad, weit südlich von Umbar", erklärte sie, und rief sich das Bild der Insel vor Augen, wie sie sie als Kind zum ersten Mal gesehen hatte. "Dort lebte bis vor einiger Zeit meine Familie, das Haus der Turmherren. Wir stammen von den Fürsten von Eldalondë in Númenor ab, und viele der anderen Bewohner sind Nachfahren der Leute, die ihn nach Osten begleitet haben." Narissa erinnerte sich an die Stimme ihres Großvaters, der ihr die Geschichte erzählte, wie Ciryatan angesichts des Verfalls von Númenor noch vor dem Untergang nach Mittelerde gesegelt war. Sie tastete nach dem Griff des Dolches, der auf dem kleinen Schrank neben ihrem Bett lag, und zeigte ihn Aerien. "Dieser Dolch ist ein Erbstück aus dieser Zeit genau wie... das Amulett, dass ich in Aín Sefra getragen habe. Ich habe es leider verloren als... als..." Sie verstummte, unfähig Abels Namen auszusprechen.
Sie tastete nach dem Griff des Dolches, der auf dem kleinen Schrank neben ihrem Bett lag, und zeigte ihn Aerien. "Dieser Dolch ist ein Erbstück aus dieser Zeit genau wie... das Amulett, dass ich in Aín Sefra getragen habe. Ich habe es leider verloren als... als..." Sie verstummte, unfähig Abels Namen auszusprechen.
"Oh, das Amulett!" rief Aerien, als würde sie sich gerade erst daran erinnern. Sie wühlte eilig in ihren Habseligkeiten herum, die neben ihrem Bett verstreut lagen und zog schließlich mit einem kleinen, triumphierenden Lächeln das Gesuchte hervor: Narissas Amulett, wie sie es im Sand zwischen den Blutspritzern an der Stelle gefunden hatte, an der Abel Elyanas Kriegerinnen niedergestreckt hatte. "Ich fand es, nachdem ich deine Spur aufgenommen hatte," erklärte Aerien geradzu fröhlich und reichte das Erbstück an Narissa weiter, die es staunend entgegennahm. "Hier, ich habe auch ein Erbstück aus Westernis," fuhr Aerien im Plauderton fort und streifte die Halskette ab, die sie jederzeit zu tragen schien. Der silberne Sternenanhänger, der offensichtlich der Form der Insel Númenors nachempfunden war, glitzerte im Sonnenlicht, das durch das offene Fenster fiel. "Er stammt von Míriel, der...." setzte Aerien an, doch Narissa beendete den Satz für sie: "...der letzten Königin Númenors."
Für einen Moment herrschte Stille, während Narissa den Anhänger nachdenklich betrachtete. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Vielleicht war Aeriens Familie nicht böse, sondern nur... fehlgeleitet. Vom Weg abgekommen durch den Einfluss Saurons, doch die Kette die Aerien trug - und Aerien selbst - waren eindeutige Anzeichen dafür, dass sie nicht alles vergessen hatten, was die Menschen von Westernis einst ausgemacht hatte. Narissa wog ihr eigenes Medaillon in der Hand, bevor sie sich die Kette über den Kopf streifte. Es fühlte sich gut an.
"Ich danke dir, Aerien. Ich dachte, ich hätte es endgültig verloren. Mein Haus hatte es schon einmal verloren, weißt du?" Sie atmete tief durch, bevor sie erzählte: "Nach dem letzten Bündnis begannen meine Vorfahren damit, ein Reich in Harad zu erobern. Doch sie waren zu wenige um es dauerhaft zu halten, und viele von ihnen behandelten die Menschen von Harad schlecht. Und so kam es irgendwann zu einem Aufstand, der von außen unterstützt wurde, und das Reich fiel. Dabei wurde der erste Turm auf der Insel zerstört, und der Dolch Ciryatans und das Medaillon gingen verloren."
"Und wie haben deine Vorfahren sie zurückerlangt?", fragte Aerien interessiert, und Narissa fuhr fort: "Ein Vetter des Turmherren war dem Untergang mit einigen Gefährten entkommen, kehrte später auf die Insel zurück und sein Sohn konnte schließlich die Erbstücke zurückholen." Dieser Teil war immer ihr Lieblingsteil der Geschichte gewesen... und gerade jetzt, tröstete der Gedanke sie. Der Turm war bereits zuvor gefallen, doch ihr Haus hatte überlebt und war zurückgekehrt. Und auch wenn sie sich darüber zuvor nicht im Klaren gewesen war, wusste Narissa nun, dass sie eines Tages zurückkehren würde. Während sie über die Geschichte der Insel nachdachte, fiel ihr ein weiteres Detail ein, und sie musste lächeln.
"Seitdem haben wir Gondor und alle guten Menschen in Harad im Geheimen unterstützt - bis zu Atanar dem Schwarzen."
"Das klingt nicht sehr freundlich", meinte Aerien ebenfalls lächelnd, und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. "War er auch nicht", erwiderte Narissa, verzichtete aber darauf den Kopf zu schütteln, denn sie wusste, es würde wehtun. "Er träumte davon, das alte Reich der Turmherren wieder zu errichten, und begann, offen Krieg gegen die Haradrim zu führen. Er wurde unterstützt von seiner Frau, deren Herkunft vergessen ist und von der nur ihr Name geblieben ist: Azruphel."
Aeriens Reaktion bestand daraus, skeptisch die linke Augenbraue in die Höhe zu ziehen. "Azruphel? Ich wüsste nicht, wieso..." sie brach ab und dachte einen Augenblick lang nach. Dann begann sie, stumm etwas an ihren Fingern abzuzählen, doch anschließend zog sie ahnungslos die Schultern hoch. "Der Name ist selten geworden seitdem meine Vorfahren Westernis verließen - du weißt ja bestimmt, was er bedeutet. Und Mordor ist nun einmal recht weit weg vom Meer. In meiner Familie bin ich erst die Zweite, die so genannt wurde. Die erste Azruphel heiratete damals einen Fürsten aus einem der kleineren Reiche südlich von ..." Sie stutzte und ihre Augen weiteten sich. "...Südlich von Umbar..." fuhr Aerien fort und blickte Narissa mit einer Mischung aus Überraschung und Verstehen an. "Meinst du etwa... ?" fragte sie und ließ den Satz unvollendet.
Narissa konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, obwohl es einen stechenden Schmerz durch ihre verwundete Gesichtshälfte jagte.
"Ja, genau das meine ich." Sie versetzte Aerien einen schwachen Faustschlag gegen den Oberarm - eigentlich hatte er spielerisch sein sollen, doch härter hätte Narissa ohnehin nicht zuschlagen können. "He, dann sind wir sogar verwandt! Also ich meine, sind wir wahrscheinlich ohnehin irgendwie - aber enger als gedacht." Besonders eng war die Verwandtschaft natürlich nicht, immerhin war Atanar der Schwarze ihr Urgroßvater mit mindestens zehn mal "Ur-" davor... und dennoch hatte Narissa beinahe das Gefühl, in Aerien etwas wie eine lange verschollene Schwester gefunden zu haben.
"Und wo wir gerade bei Verwandten sind... würdest du mir von deiner Familie erzählen?", fragte sie leicht zaghaft, und fügte schnell hinzu: "Natürlich nur wenn du möchtest."
"Oh, natürlich gerne," sagte Aerien und grinste. "Ich hoffe, du magst Albträume," fügte sie mit einem belustigten Unterton hinzu, wurde allerdings schnell wieder ernster. "Meine Familie stammt von einem Númenorer namens Balákar ab, der am Ende des Zweiten Zeitalters nach Mittelerde kam und in Umbar lebte. Durch seine Ehe mit einer der Zofen Míriels kam die Halskette in seinen Besitz, die ich dir gezeigt habe. Wie viele Bewohner Umbars dienten meine Vorfahren dem Dunklen Herrscher, und als die Nazgûl dessen Land wieder in Besitz nahmen erhielt meine Familie die alte gondorische Festung Durthang als Erbsitz. Dort bin ich geboren und aufgewachsen - tatsächlich habe ich das kleine Tal von Durthang bis vor zwei Jahren nicht ein einziges Mal verlassen.
 Mein Vater... ist einer der wichtigsten Befehlshaber Mordors und der Fürst der schwarzen Númenorer," fügte sie etwas zögerlich hinzu. "Ich glaube, ich bin die einzige aus Balákars Linie, die sich je gegen Sauron gestellt hat." Aerien ließ den Kopf ein Stückchen sinken. "Sozusagen das weiße Schaf der Familie," sagte sie und brachte ein schiefes Lächeln zustande.
"Du bist alles andere als ein Schaf", meinte Narissa, und erwiderte das Lächeln. "Aber weißt du, ich glaube es kommt nicht darauf an, wer wir oder unsere Vorfahren sind - sondern was wir mit unserem Leben anfangen. Wer unter guten Menschen lebt hat es leicht, Gutes zu tun und das Böse zu bekämpfen. Aber wer nichts anderes kennt - wie du... Ich bewundere, was du aus deinem Leben machst, Aerien", schloss sie, und räusperte sich dann verlegen. "Nun, das war etwas ehrlicher als ich es beabsichtigt hatte, aber ich habe jedes Wort so gemeint."

~~~~
Narissa lächelte bei der Erinnerung. In den vergangenen Tagen hatte sie viel mit Aerien gesprochen, über alles mögliche. Doch etwas, dass Aerien nur einmal erwähnt hatte, beschäftigte sie nach wie vor. Sauron hielt Aragorn, den König von Gondor, im Barad-Dûr gefangen. Damit besaß er ein mächtiges Druckmittel gegen den Westen, und konnte die Linie der Könige jederzeit auslöschen - und irgendein Gefühl sagte Narissa, dass das niemals geschehen durfte. Sie trommelte mit den Fingern auf die Fensterbank, während sie nachdachte. Sie war darin ausgebildet, heimlich in Feindesgebiet einzudringen, hatte mit Aerien eine Verbündete, die sich in Mordor einigermaßen auskannte, und wenn Bayyin in Umbar mehr über den geheimen Pass nach Mordor hinausfinden konnte... Könnte sie es tun? Und könnte sie es mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren, Aerien zurück nach Mordor zu bringen, nach all den Gefahren die ihre Freundin ausgestanden hatte, um aus dem Land des Schattens zu entkommen?
Sie seufzte, und beobachtete einen Falken, der in der Ferne über dem Kraterrand seine Kreise zog. Im selben Moment hörte sie in ihrem Rücken jemanden den Raum betreten, und an der Stimme erkannte sie Eayan: "Es freut mich zu sehen, dass du auf den Beinen bist."
Narissa wandte sich um, und verzog das Gesicht. "Freut ihr euch immer noch, wenn ihr mein Gesicht seht?" Eayan lächelte, trat an sie heran und legte ihr eine Hand auf die vernarbte Wange. Seine Hand war warm, und die Berührung war Narissa nicht unangenehm. "Du machst dir zu viele Gedanken darüber. Ich denke, dass ein Makel wie dieser etwas Schönes nur noch schöner erscheinen lässt." Narissa erwiderte nichts, spürte aber, wie sie sich innerlich entspannte. Vielleicht sagte Eayan es nur um sie zu beruhigen, und meinte es nicht so. Doch in seinen Augen war keine Lüge zu erkennen gewesen.
Eayan nahm die Hand von ihrer Wange und ergriff stattdessen ihre Hand. "Komm. Da es dir besser geht, gibt es hier jemanden den du sicherlich gerne sehen würdest..."

Eandril:
Hinter Eayan betrat Narissa den Wehrgang am oberen Rand des Vulkans. Hinter ihr gähnte der Abgrund des Kraters, und ein scharfer Wind ließ ihre Haare wehen. Nach außen fielen die Hänge des erloschenen Vulkans ein Stück steil ab wie eine Mauer, bevor sie in sanftere, aber felsige Hänge übergingen. Im Norden war nur wenig Grün zu sehen, doch als Narissa sich nach Süden wandte erkannte sie endlose Wälder, die sich dort erstreckten.
"Es ist schön hier oben", sagte sie, und Eayan lachte leise. "Allerdings, und man hat eine gute Aussicht über das Land. Trotzdem, die Aussicht ist nicht der Grund warum ich dich hergebracht habe." Er deutete auf einen Mann, der wenige Schritte entfernt Wache stand, und fuhr fort: "Er ist der Grund."
Der Wächter wandte ihnen das Gesicht zu, und Narissa erstarrte. "Elendar? Aber... du bist tot!"

~~~~
Nach der Flucht von der Insel hatten Elendar, Narissa und Bayyin sich entlang der Küste nach Norden durchgeschlagen, immer auf der Hut vor Suladâns Schergen. Keiner der drei wusste, wohin sie gingen, oder was sie tun sollte.
"Wir sollten nach Gondor gehen", hatte Elendar eines Tages vorgeschlagen, während sie  sich in einem dornigen Gebüsch auf die Nacht vorbereiteten. "Und später zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist."
"Wenn der Krieg vorbei ist?", hatte Narissa ungläubig geantwortet. "Wenn der Krieg vorbei ist, wird es vielleicht niemanden mehr geben, der zurückkehren könnte. Wir sollten... hier bleiben. Und kämpfen." Nur einen Tag später hatte sie ihre Gruppe in ein Dorf geführt, dessen Bewohner den Turmherren freundlich gesinnt waren, doch ihre Verfolger trafen nur wenige Stunden nach ihnen ein. Auch wenn die Dorfbewohner tapfer kämpften, gegen ihre Feinde hatten sie keine Chance, und als der Kampf verloren war, hatte Elendar Narissa und Bayyin befohlen zu fliehen. Sie waren nicht weit gegangen, sondern hatten das Ende des Kampfes aus einem Versteck beobachtet - das waren sie Elendar schuldig, hatte Narissa gefunden.

~~~~
Jetzt, in der Burg des Silbernen Bogens, lächelte Elendar. "Wie du siehst, bin ich keineswegs tot." Narissa setzte an etwas zu sagen, stockte aber und berührte mit zitternden Fingern seinen Arm, wie um sich zu vergewissern, dass sie keinem Geist gegenüberstand. "Ich habe dich sterben sehen", flüsterte sie, und Elendars Gesicht wurde ernst. "Beinahe wäre es auch so gekommen. Ich wurde sehr schwer verwundet, Suladâns Männer hielten mich für tot und ließen mich liegen. Dort wäre ich gestorben, wenn Eayan nicht gekommen wäre und mich geheilt hätte."
Narissa wandte sich zu Eayan um, doch der Anführer des Silbernen Bogens stand nicht mehr dort. Sie und Elendar waren allein auf dem Wehrgang. "Das macht er manchmal", erklärte Elendar mit einem Schulterzucken. "Eayan ist ein großer, aber auch ein merkwürdiger Mann, und ich habe nach wie vor nicht das Gefühl, ihn zu kennen."
Narissa wandte sich ihm wieder zu, und betrachtete sein Gesicht. Elendar hatte sich verändert, seine Erlebnisse schienen ihn reifer und erwachsener gemacht zu haben - wie sie selbst auch. Als das Bild Abels sich in ihre Gedanken schlich, erschauerte Narissa unwillkürlich.
"Ist etwas nicht in Ordnung?", fragte Elendar besorgt, doch Narissa winkte ab. "Nur der Wind. Elendar... es tut mir leid, dass ich uns damals in dieses Dorf geführt habe."
"Das muss es nicht." Er ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. "Ich bin dir gefolgt und würde es wieder tun - und letzten Endes ist alles gut ausgegangen. Wer weiß, was sonst passiert wäre." Elendar beugte sich vor, und sein Gesicht näherte sich ihrem. Doch Narissa wich zurück, und so traf er nur ihre rechte Wange, als er versuchte, sie zu küssen. Sofort zog er sich zurück, und seufzte. "Manche Dinge ändern sich nie, schätze ich."
"Nein, tun sie nicht", erwiderte Narissa leise, und legte ihm eine Hand auf die Wange. "Es tut mir leid." Elendar legte seine Hand auf ihre, und sagte mit rauer Stimme: "Nein, mir tut es leid. Ich weiß nicht... weiß nicht, was ich mir gedacht habe."
"Ich verstehe." Narissa zog die Hand zurück, und sagte: "Du kannst zu mir kommen, sobald deine Wache zu Ende ist, und ich erzähle dir, was geschehen ist seit wir uns das letzte Mal gesehen haben."
Elendar nickte langsam. "Gut, ich werde kommen. Was wirst du in der Zwischenzeit tun?"
"Ich muss etwas herausfinden."

Sie fand Eayan am Grunde das Kraters, wo er gerade sein Pferd sattelte. "So dankbar ich euch auch für Elendars Rettung bin - war es Zufall, dass ihr dort wart, oder etwas anderes?"
Eayan lächelte, und reichte streichelte seinem Pferd über den Hals. "Ihr habt eine merkwürdige Art, Dankbarkeit zu zeigen, meine Liebe." Über den Hals des Pferdes hinweg blickte er Narissa direkt in die Augen, und Narissa musste sich zwingen sich nicht vor diesem kraftvollen Blick abzuwenden. Erst jetzt begriff sie, dass Eayan ein äußerst gefährlicher Feind sein konnte, wenn man sich gegen ihn stellte. Dann sprach er weiter, und der Eindruck verging. "Wenn ich ehrlich sein soll: Nein, es war kein Zufall. Ich hatte von dem Angriff auf eure Insel gehört, und bin sofort nach Westen geeilt."
"Aber wieso?"
"Zu dieser Zeit gehörten die Bewohner von Tol Thelyn zu den wenigen in Harad, die sich gegen Suladân und Mordor stellten, also lag es allein deswegen in meinem Interesse herauszufinden, was geschehen war." Eayan kam um das Pferd herum, und bot Narissa seinen Arm an, den sie zögerlich ergriff. "Und außerdem habe ich vor vielen Jahren mit eurem Großonkel zusammengearbeitet - Elendar, nach dem euer Freund der dort oben so pflichtbewusst Wache steht, benannt wurde. Dieser Elendar war mein Freund, und bevor er nach Gondor aufbrach bat er mich, ein Auge auf seine Familie zu haben. Damit meinte er damals natürlich nur seinen Bruder Hador und dessen Kinder, doch für mich erstreckt sich diese Bitte inzwischen auch auf euch."
Inzwischen hatten sie das Zentrum des Kraters erreicht, und Eayan blieb stehen. "Ich verfolgte eure Spur für einige Tage, bis zu dem Dorf, in dem ihr von Elendar getrennt wurdet. Und dort habe ich einen Fehler gemacht - oder zumindest erschien es später so. Ich erkannte, dass Elendar nur verwundet und noch nicht tot war, und entschloss mich dazu, ihn zu heilen. Dadurch verlor ich Zeit, und eure Spur - bis ihr in Ain Salah wieder aufgetaucht seid."
Er fixierte Narissa erneut, und fragte: "Stellt euch diese Erklärung zufrieden?"
"Vollauf", erwiderte Narissa leise, und senkte den Blick. "Es tut mir leid, dass ich euch bedrängt habe." Sie fragte sich, was geschehen wäre wenn Eayan sie damals aufgespürt hätte - vermutlich wäre sie niemals nach Umbar gegangen, und auch nicht nach Aín Sefra, und hätte niemals Aerien getroffen. Und Elendar wäre in dem Dorf gestorben, also war es vielleicht besser dass alles so gekommen war wie es geschehen war.
"Wohin reitet ihr?", fragte sie nach, und Eayan schüttelte den Kopf. "Ich weiß es noch nicht genau. Es gibt einige beunruhigende Gerüchte aus dem Norden, denen ich nachgehen muss. ich bitte euch lediglich um eines: Verlasst die Burg nicht, bis ich zurückkehre - Egal was geschieht."

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

Zur normalen Ansicht wechseln