Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Burg des Silbernen Bogens

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Fine:
In den Tagen, die Narissa benötigte um sich von den Strapazen der Reise nach Süden und den Schrecken der Gefangenschaft zu erholen hatte Aerien seit langer Zeit wieder die Gelegenheit, etwas zur Ruhe zu kommen. Bis zu ihrer Ankunft in Burj al-Nar, wie die Bezeichnung des Stützunktes lautete, in dem sie sich nun befand, hatte es stets Wichtigeres gegeben, das sie davon abgehalten hatte: Zuerst war es die Flucht aus Mordor gewesen, ab Ithilien dann Damrods Auftrag. In Ain Séfra hatten sie Dinge wie König Músabs merkwürdiges Interesse an ihrer Person und natürlich vor allem Narissa und deren Entführung beschäftigt, welche sie auch auf dem weiteren Weg nach Süden begleitet und maßgeblich dafür verantwortlich waren, was Aerien in den letzten Tagen und Wochen zugestoßen war. Doch nun, da alle direkten Gefahren für den Augenblick gebannt zu sein schienen und Aerien sich zumindest teilweise in Sicherheit wähnte, fand sie tatsächlich Ruhe.

Sie saß am Fenster des kleinen Zimmers, das sie sich mit Narissa teilte. Ihre Freundin war irgendwo in der Burg unterwegs. Aerien wusste nicht, was Narissa tat, und sie hatte auch nicht gefragt. Sie hatte schnell gelernt, dass Sûladans Tochter ihr von selbst erzählen würde, was sie tat, wenn sie vorhatte, es nicht für sich zu behalten. Aerien genoss die warme Sommersomme auf ihrer Haut, denn sie trug weder ihre Rüstung noch den grauen Umhang, sondern war in die leichten haradischen Gewänder aus Ain Séfra gehüllt und hatte ein Oberteil gewählt, das Bauch und Arme frei ließ. Im Tal von Durthang war die Sonne nur sehr selten durch die dunklen Wolken gedrungen, die fast zu jeder Zeit über dem Schattenland Mordor dräuten, denn die Orks des Roten Auges verabscheuten das Sonnenlicht. Sonnenstrahlen waren daher für Aerien eine ebenso neue Erfahrung wie die freundschaftlichen Worte, die sie jetzt immer öfter mit Narissa wechselte. Als sie an Mordor und daran, wie ihr Leben früher gewesen war dachte, kam ihr eine alte Erinnerung in den Sinn, und sie versank tiefer in den Gedanken an ihre Vergangenheit.


Blutrote Fackeln warfen flackernden Lichtschein auf den mit dunklen, glatten Steinplatten gepflasterten, großen Hof von Aglarêth, der Festung der Adûnâi. Wächter in schwarz glänzender Rüstung, deren Helme sie wie gesichtslose Schrecken erscheinen ließen, hielten mit in den finsteren Himmel ragenden Hellebarden Wacht während sich der Platz zu füllen begann. Alle Bewohner des Tals waren dem Aufruf ihres Fürsten gefolgt und trafen nun nacheinander ein. An der Hand ihrer Mutter, Lóminzîl, ging ein kleines Mädchen von acht Jahren, in ein schwarzes Kleid gehüllt. Azruphel versuchte, ihre Aufregung zu verbergen wie man sie es gelehrt hatte, und behielt, so gut es ihr möglich war, einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck bei. Sie wusste natürlich, was nun geschehen würde, doch als sie die große hölzerne Konstruktion im Zentrum des Hofes erblickte weiteten sich ihre Augen dennoch. Der Galgen ragte vor ihr auf, riesenhaft und drohend, genau wie seine Erbauer es beabsichtigt hatten. Der Große Gebieter kannte keine Gnade, und als seine wichtigsten Diener taten es die Adûnâi ebenfalls nicht. Zwei Foltermeister zerrten den geschundenen Gefangenen aus den Kerkern heran und führten ihn Schritt für Schritt über den Hof, während die Menge eine Gasse für sie bildete. Als der Mann an Azruphel vorbei kam warf er ihr einen Blick zu, in dem sie vollständige Verzweiflung und Entsetzen erkannte. Ihre Miene blieb ausdruckslos, wie man es ihr eingeschärft hatte, und sie konnte die Gedanken des Mannes förmlich vor sich sehen: "Selbst die Kinder hier kennen keine Gnade." Sie kannte weder den Namen des Verurteilten, noch den genauen Grund seiner Exekution. Ihr Vater hatte Azruphel nur gesagt, dass der Gefangene den Großen Gebieter bei einer wichtigen Mission im Osten durch sein vollständiges Versagen enttäuscht hatte. Und da er ein schwarzer Númenorer war, fiel er in die Zuständigkeit von Aglarêth. Die Adûnâi hielten sich nicht mit langwierigen Prozessen oder Verhandlungen auf. Wen der Große Gebieter für verurteilungswürdig erachtete, verdiente den Tod, welcher ihm ohne große Zeremonien gewährt wurde. Die Hinrichtung ging schnell vonstatten. Der Henker (einer von Azruphels Großonkeln) zog an einem langen Hebeln, nachdem man dem Gefangenen die Schlinge umgelegt hatte, und diese zog sich zu als er Mann durch die sich öffnene Falltür unter ihm stürzte. Und schon war alles vorbei und die Menschen begannen sich zu zerstreuen. Während die Wachen die Leiche wegschafften begann Azruphel bereits, an andere Dinge zu denken. Das Leben in Mordor ging weiter.


Aerien stellte fest, dass sie den Großteil ihres kurzen Lebens in einer Welt ohne Freundschaft und ohne Gnade gelebt hatte. Jetzt, da sie all diese Dinge erlebt hatte, wusste sie, dass das Leben in Mordor ein Bild dafür war, was Sauron mit der Welt der Menschen vorhatte. Seine Befehle sollten sie ohne Zögern und Zweifel ausführen und im Umgang miteinander sollten sie weder wahres Vertrauen noch Mitgefühl kennen. Sie ballte hasserfüllt die Faust als sie daran dachte. Doch noch bestand Hoffnung. Ein Teil Gondors leistete unbeirrt Widerstand und auch andere Reiche widersetzten sich dem Dunklen Herrscher. Sauron konnte noch immer besiegt werden, dessen war Aerien sich sicher. Wenn die Menschen nur aufhören würden, gegeneinander zu kämpfen und sich gegen Mordor vereinen würden...

Sie entschied, dass ihr ein wenig Bewegung gut tun würde, und schnappte sich ihr Bastardschwert, das am Fußende des Bettes lehnte. Ihr Ziel lag auf der untersten Ebene der Burg. Außerhalb der Mauer, die am Boden des Kraters verlief, hatte man mehrere Übungspuppen aufgestellt und einen Trainingsplatz eingerichtet. Dort verbrachte Aerien nun eine gute Stunde mit Übungen. Sie war entschlossen, ihr Geschick mit dem Schwert weiter auszubauen, denn sie wusste, dass in der Zukunft weitere Kämpfe auf sie warten würden. Schließlich hielt sie inne und blieb schwer atmend stehen. Sie spürte, dass ihre Ausdauer noch immer etwas zu wünschen übrig ließ. Daran würde sie ebenfalls arbeiten, beschloss sie.

Ehe sie weitere Gedanken fassen konnte, erfasste sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel und drehte sich um. Vom Tunnel auf der anderen Seite des Kraters kam eine Reiterin im Schritt heran. Sie trug enge schwarze Kleidung und eine Kapuze, die sie jedoch abgesetzt hatte sodass ihre dunkelbraunen Haare zu sehen waren. Bei Aerien angekommen hielt die Reiterin an und musterte sie einen Augenblick. Dann sagte sie anerkennend: "Du führst eine kühne Klinge, jundi(1). Wie lautet dein Name?"
"Aerien," sagte Aerien vorsichtig. "Und Ihr?"

Die Frau lächelte geheimnisvoll. "Ich bin Ta-er as-Safar", sagte sie, als würde das alles erklären.


(1) haradisch "Kämpfer/in"

Eandril:
Narissa ging durch einen langen, engen Gang, der nur von einigen Fackeln an den Wänden erhellt wurde. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Dolch von dem Blut tropfte, und in den flackernden Flammen der Fackeln glaubte sie, höhnisch grinsenden Gesichter zu erkennen. Sie biss die Zähne zusammen, packte den Dolch fester und ging weiter. Sie wusste nicht, wo sie war, oder wie sie an diesen Ort gekommen war - nur, dass sie erreichen musste, was auch immer am Ende des Ganges auf sie wartete.
Nach einer ihr endlos vorkommenden Weile erkannte sie vor sich einen hellen Schimmer, und trat schließlich durch eine offen stehenden Tür in einen Raum, der von silbernem Licht erfüllt war. "Was ist das hier?", flüsterte sie, und im selben Moment fiel hinter ihr die Tür mit einem Krachen ins Schloss. Vor ihr an der Wand kauerte eine zerschundene, blutige Gestalt, und als sie ihr das Gesicht zuwandte, erkannte Narissa sie.

Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei, und spürte eine kühle Hand auf ihrer verschwitzten Stirn. "Ist alles in Ordnung?", fragte Aerien, die auf Narissas Bettkante saß und offenbar ebenfalls von ihr aus dem Schlaf gerissen worden war.
"Aerien?", keuchte Narissa, und ihr Blick irrte orientierungslos im dunklen Zimmer hin und her. Ihre rechte Hand tastete nach der ihrer Freundin, und Aerien ergriff sie und hielt sie fest. "Schsch", machte sie beruhigend. "Es war nur ein Traum."
Narissas Atem beruhigte sich allmählich, und sie richtete sich langsam im Bett auf. "Nur ein Traum..." In der Dunkelheit des Zimmer schien das, was sie eben gesehen hatte, nur allzu real zu sein. "Aerien, ich habe sie gesehen." In ihrem Kopf jagten Bilder ihrer Kindheit umeinander, die Stimme ihrer Mutter, die Wärme ihrer Hand...
"Ich habe meine Mutter gesehen."
"Deine Mutter?", fragte Aerien unsicher. "Aber hast du nicht erzählt, sie wäre..." "Tot", vollendete Narissa den Satz, und es auszusprechen gab ihr das Gefühl, als würde eine eiserne Faust ihr Herz zusammenpressen. "Das dachte ich zumindest. Aber was wenn... was wenn sie noch am Leben ist? Sie leidet, Aerien!" Im Dunkeln schimmerten Aeriens Augen silbern, als sie langsam sagte: "Es war nur ein Traum. Die Nacht... verändert viele Gedanken." Für einen Moment vergaß Narissa ihren Traum, und fragte sich stattdessen, was für Träume Aerien wohl haben mochte – von Mordor.
"Es war nur... so furchtbar real", flüsterte sie, und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. "Und wenn es wirklich wahr ist, muss ich zu ihr gehen." Für kurze Zeit schwiegen beide, bis Narissa fragte: "Wie spät ist es?" Aerien warf einen Blick aus dem Fenster, und antwortete: "Es dämmert erst langsam, also kein Grund aufzustehen." Narissa lächelte zaghaft und wollte sich gerade wieder in ihr Kissen zurücksinken lassen, als es leise an der Tür klopfte.
Eine braunhaarige Frau steckte den Kopf durch die einen spaltbreit geöffnete Tür, und sagte: "Ihr seid wach, gut."
"Ta-er, nicht wahr?", fragte Narissa, und richtete sich erneut vollständig im Bett auf. Aerien hatte ihr von dem Neuankömmling erzählt, und Narissa hatte sie trotz der Dunkelheit sofort erkannt – beinahe, als hätte sie sie zuvor bereits gesehen. "Das ist richtig." Ta-er glitt in den Raum hinein, und entzündete mit einer raschen Bewegung die Kerze, die auf dem kleinen Tisch neben Aeriens Bett stand. "Ich habe dich in Umbar gesehen, du hast mit Edrahil gesprochen... und mit Saleme." Ta-er sprach den letzten Namen wie ein Schimpfwort aus, doch dann lächelte sie. "Was würde Saleme sich ärgern, dich jetzt hier zu sehen."
"Ihr habt mich in Umbar beobachtet? Wieso?", fragte Narissa, und Ta-er lachte leise. "Ich bin mir zwar sicher, dass du eine hochinteressante Person bist – ansonsten wärst du vermutlich nicht hier – aber ich habe Edrahil und Saleme beobachtet. Für den Moment ist das allerdings unwichtig“, kam sie einer weiteren Frage Narissas zuvor. "Eayan benötigt eure Hilfe bei etwas. Oder eher, bei jemandem."

Kurze Zeit später gingen Narissa und Aerien hinter Ta-er vollständig angekleidet die Treppe, die zum Tunnel am Grund des Kraters führte, hinunter. "Wobei braucht Eayan unsere Hilfe?", fragte Narissa, die inzwischen hellwach war und den Traum beinahe vergessen hatte, und Ta-er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es selbst nicht genau. Er hat jemanden mitgebracht, und braucht nun eure Hilfe." Sie erreichten den Fuß der Treppe, wo sie Eayan bereits erwartete. Der kleine Vorplatz wurde von mehreren Fackeln erhellt, die ein flackerndes Licht auf sein Gesicht warfen, und für einen Herzschlag fühlte Narissa sich in ihren Traum zurückversetzt. "Ich habe jemanden getroffen, der behauptet, nach euch zu suchen", sagte er zur Begrüßung, und fügte mit einem Augenzwinkern an Aerien gewandt hinzu: "Das scheint auf viele Leute zuzutreffen."
Er schob eine schmale Gestalt mit zerzausten braunen Haaren und verbundenen Augen ins Licht, und sagte: "Diese junge Dame hat in Ain Salah einige Fragen über euch beide gestellt, und als ich sie schließlich zur Rede stellte, behauptete sie, zu euch zu gehören." Sobald Eayan das Mädchen ins Licht geschoben hatte, schnappte Aerien neben Narissa hörbar nach Luft, und nur einen Herzschlag später erkannte auch Narissa trotz der Augenbinde das sommersprossige Gesicht. "Serelloth?", fragte Aerien, und die Überraschung war ihr deutlich anzuhören. "Was tust du hier?"
"Aerien, wie schön!", erwiderte Serelloth fröhlich, und wandte suchend den Kopf hin und her. "Heißt das, ich darf diese Augenbinde loswerden?"
Eayan, der sich sichtlich entspannt hatte, nickte dem Mann neben sich, den Narissa erst jetzt als Elendar erkannte, zu, und dieser löste sanft die Binde von Serelloths Gesicht. "Endlich!" Das Mädchen verzog das Gesicht und blinzelte ein paar Mal. "Und Narissa ist auch hier, das freut mich. Und ihr seid...?" Der letzte Teil war an Elendar gerichtet, der Serelloth mit geöffnetem Mund gelauscht hatte und diesen schnell schloss.  "Ich bin, äh... Elendar bin Yulan“, antwortete er, ohne den Blick von Serelloths Gesicht abzuwenden.
"Ihr habt einen ungewöhnlichen Namen für einen Haradrim. Jedenfalls, erfreut euch kennenzulernen." Serelloth streckte ihm die rechte Hand mit dem Handrücken nach oben entgegen. Elendar ergriff sie zögerlich, und hauchte die Andeutung eines Kusses darauf. Zu ihrer Überraschung verspürte Narissa einen Stich der Eifersucht, als sie und Aerien einen bedeutungsvollen Blick wechselten. Dann räusperte Aerien sich, und sagte: "Ich unterbreche euch ja nur ungern." Ihre Augen zogen sich zu engen, verärgerten Schlitzen zusammen. "Serelloth," sagte sie leise und gefährlich. "Was, bei allen verdammten sieben Sternen, tust du hier?"
"Das ist eine hervorragende Frage, die selbst mich interessieren würde", warf Eayan ein bevor Serelloth etwas erwidern konnte. "Aber während ihr das besprecht, würde ich gerne einen Augenblick mit Narissa sprechen, wenn das geht."

"Ich... natürlich", antwortete Narissa ein wenig verwirrt, und folgte Eayan auf die andere Seite des Hofes. Während sie gingen dachte sie darüber nach, was sie eben gefühlt hatte, als Elendar und Serelloth einander angesehen hatten. Sie hatte kein Recht dazu, eifersüchtig zu sein, denn sie hatte nie etwas für Elendar empfunden. Sie waren Freunde, natürlich, und hatten einiges miteinander durchgemacht, aber das gab ihr noch lange keinen Besitzanspruch auf ihn. Und wenn er an Serelloth interessiert sein sollte und er ihr gefiel, sollte Narissa sich für sie freuen.
"Es ist an der Zeit, dir ein wenig über mich zu erzählen", riss Eayan sie aus ihren Gedanken. Der Schattenfalke stand mit dem Rücken zum erleuchteten Vorhof und blickte auf den noch dunklen Krater hinaus, über dessen östlichem Rand die ersten Sonnenstrahlen zu erkennen waren. "Über euch?", fragte Narissa, lehnte sich mit dem Rücken an die steinerne Wand eines der Ställe, und beobachtete die Sonnenstrahlen im Osten. "Hat es etwas mit den Gerüchten zu tun, die ihr im Norden gehört hattet?" Eayan wandte sich zu ihr um und lächelte, und dennoch glaubte Narissa, etwas wie Traurigkeit in seinem Gesicht zu sehen. "Du bist klug“, antwortete er. "Doch von einer aus dem Haus der Turmherren habe ich nichts anderes erwartet. Tatsächlich hatten diese Gerüchte mit jemandem zu tun, den du kennst – Elyana von den Sieben Schwestern." Er seufzte, während Narissa gespannt lauschte. Sie hatte nicht erwartet, dass Eayan irgendeine Verbindung zu den Sieben Schwestern haben könnte, und hoffte gleichzeitig, dass diese Verbindung nicht zu eng war. Sie hatte kein Interesse daran, erneut in Elyanas Fänge zu geraten. "Ich habe Gerüchte von dem Kampf der Schwestern gegen den Kopfgeldjäger Abel gehört, und dass sie dabei alle getötet wurden." Er sah Narissa scharf an, und vor ihrem inneren Auge blitzte das Bild der sieben weißgekleideten Leichen, die vor Abel im Staub lagen, auf.
"Und warum interessiert euch das?", fragte sie, und Eayan blickte sie scharf an. "Elyana war nicht immer eine der Sieben Schwestern. Vor langer Zeit, war sie einfach nur meine Schwester."
"Eure... Schwester?" Narissa beugte sich ein Stück vor. "Ihr meint, im übertragenen Sinne?" Wieder lächelte Eayan traurig, und Narissa begriff, dass sie einer der wenigen Menschen war, denen er davon erzählte. "Nein. Einst waren Saleme, Elyana und ich die drei besten Rekruten der Assassinen seit langem. Wir waren gute Freunde, auch wenn davon heute nicht mehr viel zu spüren ist. Dann geriet Elyana dem Kult der Sieben Schwestern in die Hände und stieg in ihren innersten Zirkel auf – und Saleme begann, den alten Orden der Assassinen nach ihren eigenen Vorstellungen zu formen, sodass sie heute nur noch ihrer Macht dienen. Und so sind aus Freunden schließlich Feinde geworden." Eayan breitete die Arme aus. "Elyana jedoch... so wenig ich den Weg, den sie eingeschlagen hat auch verstehe, sie ist noch immer meine Schwester, und deshalb musste ich gehen."
"Ich verstehe... glaube ich", sagte Narissa zögerlich. "Aber warum erzählt ihr mir das?" "Ich weiß nicht." Eayan hob die Schultern, und für einen Moment wirkte er mehr wie ein normaler Mann als ein mystischer Krieger mit dem Namen Schattenfalke. "Ich schätze, nach allem was Elyana getan hat, hast du ein Anrecht, ein wenig mehr über sie zu wissen, und sie zu verstehen."
"Sie verstehen", stieß Narissa hervor. "Ich verstehe ja nicht einmal, warum ich so wichtig sein sollte." Eayan machte einen Schritt auf sie zu, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Eigentlich bist du nicht wichtig – jedenfalls nicht wichtiger, als jedes einzelne menschliche Leben. Und dennoch haben dir einige Leute Bedeutung zugewiesen – Dein Vater, dein Großvater, Elyana... Du kannst vor dieser Bedeutung davonlaufen, dich irgendwo verstecken bis der Sturm vorüber ist. Oder du kannst es gegen sie benutzen, und darüber hinauswachsen, dich davon befreien. Aber was und wie du es tust, musst du alleine entscheiden."

Fine:
"Jetzt schau' mich nicht so an," sagte Aerien, der man den Ärger deutlich ansehen konnte. An Serelloth jedoch schien er völlig vorbeizugehen, denn sie blickte Aerien voller Verzückung an, kam zu ihr herüber und schloss die verdutzten Dúnadan in eine stürmische Umarmung.
"Ich kann's kaum glauben, dass ich dich wirklich gefunden habe!" rief das Mädchen und Aerien musste Serelloths Finger einzeln von ihrem Rücken lösen bis sie frei von der Umarmung war. Sie packte Serelloth am Armgelenk und zog sie beiseite, weg von Eayans Wachen, die aussahen, als wüssten sie nicht, ob sie lachen oder misstrauisch sein sollten.
"Serelloth," zischte sie. "Du hast dich in große Gefahr begeben als du nach mir gesucht hast. Was, bei den verdammten tausend jaulenden Hunden Huans, hast du dir dabei gedacht?"
"Ach Aerien," gab Serelloth grinsend zurück. "Du hast dich kein bisschen verändert."
"Antworte mir!" rief Aerien und war kurz davor, Serelloth eine schallende Ohrfeige zu verpassen. "Und mögen mich alle fünf Meeresgeister holen wenn ich dich nicht an deinen Ohren bis nach Ithilien zurückschleife!"
Statt einer Antwort besaß Serelloth die Dreistigkeit, zu kichern. Und das war es, was Aerien endgültig in Rage trieb. Sie riss an Serelloths Schultern und schüttelte des Mädchen, was das Kichern nur noch verstärkte. Ehe sie es sich versahen, lagen die beiden auf dem harten Boden des Vulkankessels und Aerien drehte der Waldläuferin den Arm auf den Rücken in einem Griff, den sie in Mordor gelernt hatte. Das brachte das Kichern endlich zum Verstummen.
"Du tust mir weh," beklagte Serelloth sich.
"Das ist noch das geringste, was du verdient hast," stieß Aerien zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Jetzt rede endlich. Bei den verrauchten Gipfeln von Thangorodrim, Serelloth. Wie konntest du nur?"
Serelloth riss sich überraschend geschickt los und kam behände auf die Beine. Dann bot sie Aerien die Hand an und zog sie hoch. "Behandele mich nicht wie ein Kind," sagte sie und schob die Unterlippe beleidigt vor.
"Aber genau das bist du," antwortete Aerien kopfschüttelnd.
"Ich bin siebzehn," korrigierte Serelloth spitz. "Das sind nicht einmal zwei Jahre weniger als bei dir." Doch während sie das sagte, kehrte bereits das breite Grinsen auf ihr sommersprossiges Gesicht zurück. "Jetzt schau' nicht so trübsinning, 'Rien. Ich erkläre es dir, in Ordnung?"
Aerien verschränkte misstrauisch die Arme. "Dann rede," gab sie kurzangebunden zurück.
Serelloth holte tief Luft und begann zu erzählen. "Beregond hat mir nicht verraten wollen, was passiert ist. Alles was ich wusste ist, dass du einfach verschwunden bist." Sie machte ein vorwurfsvolles Gesicht. "Ohne mir Bescheid zu sagen."
"Ich denke nicht, dass du - " setzte Aerien an, doch Serelloth unterbrach sie. "Ich hab' mir Sorgen gemacht, verdammt," sagte das Mädchen überraschend heftig. "Du... du bist doch die einzige Freundin, die ich habe," fügte sie etwas betreten hinzu.

Aerien konnte kaum glauben, was sie da hörte. Wie bitte? Wir kennen uns doch kaum. Bis auf wenige Tage in Ithilien und das ein- oder andere Gespräch in Ain Séfra hatte sie kaum Kontakt mit Serelloth gehabt - bei Weitenm nicht genug Zeit, um einander richtig kennenzulernen. Sie konnte nicht verstehen, wieso Serelloth den weiten und gefährlichen Weg nach Süden auf sich genommen hatte, nur weil sie Aerien vermisste.
"Aber..." stammelte sie, für einen Moment sprachlos. "Was ist mit deinem Auftrag? Was wird dein Vater dazu sagen?"
"Mein Vater ist weiiit weg," flötete Serelloth und drehte sich vergnügt um die eigene Achse. "Außerdem weißt du sehr gut, dass ich auf mich achtgeben kann."
Aerien zog eine Augenbraue hoch und deutete auf Eayan, der etwas abseits stand und sich leise mit Narissa unterhielt. "Und was war das dann?"
"Was meinst du?" fragte Serelloth verständnislos.
"Eayan hat dich gefangen genommen und hierher gebracht. Woher hättest du wissen sollen, dass er dir nichts antut?"
"Ich wusste es einfach, als ich in seine Augen blickte," gab Serelloth unbeirrt zurück, was Aerien ein entnervtes Ächzen entlockte. Es grenzte wahrlich an valarische Behütung, dass Serelloth den gefahrvollen Weg durch Harad ohne Schaden überstanden und die versteckte Burg tatsächlich gefunden hatte.
"Damit ich das richtig verstehe," begann Aerien langsam. "Du hast den armen Beregond alleine in Ain Séfra zurückgelassen, nur weil du der Ansicht bist, dass wir beste Freundinnen sind?"
"Wir sind keine besten Freundinnen," korrigierte Srelloth mit erhobenem Zeigefinger. "Wir sind Schwestern!" stellte sie klar und kicherte. "Wir beide sind vom Blut von Westernis und stehen für einander ein, egal was kommt. Stimmt's?"
"Ich weiß nicht," gab Aerien zurück. "Vielleicht sollte ich dich einfach den Attentätern überlassen, die hier wohnen."
"Nun sei' kein Ork," meinte Serelloth. "Du tust jetzt so verärgert, weil du selbst noch nie eine richtige Schwester hattest. Wenn man bedenkt, wo du herkommst, ist das sicherlich auch kein Wunder. Hast du Geschwister in Mordor, Aerien?"
"Ich habe zwei Brüder," antwortete Aerien vorsichtig. Sie sprach nicht gerne über ihre Familie.
"Und eine Schwester," korrigierte Serelloth und zeigte auf ihr eigenes Gesicht.

Wie es typisch für sie war, wurde Serelloth nur wenige Augenblicke bereits von etwas Anderem abgelenkt. "Die gute Narissa sieht aus, als hätte ihr dieser Eayan gerade eröffnet, dass sie schwanger ist. Und Sûladan ist der Vater!" Sie grinste, als hätte sie gerade den besten Witz der Welt gemacht.
"Still!" zischte Aerien und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. "Sprich kein Wort von Sûladan wenn du mit Narissa redest. Versprich mir das. Hast du verstanden?"
Serelloth nickte. "Heikles Thema?" fragte sie, doch Aerien gab ihr keine Antwort. Serelloth hatte für einen Tag bereits genug Aufregung verursacht.
"Komm," sagte sie und zog die Waldläuferin mit sich. Doch eine schlanke, hochgewachsene Gestalt stellte sich ihnen in den Weg.
"Nicht so schnell, ihr beiden," sagte sie. Es war Ta-er as-Safar. "Azruphel, bürgst du für die Gondorerin?"
"Das tue ich," bestätigte Aerien.
"Ihre Vergehen werden deine sein, bis sie sich als vertrauenswürdig erweist," verkündete die Herrin der Vulkanburg unheilvoll. "Ich werde mich Eayans Urteil beugen, doch wisst, dass ich nicht so leicht zu überzeugen bin wie er. Und dies ist meine Heimat, nicht seine."
"Ich verstehe, Herrin," sagte Aerien, die wusste, was sich gehörte. "Serelloth wird keinen Ärger machen."
"Schon gut," gab die Waldläuferin gekränkt zurück. "Ich benehme mich ja. Ich habe mich nur gefreut, meine Schwester wiederzufinden."
"Schwester?" fragte Ta-er verwundert, doch Aerien winkte entnervt ab. "Nun gut," sagte die Silberbogenkriegerin und gab den übrigen Mitgliedern ihres Ordens ein Zeichen, woraufhin diese sich eilig zerstreuten und sich wieder ihren Aufgaben widmeten. Sie blickte Serelloth noch einen langen Moment prüfend an, dann ging sie schnellen Schrittes in Richtung des Haupttores der Burg davon.

"Also, dieser Elendar ist defintiv ein Hingucker," sagte Serelloth in die Stille hinein. "Meinst du, ich kann ihn wiedersehen?"
Aerien seufzte tief und setzte sich in Bewegung ohne Serelloth eine Antwort zu geben. Liebeleien waren das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie hoffte, dass die Aufregung, die Serelloth stets zu verursachen schien, sich schon bald auf jemand anderen richten würde. Aerien hielt inne, als sie einen Einfall hatte. "Warum suchst du ihn nicht?" fragte sie Serelloth. "Ich glaube, er steht oft am obersten Aussichtspunkt der Burg Wache."
Serelloth nickte begeistert und eilte los. Aerien blieb zurück, voller einander widerstreitender Gedanken. Während sie sich langsam auf dem Weg zu ihrem Zimmer machte, sah sie Narissa und Eayan auf der anderen Seite des Hofes stehen, noch immer ins Gespräch vertieft. Sie fragte sich, welche Neuigkeiten da wohl gerade ausgetauscht wurden.

Eandril:
Für einen Augenblick schwieg Narissa, während sie über Eayans Worte nachdachte. Dann sagte sie: "Ich danke euch für... eure Worte, und eure Offenheit."
"Nun, es war nicht ganz uneigennützig", gab Eayan zu. "Elyana ist dabei, in dir eine Menge Hass auf sich aufzubauen. Und so zornig ich auch auf sie bin, ich sähe es ungern wenn du sie eines Tages töten würdest. Deshalb möchte ich, dass du versuchst zu verstehen wer sie ist, und warum sie handelt wie sie es tut."
"Aber... dazu muss ich mehr wissen. Mehr über die Schwestern", meinte Narissa, und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte kein Recht dazu, noch Informationen von Eayan zu fordern, doch zu ihrer Erleichterung, schien er genau das erwartet zu haben. "Du kannst jederzeit mit mir darüber sprechen, wenn ich in der Festung bin", erwiderte er. "Nur vielleicht nicht jetzt - immerhin gibt es bestimmt einiges, was du mit deiner Freundin Aerien zu besprechen hast."
Ein erster Sonnenstrahl streifte Narissas Gesicht, und sie lächelte. "Allerdings - ich wüsste zu gerne, was Serelloth hier treibt."

Narissa holte Aerien auf der Treppe zu den oberen Bereichen der Burg, wo ihr gemeinsames Zimmer lag, ein. "He, Aerien", keuchte sie. "Du willst dich doch etwa nicht schon wieder im Zimmer verkriechen?" Sie deutete zwischen zwei Mauern hindurch auf den Hof, wo ein mit Sand bestreuter Kampfplatz zu sehen war. Hin und wieder hatte sie dort Mitglieder des Silbernen Bogens bei ihren Übungen beobachtet, doch im Moment war der Platz verwaist. "Wie wäre es, wenn wir ein wenig unsere Muskeln lockern? Ein paar Schläge austauschen? Ein bisschen kämpfen?" Serelloths Ankunft hatte Narissa aus der Lethargie gerissen, in die sie während ihrer Genesung verfallen war, und plötzlich verspürte sie eine Energie und einen Bewegungsdrang, den sie lange nicht gefühlt hatte.
Aerien betrachtete sie einen Augenblick, dann zog sie die linke Augenbraue hoch. "Fühlst du dich denn schon wieder ausreichend erholt, um den Schlägen meiner Klinge zu widerstehen?" Dann blitzte etwas in ihren grauen Augen auf, und sie fügte grinsend hinzu: "Mit deinen beiden Messerchen bist du deutlich im Nachteil, meine Liebe."
Narissa spürte, wie sich ein herausforderndes Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. "Du wirst dich wundern, was meine Messerchen alles anstellen können. Finden wir es doch heraus!"

Nur wenig später hatten sich beide Freundinnen bewaffnet auf dem Sandplatz eingefunden. Aerien hielt ihr Bastardschwert locker in der Rechten und ließ es leicht in der Luft kreisen, während Narissa ihre Dolche noch nicht gezogen hatte. Inzwischen lag der Platz in der Sonne, und beide hatten sich reflexartig so gestellt, dass sie nicht geblendet wurden. Narissa zog langsam mit der rechten Hand den ersten Dolch, Ciryatans Dolch, warf ihn in die Luft und fing ihn blitzschnell am Griff wieder auf. "Bereit?", fragte sie, und Aerien nickte.
"Ich werde versuchen, dir nicht allzu sehr wehzutun", sagte sie, und legte auch die linke Hand auf den Schwertgriff. Narissa zog auch den anderen Dolch, und grinste. "Ich verspreche nichts." Dann machte sie einen Satz nach vorne, beide Waffen vorgestreckt. Aeriens größter Vorteil in diesem Kampf war ihre größere Reichweite, und diesen ließ sie sich nicht ohne weiteres nehmen. Sie wich einen Schritt vor Narissas Angriff zurück, fing mit dem Schwert den rechten Dolch ab und drehte sich noch gerade rechtzeitig zur Seite um dem Linken zu entgehen.
"Nicht schlecht", meinte Narissa. Aerien war schnell, wenn auch vielleicht etwas langsamer als sie selbst, und Narissa würde sich ein wenig mehr konzentrieren müssen.  Sie lockerte ihre Schultern, und griff erneut an.
Für einige Augenblicke tanzten sie beide in einem Wirbel aus Stahl. Narissas Dolche zuckten immer wieder blitzschnell vor, doch Aerien gelang es zunächst, jeden Schlag abzuwehren oder ihm auszuweichen, und drängte Narissa hin und wieder sogar selbst in die Defensive.
Sie ist gut, dachte Narissa bei sich, während sie einem einhändig geführten Hieb Aeriens auswich und dafür mit dem rechte Dolch versuchte, die Deckung ihrer Freundin zu durchbrechen. Ziemlich gut. Aeriens Bastardschwert erlaubte es ihr, sowohl ein- als auch beidhändig zu kämpfen, und Aerien gelang es, fließend von einem Kampfstil in den anderen überzugehen - was Narissa immer wieder zwang, sich ihr anzupassen. Doch schließlich schaffte sie es, einen beidhändig geführten Hieb mit beiden Dolchen zu parieren, sich von der Klinge abzustoßen, in einer Pirouette um Aerien herumzuwirbeln und ihr die Spitze ihres Dolches gegen den Nacken zu setzen. "Ich habe... gewonnen", keuchte sie, und spürte einen Schweißtropfen ihren Nacken hinunterrinnen. Durch ihre Adern pulsierte noch immer die Erregung des Kampfes - das hier war etwas vollständig anderes, als von Abel gezwungen zu werden, in einer Arena zur Belustigung der Aasgeier zu töten.

Aerien ließ das Schwert fallen, und wandte sich zu ihr um. "Bei allen Herren der Adûnâi, ich habe noch nie gegen jemand so schnelles gekämpft."
Narissa warf ihren Dolch erneut in die Luft, dass er in der Sonne blitzte, und fing ihn wieder auf. "Der Vorteil meiner, wie sagtest du noch... Messerchen?" Sie grinste, und stieß den Dolch in die Scheide, während Aerien ihre Klinge aufhob. "Aber du hättest mich ein paar mal fast gehabt - vielleicht kann ich dir ja ein bisschen Unterricht geben." Auf Aeriens verwunderte und einigermaßen empörte Miene hin, streckte sie ihr die Zunge heraus. "Nur ein Scherz. Ich habe keine Ahnung davon, mit einem solchen Schwert zu kämpfen."
"Es ist eigentlich ganz einfach", meinte Aerien, und ließ die Schwertspitze in der Luft kreisen.
"Themenwechsel", schlug Narissa, deren Atem sich allmählich beruhigt hatte, vor. "Erzähl mal, was bei allen verdammten sieben Sternen", sie zwinkerte Aerien zu, "treibt Serelloth denn nun hier?"
Aerien schloss für einen kurzen Moment die Augen und ließ einen tiefen Seufzer hören. "Sie hält mich für ihre beste Freundin," sagte sie dann mit Resignation in der Stimme. "Es grenzt an ein Wunder, dass sie uns tatsächlich gefunden hat. Wenn ihr Vater herausfindet, dass seine Tochter wegen mir noch tiefer ins Feindesland geraten ist, kann ich nie mehr auch nur einen Fuß auf gondorischen Boden setzen." Sie blickte Narissa etwas ratlos an. "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich mit Serelloth tun soll. Sicher, sie kann auf sich aufpassen, aber ich schätze, wir haben sie jetzt erstmal am Hals..."
"Hm", machte Narissa, selbst einigermaßen ratlos. Erst in diesem Moment wurde ihr wirklich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie als nächstes tun oder wohin sie als nächstes gehen würde. Irgendetwas in ihr zog sie nach Qafsah, doch sie wusste selber nicht, warum. Immerhin bedeutete Qafsah für sie nur Gefahr und vermutlich den Tod. "Wir werden schon eine Lösung finden", meinte sie, und verdrängte die Frage damit für den Moment. Dann legte sie die Hand auf den Dolchgriff und blickte Aerien mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Bereit für Runde zwei?"

Der zweite Kampf dauerte länger als der erste, denn beide hatten sich an den Stil ihrer Gegnerin gewöhnt, doch auch dieses Mal blieb Narissa siegreich, als sie unter einem Hagel von Schlägen hindurch tauchte und Aerien ihren Dolch an die Kehle setzte - den anderen hatte sie beim Parieren eines mächtigen zweihändigen Schlages verloren. Erneut ließ Aerien das Schwert fallen. "Bei den verdammten Türmen der Zähne!", stieß sie hervor, als Narissa die Klinge von ihrem Hals nahm, und in ihrer Stimme schwang diesmal etwas Frustration mit. "Wie machst du das?"
"Ganz einfach", sagte eine dritte Stimme, und die beiden bemerkten erst jetzt Ta-er, die am Rand des Kampfplatzes stand, und ihrem Kampf offenbar zugeschaut hatte. "Sie ist dafür ausgebildet worden, gegen Gegner wie dich anzutreten." Sie kam über den aufgewühlten Sand auf sie zu, und Narissa stellte fest, dass Eayans ehemalige Schülerin kaum einen Fußabdruck im Sand zu hinterlassen schien.
"Wohingegen du, Aerien, eindeutig eher dazu ausgebildet wurdest, in einer Schlacht inmitten eines Heeres zu kämpfen. Umso beeindruckender..." Ta-er bückte sich, und hob Aeriens Schwert auf. "... dass du ihr so große Probleme bereitet hast."
"Habe ich das?" Aerien wirkte verwundert, und als sie Narissas Blick suchte, lächelte diese und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. "Kann man so sagen, ja. Du hättest mich hin und wieder fast gehabt, obwohl ich natürlich noch nicht wieder ganz auf der Höhe bin. Dann hätte ich natürlich deutlicher gewonnen", schloß sie etwas provokant, und Ta-er blickte skeptisch drein.
"Wenn dem so ist, woher kommt dann diese Narbe?" Narissa fühlte, wie ihr Lächeln wie weggewischt verschwand. "Das war ein Wurfstern", hörte sie Aerien leise sagen. "Dagegen kann man sich nicht so einfach verteidigen." Zu hören, wie Aerien sie verteidigte, besserte Narissas Laune wieder etwas.
"Ich habe von Eayan gehört, was passiert ist", meinte Ta-er, und fügte beinahe entschuldigend hinzu: "Ich wollte dich auch nicht verletzen, Narissa. Aber es gehört nicht nur Kampfgeschick dazu, eine gute Kämpferin zu sein. Man braucht Aufmerksamkeit, Verstand, und muss genau über seine eigenen Fähigkeiten und ganz besonders ihre Grenzen Bescheid wissen."
"Ihr klingt wie mein Großvater", warf Narissa ein. "Wollt ihr uns vielleicht zeigen, wie gut ihr seid?" Ta-er schüttelte den Kopf. "Nicht heute. Ein andermal gerne, dann kann ich Aerien ein paar Tricks für den Kampf gegen Gegner mit zwei Waffen zeigen. Jetzt habe ich eine andere Frage an dich: Weißt du, wonach dein Freund Bayyin in Umbar gesucht hat?"
"Wir...", setzte Narissa an, unterbrach sich dann aber. "Woher wollt ihr wissen, dass er etwas gesucht hat?"
"Oh bitte", seufzte Ta-er. "Willst du mir vielleicht erklären, warum ein ehemaliger Bibliothekar, der mit dir nach Umbar gekommen ist, es für nötig gehalten hat, in die Bibliothek des Fürstenpalastes einzudringen?"
"Dann hat er es geschafft?" Narissa spürte, wie Erleichterung sie durchströmte, bis ihr auffiel was sie gerade gesagt hatte. "Ja ja, ich weiß wonach er gesucht hat..." Sie warf Aerien einen nervösen Seitenblick zu, denn sie wusste nicht, wie dieses Thema bei ihrer Freundin ankommen würde. "Er hat nach Informationen über einen geheimen Weg nach Mordor gesucht, denn nicht einmal Sauron selbst kennen sollte."
Aeriens Augen weiteten sich. "Einen Weg nach Mordor?" wiederholte sie ungläubig. "So etwas gibt es nicht. Alle Wege sind bekannt, und alle Wege sind bewacht. Niemand kommt hinein oder hinaus."
Ta-er stupste sie an. "Ach, und was steht dann hier vor mir? Ein Geist? Nun schau nicht so entsetzt, ich weiß Bescheid über deine Herkunft."
"Also gut, vielleicht habe ich es hinaus geschafft," gab Aerien zu. "Aber dass es einen Weg geben soll, den Sauron nicht kennt, kann ich beim besten Willen nicht glauben. Das Auge hat jeden Winkel seines Landes stets im Blick, und das schon seit tausenden von Jahren. Ich habe Karten in der Bibliothek gesehen - detaillierte Karten, von denen die Heerführer des Westens nur träumen können - und nirgends ist ein fünfter Weg nach Mordor eingezeichnet. Es gibt nur vier Eingänge in Saurons Reich: Cirith Gorgor, den Pass von Aglarêth, den Morgulpass und Cirith Ungol, sowie die Ostgrenze des Landes, wo sich die Steppen Rhûns und Khands treffen. Es tut mir Leid, Narissa... dein Freund jagt einem Hirngespinst nach."
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein, das kann nicht sein. Ich habe Aufzeichnungen gesehen, die von diesem Pass berichteten, irgendwo im südlichen Gebirge von Mordor. Und außerdem, gerade dass niemand in Mordor davon weiß, ist ja das Interessante daran!" Trotz ihrer überzeugten Worte hatte Aerien einen Hauch des Zweifels in ihr ausgelöst. Was, wenn sie recht hatte? Immerhin beherrschte Sauron sein Land bereits so lange, dass es an ein Wunder grenzen würde ein Gebiet zu finden, dass er nicht kannte.
Ta-er machte ein nachdenkliches Gesicht, als sie einwarf: "Aerien hat recht damit, dass Sauron sein Land gut kennt. Aber dennoch - auch die kleinste, noch so unwahrscheinliche Spur, die uns Mordor gegenüber einen Vorteil verschafft, muss verfolgt werden. Ich werde mit Eayan darüber sprechen, dass wir Boten nach Umbar und zur Insel entsenden, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen - und deinem Freund berichten, dass du dich hier in Sicherheit befindest. Wer weiß, vielleicht werdet ihr sogar selbst gehen..."

Fine:
Ta-er ging langsam in Richtung der Burg davon und die beiden Mädchen blickte ihr nachdenklich hinterher. Einen Augenblick schwiegen sie und sahen zu, wie die Sonne am Himmel ihren Lauf nahm und der Boden des Kraters wieder von den Schatten verdunkelt wurde, als der Mittag vorüberging.
"Dieser Bayyin," sagte Aerien schließlich langsam in die Stille hinein. "Ist er... süß?"
Narissa warf ihr einen seltsamem Blick zu. "Ich schätze schon," sagte sie gleichgültig. "Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Seit meiner Flucht von der Insel hatte ich eigentlich kaum Zeit, über solche Dinge nachzudenken."
"Jetzt hast du sie," legte Aerien nach. "Also, sag schon. Wie kommt es, dass du so viele Freunde hast," sie betonte das Wort besonders deutlich, "aber trotzdem noch niemanden gefunden hast, mit dem du... mehr als nur Freundschaft teilst?""
Auf Narissas Wangen war eine leichte Röte zu erkennen, doch sie gab sich ungerührt. "Dasselbe könnte ich dich fragen," gab sie ausweichend zurück.
"Ich habe aber zuerst gefragt," konterte Aerien mit einem siegesicheren Lächeln. "Jetzt sag schon. Es bleibt auch unter uns. Du weißt ja, ich kann ein Geheimnis bewahren."
"Das weiß ich nur zu gut," sagte Narissa, dann nahm sie einen tiefen Atemzug. "Ich denke... Bayyin wäre durchaus an mir interessiert. Elendar vermutlich ebenfalls... aber..."
Aerien schaute sie neugierig an. "...Aber?"
"Ich weiß nicht," gab Narissa ratlos zurück. "Es hat sich bisher einfach nicht ergeben. Du weißt ja, wie es ist, auf der Flucht zu sein. Ständig über die Schulter blicken zu müssen."
"Ja," sagte Aerien und nickte mitfühlend. Sie ergriff Narissas Hand und drückte sie für einen kurzen Augenblick. "Ich weiß, wie es ist."

Aerien hielt Narissas Hand und beide blickten schweigend zur Burg des Silbernen Bogens hinauf, die sich wie eine Kletterranke an die Wand des Kraters klammerte.
"Vielleicht, wenn all das vorbei ist -" sagte Aerien, doch gleichzeitig sagte Narissa: "Wir beide finden bestimmt eines Tages jemanden."
Sie blickten einander an und lächelten. Aerien ließ Narissas Hand los und nickte. "Da bin ich mir sicher," bekräftigte sie.
Narissa hob die Hand an den Mund und gähnte herzlich. "Ich danke dir für das Training, Aerien. Aber jetzt sollte ich wohl die verlorene Energie wieder auffüllen gehen."
Aerien nickte verstehend. "Du bist immer noch nicht vollständig erholt," sagte sie. "Es ist gut, dass du dir nicht zu viel zumutest."
"Ich bin schon wieder fast die alte," befand Narissa. "Ich brauche nur ein wenig Schlaf. Wir sehen uns später, Aerien." Damit verabschiedete sich und verschwand im Inneren der Burg.

Aerien blieb mit ihren eigenen Gedanken zurück. Noch immer glaubte sie nicht daran, dass es wirklich einen verborgenen Weg nach Mordor hinein geben sollte, von dem der Dunkle Herrscher nichts wusste. Sie wusste nicht, worauf Narissas Freund Bayyin gestoßen war, doch bevor sie den versteckten Weg nicht mit eigenen Augen gesehen hatte würde Aerien dessen Existenz weiter bezweifeln. Sie hob ihr Schwert auf und schob es vorsichtig in das Futter, das sie sich über die Schulter gehängt hatte. Das arm- und bauchfreie Oberteil, das sie trug, erlaubte ihr, die Hitze die sich im Kessel angestaut hatte, problemlos zu ertragen. Sie genoss die Wärme. In Durthang war es meist eher kalt und zugig gewesen da die Feuer des Schicksalsberges fern waren.
Sie trottete langsam durch das Haupttor der Burg und begann, die Stufen zum obersten Aussichtspunkt hinauf zu gehen, um einen Blick auf das umliegende Land zu werfen. In den vergangenen Tagen war sie oft dort gestanden und hatte den Blick über Ain Salah, das im Norden gut sichtbar zu erkennen war, schweifen lassen. Das Gebirge zog sich in südlicher Richtung mit hoch aufragenden Gipfeln tiefer ins Land hinein, während im Westen und Osten große, bewaldete Ebenen lagen. Aerien fragte sich, wieviele Menschen dort wohl lebten, und ob es vielleicht Elben in den tiefen Wäldern geben könnte. Sie war in ihrem kurzem Leben noch keinem der Eldar begegnet und rechnete auch in nächster Zeit nicht damit.  Vielleicht, wenn ich eines Tages wieder nach Gondor komme, dachte sie während sie die oberen Ebenen der Burg durchquerte. Unter den Waldäufern Ithiliens ging das Gerücht um, dass Elben des Goldenen Waldes die Tore von Dol Amroth bewachen, erinnerte sie sich.

Sie trat auf den Wehrgang an der Spitze der Burg hinaus. Hier zog sich die Mauer ungefähr dreißig Schritte direkt am obersten Kraterrand entlang und bot den Wachtposten einen spektakulären Ausblick, ohne selbst sichtbar zu sein. Am Ende des Mauerstückes standen zwei Gestalten nah beieinander, und als Aerien vorsichtig näher kam, hörte sie die Stimmen der beiden, die sich unterhielten.
"In einem geheimen Versteck in Ithilien?" fragte die erste Stimme, die einem jungen Mann gehörte. "Das klingt wirklich abenteuerlich."
"Ich darf dir leider nicht verraten, wo es liegt," sagte die zweite Stimme, die unverkennbar zu Serelloth gehörte, die ihre grüne Kapuze aufgesetzt hatte. Neben ihr stand der junge Elendar, wie Aerien nun erkannte. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, dass er Serelloth an der Hand genommen hatte.
"Mein Vater würde rot vor Zorn werden, wenn er von all dem hier wüsste," sagte Serelloth mit einem Kichern.
"Ist dein Vater einer der Fürsten Gondors?" fragte Elendar wissbegierig, doch die Waldläuferin schüttelte den Kopf.
"Meine Vorfahren sind nicht adelig. Doch seit Heermeister Faramir in Rohan ist führt mein Vater den Widerstand in Ithilien an."
"Beeindruckend," befand Elendar. "Es ist gut zu hören, dass Gondor noch immer gegen Sauron kämpft."
"Wir werden nicht aufgeben," sagte Serelloth, doch dann schien ihr etwas einzufallen. "Hör mal, Elendar, du darfst Aerien kein Wort darüber erzählen, hast du verstanden?"
"Wovon soll er mir nicht erzählen?" fragte Aerien und die beiden fuhren überrascht und errötend herum. "Über euer kleines, heimliches Treffen?"
"A-Aerien!" stieß Serelloth mit hochrotem Kopf hervor. "Wie - schön dich zu sehen!"
Aerien versuchte, einen strengen Gesichtsausdruck beizubehalten, doch es gelang ihr nicht und sie musste grinsen. "Was wird wohl Damrod zu all dem sagen?"
"Bitte erzähle es nicht meinem Vater!" flehte Serelloth. Elendar, dem die Entdeckung ebenfalls recht unangenehm zu sein schien, trat verlegen von einem Bein aufs Andere.
"Vielleicht nicht," sagte Aerien gnädig. "Oh, aber ihr könnt davon ausgehen, dass ich es Narissa erzählen werde - jedes einzelne Wort!"
"Wieviel hast du denn gehört?" fragte Serelloth betreten.
"Genug, um zu wissen, was hier vor sich geht," antwortete Aerien triumphierend. "Aber wer bin ich, mich eurer jungen Liebe in den Weg zu stellen? Macht ruhig weiter mit... was auch immer das hier ist."
"Äh... danke," stammelte Serelloth und Elendar blickte peinlich berührt zu Boden ohne etwas zu sagen. Aerien ließ die beiden stehen und machte sich auf die Suche nach etwas zu Essen.

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