Trotz Aeriens sichtlichem Ärger, konnte Narissa sich nur schwer beherrschen. "Ich... ergebe mich", stieß sich noch immer lachend hervor. "Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt." Sie hatte lediglich die Wanne, in der sie sich gewaschen hatte, über den Kraterrand geleert und hatte sie gerade zurückgebracht, als sie Aerien mit besorgter Miene aus dem Zimmer hatte kommen sehen. Sie hatte sofort den Entschluss gefasst, die Gelegenheit zu nutzen, und war Aerien bis zu den Ställen gefolgt. "Hast du wirklich geglaubt, dass die Pferde dir verraten können, wo ich bin?", fragte sie, und konnte das Kichern erneut nicht zurückhalten. Sie genoss es, Aeriens Gewicht auf sich zu spüren, im festen Griff ihrer Freundin - genau hier gehörte sie hin.
Aeriens Miene entspannte sich ein wenig, auch wenn sie die Situation nach wie vor deutlich weniger lustig zu finden schien als Narissa. "Einen Versuch war es wert", gab sie zurück, und Narissa musste erneut Lachen, als ihr ein weiterer Einfall kam. "Vielleicht hätte ich antworten sollen, und so tun als hätte ein Pferd gesprochen", sagte sie grinsend.
"Danke, aber du hast mich auch so schon fast..." Aeriens Griff lockerte sich ein wenig, und das genügte Narissa. Mit einer raschen Bewegung befreite sie sich aus dem Griff, und wälzte sich herum so dass sie nun auf Aerien zu liegen kam, und diese zu Boden drückte. Aeriens schwarze Haare breiteten sich wie ein Kranz um ihren Kopf aus, und die Nähe verursachte Narissa ein angenehmes Kribbeln irgendwo tief in ihrem Bauch, und ihr war beinahe ein wenig schwindelig.
"... zu Tode erschreckt. Jetzt zum zweiten Mal!", beendete Aerien ihren Satz protestierend. Narissa schwieg, und blickte sie nur an, genoss den Moment. "Stimmt irgendetwas mit...", begann Aerien verwundert, wurde aber unterbrochen als Narissa sie mitten im Satz heftig küsste. Der Kuss wurde länger und leidenschaftlicher, und als sie die Lippen voneinander lösten waren Aeriens Wangen rot, und Narissa vermutete, dass sie nicht anders aussah. "Ist mir verziehen?", fragte sie ein wenig atemlos, und Aerien nickte so gut es in ihrer Lage möglich war.
"Für dieses Mal ja", antwortete sie ein wenig heiser, und Narissa grinste. Dann küsste sie Aerien erneut, diesmal sanfter und zärtlicher. Sie unterbrachen den Kuss, als vom anderen Eingang des Stalles zwei männliche Stimmen zu hören waren, die sich leise unterhielten. Zum Glück waren sie von dort aus hinter einem Stapel Strohballen und Kisten verborgen, und so bedeutete Narissa Aerien, liegen zu bleiben und keinen Laut von sich zu geben. Die beiden Männer unterhielten sich leise in einer haradischen Sprache, die Narissa weniger gut verstand, aber anscheinend gehörten sie zu jenen, die Eayan ausschickte um den Süden des Berges nach Spuren der Angreifer abzusuchen. Während sie warteten, dass die Männer ihre Pferde sattelten und aus dem Stall führten, ließ Narissa ihre rechte Hand unauffällig von Aeriens linkem Arm an der Seite weiter nach unten gleiten. Auf Hüfthöhe angekommen verschwand sie schließlich unter Aeriens Gewand, strich leicht zitternd über die weiche Haut und fühlte die Muskeln darunter. Narissa spürte ihren Atem schneller und flacher gehen, doch als ihre Finger die lange, frisch verheilte Narbe erreichten, hielt Aerien ihren Arm abrupt fest, richtete sich auf und sagte scharf: "Lass das."
Narissa zog die Hand zurück, richtete sich ebenfalls auf und setzte sich Aerien gegenüber mit dem Rücken an einen der Holzbalken, die die Decke des Stalles stützten. "Warum?", fragte sie. "War ich zu voreilig, oder..."
"Ich will nicht... Das ist...", begann Aerien stockend, unsicher, und seufzte. "Die Narben sind hässlich, und..." Sie unterbrach sich erneut, und Narissa glaubte, etwas wie Angst in ihren Augen zu sehen. Sie strich sich die Haare, die ihre eigene Narbe halb verborgen hatten, aus dem Gesicht und sagte: "Weißt du, was du in Qafsah über die hier gesagt hast? Du findest, dass sie mir etwas verwegenes gibt - und das ist nichts schlechtes."
"Ja, aber... das war bevor wir... also bevor du...", erwiderte Aerien langsam, und Narissa sagte: "Mich in dich verliebt habe?" Es so auszusprechen war neu - ihr war natürlich klar gewesen, dass das der Fall war, aber sie hatten es einander nie so gesagt. Es war, als wäre diese Tatsache damit nun endgültig besiegelt. Aerien nickte langsam, und ihre Augen glänzten verdächtig. Narissa kroch auf den Knien zu ihr hinüber, setzte sich mit dem Rücken an die Wand aus Strohballen neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. "Das mag sein, aber es ändert überhaupt nichts."
"Nichts...", sagte Aerien leise. "Ich wurde dazu erzogen - gemacht - makellos zu sein. Und ich dachte, vielleicht..."
"Nun, ich kann nicht behaupten, dass es nichts mit deinem wundervollen Aussehen zu tun hatte", gab Narissa zu, was Aerien wenigstens ein schwaches Lächeln entlocken konnte. "Aber daran ändern ein paar Schrammen und Narben überhaupt nichts - für mich bist du immer noch makellos, denn das sind keine Makel. Jedes Mal wenn ich daran denke, erinnere ich mich daran, wie du sie bekommen hast. Du bist mit mir in diesem Gefängnis gewesen, hast an meiner Seite gekämpft,
obwohl du es für einen Fehler gehalten hast, nach Qafsah zu gehen. Und ich weiß nicht, ob ich dir jemals genug dafür danken kann."
Einen Moment lang zögerte Aerien, bevor sie lächelte, Narissa leicht auf die Wange küsste und sagte: "Das eben war schon ein guter Anfang."
"Hm", machte Narissa zufrieden, ergriff Aeriens Hand und schob ihre Finger zwischen einander. Eine Zeit schwiegen sie beide, genossen den Frieden und die nur vom gelegentlichen Schnauben eines der Pferde unterbrochene Stille.
Schließlich meinte Aerien: "Ich habe Eayan gesagt, dass wir auf die Insel gehen werden." Bei diesen Worten stand Narissa schlagartig das Bild ihrer Heimat vor Augen, die flachen Strände im Osten, die hohen Klippen an der Westküste, die grünen Wiesen und kleinen Wälder im Inneren, und der hohe Weiße Turm, der die Insel überblickte. Die Segel der kleinen Flotte, die im Hafen ankerte in sanft im Wind schaukelte, die Stimme ihres Großvaters, der ihr von der Geschichte Mittelerdes erzählte... Sie fragte sich, was davon wohl noch übrig war. Ein wenig schreckte sie der Gedanke, dorthin zu gehen - was, wenn die Gerüchte falsch waren, und ihr Zuhause noch immer verlassen und in Trümmern lag? Doch eines Tages würde sie gehen müssen, und warum nicht jetzt?
"Ich hatte ja versprochen, dich ans Meer zu bringen...", erwiderte sie langsam. "Also ja, wir werden gehen. Es wird dir gefallen, da bin ich mir sicher."
"Dann lass uns morgen aufbrechen", meinte Aerien leise. "Sobald die Sonne aufgeht."
Narissa und Aerien zur Mehu-Wüste...