Narissa und Thorongil aus der Mehu-WüsteDie Nacht war noch nicht lange hereingebrochen, als Thorongil sein Pferd anhielt, und Narissa wusste sofort, warum: Der leichte Geruch von Rauch lag in der Luft. Sie sah ihren Onkel fragend an, und dieser nickte. Beide saßen ab, führten ihre Pferde ein Stück nach links von der Straße und banden sie an Pflöcken, die sie tief in die Erde rammten, an.
"Keinen Laut, hörst du?", flüsterte Narissa Grauwind zu, und klopfte ihr sacht den seidigen Hals. Dann folgte sie Thorongil, der bereits langsam und unhörbar ein Stück in die Richtung gegangen war, aus der der Rauchgeruch heranwehte.
Etwa hundert Meter weiter sahen sie zwischen den niedrigen Bäumen und Büschen eines kleinen Wäldchens, die in dieser Gegend immer wieder neben der Straße wuchsen, den schwachen, flackernden Schein eines kleinen Feuers, und der Wind trieb leise Stimmen heran.
Narissa hatte ihr normales helles Hemd gegen ein schwarzes getauscht, unter dessen Kapuze sie ihre auffälligen Haare verstecken konnte, und auch Thorongil war so dunkel gekleidet, dass er in der Dunkelheit kaum zu sehen war. "Auf den Hügel", flüsterte ihr Onkel, und deutete in Richtung einer kleinen Anhöhe, die sich ein wenig nördlich von ihnen erhob und einen guten Blick auf das Lager ermöglichen würde.
Gemeinsam schlichen sie lautlos den Hang hinauf, und kauerten sich oben auf dem von der Hitze des Tages noch immer leicht warmen Boden nieder. Der Untergrund war sandig und mit kleinen Steinen übersät, doch sie waren nicht länger in der Wüste und hier wuchsen überall niedrige Grasbüschel, und auf den Felsen Flechten.
"Zwei Feuer", sagte Narissa leise. Der Wind kam aus Richtung Osten, wehte ihnen also ins Gesicht und würde ihre Worte nicht an das Ohr ihrer Feinde dringen lassen.
"Aber nur ein Zelt", erwiderte Thorongil. "Dort wird Karnuzîr sein, mit..."
"Ich weiß", schnitt Narissa ihm das Wort ab, bevor er den Namen sagen konnte. "Kannst du Wachen sehen?"
"Vier", sagte ihr Onkel nach einem kurzen Moment des aufmerksamen Beobachtens. "Einer hinter dem Zelt, einer davor, und zwei mit dem Gesicht zur Straße."
Narissa deutete auf den westlichen Rand der Büsche und meinte: "Und noch einer im Westen." Durch die Strecke, die sie im Dunkeln zurückgelegt hatten, hatten sich ihrer beider Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und Mond und Sterne schienen hell in dieser Nacht.
"Dann wird im Osten auch noch einer sein", vermutete Thorongil. "Das wären dann sechs."
"Ich nehme den im Westen und die beiden am Zelt", wisperte Narissa, und Thorongil nickte langsam. "Ich kann mich um die übrigen drei kümmern - und dann? Vielleicht sollten wir die Pferde holen, und..."
"Das ist keine Rettungsaktion", unterbrach Narissa ihn kalt. "Diese Menschen da unten? Sie müssen alle sterben, jeder einzelne."
"Und was ist mit..."
"Sie nicht - sofort", schränkte sie ein. "Das werde ich entscheiden, wenn... ich mit ihr gesprochen habe." Der Gedanke, mit Azruphel zu sprechen machte Narissa Angst, und jetzt, wo sie so nah war, war sie sich nicht länger sicher, ob sie sie töten konnte, falls es notwendig war.
"Solange wir die Schlafenden lautlos töten, können wir es schaffen", fuhr Narissa fort, und obwohl Thorongil erneut nickte konnte sie deutlich sehen, dass er nicht glücklich mit ihrem Plan war. Noch immer geduckt überprüfte er den Sitz seiner Waffen, und sagte dann: "Zähl langsam bis hundert. Dann greif an - lautlos, und schnell."
Als sie bei hundert angekommen war, schlich Narissa den nördlichen Hang des Hügels hinunter. Sie schlug einen Bogen, und näherte sich dann dem Lager von Nordwesten - sodass sie keinem der Wächter direkt entgegenlief, sondern im toten Winkel zwischen ihnen hindurch. Trotzdem huschte sie geduckt von Felsen zu Felsen, bis sie schließlich die ersten trockenen Büsche erreichte. Trotz der Dunkelheit bestand immer die Gefahr, gesehen zu werden, und in diesem Fall würde ihr ganzer Plan scheitern. Narissa entschied sich dazu, zuerst den Wächter im Norden, hinter dem Zelt zu erledigen. Der Mann war nicht besonders aufmerksam, sondern schien vielmehr dem Gespräch zu lauschen, dass aus dem Zelt hervor drang. Narissa wäre beinahe gestolpert, als sie die gedämpften Stimmen erkannte.
"Dann jedoch trat meine Großmutter aus der Menge hervor und sagte:
Seht sie euch an. Die strahlende Jungfrau von Aglarêth. Belkali Azruphel! Sie begann langsam zu klatschen, und einer nach dem anderen fielen der Rest der Anwesenden mit ein."
Narissa versuchte nicht hinzuhören, während sie langsam und leise einen der Wurfdolche aus seiner Halterung zog, und zielte.
"An diesem Tag wäre ich gerne dabei gewesen. Aber ich war auf einer Reise mit einem Vater in den tiefen Süden", hörte sie Karnuzîr sagen, als ihr Messer ihre Hand verließ und sich mit einem beinahe unhörbaren dumpfen Aufschlag einen Herzschlag später in den Hals des Wächters bohrte. Sofort sprang sie vorwärts, fing den Körper des Mannes, der in seinem Schock nur einen kurzen gurgelnden Laut von sich gegeben hatte, auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten.
"Doch als wir schließlich, nach vielen überstanden Gefahren und Abenteuern, die Ruinen der alten Stadt erreichten, war sie bereits vor langer Zeit geplündert worden", fuhr Karnuzîr, der offenbar nichts gehört hatte, mit seiner Erzählung fort, und Narissa versuchte, nichts davon zu hören. Sie verstaute ihr Wurfmesser wieder, und huschte in westlicher Richtung davon, zur nächsten Wache. Karnuzîr und seine Cousine schienen sich ja bestens zu verstehen...
Der Mann, der weiter im Westen Wache stand war deutlich pflichtbewusster als sein verstorbener Gefährte. Er stand inmitten der Büsche und ließ den Blick immer langsam von Nordwesten nach Südwesten und zurück schweifen, Speer und Schild fest in den Händen. Vorsichtig schlich Narissa heran, immer darauf achtend, keinen am Boden liegenden Zweig zu zertreten und keine Büsche zu streifen. Sie hoffte, dass niemand aus dem Lager nach außen blickte, oder sich gerade in die Büsche schlug, um einem allzu menschlichen Bedürfnis nachzugehen.
Ohne Zwischenfall erreichte sie den Wächter, zog lautlos den kermischen Dolch und rammte dem Mann mit der Linken die Klinge in den Rücken, genau zwischen zwei Rippen hindurch ins Herz. Gleichzeitig schlang sie blitzschnell den rechten Arm um ihn und presste ihm die Hand fest auf den Mund. Der Mann stieß ein dumpfes Ächzen, das von ihrer Hand noch weiter gedämpft wurde, aus, und begann in sich zusammenzusinken. Er zuckte noch zwei Herzschläge lang krampfhaft mit den Beinen, und lag dann still, als Narissa ihn ebenso leise wie er gestorben war zu Boden gleiten ließ. Gerade, als sie den Dolch aus der Leiche zog, hörte sie vom Lager her eine leise Stimme: "Dharih?"
Narissa unterdrückte einen Fluch, und duckte sich hinter einen Busch. Sie hatte keine Zeit, die Leiche zu verstecken, und das Verschwinden eines der Wächter hätte ebenfalls Aufmerksamkeit erregt. Ihr blieb also nur eine Wahl.
Als der Neuankömmling keine Antwort bekam, fragte er misstrauisch: "Bist du da?" Er trat weiter zwischen die Büsche, und gerade bevor er die Leiche des Wächters erreichte, schlug Narissa zu. Sie hatte beide Dolche gezogen, rammte ihm den rechten in die Brust und den linken seitlich in den Hals. Die dunklen Augen des Mannes weiteten sich vor Schreck, doch bevor er einen Schrei ausstoßen konnte riss Narissa ihm den Dolch aus der Brust und schnitt ihm die Kehle durch, sodass nur ein ersticktes Glucksen daraus wurde, bevor er starb.
Sie wischte sich an der Kleidung des Mannes ein wenig Blut von der Hand. Er war unbewaffnet gewesen, also war er nicht gekommen um die andere Wache abzulösen, sondern hatte sich entweder erleichtern oder mit diesem reden wollen. Narissa konnte nur hoffen, dass der keinem der anderen Männer im Lager Bescheid gesagt hatte, dass er ging. Und selbst wenn ihn niemand vermisste, hatte sie doch keine Zeit zu verlieren, also schlich sie zurück, wieder auf das Zelt zu.
Glücklicherweise lagen die schlafenden Krieger ein wenig abseits vom Zelt - anscheinend legte Karnuzîr abgesehen von den beiden Wächtern Wert darauf, dass niemand ihn und seine Cousine belauschen konnte. Bei was auch immer sie taten.
"Oh, Belkali. Das reicht nicht. Du musst es so meinen", hörte sie Karnuzîrs verhasste Stimme, als sie von der Seite an das Zelt herankam. Im Inneren glaubte sie durch den Zeltstoff zwei Gestalten zu sehen, die
sehr nah beieinander zu sein schienen, und trotz allem was geschehen war, versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich. Sie zog erneut eines ihrer Wurfmesser.
"Wiederhole es... und lass die Worte von Herzen kommen. Zeig mir, dass du es wirklich ernst meinst."
Der Wächter vor dem Zelt starb auf die selbe Weise wie vor ihm der dahinter, und als er tot war, hörte Narissa
ihre Stimme: "Ich... werde dir stets ehrlich gegenüber sein und nichts vor dir verbergen." Auch wenn Azruphel nicht wissen konnte, dass Narissa hier war, und mit Sicherheit nicht sie meinte, fühlte Narissa sich von den Worten seltsam angesprochen - und hielt es nicht länger aus.
"Sehr gut", entgegnete Karnuzîr leise. "Und jetzt küss' mich."
Auch wenn ihr Plan es eigentlich nicht vorsah, zog sie lautlos die Plane vor dem Zelteingang ein Stück zur Seite, und schlüpfte ins Innere. Karnuzîr saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden, hatte eine Hand unter Azruphels Kinn gelegt, und näherte sich langsam ihrem Gesicht. Azruphel hatte die Augen geschlossen, genoss offenbar die Nähe ihres Vetters, und Narissa konnte nur mühsam einen Aufschrei unterdrücken.
Sie fiel hinter Karnuzîr auf die Knie, und legte ihm mit einer blitzschnellen Bewegung den blutbeschmierten Dolch an die Kehle.
"Ich würde das lassen... und ganz still sein", zischte sie ihm hasserfüllt ins Ohr, bevor er einen Laut von sich geben konnte. Abrupt zuckte Azruphel zurück und riss die Augen auf. In ihnen standen Schreck und Furcht. Narissa drückte den Dolch ein wenig fester gegen Karnuzîrs Hals und sagte leise: "Und wenn dir das Leben deines Vetters lieb ist, gibst du ebenfalls keinen Laut von dir."
Azruphel bewegte stumm die Lippen, wobei Narissa ihren Namen zu erkennen glaubte, und in ihre Augen trat für einen Herzschlag ein Ausdruck der... Erleichterung? Der Anblick genügte, um Narissa abzulenken, und Karnuzîr zog mit einem Ruck den Kopf hinter ihrem Dolch hervor. Er brachte sich dabei selbst einen Schnitt entlang des Halses bei, der zwar lang aber nicht tief war, und als er ihr den Kopf zuwandte, stand blanker Hass in seinen Augen - Hass, den Narissa erwiderte.
"Es war ein Fehler, alleine zu kommen", zischte er, und Narissa schüttelte den Kopf. "Wer sagt, dass ich alleine bin?" Von draußen ertönte ein schmerzerfüllter Schrei. Nur einen Herzschlag später wurde hinter ihr die Plane vor dem Zelteinang erneut zurückgeschlagen, und eine unbekannte Stimme sagte aufgeregt: "Herr Karnuzîr, ich glaube..." Es gab einen dumpfen Schlag und die Stimme brach ab. Als Narissa herumfuhr, sah sie die Leiche des Südländers zu Boden stürzen, während Thorongil sein Langschwert aus seinem Rücken zog.
"Du bist langsamer als ich, Nichte", sagte er, und wischte die blutige Klinge an der Zeltplane ab. "Andererseits...", fügte er mit einem Blick auf Azruphel und Karnuzîr, die beide mit schreckgeweiteten Augen zu ihm aufsahen, hinzu. "... ist das vielleicht auch verständlich."
Er wandte sich Karnuzîr zu. "Wir sind einander noch nicht begegnet - Thorongil, Hadors Sohn und Herr von Tol Thelyn." Karnuzîr öffnete den Mund, vielleicht um seine Wachen zu rufen, vielleicht um etwas zu entgegnen, doch Thorongil kam ihm zuvor: "Gebt euch keine Mühe, eure Männer sind tot. Sie schliefen tief und fest, und nur die letzten beiden haben etwas bemerkt."
Narissa, die inzwischen aufgestanden war, sah, wie Karnuzîrs Blick zwischen ihnen beiden und Azruphel hin und her irrte, und seine Hand gleichzeitig nach einem kleinen Beutel neben ihm tastete. Direkt bevor seine Finger den Beute erreichten, warf Narissa eines ihrer Messer, dass seine Hand am Boden festnagelte. Karnuzîr stieß einen Schmerzensschrei aus, und Narissa lächelte.
"Keine Wurfsterne für dich. Ich sagte doch, du hättest tot bleiben sollen." Dann trat sie ihm mit dem rechten Fuß brutal gegen die Schläfe, sodass sein Kiefer knackte und er sofort das Bewusstsein verlor. Es fühlte sich unglaublich gut an.
Das Lächeln verschwand von Narissas Gesicht, als sie Azruphel, die dem ganzen regungslos zugesehen hatte, anblickte. "Und nun zu dir..."
Thorongil hielt sie zurück, in dem er das Messer aus Karnuzîrs Hand zog, und den Bewusstlosen zum Zelteingang zog.
"Ich denke, ich lasse euch dafür lieber allein... und werde selbst ein kleines Gespräch mit Herrn Karnuzîr führen, sobald er erwacht ist..."
Als sie alleine waren, zog Narissa Ciryatans Dolch, und wischte das Blut der getöteten Wachen sorgfältig an Karnuzîrs verlassenem Schlaflager ab. Dann hielt sie Azruphel, die unwillkürlich zurückzuckte, die Spitze des Dolches unter das Kinn, und sagte mit kalter Stimme: "Rede. Sorgfältig, und gut. Überzeuge mich, dass er gelogen hat, denn sonst... werde ich dich töten." Erst bei den letzten Worten zitterte ihre Stimme ein wenig.