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Autor Thema: Qafsah  (Gelesen 17352 mal)

Eandril

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Qafsah
« am: 18. Jan 2017, 13:56 »
Narissa, Aerien, Serelloth und Elendar von vor der Stadt

Am Tor herrschte ein großes Gedränge, als alle Händler, Handwerker und Angehörige sonstiger Berufsgruppen ihren Geschäften nachgingen, die in der Hitze des Mittags geruht hatten.
"Wir müssen uns so weit rechts wie möglich halten", raunte Níthrar Narissa zu. "Der Wächter dort hat eine Vereinbarung mit mir."
"Vertraust du ihm denn?", fragte Narissa, und zog ihre Kapuze zurecht, die ihr Gesicht und ihre Haare vor neugierigen Blicken verbarg.
"Nein", gab Níthrar zurück. "Aber er ist gierig. Ich bezahle ihn gut, und wenn er es seinen Vorgesetzten melden würde, wäre diese Einnahmequelle für immer versiegt. Und der Sultan wiederum ist nicht gerade für seine Großzügigkeit bekannt."
"Das mag ja sein, aber trotzdem..." Níthrar schnitt ihr das Wort ab, während er sich an einem edel gekleideten und sehr umfangreichen Händler vorbei schob: "Willst du in die Stadt oder nicht? Denn das ist der sicherste Weg."
Narissa erwiderte nichts, nickte aber entschlossen. Sie war nicht bis hierher gekommen, um jetzt umzukehren.
Sie erreichten den hohen Torbogen, und für einen Augenblick erhaschte Narissa einen Blick auf die Stelle, an der über zehn Jahre zuvor ein Trupp Wahrsager seine Zelte aufgeschlagen hatte. Dort hatte dieser ganze Wahnsinn seinen Anfang genommen. Sie warf einen kurzen Blick zurück zu Aerien, die keine Miene verzog und stur geradeaus blickte - doch Narissa entging nicht, dass ihre Hand die ganze Zeit auf dem Schwertgriff ruhte.
Níthrar sprach leise mit einem der Torwächter, und steckte ihm währenddessen so heimlich einige Münzen zu, dass Narissa es beinahe nicht gesehen hatte, und dann waren sie durch das Tor und auf den Straßen der Stadt.

Narissa erinnerte sich gut, wenn man von hier aus der Hauptstraße folgte und dann rechts abbog, kam man schließlich an den kleinen Platz, an dem der Halbmond gelegen hatte. Ein wenig wehmütig erinnerte sie sich an die Schenke und fragte sich, ob dort inzwischen wohl ein anderes Gebäude stand.
Níthrar folgte jedoch nicht der Hauptstraße, sondern bog direkt hinter dem Tor rechts ab in eine schmale Seitengasse. "Ich habe mir Qafsah irgendwie... weniger friedlich vorgestellt", sagte Aerien leise, als sie bereits ein Stück vom Tor entfernt waren, und der Lärm von den Hauptstraßen immer leiser wurde. "Hier leben Menschen", erwiderte Níthrar. "Ganz gewöhnliche Menschen, die nicht besser oder schlechter sind als die meisten anderen. Urteilt nicht über sie weil ihre Anführer Mordor folgen."
"Ganz sicher nicht", meinte Aerien mit einem schwachen Lächeln, und Narissa legte ihr wortlos eine Hand auf die Schulter.
"Ich erinnere mich an diese Stelle", sagte sie dann, während sie sich umsah. Sie hatten den Punkt erreicht, an dem die Mauer nach links abknickte, und von einem hohen Turm gekrönt wurde. "Als Kind bin ich einmal auf diesen Turm geklettert. Ich hätte es beinahe geschafft, ungesehen zu bleiben, doch kurz bevor ich wieder unten war, haben die Wachen mich entdeckt. Das gab eine ordentliche Tracht Prügel", erzählte sie, und verzog das Gesicht, als würden die betroffenen Stellen noch immer schmerzen.
"Du hast diesen Turm erklettert. Als Kind von höchstens zehn Jahren", meinte Elendar erstaunt und beeindruckt. "Ich kann ebenfalls gut klettern", mischte Serelloth sich ein. "Jedenfalls... auf Bäume und... Felsen." Die anderen mussten lachen, und Elendar gab ihr einen kurzen Kuss und sagte: "Da bin ich mir ziemlich sicher."
"Meine Mutter hat mir bereits einiges beigebracht", erklärte Narissa. "Natürlich heimlich, denn mein Vater war dagegen."
"Dein Vater?", fragte Aerien überrascht. "Du meinst..."
"Yaran", unterbracht Narissa sie. "Der Mann, den meine Mutter kurz vor meiner Geburt geheiratet hat. Er ist mein wirklicher Vater, nicht..." Sie stockte, wollte Suladâns Namen nicht aussprechen - nicht hier, im Zentrum seines Reichs. Níthrar, der sich bei Yarans Erwähnung unbehaglich gerührt hatte, sagte: "Der Sultan ist übrigens nicht in der Stadt... falls euch das beruhigt. Er führt Krieg weiter im Norden gegen Qúsay."
"Mögen die Valar Qúsay beistehen", meinte Narissa, und Aerien nickte zustimmend bevor Níthrar weiter sprach: "Wir sollten weitergehen, bevor die nächste Patrouille hier vorbeikommt und uns wegen verschwörerischer Treffen verhaftet. Selbst wenn Qafsah friedlich wirkt, sicher ist es hier nicht."
Er führte sie weiter, diesmal fort von der Mauer in das Gewirr von Gassen und kleinen Straßen, dass Narissa einst so gut gekannt hatte wie ihre eigene Tasche. Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie neben Níthrar ging, und fragte leise: "Wohin genau bringst du uns?"
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Qafsah lächelte er. "Das ist eine Überraschung - vielleicht keine ausschließlich schöne, aber zum größten Teil."
"Hm", machte Narissa nur, unzufrieden über die kryptische Auskunft - bis Níthrar erneut nach rechts abbog, in einen kleinen Hinterhof der ihr äußerst bekannt vorkam. Hier hatte sie als Kind oft gespielt, zusammen mit...
Níthrar stieg drei schmale, hölzerne Treppenstufen hinauf, und klopfte dreimal kurz an der Tür dahinter. Nach einer Weile schwang die Tür nach innen auf, und offenbarte eine schmale, anscheinend weibliche Gestalt. Im schwachen Licht des Abends und gegen das Licht, das durch die Tür fiel, brauchte Narissa eine Weile um das Gesicht der Frau zu erkennen. Währenddessen begrüßte sie Níthrar: "Heimatloser. Was braucht ihr von mir?"
"Ich habe hier vier Freunde, die deine Hilfe benötigen. Eine davon..."
Narissa unterbrach ihn, denn inzwischen hatte sie das Gesicht erkannt. "Yana?", stieß sie hervor, und auf dem Gesicht der Frau zeichneten sich Überraschung und Schock ab. "Das kann doch nicht... Nissa?"
"Ha!" Narissa nahm die drei Stufen mit einem einzigen Sprung, schob Níthrar unsanft zur Seite und umarmte ihre Kindheitsfreundin stürmisch. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe."
"Ich auch nicht", erwiderte Yana, die die Umarmung zunächst erwidert hatte, sich nun aber daraus löste. "Nicht seit..." Sie unterbrach sich, und schüttelte den Kopf. "Später. Lasst uns zuerst reingehen." Sie machte einen Schritt zurück in den kleinen Raum in den die Hintertür führte, und bedeutete den anderen mit einem Wink, ebenfalls hereinzukommen. Während ihre Freunde der Aufforderung folgten, warf Narissa einen kurzen Blick durch den Raum. Früher war es das Lager von Yanas Vater, einem kleinen Händler, gewesen, doch jetzt waren die Regale bis auf wenige Ausnahmen leer und staubig.
Níthrar blieb als letzter auf der Treppe stehen, und auf Narissas fragenden Blick hin, sagte er: "Ich muss wieder zurück. Aber ihr seid nun in guten Händen, und wir werden uns bald wiedersehen." Damit wandte er sich ab, eilte die Stufen hinunter und verschwand schließlich um eine Ecke. Narissa schloss mit einem Seufzer die Tür hinter ihm, und folgte dann Yana, die inzwischen die Tür am anderen Ende des Raumes geöffnet hatte, und in die kleine Empfangshalle hinausgetreten war. Von hier führten mehrere Türen zu anderen Räumen und nach draußen auf die Straße hinaus, und eine Treppe zum oberen Stockwerk. Als Kind war Narissa oft hier gewesen, und die Jahre hatten dem Haus nicht gut getan. Alles sah ein wenig schäbiger und ärmlicher aus als damals, und sie fragte sich insgeheim, was geschehen war. Vermutlich liefen durch den Krieg die Geschäfte für Yanas Vater nicht gut.  Als sie sich alle vor der Treppe versammelt hatten, stellte Narissa ihre Freunde vor: "Dies sind Aerien Bereneth und Serelloth aus Gondor, zwei gute Freundinnen die ich in Aín Sefra getroffen habe, und Elendar bin Yulan."
"Hoffentlich ebenfalls ein guter Freund", warf Elendar mit einem Augenzwinkern ein, während Yana den Kopf neigte. "Ich freue mich, euch kennenzulernen. Ich bin Yana, die, nun ja... Herrin dieses Hauses."
"Warte mal", warf Narissa ein. "Heißt das etwa..." Yana nickte, und für einen Augenblick bröckelte ihre Maske. Narissa fiel auf, dass die Jahre nicht nur dem Haus, sondern auf ihrer Freundin geschadet hatten - in den Augenwinkeln bildeten sich erste Fältchen, auf den Schläfen färbten sich die ersten Haare grau, und auf ihrer Wange zuckte immer wieder nervös ein Muskel. "Mein Vater ist tot", erklärte sie. "Hat sich erhängt, nachdem das Geschäft immer schlechter lief, und meine Mutter eines Tages tot in einem Graben gefunden wurde."
"Oh", machte Serelloth, und Narissa ergriff Yanas Hand. "Yana, das... tut mir Leid." Ihre Freundin zuckte etwas hilflos mit den Schultern, und rang sich ein schwaches Lächeln ab. "Was geschehen ist, ist geschehen. Weißt du, dass der Halbmond niedergebrannt wurde?"
Narissa nickte stumm, und biss die Zähne zusammen. Ihr stand deutlich Elyanas Bild in Níthrars Zelt vor Augen, wie sie sagte Deine Mutter ist verschwunden, und der Halbmond niedergebrannt. Ihre Mutter war verschwunden. Verschwunden, nicht tot.
Sie fühlte Aeriens Hand auf ihrer Schulter, und zwang sich dazu, zu lächeln. "Es ist lange her. Wir sollten uns auf die Gegenwart konzentrieren."
"Allerdings", meinte Yana, die ihre Fassung allmählich wiedergewonnen hatte. "Ihr werdet vermutlich eine Weile hierbleiben wollen, nicht wahr? Nun, Platz habe ich genug..."
"Und Elendar und Serelloth können sich ein Zimmer teilen... vielleicht sogar ein Bett", sagte Aerien, ohne eine Miene zu verziehen. Serelloth lief daraufhin rot an, und Aerien zwinkerte Narissa aufmunternd zu.
Narissa straffte sich innerlich, und atmete tief durch. "Wir hatten eine anstrengende Reise, also sollten wir uns vielleicht zunächst ausruhen, bevor wir morgen damit anfangen uns umzuhören." Ihre Mitstreiter murmelten Zustimmung, und Yana sagte: "Gut - und morgen erfahre ich hoffentlich auch, was euch überhaupt hierher treibt."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Geheimnisvolle Entdeckung
« Antwort #1 am: 18. Jan 2017, 21:45 »
Aerien lag auf dem kleinen Bett in dem Zimmer, das sie sich mit Narissa teilte, und dachte nach. Es war ein Stockbett. Narissa, die beim Betreten des Zimmers sofort das obere Bett beschlagnahmt hatte, war inzwischen irgendwo verschwunden - Aerien vermutete, dass sie mit Yana sprach. Sie hatte sich für Narissa gefreut, dass ihre Freundin aus Kindheitstagen noch am Leben war, doch irgend etwas machte ihr zu schaffen. Sie hat sie "Nissa" genannt, dachte Aerien. Warum habe ich noch keinen Spitznamen für Narissa? Sie hat doch selbst gesagt, dass wir beste Freundinnen sind. Und sie hat auch keinen für mich. Aerien wusste nicht recht, wohin diese Gedanken führten. Sie hatte das Gefühl, immer weniger von dem zu verstehen, was in ihrem Inneren vorging. Sie drehte sich mit dem Rücken zur Wand und lauschte auf die leisen Geräusche der Stadt, die durch das kleine Fenster drangen. Níthrar hatte recht gehabt. Dies war eine Stadt, in der normale Menschen wohnten und ihrem täglichen Leben nachgingen, unabhängig davon wie böse der Mann war, der die Stadt und das umliegende Land beherrschte.

Als ihre Beine zu kribbeln begannen raffte sie sich auf und verließ den Raum. Aus dem Zimmer nebenan, das Elendar und Serelloth bezogen hatten, war nichts zu hören. Neugierig lauschte sie eine Minute an der Tür, doch noch immer hörte sie nichts. So leise es ihr möglich war, öffnete sie die Tür und spähte hinein. Das Doppelbett, das beinahe den gesamten Raum ausfüllte, war leer bis auf Elendars muskulöse Gestalt. Der junge Krieger war eingeschlafen. Offenbar hatte ihn die Anspannung und die Reise mehr angestrengt als Aerien gedacht hatte.
Jemand tippte ihr auf die Schulter. Es war Serelloth.
"Ich sagte dir doch schon, dass du dich nicht immer so anschleichen sollst," zischte Aerien leise.
"Was tust du hier, 'Rien?" fragt Serelloth verwundert. Sie trug noch immer ihre normale Kleidung und folgte Aeriens Blick mit einem amüsierten Lächeln. "Du bist aber voreilig," sagte sie, doch auf ihren Wangen zeigte sich eine zarte Röte. "Denkst du, ich bin so sprunghaft?"
"Ich weiß nicht was ich von der ganzen Sache halten soll," gab Aerien ehrlich zu.
"Von welcher Sache?" fragte Serelloth mit einem eigentümlichen Unterton in der Stimme. "Elendar und ich? Da bin ich mir selber noch nicht im Klaren darüber, was es ist. Er ist süß, das musst du zugeben. Und er kann gut küssen. Aber ich finde, wir sollten nichts überstürzen."
"Soso," gab Aerien zurück und lächelte. "Danke, dass du mich an deinen reichhaltigen Erfahrungen in Liebesangelegenheiten teilhaben lässt," scherzte sie.
"Jederzeit," sagte Serelloth und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie schien irgendetwas erkannt zu haben, das Aerien selbst noch nicht sehen konnte, doch Aerien konnte sich keinen Reim darauf machen. "Würde es dir etwas ausmachen, jemand anderes zu belauschen?" fragte die Waldläuferin zuckersüß. "Ich wäre jetzt gerne ein bisschen allein, wenn du erlaubst."
"Oh. Natürlich," sagte Aerien und trat von der Tür zurück. Serelloth schloss sie hinter sich.

Von Narissa und Yana fand Aerien im Haus keine Spur. Vielleicht sind sie spazieren gegangen, mutmaßte sie. Sie steckte den Kopf durch die Eingangstür des Ladens und schätzte die Lage draußen ein. Es war dunkel, doch die Nacht war noch nicht sehr alt. Die Luft war warm, und es waren immer noch viele Menschen unterwegs. Aerien beschloss, sich in der nahen Umgebung etwas umzusehen. Sie besaß einen guten Orientierungssinn und war sich sicher, dass sie Yanas Haus problemlos wiederfinden würde wenn sie sich nicht allzu weit davon entfernte. Sie ging noch einmal kurz in ihr Zimmer und nahm ihr Bastardschwert mit. Man kann nie vorsichtig genug sein. Sie nahm die Treppe, über die Nithrar sie hierher geführt hatte, und durchquerte den kleinen Hinterhof und die engen Gassen, durch die sie der Elb geleitet hatte, bis sie zu einer größeren, belebteren Straßen kam. Aerien ärgerte sich, dass sie die Sprache, die in Qafsah gesprochen wurde, nicht verstand. Westron hörte sie nur an einigen wenigen Stellen, und das was sie hörte betraf immer nur den Krieg, den Sûladan gegen Qúsay und dessen Verbündete führte. Aerien erfuhr, dass Aín Séfra angegriffen worden sein sollte, doch niemand wusste, wie die Schlacht ausgegangen war. Sie hoffte, dass Qúsay eine Chance gegen seine Feinde hatte.

Nach ungefähr einer Stunde, in der sie recht ziellos umhergewandert war entschied Aerien, dass die Zeit gekommen war, um zu Yanas Haus zurückzukehren. Doch dann sah sie von weitem eine Gruppe von haradischen Kriegern, die die Rote Schlange offen auf ihren Wappenröcken trugen und die immer wieder Menschen anhielten und befragten. Ganz offensichtlich waren sie auf der Suche nach etwas - oder jemandem. Ihre Vorsicht übernahm die Kontrolle, und eilig bog Aerien in eine Seitengasse ab, die, wie sie hoffte, ebenfalls zu Yanas Haus führen würde. Doch ihre Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Kurz darauf kam sie an eine Kreuzung, von der drei weitere Gassen abbogen und in unterschiedliche Richtungen führten. Ihr Orientierungssinn sagte ihr, dass sie rechts abbiegen musste, also tat sie das. Die Gasse führte um mehrere enge Biegungen und endete an einer Treppe, die ein Stockwerk weiter nach oben führte. Gerade wollte sie hinaufgehen, da hörte sie leise Stimmen, die sich zu ihrer Überraschung der schwarzen Sprache Mordors bedienten.
"Karnuzîr hat seinen Bericht noch nicht erbracht," sagte eine tiefe Männerstimme, die die Sprache mit einem starken Akzent sprach.
"Er verspätet sich doch sonst nie," antwortete eine zweite Stimme, die zu einer Frau gehörte. "Das sieht ihm gar nicht ähnlich."
"Der Bote wird ungeduldig," sprach der Erste. "Er spürt, dass hier etwas direkt vor unseren Augen geschehen wird. Wir müssen wachsam bleiben."
Aerien kroch langsam und so still wie eine Maus vorwärts, eine Stufe nach der anderen in der Hocke nehmend.
"Seine Aufmerksamkeit sollte sich auf die Rebellen richten," beschwerte sich die Frau. "Wäre er vor einer Woche nach Ain Séfra geritten, hätte Qúsays Krönung verhindert werden können."
"Dieser Emporkömmling wird bald schon unter Sûladans Stiefel zerquetscht sein. Mach dir keine Sorgen, Rae. Der Krieg ist unser geringstes Problem."
"Und was war dann in Umbar los? Du weißt, dass der Erbe des Turms dort gesehen wurde - mit meinen Verwandten. Wir müssen so bald wie möglich überprüfen, ob die Insel noch immer verlassen ist."
"Ich weiß," gab der Mann etwas zerknirscht zurück. "Ich bin selber erstaunt über das Ausmaß des Verrates der Minluzîri. Ihr Reichtum hat sie selbstgefällig werden lassen."
"Immerhin steht Umbar nun wieder unter Hasaels Kontrolle," fuhr die Frau fort. "Aber er hätte niemals zulassen sollen, dass es ihm überhaupt erst entrissen wird. Vielleicht wird es Zeit, einen fähigeren Fürsten einzusetzen."
"Du meinst wohl eher eine Fürstin?" stellte der Mann klar.
"Warum nicht?" sagte die zweite Stimme. "Ich fühle mich bereit. Und ich habe ein Anrecht."
"Nicht, solange Hasaels Söhne - und Qúsay - am Leben sind."
"Nun, zumindest Qúsay wird nicht mehr lange ein Problem für uns darstellen. Sûladans Heer ist bereits in Marsch gesetzt worden."
"Dann gehe ich davon aus, dass es Ain Séfra in Schutt und Asche legen wird?" fragte der Mann.
"Mehr als das," antwortete die Frau. "Es wird die Rebellen so gründlich vernichten dass niemand auch nur an einen Aufstand denken wird."
Aerien spähte vorsichtig über den Rand der oberste Stufe und erspähte zwei Gestalten am anderen Ende des kleinen Platzes, der vor ihr lag. Sie sah, wie die größere und breitere der beiden, bei der es sich um den männlichen Sprecher handeln musst, zufrieden nickte.
"Dann sollten wir den Sultan nicht länger warten lassen," sagte er, und die Frau stimmte ihm zu. Dann verschwanden sie durch die Gasse hinter ihnen.

Aerien blieb atemlos liegen und rief sich das, was die beiden Unbekannten gesagt hatten, erneut ins Gedächtnis. Eine Sache stach für sie deutlich hervor: Die Insel - Narissas Heimat. Die beiden hatten davon gewusst, und wollten dorthin zurückkehren. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch sie spürte, dass Narissa es vielleicht wissen könnte. Sie wollte sich gerade erheben, als sie eine neue Bewegung auf dem eigentlich leeren Platz erhaschte. Es war dunkel, doch ein Flecken in der Mitte der freien Fläche zwischen den Hausmauern schien wie ein noch dunkleres Loch in der Dunkelheit herauszustechen: ein Schatten in der Finsternis. Der Schatten, der einem mannsgroßen Bündel ähnelte, schwankte von links nach rechts; suchend... jagend. Ein namenloses Grauen kam über Aerien und sie spürte, wie ihr die Haare zu Berge standen. Doch sie konnte sich nicht bewegen; starrte hilflos auf den Schatten, der sich nun in ihre Richtung wandte. Langsam richtete sich die Gestalt auf und Aerien erkannte, worum es dabei handelte. Und endlich reagierte ihr Körper und sie rollte sich die Treppe hinab, rappelte sich auf und rannte, von Panik beflügelt, so schnell ihre Beine sie trugen, ziellos durch die immer leerer werdenden Gassen mit nur einem einzigen Gedanken in ihrem Verstand: Weg, nur weg von hier!

Wie sie zurück zu Yanas Haus fand konnte sie nicht sagen. Sie fand sich schwer atmend in den kleinen Hinterhof wieder, doch das Grauen hatte nicht von ihr abgelassen, insbesondere da sie nur zu gut wusste, was sie verfolgte. Aerien nahm die kleine Treppe mit einem einzigen Satz und sprintete durch den Flur bis zu ihrem Zimmer. Sie riss die Tür auf. Narissa, die ihre Matratze aus dem oberen Bett auf den Boden neben dem Fenster gelegt hatte und gerade die Sterne beobachtet hatte, fuhr herum. Aerien hastete zu ihr hinüber und ließ unterwegs ihr Schwert klirrend auf den Boden fallen. Es war ihr egal, was Narissa über ihr seltsames Verhalten denken mochte. Aerien schlang die Arme um ihre Freundin und klammerte sich an sie, vor Furcht zitternd und ohne auch nur ein Wort herauszubringen.
"Aerien, was ist mir dir?" fragte Narissa voller Verwirrung. Doch Aerien starrte nur geradeaus, auf die Tür, die sie hinter sich zugeschlagen hatte und ihre Hand packte Narissas Dolch, umklammerte den Griff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. In ihren Augen stand blanke Angst. Narissa legte ihren Arm um Aerien und löste sanft, aber bestimmt, ihre Finger vom Griff des Dolches. "Was hast du gesehen?" flüsterte sie. "Was ist dir zugestoßen?"
"Sie kommen," stieß Aerien beinahe unhörbar hervor. "Sie kommen, um mich zu holen."
« Letzte Änderung: 14. Sep 2017, 11:41 von Fine »
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Eandril

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Re: Qafsah
« Antwort #2 am: 19. Jan 2017, 17:02 »
Narissa strich mit der freien Hand sacht über Aeriens Wange, und sagte: "Hier ist niemand, und niemand wird uns hier finden. Und wenn doch... werde ich sicherlich nicht zulassen, dass sie dich holen." Die Haut ihrer Freundin fühlte sich eiskalt an, obwohl die Nächte in Qafsah warm waren. Aerien blickte sie aus weit aufgerissenen, grauen Augen an. "Sie finden jeden, den sie suchen - und man kann sie nicht aufhalten."
Ein Schauer überlief Narissa. Sie hatte Aerien nie zuvor derart verängstigt gesehen, und sie auch nie für jemanden gehalten, der leicht zur erschrecken war.
"Wer sind sie?", fragte sie leise, aber doch eindringlich. Wenn sie helfen wollte, musste sie wissen was geschehen war. "Die... die Schwarzen. Schatten", stieß Aerien hervor. "Einer von ihnen ist hier, ich habe ihn gesehen."
Narissa begriff, doch sie musste es aussprechen um sicher zu gehen. "Nazgûl", flüsterte sie so leise wie möglich, und spürte Aeriens gesamten Körper erzittern. "Ja", hauchte sie. "Sie sind hier, um mich zurück zu bringen. Zurück nach Mordor."
Narissa umarmte sie fester, und sagte: "Du gehörst nicht nach Mordor. Du gehörst in den Westen, und..." Sie stockte, unsicher was sie überhaupt hatte sagen wollen.
Der Schwarze Atem, dachte sie. Ihr Großvater hatte davon erzählt. Aerien brauchte Licht, Wärme und vor allem Frieden.

"Bist du jemals am Meer gewesen?", fragte  Narissa leise, und schloss mit der einen Hand vorsichtig die Fensterläden, sperrte die Nacht aus, ohne Aerien mit der anderen loszulassen. Aerien schüttelte stumm den Kopf, und ihr Atem ging noch immer stockend und stoßweise.  "Es wird dir gefallen", fuhr Narissa beruhigend fort - zumindest hoffte sie das, denn sie hatte wenig Erfahrung in diesen Dingen. "Eines Tages nehme ich dich mit auf die Insel, und dann wirst du es sehen: Wie die Wellen des großen  Meeres an die Klippen schlagen, der leichte Salzgeschmack in der Luft, der Wind, der dir das Haar zerzaust, und das Schreien der Möwen." Ihr eigenes Herz krampfte sich zusammen bei der Erinnerung an ihre Heimat, und erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie es eigentlich vermisste. Doch Aerien schien sich ein wenig zu beruhigen, also sprach sie weiter: "Und dahinter sanft abfallende grüne Hänge, mit kleinen Wäldern dazwischen, und irgendwo steht ein hoher weißer Turm, von dem man die ganze Insel überblicken kann. Und ein Stück weiter ein kleiner Hafen, auf dem wir ein Schiff besteigen werden." Narissa stockte erneut und blinzelte eine Träne weg, die sich in ihrem Augenwinkel gebildet hatte, und schluckte, bevor sie weiter erzählte: "Auf diesem Schiff fahren wir nach Westen über das Meer, immer weiter nach Westen... bis wir schließlich einen einsamen Gipfel inmitten der Wellen erreichen. Und... und dort werden wir auf der Spitze des Meneltarma stehen, und vielleicht von dort sogar einen Blick auf den alten Westen erhaschen - nur... wir beide. Wäre das schön?"
Aerien gab keine Antwort, doch ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, ihre Augen waren geschlossen, und als Narissa ihr die Hand auf die Stirn legte spürte sie, dass Aeriens Haut warm war. Noch einen Moment blieb Narissa sitzen, und hielt ihre schlafende Freundin in Armen, denn es fühlte sich auf eine merkwürdige Weise richtig an.
Schließlich erhob sie sich langsam, und ließ Aerien sanft auf die Matratze gleiten.
"Schlaf...", flüsterte sie, als Aerien sich im Schlaf auf die Seite drehte. Sie bückte sie, und hob Aeriens Schwert auf, und legte es leise neben ihre Besitzerin. Ebenso leise verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Im dunklen Flur gestattete Narissa sich zum ersten Mal, ihrer eigenen Angst nachzugeben. Sie lehnte sich neben der Zimmertür an die Wand, atmete tief durch und versuchte ihre zitternden Knie in den Griff zu bekommen. Einer der Neun war in Qafsah. Sie hatten Geschichten über diese Wesen gehört, die ihr Großvater ihr erzählt hatte, doch weder sie noch er noch irgendjemand sonst den sie kannte, war ihnen je begegnet. Und Aerien... Aerien war in Mordor aufgewachsen, wo sie diesen Wesen vermutlich näher gewesen war als sonst irgendwo in Mittelerde, und diese Begegnung schien dennoch etwas in ihr zerbrochen zu haben. Narissa hatte Aerien vorgeworfen, Angst zu haben, als diese nur ihre Sorgen über ihre Vorhaben zum Ausdruck gebracht hatte, und das war ungerecht gewesen. Heute war das erste Mal gewesen, dass Narissa wirklich Angst in Aeriens Augen gesehen hatte, und diese Tatsache war der wichtigste Grund für ihre eigene Furcht. Vermutlich wusste Aerien viel mehr als sie selbst über die Ringgeister, und es war genug um sie tief zu verstören.
Tief in Gedanken, was die Anwesenheit eines Nazgûl in Qafsah für ihre Aufgabe bedeutete, bemerkte Narissa nur langsam, dass aus dem unteren Stockwerk des Hauses leise Geräusche zu hören waren. Sie blieb regugslos in der Dunkelheit stehen, die Hand auf den Dolchgriff gelegt. War der Schatten Aerien hierher gefolgt? Oder hatte er Suladâns Schergen auf ihre Spur gelockt? Narissa biss die Zähne zusammen, und zog leise ihren Dolch. Was immer es war, sie würde es herausfinden müssen.

Sie schlich leise den Flur entlang, an der Tür zu dem Zimmer, in dem Serelloth und Elendar schliefen, vorbei, und erreichte schließlich den oberen Absatz der Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Unter der Tür zu dem kleinen Lagerraum, durch den sie vorhin das Haus betreten hatten, drang Licht hervor. Narissa packte den Dolch fester, schlich die Treppe hinab, und gerade als sie die Tür erreichte, schwang diese auf.
Narissa wäre beinahe mit Yana zusammengeprallt, die mit einer kleinen Laterne in der Hand den Lagerraum verließ, und in einen dunklen Mantel gekleidet war.
"Yana!", stieß Narissa hervor, und ihre Kindheitsfreundin wurde blass vor Schreck. "Nissa. Was... was tust du hier, um diese Zeit?"
"Ich habe Geräusche gehört, und..." Narissa steckte ihre Waffe weg, und fragte ein wenig misstrauisch: "Viel mehr interessiert mich, was du um diese Zeit draußen treibst."
"Nichts... nichts wichtiges", erklärte Yana stockend, und wich einen Schritt zurück. "Nichts, was dich interessieren müsste."
"Nicht interessieren?", stieß Narissa hervor, und legte die Hand wieder auf den Dolchgriff. "Ich bin in einer feindlichen Stadt, draußen läuft ein Ringgeist herum der meine beste Freundin auf der Welt in Angst und Schrecken versetzt hat, und du schleichst mitten in der Nacht heimlich aus dem Haus und wieder zurück. Natürlich interessiert mich, was du getrieben hast."
Wortlos stellte Yana die Laterne auf den Boden und ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten. Darunter trug sie ein äußerst freizügiges Kleid, das weniger verbarg als es zeigte. "Was glaubst du, wie ich überleben konnte?" Yanas Stimme war bitter. "Mit vierzehn Jahren ohne Eltern hier zu überleben... man muss Kompromisse eingehen, und Dinge tun... Dinge, die man eigentlich nicht mit sich vereinbaren kann."
Narissa hatte entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen, als sie im flackernden Licht der Laterne die Kratzer und blauen Flecken auf Yanas nackten Armen erblickt hatte. "Oh, Yana... wer hat das getan?"
"Das?", fragte Yana, und warf einen beiläufigen Blick auf ihre Arme. "Das ist harmlos. Aber viele wichtige Leute bezahlen viel dafür, wenn man mit sich machen lässt, was immer sie wollen."
"Du kannst doch so nicht leben...", flüsterte Narissa, und Yana lächelte müde. "Manchmal denke ich das auch." Sie drehte die Unterseite ihres linken Armes ins Licht, und Narissa erkannte eine blasse, feine Linie, die sich quer über Yanas Handgelenk zog. "Ich bin aus der Stadt gegangen, und habe mir die Handgelenke geöffnet", erzählte Yana mit teilnahmsloser Stimme, als würde sie über jemand anderes sprechen. "Doch bevor ich verbluten konnte, hat der Heimatlose mich gefunden, und mich geheilt. Er hat mir einen Funken Hoffnung gegeben. Viel ist es nicht, doch es hat gereicht mich bislang am Leben zu halten." Sie schüttelte den Kopf, und senkte den Arm wieder.
"Also, was ist ein Ringgeist?", fragte sie, und beim klang des Wortes stand Narissa das Bild Aeriens vor Augen, mit weit aufgerissenen, furchterfüllten Augen.
"Nicht... nicht hier", sagte sie. "Nicht im Dunkeln."
Yana nickte, ohne zu widersprechen. "Dann glaube ich, ich weiß was du meinst. In der Stadt gibt es das Gerücht, ein Schatten würde im obersten Gemach des höchsten Turmes hausen. Ein Schatten, vor dem sogar der Sultan Angst hat. Ich habe seine Gegenwart gespürt, wenn ich jemanden im Palast besucht habe."
"Und du?", fragte Narissa zögerlich. "Hast du keine Angst vor ihm?"
Das Lächeln, das Yana ihr schenkte, war das traurigste das Narissa je gesehen hatte. "Was auch immer dieses Wesen mir antun könnte, es kann nicht schrecklicher sein als das Leben, dass ich führe, und es gibt nicht, das es mir nehmen könnte. Und trotzdem... ja, ich habe Angst davor."

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Schatten der schwarzen Reiter
« Antwort #3 am: 19. Jan 2017, 22:28 »
Aerien erwachte - und stellte fest, dass es um sie herum dunkel war. Sie blinzelte mehrmals, doch noch immer konnte sie nichts sehen. Mehrere Minuten vergingen, in denen sie sich immer unbehaglicher zu fühlen begann.
"Wo bin ich?" fragte sie.
Und da antwortete ihr eine Stimme, die kälter als Eis zu sein schien: "Azruphel..." sagte sie, halb flüsternd, halb zischend. "Nach Mordor! Nach Mordor werde ich dich bringen..."
Aerien verfiel in Panik. Vor ihr stieg ein roter Schein auf, vor dem sich ein dunkler Schatten abhob. Sie wusste, was das bedeuten musste.
"Nazgûl..." flüsterte sie.
"Du gehörst dem Großen Gebieter," wisperte der Ringgeist. "Zu ihm kehrst du zurück. Es gibt kein Entkommen..."
Aerien versuchte verzweifelt, sich zu bewegen, doch ihr Körper reagierte nicht. Die dunkle Gestalt des Ringgeists nahm nun ihr gesamtes Blickfeld ein.
"Nach Mordor..."

Schweißgebadet fuhr Aerien aus dem Schlaf hoch. Sie warf einen hektischen Blick durch das kleine Zimmer, durch dessen Fenster das Licht der Morgensonne drang. Von draußen waren die Geräusche der erwachenden Stadt zu hören, und sogar das Zwitschern einiger Vögel drang an Aeriens Ohr, was eine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Aerien atmete tief durch. Sie entdeckte Narissa, die im unteren Bett in voller Bekleidung lag, ihren Dolch noch immer in der Hand. Muss wohl beim Wache halten eingenickt sein, dachte sie und ging zu ihrer Freundin hinüber. Vorsichtig nahm sie Ciryatans Dolch aus Narissas Hand und betrachtete die Waffe für einen kurzen Moment, ehe sie sie beiseite legte. Dann strich sie sanft eine verwuschelte Strähne aus Narissas Gesicht.
Sie sieht so friedlich aus, dachte Aerien. Als würden die Schatten der Nacht ihr überhaupt keine Angst einjagen. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Narissa vermutlich gar nicht so recht wusste, was die Nazgûl wirklich waren. Vor Azruphels Flucht aus Mordor hatte sie zwar nur selten von den Neun gehört, doch alles, was ihr ihre Eltern von Saurons wichtigsten Dienern erzählt hatte hatte sie immer dazu gebracht, froh zu sein, dass sie auf derselben Seite standen. Nun hatte sich das jedoch geändert, und die Ringgeister waren ihre Feinde; jagten sie offensichtlich sogar.

Narissa regte sich im Schlaf und zog Aeriens Aufmerksamkeit auf sich. Sie hockte sich mit dem Rücken zum Bett auf den Boden daneben und wartete, bis Narissa von selbst erwachte. Bis es schließlich soweit war, verging noch etwa eine halbe Stunde, die Aerien dazu verwendete, um den Albtraum aus ihren Gedanken zu verbannen.
Eine Hand strich ihr durchs Haar und da wusste Aerien, dass Narissa wach war. "Gut geschlafen?" fragte sie.
"Nicht sonderlich," gab Narissa zurück und gähnte. "Ich muss wohl - "
" - beim Wache halten eingenickt sein, ich weiß", beendete Aerien den Satz und drehte sich zu Narissa um, die sich im Bett aufgesetzt hatte. "Das hättest du nicht tun müssen."
"Ich weiß," gab Narissa zurück. "Aber es gab einiges, worüber ich nachdenken musste. Ich habe die Zeit also gut genutzt."
Aerien fragte sich, worüber Narissa wohl nachgedacht haben könnte. Sie erinnerte sich daran, wie sie am vergangenen Abend instinktiv bei Narissa Schutz gesucht hatte und wurde etwas verlegen. "Also, weißt du, Narissa, ich..." begann sie, doch gleichzeitig sagte Narissa: "Hast du die Sache gestern ein wenig verarbeiten können?"
Aerien biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Narissa hatte ihren Gedankengang unterbrochen, und sie an den Schrecken erinnert, den sie gestern erlitten hatte. "Ich... bin mir nicht ganz sicher," sagte sie leise und ließ den Kopf hängen. "Narissa, du magst vielleicht schon von den Nazgûl gehört haben, aber... du kennst sie nicht. Sie sind das abolute Böse," flüsterte sie.
"Mein Großvater hat mir von ihnen erzählt, und von den Ringen der Macht, die sie zu dem machten, was sie jetzt sind," antwortete Narissa.
"Das mag sein," gab Aerien zurück. "Aber das bedeutet nicht, dass du verstehst, welche Kräfte sie haben, und wie unnachgiebig sie sind. Haben sie einmal ein Ziel gewählt hören sie niemals auf, es zu jagen."
"Du weißt nicht, ob der Ringgeist, den du gesehen hast, wirklich deinetwegen hier ist," argumentierte Narissa. "Das Gerücht von Furcht und Schatten im Palast geht schon seit Wochen um, sagt Yana. Wie hätte er voraussagen können, dass du nach Qafsah kommst?"
"ich... ich weiß es nicht," stotterte Aerien und ließ die Schultern sinken. Sie fühlte sich wieder so hilflos wie in ihrem Traum.
"Beruhige dich," sagte Narissa leise und ergriff Aeriens Hand, die sie behutsam drückte. "Ich lasse nicht zu, dass sie dich zurück nach Mordor bringen, hörst du?"
Aerien nickte und kam sich ein wenig wie ein kleines Mädchen vor. Erneut wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
"Vielleicht sollten wir uns erst einmal mit einem guten Frühstück stärken," schlug Narissa vor und zog Aerien auf die Beine. "Komm schon. Du kannst nachher wieder trübselig sein."

Kurz darauf saßen sie zu fünft an einem der Tische im größten Raum des Hauses. Elendar hatte darauf bestanden, Yana für die Unterkunft, die sie ihnen bot, zu bezahlen - und zwar deutlich mehr, als sie in einem der Gasthäuser in der Stadt gezahlt hätten. Yana hatte das Geld schließlich nach langem Widerstand angenommen und von einem Teil davon Gebäck und Milch für ein reichhaltiges Frühstück gekauft, über das sie sich nun alle heißhungrig hermachten.
"Wir müssen uns nach Informationen über meine Mutter umhören," sagte Narissa während sie noch aßen.
"Nissa, du bist viel zu bekannt hier," warf Yana ein. "Je länger du dich da draußen zeigst, desto mehr riskierst du, entdeckt zu werden."
"Das macht nichts," mischte sich Serelloth mit vollem Mund ein. "Dafür hat sie ja uns dabei. Elendar, Aerien und ich machen das schon."
"I-ich würde eigentlich auch lieber hier bleiben," sagte Aerien leise, doch Serelloth merkte sofort, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
"Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?" fragte sie. Aerien beugte sich zu der Waldläuferin hinüber und flüsterte ihr die gestrigen Geschehnisse - auf wenige Sätze zusammengefasst - ins Ohr. Zu ihrem Erstaunen brach Serelloth in schallendes Gelächter aus.
"Da kommt sie aus Mordor, und hat trotzdem Angst im Dunkeln!" rief sie und konnte sich nur schwer beruhigen. "Also wirklich," fuhr sie dann fort. "Du kennst doch von uns allen bestimmt die meisten Tricks, um mit den schwarzen Reitern umzugehen."
"...Mordor?" fragte Yana, die bleich im Gesicht geworden war.
"Ich erkläre es dir später," sagte Narissa. "Du musst dir keine Sorgen machen."
"Wenn du das sagst, Nissa," antwortete Yana, doch in ihrer Stimme lag Zweifel.
"Du weißt nicht wovon du redest, Serelloth," sagte Aerien derweil verärgert.
"Und ob ich das weiß," gab diese zurück. Sie hatte aufgehört zu lachen und tatsächlich eine ernste Miene aufgesetzt. "Im Gegensatz zu dir habe ich schon gegen die Ringgeister gekämpft. Drei von ihnen sind in den letzten Jahren ständig in der Nähe von Ithilien stationiert gewesen und haben meinem Vater und seinen Leuten das Leben schwer gemacht. Aber wir haben gelernt, wie man sich gegen sie zur Wehr setzen kann."
"Wie?" fragte Aerien mit großen Augen.
Statt einer Antwort zeigte Serelloth auf den Kamin in der Ecke. "Mit Feuer."

Eine halbe Stunde später brachen die drei Gefährten von Yanas Haus aus auf, um in den Straßen Qafsahs nach Narissas Mutter zu suchen. Elendar und Serelloth, die die in der Stadt gesprochene Sprache verstanden, wussten inzwischen von den beiden zwielichtigen Gestalten, die Aerien am Abend zuvor belauscht hatte, und versprachen, ein Auge nach den beiden offen zu halten. Dann trennten sie sich. Aerien schlug einen Weg ein, der sie so weit wie möglich vom Palast wegführte. Sie fragte sich, wie es Narissa wohl ging, und ob sie noch immer Träume von ihrer Mutter hatte. Aerien fühlte sich sehr schlecht, weil es am vergangenen Abend und an diesem Morgen nur um sie selbst gegangen war und sie gar nicht darauf geachtet hatte, wie Narissa sich fühlte. Sie nahm sich vor, gleich bei ihrer Rückkehr danach zu fragen.
« Letzte Änderung: 14. Sep 2017, 11:45 von Fine »
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Eandril

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Re: Qafsah
« Antwort #4 am: 20. Jan 2017, 22:07 »
Narissa blieb alleine mit Yana in dem Haus zurück, und begann, unruhig von einem Raum zum anderen zu laufen. Schließlich sagte Yana, die die Überreste ihrer Mahlzeit beseitigt hatte: "Du machst mich fürchterlich nervös, weißt du das? Setz dich lieber hin, und erzähl mir noch ein bisschen was." Narissa war bereits aufgefallen, dass Yana äußerst begierig auf jegliche Informationen von außerhalb Qafsahs war. Sie ließ sich unwillig auf einen der abgewetzten Stühle fallen, und begann schnell mit dem Fuß auf den Boden zu tippen. Auch wenn sie es selbst beschlossen hatte, es machte sie schier verrückt, dass sie das Haus nicht verlassen konnte, während ihre Freunde nach ihrer Mutter suchten. Erst nach einem strengen Blick Yanas hielt sie den Fuß still, und fragte: "Also, was willst du wissen?"
Yana setzte sich ihr gegenüber, vor sich auf dem Tisch eine Tasse mit einem dampfend heißen Getränk. Viele Bewohner Qafsahs taten das, doch Narissa hatte nie verstanden, wie man in diesem Klima auch noch heiße Sachen trinken konnte. "Deine Freundin Aerien... kommt sie wirklich aus Mordor?" Das letzte Wort flüsterte sie beinahe, und Narissa nickte langsam, während sie unbehaglich mit der Kette um ihren Hals spielte. "Ja, sie stammt ursprünglich aus diesem Land aber... sie gehört dort nicht hin. Sie hat es verlassen, und kämpft jetzt gegen alles, was dort herkommt."
Yana wirkte nicht vollständig überzeugt. "Und vertraust du ihr? Ich meine, vollständig?" Vor wenigen Tagen hätte Narissa vielleicht noch einen winzigen Augenblick gezögert, doch jetzt antwortete sie augenblicklich: "Ja, bedingungslos. Als der Kopfgeldjäger Abel mich gefangen hatte, ist sie mir durch halb Harad gefolgt um mich zu befreien - obwohl wir uns nicht lange kannten, und ich am Abend zu vor sehr unschöne Dinge gesagt habe. Und als ich das hier bekommen habe", sie zog mit zwei Fingern ihre Narbe nach, "hat sie mich auf ihr Pferd gehoben und unter Lebensgefahr in Sicherheit gebracht."
"Warum?", fragte Yana nur, und Narissa stockte. "Ich... weiß es nicht. Ich habe ihr mit Sicherheit keinen Grund dafür gegeben..." Einen Augenblick starrte sie ins Leere, bevor sie weitersprach: "Es ist aber auch nicht wichtig, warum sie es getan hat, sondern dass sie so gehandelt hat. Sie war bei mir, bis meine Wunde verheilt war, und sie hat mich hierher begleitet, obwohl sie dagegen war und ich ihr allen Grund gegeben habe, zu gehen."
Yana sagte nichts, und für einen Moment senkte sich Schweigen über den Raum während Narissa nachdachte. Schließlich meinte Yana: "Ich wollte nicht misstrauisch klingen. Es ist nur so... reine Freundlichkeit und Güte sind mir in den letzten Jahren so selten begegnet, dass ich beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlt. Ich hatte erst vor, euch zu verraten", schloss sie so ruhig, dass Narissa einen Augenblick brauchte, um das gesagte zu begreifen.
"Du hattest vor uns..." "... zu verraten, richtig", beendete Yana den Satz für sie. Sie breitete die Hände aus. "Schau nicht so überrascht, Nissa. Du hast doch gestern selbst gehört, wie meine Lage hier ist. Um ehrlich zu sein, wollte ich es gestern bereits tun, doch als es soweit war... konnte ich nicht. Und nach dem Gespräch von gestern Nacht, werde ich es auch auf keinen Fall mehr tun. Ich werde der einzigen Freundin, die ich in Mittelerde noch habe, niemals schaden."
"Was haben sie mit dir gemacht?", flüsterte Narissa. Sie erinnerte sich an Yana, wie sie als Kind gewesen war - immer fröhlich, immer zu einem Abenteuer bereit, und immer an der Seite ihrer Freunde. Von diesem Kind schien nicht allzu viel übrig zu sein. Yana lächelte ihr trauriges Lächeln, dass Narissa beinahe das Herz brechen wollte. "Das Leben hat mich gebrochen, könnte man sagen", antwortete sie, und wirkte dabei viel älter als sie eigentlich war. "Ich finde irgendwo einen Ort für dich. Einen Ort, an dem du Frieden finden und heilen kannst", sagte Narissa, und Yanas Augen glänzten verdächtig, als sie erwiderte: "Ich weiß nicht, ob es einen solchen Ort in Mittelerde gibt."

Nur wenig später kehrten Elendar und Serelloth von ihrer Suche zurück, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte und sich die Straßen in der Mittagshitze leerten. "Wir haben ein bisschen herumgefragt, was das zerstörte Gasthaus angeht", berichtete Elendar. "Unauffällig natürlich, als wäre wir einfach nur Reisende, denen die Ruine aufgefallen ist", ergänzte Serelloth. "Die Leute reden offenbar nicht gerne darüber. Aber wir haben erfahren, dass der Besitzer vor etwa zwölf Jahren öffentlich hingerichtet wurde bevor der Halbmond niedergebrannt wurde."
Narissa nickte mit trockenem Mund. Das deckte sich mit dem, was Elyana ihr damals erzählt hatte, doch der Gedanke daran, wie Yaran von Suladâns Männern auf den großen Platz gezerrt worden war, bevor man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, war nach wie vor schmerzhaft. Bevor Serelloth weitersprechen konnte, kehrte auch Aerien von ihrem Erkundungsgang zurück, und klopfte sich den Straßenstaub von den Schuhen. Auf Narissas fragenden Blick hin sagte sie: "Nichts. Höchstens einer von zehn Leuten hier scheint eine verständliche Sprache zu sprechen, und die mit denen ich gesprochen habe, wussten nichts."
"Dafür haben immerhin wir etwas herausgefunden", warf Serelloth ein wenig triumphierend ein, und Aerien warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Narissa erkannte erleichtert, dass ihre Freundin inzwischen über ihre Begegnung mit dem Nazgûl hinweggekommen zu sein schien, auch wenn sie sich sicher war dass Aerien ebenfalls die nagende Angst am Rande ihres Bewusstseins verspürte. "Nun...", fuhr Elendar etwas verlegen fort. "Jedenfalls haben wir weiter gefragt, und es geht das Gerücht um, dass die Frau des Gastwirtes in den Palast verschleppt wurde und seitdem hat sie niemand wieder gesehen. Wenn deine Mutter also tatsächlich noch am Leben sein sollte, ist sie dort."
Narissa stieß angespannt die Luft aus. Sie hatte nicht wirklich mit etwas anderem gerechnet, doch nun war es klar: "Wir müssen also in den Palast. Hat jemand eine Idee?"
Für einen Augenblick herrschte Schweigen, bis Serelloth sich an Aerien wandte: "Bist du nicht in so etwas ausgebildet, 'Rien? Höfisches Benehmen und so?"
"Schon, aber...", begann Aerien, und verzog das Gesicht. Narissa wusste, woran sie dachte, und auch Serelloth schien begriffen zu haben. "Und wenn sich dieser Schwarze Reiter zeigt", sagte die junge Waldläuferin aufmunternd, "zündest du ihn einfach an."
"Ich... weiß nicht", sagte Aerien, und suchte kurz Narissas Blick. "Ich muss darüber nachdenken."
"Falls du dich dazu entschließt es zu tun, finde ich einen Weg, dich an den Sultanshof zu bringen", warf Yana, die bislang geschwiegen hatte, ein. "Es gibt den ein oder anderen Adligen, der mir vielleicht einen kleine Gefallen tun würde..."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Auftritt im Palast
« Antwort #5 am: 21. Jan 2017, 16:39 »
"Halt das mal, ja?" bat Aerien, die vor Yanas großem Spiegel stand und nichts als ein leichtes Tuch, das sie um ihren Körper gewickelt hatte, trug. Sie hatte sich mit Wasser gründlich gewaschen, das Elendar und Serelloth aus einem nahen Brunnen geholt hatten, und die angenehme Kühle war ihr in der Hitze des anbrechenden Sommermittags gerade recht gewesen. Ihre schwarzen Haare hingen feucht glänzend über Hals und Rücken hinunter, und Aerien begann, sie mit oft geübten Handgriffen zu einer aufwändigen Frisur aufzutürmen, bei der Flechtkünste ebenso vonnöten waren wie geschicktes Hochstecken und Zusammenbinden. Ungeduldig streckte sie Narissa, die mit einem relativ beeindruckten Gesichtsausdruck neben ihr stand, das Fläschen mit dem Duftmittel entgegen, dass Yana irgendwo aufgetrieben hatte. Narissa nahm den Gegenstand aus Aeriens Hand und sah zu, wie ihre Freundin ihr Haar in eine Form brachte, die sie augenscheinlich kaum für möglich gehalten hätte.

Nachdem es Serelloth und Narissa durch viel gutes Zureden gelungen war, Aerien davon zu überzeugen, sich am Abend in den Palast zu geben, hatte es nicht lange gedauert, bis Aerien in einen Zustand konzentrierter Betriebsamkeit verfallen, der sie selbst ein wenig überrascht hatte. Doch nun, da die die Entscheidung gefallen war, stellte sie sich den Anforderungen, die die Aufgabe, in den Sultanspalast einzudringen, mit sich brachte. Sie würde alles, was ihre Mutter sie jahrelang über das Verhalten bei Hofe gelehrt hatte, anwenden müssen, um ihre Tarnung nicht auffliegen zu lassen und dabei Informationen über den Verbleib von Narissas Mutter herauszufinden. Yana würde ihr eine Gelegenheit verschaffen, ins Innere des Komplexes zu gelangen, doch ab da würde Aerien auf sich allein gestellt sein. Sie hatte nicht nachgefragt, weshalb Yana einen ungewöhnlich großen Vorrat an Schminke besaß, doch auch dieser Zustand kam Aerien zugute. Sie hatte eine Rolle zu spielen, und um dabei Erfolg zu haben, würde sie entsprechend aussehen müssen und ein passendes Verhalten an den Tag legen.

Als die Frisur fertig geformt worden war, betrachtete Aerien sich kritisch im Spiegel. Sie erinnerte sich noch gut daran, die Handgriffe tausende Male geübt zu haben, so lange, bis sie sie im Schlaf hätte machen können. Ihre Mutter war in dieser Hinsicht äußerst streng gewesen. Sie ließ sich von Narissa die unterschiedlichsten Dinge aus Yanas Vorrat reichen und ihr entging nicht, dass Narissa durchaus beeindruckt von Aeriens Geschicklichkeit zu sein schien. Vielleicht hatte sie bisher nicht so oft die Gelegenheit, sich mal so richtig hübsch zu machen, dachte Aerien, und nahm sich vor, ihrer Freundin eines Tages die Gelegenheit dazu zu geben. Vielleicht, wenn die Sache in Qafsah vorbei ist. Sie färbte ihre Lippen in einem zarten Rotton, der mit ihrer Hautfarbe harmonierte, und zog die Konturen ihrer Augen mit dem kleinen Kohlestift nach, den sie bei Yanas Sachen gefunden hatte. Dann verdunkelte sie mit der Schminke ihre Augenlider und den Zwischenraum zwischen Brauen und Auge, und stellte mit einigen zielsicheren Scherenschnitten sicher, dass ihre Augenbrauen die korrekte Form besaßen. Zuletzt tauchte sie ihre Fingerspitzen in die rote Tusche und tupfte vorsichtig etwas Röte auf ihre Wangen. Prüfend starrte sie in den Spiegel, und war schließlich zufrieden.
"Gut," sagte sie und schaute zu Narissa hinüber. "Ich denke, das geht. Zuhause hätte ich noch mehr Möglichkeiten gehabt, aber ich denke, für heute muss ich mit dem arbeiten, was ich zur Hand habe."
"Das sieht... wirklich schön aus," sagte Narissa etwas betreten. Aerien wurde klar, dass die Schminke ihr Aussehen wohl mehr verändert hat, als Narissa es womöglich erwartet hatte, und sagte daher: "Ich bin immer noch ich, auch wenn ich eine andere Ausstrahlung habe," sagte sie und strich über Narissas Schulter. "Reichst du mir das Kleid, bitte? Und... dreh dich um, ja?" Sie wusste nicht recht, warum sie den letzten Satz hinzugefügt hatte. Irgendetwas in ihrem Inneren brachte sie dazu, das Aerien noch nicht ganz verstand. Narissa hingegen nickte und reichte ihr das Kleid, das über einem Stuhl in der Nähe hing. Gehorsam drehte sie sich um und Aerien ließ das Tuch fallen. Schnell zog sie sich um und prüfte, ob alles korrekt saß, dann tippte sie ihrer Freundin auf die Schulter. "Also," sagte sie, zu gleichen Teilen zuversichtlich und seltsamerweise mit einem Anflug von Aufregung. "Wie seh' ich aus?"
Das schwarze Kleid war tief ausgeschnitten und von silbrigem Stoff durchsetzt, der, je nach Lichteinfall, aussah, wie ein dunkler, nur von Sternen erhüllter Nachthimmel. Die Ärmel waren lang und liefen in weite, herunterhängende Enden aus, die erst auf der Höhe von Aeriens Oberschenkeln endete. Ab ihrer Hüfte wurde das Kleid etwas weiter, im oberen Teil war es relativ eng. Sie wusste nicht recht, wie wohl sie sich bei der Feststellung fühlte, dass der Händler Sahír, der ihr das Kleid geschenkt hatte, ihre Körpermaße sehr genau abgeschätzt hatte.
"Es ist wunderschön," sagte Narissa leise, mit einem seltsamen Klang in der Stimme, und Aerien ertappte sich dabei, einen leichten Stich der Enttäuschung zu verspüren, da Narissa offensichtlich das Kleid meinte. "Du siehst wie verwandelt aus," fügte Narissa hinzu.
"Eines fehlt noch," sagte Aerien und schluckte das, was sie wirklich sagen wollte, herunter. Sie drehte Narissa den Rücken zu und reichte ihr die Kette mit dem Sternenanhänger. "Hilfst du mir mal eben?" bat sie, und Narissa legte ihr die Kette um den Hals. Der Anhänger war angenehm kühl und passte genau in den Raum zwischen Aeriens Halsansatz und dem oberen Saum des Kleides, der eine geschwunge Kurve von ihrer Schulter zur anderen formte.
Serelloth platzte herein und rief begeistert: "Du siehst so schön aus!", was Aerien mit einem etwas gezwungenen Lächeln quittierte. Sie hatte noch eine letzte Bitte an Narissa.
"Leihst du mir deinen Dolch, nur für heute Abend?" bat sie.
Narissa zog das Erbstück hervor. "Aber gib darauf gut acht," sagte sie und reichte Aerien die Waffe samt Halterung, die Aerien später an ihrem Oberschenkel verborgen zu tragen plante.
"Das werde ich," versprach sie.

Kurz darauf war es Zeit, aufzubrechen. "Sei vorsichtig!" rief Serelloth Aerien nach, als sie, geführt von Yana, das Haus verließ. Narissas Freundin als Kindheitstagen führte Aerien durch einige kleinere Gassen bis zu einem der Seiteneingänge, wo bereits ein haradischer Würdenträger auf sie wartete. Offensichtlich schuldete der Mann Yana einen Gefallen, denn er warf nur einen kurzen Blick auf Aerien und stellte keine Fragen. Die Wachen, die den Eingang aufmerksam beobachteten, schienen entweder ebenfalls instruiert zu sein, oder sahen nichts Alarmierendes an der Sache, sodass Aerien dem Mann, der sich im Gehen als Hazin vorstellte, problemlos ins Innere des Palastkomplexes folgen konnte. Unterschwellig spürte sie die Anwesenheit des Ringgeistes, doch sie verdrängte die Furcht so gut es ging. Sie konnte es sich jetzt nicht erlauben, sich ablenken zu lassen. Als sie in die große Halle des Palastes kamen stellte Aerien fest, dass sie beinahe vollständig mit Gesandten, Adeligen und anderen Würdenträgern gefüllt war. Hazin verabschiedete sich von ihr und verschwand in der Menge. Nun galt es, an Informationen zu gelangen.

Sie stellte rasch fest, dass die Anwesenheit der meisten Hofgäste mit dem Krieg zu tun hatte, der in Harad zwischen den Loyalisten Sûladans und den Rebellen Qúsays ausgebrochen war. Aerien fand heraus, dass Sûladan einem Mann namens Amenzu al-Irat die Regierungsgeschäfte in Qafsah überlassen hatte, während er mit seinem Heer nach Norden zog. Und schon bald gelang es Aerien, sich ein Bild von dem Mann zu machen, denn Sûladans Statthalter, der die Menge einige Zeit vom erhöhten Sitz am Ende der Halle beobachtet und mit einigen Bittstellern gesprochen hatte, mischte sich schließlich unter die Menge - und stand mit einem Mal überraschend direkt vor ihr, den Blick auf das ihm unbekannte Gesicht gerichtet.
Er gab sich freundlich, doch Aerien sah, wie er mit einer unmerklichen Handbewegung Diener entsandte, die in der Tarnung der Leute um sie herum aufstellten. "Ich grüße Euch, meine Dame," sagte Amenzu und stellte sich vor. "Darf ich Euren Namen erfahren?" fragte er und fuhr dann mit einem etwas schärferen Ton fort: "Und, was ihr hier tut."
Aerien atmete innerlich tief durch. Jetzt würde sich zeigen, ob ihre Ausbildung etwas wert war oder nicht. Sie legte einen etwas arroganten Unterton in ihre Stimme und sagte: "Ich bin Azruphel von Durthang, Gesandte des Bar n'Adûnâi - der zufällig auch mein Vater ist."
"Ihr seid die Tochter Varakhôr Adûnphazâns?" wiederholte Amenzu vorsichtig, und stellte damit klar, dass er über die Ränge der Schwarzen Númenorer gut Bescheid wusste.
"In der Tat," bestätigte Aerien und beschloss, die Scharade bis zum Ende durchzuziehen. Wenn der Ringgeist wirklich nicht ihretwegen in Qafsah war - wie Narissa ihr erneut eingeschärft hatte - dann bestand Hoffnung, dass die Nachricht von ihrer Flucht aus Mordor noch nicht durch die Wirren des haradischen Bruderkrieges bis nach Qafsah gedrungen war.
"Nun gut," sagte Sûladans Statthalter ungerührt. "Dürfte ich erfahren, welchen Grund Euer Besuch hat, und weshalb Ihr Euch nicht bei mir oder meinem Herrn angekündigt habt?"
"Ich bin wegen einer Familienangelegenheit hier," spann Aerien ihre Geschichte. "Vielleicht habt Ihr bereits davon gehört, dass vor einigen Wochen die Mutter des Königs Músab von Kerma auf der Durchreise durch das Gebiet von Qafsah ermordet wurde."
Amenzu al-Irat zeigte keine Regung bis auf ein kleines Nicken. "Ja, wir haben davon erfahren."
"Dann wisst Ihr auch, dass vermutet wird, dass sich besagter König Músab den Rebellen Qúsays angeschlossen hat, und in Mordor wird vermutet, dass die Ermordung seiner Mutter der entscheidende Grund war, der ihn dazu brachte, diese Wahl zu treffen."
"Das ist nur eine von vielen möglichen Theorien," gab der Herr von Qafsah zurück. "Was hat all dies mit Eurer Familie zu tun, Herrin Azruphel?"
"In Durthang wurde vor kurzem ein großer Verrat aufgedeckt," begann Aerien, die beschlossen hatte, ein großes Wagnis einzugehen. "Ein Mitglied meiner Familie ist desertiert und nach Süden gereist, und ich folge nun den Spuren dieser Person. Es besteht der Verdacht, dass Músabs Mutter - die im Übrigen ebenfalls aus Durthang stammte - absichtlich ermordert wurde, und zwar von dem Verräter, von dem ich sprach, um Kerma in Qúsays Arme zu treiben."
"Ein äußerst hinterlistiger Plan," stimmte Amenzu etwas zögerlich zu, doch Aerien sah an den winzigen Regungen seines Gesichtes, dass er ihre Geschichte zu glauben begann. "Nun, ich werde natürlich einer Botin aus Mordor so gut ich kann, behilflich sein. Doch sicherlich wisst Ihr, meine Dame, dass bereits ein Abgesandter des Großen Gebieters hier ist, und das bereits seit geraumer Zeit?"
"Der Ringgeist ist hier, um dem Krieg zu überwachen und sicherzustellen, dass euer Sultan nicht auf falsche Gedanken kommt," sagte Aerien eiskalt und bedrohlich. Sie war froh, dass Narissa sie jetzt gerade nicht sehen oder auch nur hören konnte. "Das wisst Ihr ebensogut wie ich. Er hat keine Zeit für solch triviale Aufgaben wie die, mit der mein Vater mich betraut hat."
"Ich verstehe natürlich," antwortete Amenzu, der unbewusst begonnen hatte, sich nervös die Hände zu reiben - ein weiteres Zeichen dafür, dass Aeriens Täuschung funktionierte. "Doch weshalb die Heimlichtuerei?"
"Es gibt einige schwarze Númenorer in Harad, deren Loyalität nicht mehr vollständig bei Mordor liegt," erklärte Aerien und senkte die Stimme. "Sicherlich habt ihr schon von Aglazôr und seinem Sohn Karnuzîr gehört?"
"Karnûzîr Wüstenklinge? Er ist ein treuer Söldner meines Herrn!" stellte der Statthalter klar.
"Nun, das mag inzwischen so sein, aber mein Vater hat mir äußerste Geheimhaltung befohlen," sagte Aerien. "Ich konnte mich nicht einfach ankündigen, ohne dass der Mörder der Königinmutter von Kerma davon erfahren hätte. Das versteht Ihr doch, oder?"
"Sicher, sicher," antwortete Amenzu. "Nun, Herrin, wie darf ich Euch bei Eurer Aufgabe behilflich sein?"
"Zunächst möchte ich darum bitte, mit Euch unter vier Augen zu sprechen, wenn es Eure Zeit erlaubt," begann Aerien. "Gibt es vielleicht einen Ort, wo wir ... ungestört sein können?" Sie betonte das letzte Wort und hoffte, dass Sûladans Truchsess darauf anspringen würde.
"Gewiss," sagte dieser und sein Gesicht, dass zwischendurch etwas bleich geworden war, bekam wieder mehr Farbe. "Gebt mir eine halbe Stunde, um mit den wichtigsten Bittstellern und Boten zu spreche. Ich werde ein privates Zimmer vorbereiten lassen."

Kurz darauf hatte ein Bediensteter Aerien in ein Gemach geführt, das einen großen Balkon besaß. Die Terasse ging nach Norden, und zeigte daher von der Stadt weg, an deren Nordende der Palast etwas erhöht auf einer künstlichen Anhöhe stand. Eine sanfte Brise wehte durch die warme Abendluft, und Aerien trat nachdenklich an das Geländer. Sie stützte sich mit beiden Armen darauf ab und fragte sich, wie es Narissa und den anderen wohl gerade ging. Ob sie sich Sorgen macht? fragte sie sich. Aerien ließ den Blick über das dunkle Land schweifen, das sich vor ihr ausbreitete, und sah zu, wie die ersten Sterne am Himmel auftauchten und sich auf den Wassern des Harduin spiegelten, der nördlich der Stadt vorbeifloss. Als sie dem Fluss folgte entdeckte sie eine Ansammlung von Gebäuden und Anlagen, bei dem es sich wohl um den Hafen von Qafsah handeln musste. Aerien richtete den Blick nach Nordwesten, und entdeckte jein Stück jenseits des Hafens, aber immer noch am diesseitigen Ufer des Flusses, eine kleine Festung, deren Zweck sich ihr nicht ganz erschloss. Ehe sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, erklang hinter ihr ein höfliches Räuspern. Aerien drehte sich anmutig um und fand Statthalter Amenzu vor, der zwei gut gefüllte Weingläser in Händen trug und ihr eines der beiden reichte.
"Wie aufmerksam von Euch," sagte Aerien mit falscher Dankbarkeit. Sie war sich natürlich ihrer Ausstrahlung bewusst und hoffte, dass auch der gewagte Schnitt ihres Kleides seine Wirkung nicht verfehlen würde.
"Nun, ich halte mich für einen Mann, der weiß, wie mit einer Dame von Eurem Stand umzugehen ist," sagte er galant und bot ihr den Arm an. Aerien hakte sich unter und ließ sich zurück zum Geländer führen.
"Dieser Eindruck scheint mir zutreffend zu sein," hauchte sie und nahm einen Schluck von dem Wein.
"Das hatte ich gehofft," antwortete Sûladans Statthalter. "Wie darf ich Euch behilflich sein, Herrin Azruphel?"
"Ich hätte gern uneingeschränkte Zugang zum Palast," forderte sie. "Aber keine Sorge. Sûladan kann seine Geheimnisse behalten, ich habe kein Interesse daran, in jede Ecke zu schauen. Mir würde es reichen, mir die Verliese anzusehen."
"Die Verliese?" wiederholte Amenzu mit gerunzelter Stirn. "Was könnt Ihr dort wollen?"
"Das ist eine etwas delikate Angelegenheit," flüsterte Aerien und hoffe, dass der Wein ihre Wangen rötete. "ich möchte Euch nicht mit unwichtigen Details belasten."
"Oh, das tut Ihr nicht, meine Dame," beschwichtigte Amenzu. "Ihr könnt mir voll und ganz vertrauen. Ich komme Euch sogar entgegen und spreche es für euch aus: Ihr seid eine vielbeschäftigte Frau, die ab und zu etwas... Entspannung benötigt, nicht wahr?"
"So weit habt Ihr vollkommen recht," bestätigte Aerien, gespannt darauf, ob er ihren Köder geschluckt hatte.
"Wir haben hier natürlich nicht die selben Foltermethoden wie in Mordor," fuhr er fort, "doch ich denke, Ihr seid kreativ genug um eure Bedürfnisse zu decken." Ein wissendes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, und Aerien dachte: Hab ich dich.
"Ihr seid ein scharfsinniger Mann," sagte sie mit einem gespielten bewundernden Blick. "Hattet Ihr bereits mit den Adûnâi zu tun?"
Amenzu al-Irat nickte bestätigend. "Es war Euer eigener Bruder Balakân, der Erbe von Durthang, der uns vor gar nicht allzu langer Zeit beehrte und mich lehrte, was Euer Volk zur... Entspannung benötigt."
Balakân war hier? schoss es Aerien durch den Kopf, doch sie schob den Gedanken fürs Erste beiseite "Denkt daran, dass diese... Eigenschaft... nicht auf alle meines Volkes zutifft," stellte sie richtig.
"Aber auf Euch," schlussfolgerte er, und Aerien nickte. "Nun, dann will ich sehen, was sich machen lässt, Herrin. Seht Ihr die Burg im Nordwesten, zur Rechten des Hafens? Dort bewahrt der Sultan seine wichtigsten Gefangenen auf - im Palast stehen derzeit alle Zellen leer."
Im Palast gibt es keine Gefangenen? Das muss bedeuten, dass Narissas Mutter in dem Gefängnis außerhalb der Stadt sitzt... dachte Aerien. "Ich weiß, Ihr seid sicherlich etwas enttäuscht," sagte Amenzu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Doch Ihr würdet in der gesamten Stadt zurzeit kein Opfer finden, das Euch zufriedenstellen würde - in den Verliesen der Stadtwache sitzen nur Kleinkriminelle und andere Unruhestifter, die bereits bei der Androhung von Schmerzen nachgeben. Ihr sucht widerstandsfähigere Subjekte, nicht wahr?"
"Das wäre wünschenswert," bestätigte Aerien kalt. "Besteht die Möglichkeit eines Besuchs in der Anlage außerhalb der Stadt?"
"Es ließe sich einrichten, jedoch zu meinem Bedauern nicht mehr heute," antwortete Amenzu. "Kommt in den kommenden Tagen am Vormittag zu mir und ich werde sehen, was sich machen lässt."
"Also gut. Ich bin euch dankbar für die Hilfe. Sprecht mit niemandem darüber, wenn Ihr nicht den Zorn meines Vaters auf Euch laden wollt!" fügte sie drohend hinzu.
"Das würde ich nicht wagen," gab Amenzu wahrheitsgemäß zu.

Nachdem Aerien einige weitere belanglose Höflichkeiten mit dem Statthalter ausgetauscht und ihm weiterhin den Eindruck, auf eine gewisse Weise an ihm interessiert zu sein, gegeben hatte, ließ sich Aerien zum Ausgang des Palastes bringen. Sie hatte erreicht, weshalb sie in den Palast gegangen war: Narissas Mutter befand sich nicht dort, sondern offenbar in dem Gefängnis Sûladans außerhalb der Stadt. Âls sie den Palast verließ verspürte sie noch einmal deutlich die Anwesenheit des Ringgeists und sah sich vorsichtig und mit unterdrückter Panik um - doch es war nichts zu sehen.
Nachdenklich machte sie sich auf den Rückweg zu Yanas Haus.
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Re: Qafsah
« Antwort #6 am: 21. Jan 2017, 18:40 »
Sobald Aerien und Yana das Haus verlassen hatten, begann Narissa erneut unruhig auf und abzulaufen. "Sie kommt schon zurecht", sagte Serelloth schließlich beruhigend. "Aerien ist immerhin genau darin ausgebildet, niemand wird sie verdächtigen."
"Und wenn der Nazgûl sie findet?", fragte Narissa, und fuhr sich mit der Hand nervös durch die Haare.
"Das... ist dann ein kleines Problem", gab Serelloth langsam zu. "Aber wenn jemand damit fertig wird, dann Aerien - sie wird einfach eine Kerze auf ihn werfen oder so." Bei dem Gedanken musste Narissa trotz ihrer Sorge flüchtig lächeln. Serelloth besaß wirklich ein Talent dafür, Menschen aufzuheitern. Ein äußerst wertvolles Talent in diesen Zeiten, dachte Narissa bei sich.
"Ich weiß, es war meine Idee in den Palast zu gehen", erwiderte sie. "Und ich glaube auch eigentlich, dass Aerien es schaffen wird - aber trotzdem mache ich mir Sorgen."
"Hm", machte Serelloth, und blickte nachdenklich auf die Tür, durch die kurz zuvor Elendar den Raum verlassen hatte. "Genauso, wie ich mir Sorgen um Elendar machen würde."
"Nicht ganz genauso", meinte Narissa, aus irgendeinem Grund etwas verlegen. Sie dachte an den Moment, als Aerien schließlich in ihrem Kleid, fertig geschminkt und frisiert vor ihr gestanden hatte. Sie selbst hatte sich nie allzu große Gedanken über ihr eigenes Aussehen gemacht, und auch nie wirklich danach gehandelt. Sie hatte fast nie in ihrem Leben ein Kleid getragen, geschweige denn ein so schönes, wie Aerien es trug, und sich niemals selbst geschminkt - und dennoch schienen viele Männer sie anziehend und begehrenswert zu finden, Bayyin und Elendar waren der beste Beweis dafür. Das mochte sich nun geändert haben. Mit dem Zeigefinger zog Narissa die gebogene Narbe auf ihrer linken Wange nach. Die Narbenränder waren längst abgeschwollen und insgesamt etwas verblasst, und dennoch war sie weiterhin deutlich sichtbar. In den letzten Tagen hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr Haar mehr über die linke Gesichtshälfte fallen zu lassen, was die Narbe etwas verbarg - doch sie blieb weiterhin gut sichtbar, und Narissa wusste, dass sie für den Rest ihres Lebens entstellt bleiben würde.
Und als sie nun vorhin neben der fertig angekleideten Aerien gestanden hatte - der wunderschönen Aerien - hatte sie sich so unscheinbar gefühlt, wie nie zuvor. Und dennoch hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung keinen Neid verspürt, sondern nur Freude für Aerien. Und sie hatten den Anblick genossen.
Ihre Gedanken wanderten ein wenig, zu dem Moment als Aerien nach dem Waschen nur mit einem Handtuch bekleidet vor dem Spiegel gestanden und sich geschminkt hatte, und sie spürte sich selbst leicht erröten. Was ist los?

Narissa wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Yana durch die Haupttür des Hauses eintrat. Serelloth musste in der Zwischenzeit den Raum verlassen haben, und Narissa war ein wenig beschämt als sie feststellte, dass sie tief in Gedanken die Waldläuferin nicht hatte gehen hören. "Sie ist sicher im Palast angekommen", berichtete Yana zur Begrüßung. "Alles weitere liegt nicht mehr in meiner Hand."
"Danke", sagte Narissa leise, und presste die Lippen zusammen. Ihre Nervosität war ihr offenbar deutlich anzumerken, denn Yana setzte sich, faltete die Hände im Schoß und sagte: "Sie wird es schon schaffen. Nach dem was ich gesehen habe, weiß Aerien sehr genau, was sie zu tun hat."
"Das höre ich heute schon zum zweiten Mal", erwiderte Narissa mit einem schwachen Lächeln, und ließ sich Yana gegenüber auf einen Stuhl fallen. Ihre Freundin betrachtete sie prüfend.
"Sie bedeutet dir viel, nicht wahr?", fragte sie schließlich, und nach kurzem Zögern nickte Narissa. "Alles", sagte sie so leise, dass es beinahe ein Flüstern war. Ein seltener Moment der absoluten Ehrlichkeit, auch ihr selbst gegenüber.
"Ich verstehe - glaube ich", meinte Yana. "Vielleicht solltest du mit ihr reden, wenn sie wieder da ist."
Narissa hob ein wenig hilflos die Schultern. "Ich weiß nicht einmal, worüber."
"Ich glaube schon." Yana blickte sie fest an, doch Narissa wich ihrem Blick aus. "Wenn du den Mut findest..."
Narissa schüttelte den Kopf und atmete tief durch. "Mit Mut hat das nichts zu tun, ich weiß wirklich nicht wovon du sprichst." Sie stand auf und machte einen Schritt zur Tür hin. "Ich werde ein wenig spazieren gehen, ich brauche etwas Zeit für mich."
Yana nickte. "Natürlich. Aber halt dich am besten von den Hauptstraßen fern - und auch vom Palast."

Als Narissa von ihrem Spaziergang zurückkehrte, war Aerien noch immer nicht zurück. "Sie wird schon kommen", sagte Elendar, der mit Serelloth am Tisch saß und sich die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieb. "Es braucht einige Zeit, sich in einen Palast einzuschleichen und dir richtigen Informationen zu beschaffen." Trotz seiner Worte wanderten sowohl seine als auch Serelloths Augen immer wieder zur Tür. Eine weitere halbe Stunde verging, bevor es schließlich dreimal kurz hintereinander an der Tür des Hauses klopfte.
Narissa, die sich halbherzig an Serelloths und Elendars Spiel beteiligt hatte, sprang so schnell auf dass ihr Stuhl nach hinten umkippte, und war mit zwei langen Schritten an der Tür. Sie riss die Tür auf, und fiel der überraschten Aerien um den Hals. "Du hast es geschafft!"
"Langsam, langsam", erwiderte Aerien lächelnd, und löste sich aus der Umarmung. "Du weißt doch noch gar nicht, ob ich Erfolg hatte."
"Du bist ungesehen rein und wieder raus gekommen", meinte Narissa ein wenig atemlos und verlegen. "Das zählt schon als Erfolg."
"Es war nicht unbedingt leicht", sagte Aerien, während Narissa beiseite trat und die Tür hinter ihr schloss, und fügte mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: "Aber sogar fast ein bisschen aufregend. Ich glaube, Suladâns Stellvertreter mag mich."
Narissa schwieg, unsicher was sie bei diesen Worten fühlte, und so sagte Serelloth stattdessen: "Und wer könnte es ihm verdenken? Du siehst wirklich wundervoll aus."
Aerien errötete ein wenig, setzte sich und strich ihr Kleid mit einer anmutigen Geste glatt. Ihr ganzes Verhalten hätte an der Aerien, die Narissa bislang zu kennen geglaubt hatte, unnatürlich gewirkt - doch nicht jetzt. Jetzt wirkte es perfekt. "Ich habe tatsächlich etwas herausgefunden", berichtete Aerien, während Narissa sich auf dem Stuhl neben ihr niederließ. "Im Palast wird im Augenblick niemand gefangen gehalten. Die wichtigen Gefangenen befinden sich alle in einem Gefängnis nordwestlich der Stadt."
"Dann wird meine Mutter dort sein!", sagte Narissa aufgeregt. "Wir müssen nur..." Sie unterbrach sich, und sah Aerien an. "Danke, Aerien." Aerien erwiderte nichts, sondern lächelte nur.
"Wenn ihr in dieses Gefängnis gehen wollt...", begann Yana. "Ich... kenne den Verwalter." Sie wechselte einen unbehaglichen Blick mit Narissa, die als einzige im Raum wusste, auf welche Art Yana den Verwalter kannte. "Ich kann euch den Hauptschlüssel von ihm besorgen, aber alles andere müsst ihr selbst tun."
"Das wird nicht nötig sein", erklärte Aerien. "Ich konnte Statthalter Amenzu überreden, mir das Gefängnis zu... Entspannungszwecken zu zeigen." Sie wirkte verlegen, und Narissa drückte sanft ihre Hand. "Das bist nicht du", sagte sie. "Und das wissen wir alle." Nur wenig später hatten sie einen Plan gefasst: Am nächsten Vormittag würde Aerien zum Statthalter gehen, und sich von ihm zum Gefängnis führen lassen. Dort würden Narissa, Serelloth und Elendar zu ihr stoßen, als ihr Gefolge verkleidet, und Aerien würde Amenzu dazu bringen, auch diese mit in das Gefängnis einzulassen. Und sobald sie drinnen waren, würden sie improvisieren müssen - es war kein perfekter Plan, doch sie alle waren sich einig, dass er von allen Möglichkeiten die besten Erfolgsaussichten hatte.

Narissa hatte sich gerade in ihrem Bett ausgestreckt, um trotz ihrer Aufregung vor dem morgigen Tag ein wenig Schlaf zu finden, als Aerien vom unteren Bett her sagte: "Da gibt es noch etwas, was ich erzählen muss."
Narissa drehte sich auf die Seite, streckte den Kopf über die Bettkante hinaus und blickte hinunter zu Aerien, die sich am Kopfende ihres Bettes aufgesetzt hatte. "Bevor ich gestern dem... Nazgûl... begegnet bin, konnte ich ein interessantes Gespräch mithören", begann Aerien zu erzählen. "In meiner Aufregung habe ich es bislang völlig vergessen. Es waren ein Mann und eine Frau, die miteinander sprachen - offenbar kannten sie meinen Vetter Karnuzîr. Sie sprachen über einen Aufstand in Umbar, und darüber, dass der Erbe des Turms währenddessen dort gesehen wurde."
"Der Erbe des Turms?", fragte Narissa verwirrt. "Aber während ich dort war, gab es keinen... warte. Bist du dir sicher, dass sie der Erbe gesagt haben?"
Aerien nickte langsam. "Allerdings. Weißt du, von dem sie gesprochen haben könnten?"
"Nein...", sagte Narissa, doch in ihrem Kopf rasten die Gedanken. Sie hatte auf der Insel Geschichten von ihrem Onkel gehört, der nicht den Weg des Turmes einschlagen wollte und ihren Großvater im Stich gelassen hatte. Immer hatte sie angenommen, dass dieser tot sei... doch was wenn nicht? Was, wenn noch immer ein weiterer aus ihrem Haus am Leben war? Sie fühlte ihr Herz aufgeregt schneller schlagen. "Vielleicht ja", widersprach sie sich selbst. "Aber... ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Morgen ist der entscheidende Tag für unsere Aufgabe, und wir sollten etwas schlafen. Und danach... Danke, Aerien", sagte sie erneut.
"Wofür?", fragte Aerien, lächelte aber.
"Für alles."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Der Plan
« Antwort #7 am: 21. Jan 2017, 19:54 »
Mitten in der Nacht wachte Aerien auf. Sie hatte nicht geträumt - oder konnte sich vielleicht auch nur nicht an etwaige Träume erinnern - und konnte sich daher nicht erklären, weshalb sie erwacht war.
"Narissa," flüsterte sie leise, doch im oberen Bett regte sich nichts. Der Vollmond schien durch das offene Fenster herein und ließ das kleine Zimmer ungewöhnlich hell wirken. Aerien setzte sich nachdenklich auf. Sie dachte draüber nach, was am vergangenen Tag passiert war, und konnte nicht recht glauben, wie gut ihr Besuch im Palast abgelaufen war. Nicht nur war sie heil rein- und wieder herausgekommen, darüber hinaus hatte sie auch den wahrscheinlichen Aufenthaltsort von Narissas Mutter herausgefunden und einen Weg dorthin gleich mitgebracht. Doch anstatt eine beruhigende Wirkung zu haben löste diese gute Entwicklung eher Sorge in Aerien aus. Nithrar und Eayan haben uns nicht umsonst vor Qafsah gewarnt,, dachte sie. Und wir sollten nicht vergessen, dass einer der Neun sein Unwesen in der Stadt treibt. Sie glaubte zwar nicht mehr daran, dass der Schwarze Reiter ihretwegen in Qafsah war, doch sie fragte sich dennoch, wie lange sie ihre Tarnung aufrecht erhalten können würde. Sie hatte viel riskiert als sie Amenzu ihren wahren Namen verraten hatte. Es muss nur noch bis morgen funktionieren, dachte sie. Morgen abend sind wir hoffentlich schon weit weg von Qafsah... mit Narissas Mutter oder ohne.

Sie erhob sich und trat ans Fenster. Das leichte Nachthemd das sie trug, bewegte sich in der sanften Brise, die durch das Fenster drang. Aerien blickte hinaus auf die runde Scheibe des Mondes, der hoch über der Stadt stand. Man kann nie vorsichtig genug sein, dachte sie, und schloss das Fenster so leise wie möglich. Nahezu lautlos trat sie an das Bett und betrachtete die schlafende Narissa, deren Gesicht nun nicht mehr von den Mondstrahlen erhellt wurde. Aerien streckte eine Hand aus und fuhr vorsichtig und sanft über die Narbe unter Narissas Auge. Sie wusste, dass Narissa die Verletzung als Makel ansah. Aber ich tue das nicht, dachte sie. Trotz allem bist du schön, Narissa.
Etwas schloss sich um ihre Finger und Aerien zuckte überrascht zurück. "Was machst du da?" fragte Narissa schläfrig. Aerien war froh, dass es relativ dunkel im Zimmer war, denn sie lief so rot an wie noch nie und stammelte verlegen: "Ich wollte... nur sehen ob du... ob du schläfst."
Du dummes Mädchen! schrie sie sich selbst innerlich an. Jetzt wird sie dich für noch seltsamer als vorher halten!
"Ich glaube, ich bin wach," antwortete Narissa, die Aerien zu mustern schien. Aerien wurde sich bewusst, wie wenig sie trug, und legte verlegen die Hände um ihren Oberkörper.
"Am besten, wir versuchen wieder zu schlafen," brachte sie heraus.
"Das ist die beste Idee die du seit Langem hattest," murmelte Narissa, die sich offenbar schon wieder auf halbem Weg ins Reich der Träume befand.
Mit erhitzten Wangen und wie wild pochendem Herzen legte sich Aerien wieder hin und verkroch sich unter ihrer Decke, bis es ihr dort zu heiß wurde. Gnädigerweise kam der Schlaf nach wenigen Minuten über sie.

Am nächsten Morgen schien Narissa die ganze Sache vergessen zu haben, und Aerien fiel ein Stein vom Herzen. Yana hatte erneut (mit Elendars Geld) für Frühstück gesorgt, und alle schienen in bester Laune zu sein. Sie stärkten sich ausgiebig und gingen dann noch einnmal den geplanten Ablauf für ihr Eindringen im Gefängnis nordöstlich der Stadt durch. Aerien würde als erstes zum Palast gehen und sich entweder von Sûladans Statthalter höchstpersönlich zu der Burg bringen lassen, in der sie Narissas Mutter vermuteten, oder sich einen Freibrief (oder eine andere Zugangsberechtigung) geben lassen. Dann würde sie am östlichen Tor von Qafsah auf den Rest der Gruppe stoßen, und den Weg zum Gefängnis gemeinsam fortsetzen.
"Wenn wir erst einmal drinnen sind, muss es schnell gehen," sagte Narissa. "Ich nehme an, dass du dir einen Gefangenen für deine Zwecke aussuchen darfst?" fragte sie in Aeriens Richtung, die aus ihren Gedanken hochschreckte.
"Was? Äh - ja. Ich darf wählen, nehme ich an. Und ich werde mir einfach alle zeigen lassen. Oder soll ich direkt nach einer Frau fragen?"
"Ich denke, das solltest du tun," sagte Elendar. "Je weniger Zeit wir dort drinnen verbringen müssen, desto besser."
"Also gut," bestätigte Aerien. "Ich frage also nach einer Frau, und wenn deine Mutter unter denen ist, die man mir zeigt, was dann?"
"Dann improvisieren wir," entschied Narissa. "Vielleicht kannst du sie einfach mitnehmen. Wenn nicht... kämpfen wir uns den Weg frei."
"Ich hoffe, dazu kommt es nicht," sagte Yana.
"Wir werden sehen," meinte Narissa.

Nach dem Ende ihrer kleinen Besprechung wurde es für Aerien Zeit, sich erneut herauszuputzen. Da sie die gestrigen Handgriffe noch immer gut im Gedächtnis hatte, ging alles ein wenig schneller als am Tag zuvor. Aerien bemerkte, wie Narissa ihr aufmerksam zusah.
"Ich könnte dich auch mal so schön schminken, wenn du möchtest," schlug sie vor während sie die Kontur ihrer Augen sorgfältig nachzog und einen breiten schwarzen Rand darum legte. "Wir könnten dich richtig hübsch machen. Wir kaufen dir ein Kleid und ich zeige dir eine einfache, aber wunderschöne Frisur, und..."
Offenbar hatte sie etwas Falsches gesagt, denn Narissa verkniff das Gesicht und verschränkte die Arme. "Bin ich dir also nicht hübsch genug?" sagte sie mit spitzer Stimme.
Aerien hielt mitten in der Bewegung inne und setzte den Kohlestift ab. "Nein, so war das nicht gemeint, Narissa. Ich wollte nur..."
"Du wolltest mir sagen, dass die Narbe mich entstellt," beendete Narissa den Satz.
"Nein, das wollte ich nicht," verteidigte sie sich, obwohl sie sah, dass Narissa bereits zuzumachen begann. Aerien gab die Hoffnung nicht auf und sagte: "Ich habe gesehen, wie du die Schminksachen ansiehst. Ich wollte dir nur die Möglichkeit geben, auch davon Gebrauch zu machen. Ich könnte dir so viel zeigen! Mit keinem Wort wollte ich sagen, dass deine Narbe eine Entstellung darstellt. Ich finde, sie gibt dir etwas ... verwegenes."
Und tatsächlich schien sie zu Narissa durchzudringen, die die Arme sinken ließ. "Findest du, mir würde ein Kleid stehen?" fragte sie mit einem seltsamen Ton in der Stimme.
Aerien nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich den Anblick von Narissa in einem wunderschönen Kleid vorzustellen und sie stellte fest, dass ihre Wangen sich erwärmten. "Natürlich," sagte sie. "Du sähest wunderschön aus. Das... tust du auch jetzt schon."
Narissa antwortete nicht darauf, doch immerhin schien sie nicht mehr verärgert zu sein. "Wenn wir deine Mutter gerettet und in Sicherheit gebracht haben, darfst du meines anprobieren," versprach sie. "Und dann kaufen wir dir ein eigenes, ja?"
Die Antwort ihrer Freundin bestand aus einem zaghaften Nicken.

Eine halbe Stunde später stand Aerien vor den Toren des Palastes und traute ihren Ohren nicht.
"Er ist beschäftigt?" wiederholte sie die Aussage des Wächters, dessen Speer ihr den Weg versperrte.
"Meine Anweisungen lauten, Euch nicht hineinzulassen, Herrin," sagte der Mann, der Aeriens Ärger ohne daran schuld zu sein ertragen musste.
"Ich verlange, sofort mit dem Statthalter zu sprechen," forderte sie im Befehlston.
"Es tut mir Leid, Herrin," antwortete der Mann. "Ich darf Euch nicht hineinlassen. Der Statthalter ist heute sehr beschäftigt. Ich fürchte, Ihr müsst morgen wiederkommen."
Aerien sah ein, dass im Moment nichts zu machen war, und marschierte ärgerlich davon. Ich wusste ja, dass es zu gut für uns läuft. Und schon gehen die Schwierigkeiten los.

Sie ließ sich von der Menschenmenge, die die Straßen bevökerte, in Richtung des Tores, an dem sie ihre Freunde treffen sollte, treiben. Nach ungefähr hundert Schritten fiel ihr schließlich auf, dass sie offenbar verfolgt wurde: Drei Männer und eine Frau in unauffälliger haradischer Kleidung waren in einem losen Halbkreis stets hinter ihr geblieben und hielten einen stetigen Abstand von einigen Metern. Aereien wurde misstrauisch und bog in eine kleinere Straße ab. Und tatsächlich folgte ihr die Gruppe, selbst als sie einige weitere Ecken umrundete und schließlich wieder in die Nähe des Palasteingangs kam. Das ist gar nicht gut, schoss es ihr durch den Kopf. Sie beschleunigte ihre Schritte und stellte fest, dass ihre Verfolger sich an das neue Tempo anpassten. Zu ihrer Linken kam ein Gemüsemarkt in Sicht, und eilig steuerte Aerien darauf zu. Im dortigen Gedränge ließ sie sich ohen Vorwarnung neben einem großen Salatstand fallen und kroch auf Händen und Füßen unter die aufgestellten Waren, und von dort langsam und leise weiter bis zur Hauswand, an die der hölzerne Stand lehnte. Aus ihrem Versteck heraus beobachtete sie, wie die Verfolgergruppe sich aufteilte um nach ihr zu suchen. Also haben sie mich tatsächlich aus den Augen verloren, dachte sie zufrieden. Sie wartete noch eine Viertelstunde und strich den Dreck der Straße von ihrem Kleid. Dann zwängte sie sich zwischen der Mauer und dem Stand hindurch und ging geduckt über den Markt weiter, im Schatten der Menschenmenge.

Am Treffpunkt angekommen teilte sie den anderen die schlechte Nachricht mit.
"Dann müssen wir doch auf dein Angebot zurückkommen," sagte Narissa zu Yana. "Du kannst den Schlüssel doch besorgen, oder?"
"Ja, kann ich," sagte Yana, auch wenn sie dabei ein unbehagliches Gesicht machte. "Wartet hier auf mich, und gebt mir etwas Zeit. Es wird nicht allzu lange dauern." Damit verschwand sie in einer Seitengasse.
Sie mussten nur eine halbe Stunde warten, in der Aerien sich unaufälligere Kleidung anzog und ihr Schwert aus Yanas Haus holte. Sofort verfiel sie wieder in eine kampfbereite Haltung und legte das höfische Betragen ab. Jedoch blieb keine Zeit, die Schminke zu entfernen. Als Yana zurückkehrte war ihre linke Wange gerötet, doch sie hielt triumphierend den Schlüssel hoch.
"Bitte seid vorsichtig," sagte sie und wünschte ihnen viel Glück. Sich vorsichtig nach Verfolgern umsehend verließ die Gruppe schließlich die Stadt durch das östliche Tor.
RPG:

Eandril

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Re: Qafsah
« Antwort #8 am: 22. Jan 2017, 01:28 »
Die Sonne begann erneut zu sinken, als vor ihnen das Gefängnis des Sultans auftauchte.
"Das ist es also", sagte Aerien, während sie auf dem Gipfel des eines flachen Sandhügels stehen blieben. Ein Stück vor ihnen erhob sich eine kleine Festung aus gelbem Sandstein am Ufer des Harduin. Das Gebäude besaß keine zusätzliche Außenmauer, sondern bestand im Grunde nur aus einem einzelnen, breiten Turm, mit kleinen Seitentürmen, der nach oben hin immer schmaler wurde.
"Sind alle bereit und wissen was sie zu tun haben?", fragte Narissa, und Elendar und Serelloth, die bereits die Kapuzen aufgesetzt hatten die ihre Gesichter verbergen sollten, nickten.
"Es wäre mir wirklich lieber, wenn zumindest Serelloth zurückbleiben würde", sagte Aerien, doch Serelloth widersprach ihr augenblicklich mit verschränkten Armen und zornfunkelnden Augen. "Ich bin den ganzen Weg mit euch gekommen, und ich werde jetzt nicht hier draußen bleiben, wie ein lästiges Gepäckstück. Außerdem kann ich auf mich aufpassen, ihr werdet es sehen." Sie stapfte verstimmt den Hügel hinunter, und Elendar eilte ihr betreten hinterher.
"Wer ist nun hier die Sture?", fragte Narissa leise, und lächelte in sich hinein. Als Aerien den anderen gerade folgen wollte, hielt Narissa sie aus einem Impuls heraus zurück. Auf ihrem Weg von der Stadt hierher hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt - über das, was Yana am gestrigen Abend zu ihr gesagt hatte, und vieles was Aerien heute und gestern gesagte und getan hatte. Vieles, was ihr Hoffnung machte, dass...
"Es gibt da etwas, das ich tun muss bevor wir gehen." Sie merkte, dass ihre Stimme ein wenig heiser klang, und warf einen kurzen Blick zu Elendar und Serelloth hinüber, die allerdings weiterhin in die andere Richtung blickten. Als sie sich wieder Aerien zuwandte, stand in ihren Augen Unverständnis. "Du kannst mich hinterher dafür hassen oder was auch immer du willst... aber sollte das hier schiefgehen und einer oder beide von uns sterben, würde ich es bereuen es nicht getan zu haben. Weißt du, ich..." Sie unterbrach sich, und lächelte schief. Die Nervosität war verschwunden, und sie wusste, was zu tun war. "Ich rede zu viel", sagte sie, trat einen Schritt näher, und küsste Aerien direkt auf den Mund.
Im ersten Augenblick zuckte Aerien ein winziges Stück zurück, doch dann rührte sie sich nicht vom Fleck. Sie erwiderte den Kuss nicht, verweigerte sich aber auch nicht, und in ihren grauen Augen spiegelten sich Schock, Überraschung und... vielleicht noch etwas anderes.
Narissa zog den Kopf zurück, ohne den Blick von Aeriens Gesicht abzuwenden. "Hm", sagte sie leise. "Das war doch nett." Sie warf einen Blick den Hügel hinunter, wo Serelloth und Elendar auf sie warteten und ihnen zum Glück den Rücken zugewandt hatten. "Also los", meinte sie zu Aerien, die sich noch immer keinen Fußbreit gerührt hatte. "Gehen wir meine Mutter retten."

"Mein Name ist Azruphel von Durthang", sagte Aerien mit gebieterischer, kalter Stimme zu dem Soldaten, der den Eingang des Gefängnisses bewachte. "Statthalter Amenzu al-Irat hat mir gestattet, mit meinem Gefolge das Gefängnis zu betreten."
Es war ein großes Risiko, dass sie eingingen. Aber es bestand die Möglichkeit, dass der Verdacht, den der Statthalter geschöpft hatte, noch nicht bis zum Gefängnis vorgedrungen war.
"Davon ist mir nichts bekannt", sagte der Wächter, doch er klang dabei zu Narissas Erleichterung nicht besonders misstrauisch. Sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick immer wieder magisch von Aeriens Hinterkopf angezogen wurden, und ihre Gedanken zu dem Moment auf dem Hügel wanderten... Konzentration, ermahnte sie sich selbst, gerade als Aerien den Gefängnisschlüssel aus der Tasche zog, und dem Wächter vor das Gesicht hielt. "Er hat mir diesen Schlüssel gegeben, und den Weg zum Gefängnis beschrieben. Reicht euch das nicht?"
"Tut mir leid, aber..." Der Wächter kam nicht weiter, denn Aerien unterbrach ihn mit so kalter Stimme, dass Narissa ein Schauer über den Rücken lief. "Willst du den Zorn Mordors über dich bringen, Narr? Ich habe dir gesagt wer ich bin!"
Der Wächter erbleichte, und trat einen Schritt zur Seite. "N-natürlich nicht, Herrin. Bitte."
Aerien schob den Schlüssel ins Türschloss, drehte ihn herum, und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken. Narissa atmete doppelt erleichtert durch - einerseits, weil Yana ihnen den richtigen Schlüssel gebracht hatte, und andererseits weil sie mit der Vermutung richtig gelegen hatte, dass Suladân seine besten Männer in den Krieg geführt hatte, und die Wächter zu den weniger gut ausgebildeten gehörten.
Sie hatten erst einige wenige Schritte in den dunklen Gang zurückgelegt, als hinter ihnen die Tür ins Schloss fiel, und Narissa hörte, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
"Oh nein", flüsterte sie, und im selben Augenblick traten aus zwei beleuchtete Räumen zu beiden Seiten des Ganges gerüstete und bewaffnete Männer. Das Gesicht des Anführers kam Narissa bekannt vor, und ihre Narbe begann bei seinem Anblick zu kribbeln: Es war Karnuzîr. "Ratten in der Falle", sagte er. "Willkommen in Qafsah, Azruphel - und auch du, Sultanstochter." Sein Trupp versperrte Narissa und ihren Gefährten den Weg, und in diesem engen Gang würde ein Kampf sie lange aufhalten.
"Wie ich sehe, ist deine Wunde gut verheilt", fuhr Karnuzîr fort. "Ich weiß, wonach du hier suchst, und lass mich dir sagen: Du wirst deine Mutter finden - kurz bevor wir euch beide töten."
Die ganze Zeit hatte Narissa nach einem Ausweg gesucht, doch es gab keinen. Hinter ihnen war die verschlossene Tür und vor ihnen Karnuzîr und seine Männer - es gab kein Entkommen, und so entschloss sie sich bei Karnuzîrs letzten Worten das einzig mögliche zu tun. Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog sie eines ihrer Wurfmesser, und schleuderte es ihren Feinden entgegen. Die Klinge flog in einer schnurgeraden Linie durch den Gang und bohrte sich einem der Krieger tief in die Kehle.  Der Mann griff sich verwirrt an den Hals, und brach regungslos auf der Stelle zusammen. "Nicht, wenn wir euch vorher töten", stieß Narissa hervor, zog ihre Dolche und griff an.
Nach einem winzigen Moment der Überraschung hatte auch Aerien ihr Schwert gezogen, und die Klinge sang als sie Karnuzîrs Schwerthieb parierte. Narissa tauchte unter dem Schlag eines der Krieger weg, bohrte ihm ihren Dolch in den Hals, und fuhr sofort herum um mit gekreuzten Klingen einen weiteren Schwerthieb abzuwehren. Ihr Gegner fiel, als Serelloth ihm ihr eigenes Schwert in den Rücken rammte. "Wenn die schon wissen, dass wir hier sind, sollten wir schnell machen", sagte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen, während Elendar sich in den Kampf stürzte und mit raschen Schwerthieben einen Gegner gegen die Wand drängte. "So im Kampf bin ich tatsächlich nicht zu viel nutze, aber ich bin schnell und schwer zu sehen. Ich werde mich unten umsehen." Narissa nickte ohne etwas zu sagen, und Serelloth quetschte sich an den Kämpfenden vorbei und verschwand offenbar ungesehen in den Gang hinter ihnen. Während sie vor einem mit einem Krummsäbel geführten Hieb zurückwich fragte Narissa sich unwillkürlich, ob das das letzte war, was sie von dem Mädchen sah.
Sie fällte ihren Gegner, in dem sie ihm beide Dolche gleichzeitig in den Hals rammte, und verschaffte sich in der kurzen Atempause die ihr blieb einen Überblick über den Kampf. Aerien kämpfte noch immer gegen Karnuzîr, während Elendar es mit gleich zwei Feinden aufgenommen hatte und ihnen mindestens ebenbürtig zu sein schien. Doch aus der einen Tür drängten mehr Feinde heran, und im nächsten Augenblick wurde Narissa von drei Gegnern durch die andere hindurch in einen weiteren Gang gedrängt, fort von ihren Freunden.
Sie wehrte sich verzweifelt gegen die unbarmherzig auf sie einprasselnden Hiebe, war jedoch gezwungen, Schritt für Schritt immer weiter zurückzuweichen. Sie hatte keine Zeit zu denken, keine Zeit Angst zu haben, nur um ihr Leben zu kämpfen. Schließlich gelang es ihr, ihren Gegnern einen verwaisten Hocker, auf dem vermutlich zuvor einer der Gefangenenwächter gesessen hatte, vor die Füße zu treten, und einen von ihnen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ohne zu zögern schlug sie zu, und der Mann stürzte mit einer klaffenden Halswunde zu Boden. Gegen zwei Feinde wurde der Kampf gleich deutlich leichter, und obwohl Narissa inzwischen Schweißtropfen den Nacken hinunterliefen gelang es ihr bald, sich auch ihrer beiden anderen Gegner zu entledigen.

Angestrengt keuchend blieb sie einen Moment stehen, sah sich um, und musste feststellen, dass sie keine Ahnung hatte wo sie sich befand, und wie sie zurück zu ihren Freunden gelangen konnte. Kurzentschlossen stieg sie über die Leichen der drei Männer hinweg, und wollte gerade den Weg entlanggehen, den sie gekommen war, als sie wie von einem Hammerschlag getroffen zurückprallte. Nur wenige Meter vor ihr bog Abels knochige Gestalt um die Ecke, und als er sie erblickte, verzerrte sein grässliches Lächeln sein totes Gesicht. "Ah, meine kleine Freundin. Ich dachte mir, dass ich dein liebliches Stimmchen gehört hatte."
Narissa spürte ihre Hände zittern, und packte ihre Dolche fester. "Was tust du hier?"
"Oh, der gute Karnuzîr und ich haben einen Weg gefunden uns zu einigen. Auf diese Weise bekommen wir beide", er zog mit einem scharrenden Geräusch sein Schwert, "was wir wollen. Also komm, Sultanstochter. Tanz mit mir, ein letztes Mal."
Narissa machte einen Schritt zurück, dann noch einen, dann wandte sie sich um und rannte. Sie rannte blindlings davon, von Panik ergriffen, egal wohin, denn sie konnte nicht gegen ihn kämpfen.

Schließlich, sie wusste nicht wie viele Treppen sie hinauf und hinunter und wie viele Gänge sie entlang gerannt war, blieb sie an einer Kreuzung stehen, von der drei Gänge abgingen. Sie blieb leise keuchend stehen, starrte in den Flur aus dem sie gekommen war, doch niemand war zu sehen. Stattdessen spürte sie plötzlich eine Schwertspitze, die gegen ihren Nacken gedrückt wurde.
"Lass die Dolche fallen, und dreh dich dann schön langsam um", sagte eine männliche Stimme in der Sprache von Qafsah, der Sprache ihrer Kindheit. Als sie nicht sofort reagierte verstärkte sich der Druck, und Narissa spürte einen Blutstropfen ihren Rücken hinunterrinnen. "Tu es...", sagte die Stimme, doch das letzte Wort ging in ein ersticktes Stöhnen übrig, und die Klinge in ihrem Nacken verschwand. Sofort fuhr Narissa herum, und sah sich Elendar gegenüber, der gerade sein Schwert aus dem Rücken des Wächters zog. "Gern geschehen", sagte er lächelnd, obwohl er aus mehreren Schnitten am ganzen Körper blutete, und einen blutigen Kratzer an der Schläfe hatte. "Hast du Serelloth gesehen?"
"Sie wollte in den Kellern suchen", erwiderte Narissa, und versuchte angestrengt ihren Atem zu beruhigen, der noch immer stoßweise ging, und Elendar verzog das Gesicht. "Dann bin ich also genau in die falsche Richtung gelaufen, großartig. Komm, wir sollten..." Er unterbrach sich, als Narissa die Hand hob. Aus dem Flur durch den sie gekommen war, hörte sie leise, gleichmäßige Schritte, und im selben Moment kam Abel in Sicht, der so locker wirkte, als würde er lediglich einen Spaziergang unternehmen. "Ich kann nicht gegen ihn kämpfen", stieß Narissa hervor. "Ist das dieser Kopfgeldjäger, von dem du erzählt hast?", fragte Elendar, und zog die Augenbrauen zusammen.
"Ja", antwortete sie, und erzitterte bei dem Anblick von Abels Gesicht. "Wenn du nicht kannst, werde ich es tun", sagte Elendar entschlossen, hob sein Schwert und schob sich zwischen sie und Abel. "Du bist nicht die einzige, die auf der Insel ausgebildet wurde. Wenn du kannst, kämpf mit mir - wenn nicht, lauf. Und grüß Serelloth von mir, wenn ich es nicht mehr kann."
Für einen Moment war Narissa unentschlossen, doch nach einem Blick in Abels Augen überwältigte sie die Panik erneut, und sie rannte los, während hinter ihr das Geräusch von Stahl auf Stahl erklang. Nicht in den Gang, aus dem Elendar gekommen war, sondern in den dritten - was sich als Fehler erwies, als sie um eine Ecke bog und feststellte, dass sie in eine Sackgasse geraten war, an deren Ende der Mond durch ein einzelnes Fenster herein schien. Narissa stieß einen Fluch aus, fuhr herum und wollte gerade zurücklaufen, als Elendar um die Ecke getaumelt kam. Er war blutbespritzt, stolperte, schlug lang hin und rührte sich nicht mehr. Über ihn hin weg stieg Abel, das blutige Schwert in der Hand. "Der junge Mann hat ins Gras gebissen", sagte er gleichmütig, ohne den Blick von Narissa abzuwenden, die langsam zurückwich. "Ich hoffe, du lieferst mir einen besseren Kampf."
Narissa wich immer weiter zurück, und blieb erst stehen, als sie mit dem Rücken gegen den Fenstersims stieß. Sie atmete tief durch, packte beide Dolche fester, und begriff. Es musste so sein, es gab keinen Ausweg. Kein Loch, in das sie kriechen konnte, niemand, der zwischen ihr und Abel stand. Es gab nur noch sie und ihn, und einer von ihnen würde hier sterben.
"Erinnerst du dich an das, was ich dir beigebracht habe?", fragte Abel, während er näher kam. Seine Lektionen waren immer schmerzhaft gewesen, und sie waren Narissa im Gedächtnis geblieben. "Ich erinnere mich an alles", erwiderte sie ruhig, und dann begann der Kampf.

In vielem ähnelte er dem Kampf vor dem Gasthof in der Nähe von Aín Sefra, doch dieses Mal war Abel nicht schneller als sie. Damals hatte sie wütend gekämpft, und obwohl auch dieses Mal der Zorn in ihr tobte, zwang sie sich zur Ruhe. Sie dachte an Aerien, und das Gefühl, als sie sie geküsst hatte, und an alles, wofür sie überleben musste.
Schließlich holte Abel weit aus zum Schlag, wie bei Aín Sefra, doch dieses Mal nutzte Narissa die Gelegenheit nicht, bezwang ihren Hass. Ich verstehe, dachte sie. Manchmal musste man nachgeben, um zu gewinnen.
Die Wucht seines eigenen, ins Leere gehenden Schlages brachte Abel ins Wanken, und im richtigen Moment schlug Narissa zu, ruhig und sicher. Beide Dolche bohrten sich tief in Abels Brust, und sein Schwert fiel klirrend zu Boden als er mit weit aufgerissenen Augen zurücktaumelte. "Du... du hast...", stieß er hervor, und Narissa zog ihm mit einer ausholenden Bewegung eine rote Linie über die Kehle. "Ich habe doch gesagt, dass ich mich an alles erinnere", sagte sie kalt, als Abel zu Boden stürzte und sein Atem schließlich erlosch. Sie stand über ihm und blickte ihm bis zum Ende ins Gesicht, damit er ihren Anblick mitnahm, wo immer er hinging.
Er jetzt bemerkte Narissa die vergitterte Zelle, die neben ihr vom Flur abging, und sie warf einen flüchtigen Blick hinein. Drinnen lag eine weibliche Gestalt, trotz des Kampfes offenbar friedlich schlafend, und Narissa glaubte, ihr Herz würde stehenbleiben. Obwohl das schwarze Haar grau und schütter geworden und das einst schöne Gesicht verwüstet und blass war, hätte sie es überall auf der Welt erkannt. In einer sonderbaren Fügung des Schicksals hatte Abel sie genau an ihr Ziel getrieben.
Narissa schloss die Hände um zwei Gitterstäbe, drückte ihr Gesicht dagegen und flüsterte: "Mutter." Bei dem Klang des Wortes rührte sich die Gestalt leicht, erwachte aber nicht. Das Gitter konnte Narissa nicht aufbrechen, und für das Schloss fehlte ihr der Schlüssel - den Aerien hatte. "Ich komme zurück", sagte sie leise, während sie sich schweren Herzens abwandte. Als sie die Biegung erreicht hatte, kniete sie neben Elendar nieder und legte ihm zwei Finger an den Hals. Unter der Haut rührte sich nichts, auch keine Spur von Atem war zu erkennen, und Narissa begriff, dass er tot war.
Serelloth, dachte sie, und Schuld und Trauer krampften ihr Herz zusammen. Neben Bayyin war Elendar der einzige, der ihr von ihrer Zeit auf der Insel noch geblieben war, und nun war er tot. Sie drehte ihn auf den Rücken, bemüht die schreckliche Wunde in seiner Brust nicht zu genau anzusehen, und schloss sanft seine noch immer geöffneten Augen. "Wandere mit den Sternen, Elendar bin Yulan - mein Freund. Ich hoffe, wir sehen uns wieder." Eine einzelne Träne tropfte auf Elendars Körper hinunter, als Narissa sich schließlich erhob. Zunächst langsam, dann immer schneller ging sie davon, auf der Suche nach Aerien.

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Kampf der schwarzen Númenorer
« Antwort #9 am: 22. Jan 2017, 12:48 »
Aerien erhob ihr Schwert mit beiden Händen, um einen erneuten Schlag ihres Vetters zu parieren. Sie drehte ihren Körper leicht zur Seite, sodass Karnuzîrs Hieb an ihrer Klinge abglitt und ins Leere lief. Schnell versuchte sie, ihren Vorteil zu nutzen, doch Karnuzîr wirbelte geschickt aus der Reichweite ihres Konterhiebs. Aerien machte zwei schnelle Schritte rückwärts und hielt Lóminzagar diagonal nach unten zeigend, mit Händen auf Kopfhöhe, den nächsten Angriff erwartend. Es war eine ungewöhnliche Paradehaltung, die ihren Gegner verwirren sollte, doch wie sie feststellen musste, war sie nicht die Einzige gewesen, die eine Ausbildung bei Tarkuzôr, dem Waffenmeister von Durthang, durchlaufen hatte. Karnuzîr ließ sich nicht von Aeriens Haltung beirren sondern setzte zu einer Serie von niedrig geführten Schlägen an, die sie dazu zwangen, ihre Klinge in einem tiefen Bogen zu schwingen um ihre Verteidigung aufrecht zu erhalten. Dabei drängte er sie Schritt für Schritt den Gang entlang zurück, weg vom größeren Gefecht, und schon bald waren die beiden Kontrahenten allein. Erneut griff Karnuzîr an, diesmal mit einem wilden, beidhändig geführten Schlag, der auf Aeriens Oberkörper zielte. Sie wartete bis zum letztmöglichsten Augenblick, und machte dann einen Schritt vorwärts, während sie ihre Brust seitlich wegdrehte, sodass die Klinge knapp an ihr vorbeiging. Aerien nutzte Karnuzîrs vorgestreckten Arm, schlug mit der flachen Seite ihres Schwertes darauf und versetzte ihm mit der freien Hand einen Fausthieb ins Gesicht, der ihn rückwärts taumeln ließ. Karnuzîr spuckte aus und sie sah, dass Blut aus seiner Nase lief. Doch ungerührt wechselte er das Schwert in die linke Hand, mit der er offenbar ebensogut trainiert war. Aeriens Treffer an seinem rechten Oberarm würde nicht ewig schmerzen, was ihren Erfolg so gut wie zunichte machte. Dennoch hatte es sich gut angefühlt, ihrem Vetter Schmerzen zuzufügen.

Doch wenn die schwarzen Númenorer in die Schlacht zogen, waren Schwerter, Pfeile und sonstige Klingen nicht ihre einzigen Waffen. Schon zu Beginn ihrer Ausbildung hatte man Azruphel stets dazu ermutigt, auch die Waffen des Geistes nicht außer Acht zu lassen. Hohn, Spott und Demütigungen konnten den Kampfgeist eines Gegners brechen und so manchen Kampf schneller beenden als eine gut geführte Klinge. Und Karnuzîr stellte keine Ausnahme dar.
"Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich dich an deinen Haaren nach Mordor zurückschleifen und dann wirst du mein sein," drohte er mit einem abscheulichen Lächeln, während sie sich langsam und abwartend umkreisten. "Keine Sorge - ich werde dein hübsches Gesicht schonen und auch deinen Körper größtenteils intakt lassen, damit du mir die Erben schenken kannst, die mir zustehen," fuhr er bösartig fort. "Ich habe es dir an dem Tag versprochen, als ich dich zum ersten Mal sah."
"Dazu wird es nicht kommen," gab Aerien kalt zurück. "Du hast kein Anrecht auf meine Hand. Mein Vater wird dem niemals zustimmen."
"Oh doch, das wird er," antwortete Karnuzîr selbstsicher. "Denn wenn ich ihm die Verräterin vorführe wird ihm gar keine andere Wahl bleiben, als seine geliebte, einzige Tochter zum Tode durch den Strick zu verurteilen. Du weißt, welches Schicksal der Große Gebieter für Abtrünnige vorgesehen hat. Es wird keine Gnade für dich geben, nur den Galgen. Und dann werde ich auf mein Recht als derjenige bestehen, der dich gefangen hat, und dein Vater wird nach diesem Strohhalm greifen, um dein Leben zu retten. Es ist die einzige Chance, die du hast."
"So weit wird es nicht kommen," stellte Aerien klar. "Du bist nichts mehr als ein unwürdiges Halbblut," höhnte sie. "Ich sehe die Schwäche deiner Mutter in dir. Dein Vater hat sein kostbares, reines Blut an ihr verschwendet."
Das schien Karnuzîr wütend zu machen, und Aerien wusste, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. "Was mir an Geblüt fehlt mache ich durch meine Taten wieder wett!" rief ihr Vetter zornig. "Die Linie Balákars mag seit Jahrtausenden rein gehalten worden sein, doch was macht schon eine einzige, kleine Abweichung? Meine Erben werden deines und mein Blut in sich vereinen und diese Schwäche wieder ausmerzen."
"Dein Vater hat dir bereits viele Jahre gestohlen," fuhr Aerien fort. "Du wirst früh sterben, viel früher als jeder andere aus unserer Familie. Niemals werden die Adûnâi einen wie dich akzeptieren."
"Sie werden sich beugen, wenn die Erben Varakhôrs von meiner Hand niedergestreckt wurden," erwiderte Karnuzîr. "Dein Bruder mag hoch in der Gunst des Gebieters stehen, doch ich kenne den Süden besser als er. Und eines Tages wird er von einer seiner Reisen nach Harad nicht wieder zurückkehren. Und was den kleinen Varazîr betrifft..." er ließ den Satz drohend ausklingen ohne ihn zu beenden. Aeriens jüngerer Bruder war nach ihrem Umzug in den Dunklen Turm in Durthang geblieben. Varazîr wies als einziger der drei Geschwister ein großes Talent für die dunklen Künste auf, und durchlief seit seinem zehnten Lebensjahr eine Ausbildung, die ihm nur wenig Zeit für seine Familie ließ. Aerien hatte ihn seitdem nur selten zu Gesicht bekommen, doch er lag ihr mehr am Herzen als ihr älterer Bruder Balâkan, der grausamer und kriegerischer als selbst ihr Vater war und oft weitere Reisen nach Osten oder Süden im Auftrag des Dunklen Herrschers unternahm.

Aerien machte zwei schnelle Schritte vorwärts und hieb auf Karnuzîr ein, um ihn zum Schweigen zu bringen, und das Gefecht ging weiter. Doch seine Worte hatten in ihrem Inneren eine Wirkung hinterlassen und sie stellte fest, dass es ihr nicht mehr so gut gelang, sich zu konzentrieren. Sie musste dagegen ankämpfen, sich nicht vorzustellen was geschehen würde wenn Karnuzîr wirklich ihre Brüder töten und als letzter verbliebener männlicher Erbe von Haus Balákar sein Recht als Fürst von Durthang einforderte. Das würde sie nicht zulassen. Ihre Hiebe wurden kräftiger, aber ungenauer, und schon bald duckte sich ihr Vetter unter einem auf seinen Kopf gezielten Streich weg, tauchte ganz nah vor ihrem Gesicht wieder auf, und ein heißer Schmerz flammte auf, als er einen seiner Wurfsterne über Aeriens Bauch kratzte und einen tiefen Schnitt hinterließ. Instinktiv hob sie das rechte Bein und trat ihm vor die Brust, um wieder Abstand zwischen sich zu bringen, doch die Verletzung war mit großer Präzision zugefügt worden und beeinträchtigte Aerien in ihrer Beweglichkeit. Sie blickte sich eilig um und analysierte die Situation. Mache dir deine Umgebung zu Nutzen, sagte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Und tatsächlich entdeckte sie wenige Schritte den Gang hinunter einen Hebel, der ein eisernes Gitter öffnen oder schließen konnte. Mit drei schnellen Schritten erreichte sie den Hebel und zog mit aller Kraft daran. Das Gitter rasselte krachend herunter und trennte sie von Karnuzîr, der auf der falschen Seite gefangen war.
"Du kannst nicht entkommen, Azruphel," knurrte er, ein bösartiges Lächeln im Gesicht. "Du kennst mein Versprechen: Du wirst mir gehörten und ich werde dich zu meiner Frau machen."
"Niemals," stieß Aerien schwer atmend hervor und dachte an Narissa, die irgendwo in der Burg um ihr Leben kämpfte und nach ihrer Mutter suchte. "Du bist hier eingesperrt, und ich habe den Schlüssel," fügte sie mit ein klein wenig Stolz in der Stimme hinzu.
"Denkst du wirklich, ich wüsste nicht über jede noch so kleine List von dir und deinen Freunden Bescheid?" sagte Karnuzîr überlegen. "Dachtest du wirklich, ich würde einfach zulassen, dass du den einzigen Schlüssel an dich nimmst?" Grinsend zog er einen Schlüsselbund hervor, der dem, den Aerien trug, bis ins Detail glich. "Dieses Gitter wird mich nicht ewig aufhalten."
"Aber vielleicht lange genug," antwortete Aerien und ließ ihn stehen.

So schnell sie konnte stürmte sie durch die verzweigten Gänge des Gefängnisses, immer auf der Suche nach ihren Freunden. Und endlich fand sie Spuren: Blut, das auf dem steinernen Boden verspritzt war, und die Leiche eines Haradrim-Kriegers. Aerien stieg darüber hinweg und bog um eine Ecke. Sie hatte die Stelle erreicht, an der sie Narissa zuletzt gesehen hatte und atmete tief durch. Sie muss hier irgendwo in der Nähe sein, dachte Aerien und spitzte die Ohren. Und tatsächlich erklang in der Ferne das Geräusch von Stahl auf Stahl. Eilig bog sie in einen der Gänge ab, aus dem sie den Kampfeslärm vernahm, und sprintete, ihre Verletzung ignorierend, den langen geraden Gang entlang, auf eine Treppe zu, die zu den oberen Ebenen zu führen schien. Als sie gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte durchfuhr ein schrecklicher Schmerz ihre Wade und sie entdeckte einen agân-Wurfstern, der sich tief hineingebohrt hatte. Mit einem Schmerzensschrei sank Aerien auf das unverletzte Knie herab und zerrte an dem scharfen Gegenstand, der Widerhaken aufwies und fest in ihrem Bein steckte. Sie hörte langsame Schritte, die sich von hinten näherten, und wusste, dass Karnuzîr sie erneut gefunden hatte.
"Ich hatte dich gewarnt, Azruphel," ertönte seine höhnische Stimme, zwar noch aus einiger Entfernung, doch stetig näher kommend. "Du wirst mein sein. Es ist unvermeidlich."
Aerien schrie laut auf und riss den Wurfstern brutal aus der Wunde. Die Schmerzen brachten sie fast an den Rand der Besinnungslosigkeit. Eilig riss sie den Saum ihres Umhangs ab und wickelte ihn hastig in einem improvisierten Verband um ihre Wade, während Karnuzîrs Stimme und seine Schritte immer näher kamen. "Du solltest aufgeben, wenn du nicht noch mehr Schmerzen hinnehmen willst," schlug ihr Vetter vor. "Erspar dir alles weitere Leid und komm freiwillig mit. Vielleicht wird deine Bestrafung dann milder ausfallen."
Aerien wusste genau, dass dies eine Lüge war. In Mordor gab es keine Gnade. Sie zerrte den Verband notdürftig fest und packte ihre Klinge, die sie fallen gelassen hatte. Da legte sich eine schwere, gepanzerte Hand auf ihre Schulter.
"Gib auf," wisperte Karnuzîr in ihr Ohr. "Es ist vorbei."
"Nicht, solange ich noch atme," stieß sie hervor und wandte ein Manöver an, das sie während ihrer Zeit in Barad-Dûr perfektioniert hatte.
"Wie kommt man nach einem Sturz inmitten des Kampfes wieder sicher auf die Beine?" hatte Aragorn sie gefragt, als sie sich in einem seltenen Moment des freien Gespräches über Schwertkampftechniken ausgetauscht hatten. "Man zieht mit seiner Klinge einen schützenden Kreis um sich, der auf Höhe der Knöchel beginnt und während man sich erhebt, an Höhe gewinnt." Und genau das tat sie jetzt, ihr Gewicht auf ihr unverletztes Bein verlagernd. Lóminzagar rauschte wirbelnd im Kreis um sie herum als Aerien sich aufrichtete und mit ihrer Klinge mitdrehte. Karnuzîr gelang es gerade noch, sein eigenes Schwert hochzureißen und einen schnellen Sprung rückwärts zu machen, doch er musste einen tiefen Schnitt am Oberkörper hinnehmen. Mit einem wütenden Knurren stürzte er sich wieder auf Aerien, die seine Schläge parierte und ins Leere laufen ließ. Sie stieß sich von der Wand ab und ließ sich von ihrem Sprung direkt auf Karnuzîr zutragen, die Klinge auf sein Gesicht zielend. Überrascht duckte er sich weg und Aerien rollte sich hinter ihm geschickt ab. Sie ergriff ein am Boden liegendes haradisches Krummschwert und ging mit je einer Waffe in der Hand auf ihren Vetter los, der rückwärts die Treppe hinauf gedrängt wurde. Aerien wusste, dass sie diesen Kraftakt nicht lange durchstehen würde, weshalb sie ihre Anstrengungen verdoppelte. Die zweite Klinge verlieh ihr einen zusätzlichen Angriffspunkt, der Karnuzîr vollständig in die Defensive trieb. Am oberen Ende der Treppe angekommen wich er Schritt für Schritt vor Aeriens wilden Angriffen zurück, das Gesicht zu einer Maske der Anstrengung verzerrt, bis er mit dem Rücken gegen ein niedriges Fenstersims am Ende des Gangs stieß.
"Warte, warte," rief er noch, doch Aerien hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Mit einem gut gezielten Hieb schlug sie Karnuzîrs Klinge beiseite, presste sie aus dem Weg, nahm all ihre verbliebene Kraft zusammen, ließ die zweite Klinge fallen - und versetzte ihm einen verheerenden Tritt gegen den Oberkörper, der ihn rückwärts aus dem offenen Fenster stürzen ließ.

Aerien sank entkräftet an der Wand des Gangs in sich zusammen und stützte sich auf ihr Schwert, das über den gemauerten Boden kratzte. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, und ihre Wunden brannten wie Feuer. An den Rändern ihres Blickfeldes dräute eine unheilvolle Schwärze, und sie wusste, dass sie bereits viel Blut verloren hatte. Sie musste Narissa und die anderen finden, solange sie noch dazu imstande war. Aerien riss weitere Fetzen ihres grauen Umhanges ab und erneuerte und verstärkte den Verband an ihrem Bein, und zog sich schließlich stöhnend auf die Beine. Sie drehte sich vom Fenster weg und warf einen vorsichtigen Blick den Gang hinunter. Und erstarrte.
Am Ende des Gangs tauchte eine Gestalt aus ihren schlimmsten Albträumen auf. Gehüllt in eine schwarze Kutte und ein düsteres Schwert in der rechten Hand haltend kam der Ringgeist langsam, aber unaufhaltsam näher, und seine Stimme ließ Aeriens Blut in den Adern gefrieren.
"Nach Mordor... nach Mordor werde ich dich bringen..." zischte die Kreatur, und Aerien sah sich nicht dazu imstande, die Flucht zu ergreifen. Jede Faser ihres Körpers strebte danach, wegzulaufen, doch ihr fehlte der Wille dazu. Nicht einmal pure Todesangst konnte ihre versteinerten Muskeln jetzt noch bewegen.
"Das Auge hat dich gesehen," sagte der Ringgeist und war schon fast heran. "Deine Flucht endet hier."
Aerien versuchte, etwas zu sagen, doch ihre Kehle war vollständig trocken. Nicht einmal ihr Schwert konnte sie noch heben. Der Nazgûl schloss zu ihr auf und packte sie mit der behandschuhten Hand am Hals. "Du gehörst nach Mordor..." wisperte er.
"Nein," widersprach eine Stimme, die wie von fern an Aeriens Ohr drang. "Sie gehört zu mir."
Etwas traf den Ringgeist in den Rücken, und die Kreatur ließ ein ohrenbetäubendes Kreischen hören. Der Griff um Aeriens Kehle lockerte sich und sie sah, dass die Robe ihres Feindes in Flammen stand. Wie wahnsinnig taumelte der Nazgûl mehrere Schritte von ihr weg - und verschwand in einem Seitengang. Und am Ende des Gangs kam Narissa zum Vorschein, eine Fackel in der Hand haltend. Ihre zweite Hand war leer - sie hatte die zweite Fackel auf den Ringgeist geworfen, und Aerien das Leben gerettet.
"Narissa," hauchte Aerien als ihre Freundin zu ihr kam und sie auf die Beine zog. "Du bist am Leben. Ich dachte..."
"Schsch," machte Narissa beruhigend und legte Aerien eine Hand auf die Wange. Dann küsste sie sie, und diesmal ließ Aerien es ohne Widerstand geschehen, und erwiderte sachte die Berührung - bis sie dabei ihr Gewicht auf das verletzte Bein verlagerte und ein schmerzerfülltes Geräusch von sich gab.
"Du bist verletzt," stellte Narissa besorgt fest.
"Später," wehrte Aerien ab. "Wir müssen die anderen finden, und von hier verschwinden."
"Hast du den Schlüssel noch?" fragte Narissa eindrücklich, und Aerien zog den Gegenstand hervor, den Narissa hastig ergriff. "Komm," sagte sie und stützte Aerien auf ihre Schulter auf. "Ich habe meine Mutter gefunden."
« Letzte Änderung: 20. Feb 2017, 07:45 von Fine »
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Re: Qafsah
« Antwort #10 am: 22. Jan 2017, 15:09 »
"Wer war das?", fragte Narissa während sie langsam Weg zurückgingen, den sie gekommen war, und deutete mit der freien Hand auf Aeriens verwundetes Bein. "Karnuzîr?"
"Ja", stieß Aerien angestrengt hervor. "Mit einem seiner Wurfsterne."
"Ich hasse die Dinger", sagte Narissa, als sie einer Treppe nach oben folgten, und Aerien machte ein Geräusch, das halb Lachen und halb Schmerzenslaut sein konnte. "Hast du ihn wenigstens ordentlich verprügelt, bevor dein gruseliger Freund aufgetaucht ist?" Sie scherzte, doch Narissa konnte ihre erste Begegnung mit einem der Neun nicht einfach vergessen. Die Angst, die sie ergriffen hatte als sie die schwarze Gestalt vor Aerien hatte stehen sehen, war anders als jede gewesen, die sie zuvor verspürt hatte - eine kalte, lähmende Angst, allein hervorgerufen durch die Präsenz des Wesens. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie schlimm es war, mit einem Nazgûl zu sprechen, von ihm berührt zu werden, und sie verstand die eisige Lähmung, die Aerien offenbar ergriffen hatte. Ein letzter Funken Geistesgegenwart hatte sie davor bewahrt, selbst panisch davonzulaufen, sondern sich an Serelloths Worte zu erinnern, zwei Fackeln aus ihrer Halterung zu reißen, und eine davon auf das Wesen im schwarzen Mantel zu schleudern.
"Ich... habe ihn aus dem Fenster gestoßen", keuchte Aerien, und riss Narissa damit aus ihrem Gedankengang. "Sehr gut", erwiderte sie. "Mit ein bisschen Glück hat er sich dabei den Hals gebrochen, und wir sind das Problem los."
Schließlich stellte Aerien die Frage, vor der Narissa sich gefürchtet hatte: "Hast du Serelloth und Elendar irgendwo gesehen?"
Narissa schüttelte langsam den Kopf. "Serelloth nicht, aber Elendar..." Sie blieb stehen, und blickte Aerien fest an. "Er ist tot."
"Nein", wisperte Aerien, und schlug entsetzt die Hand vor den Mund. "Serelloth..."
"Abel war hier", erklärte Narissa, und schluckte angestrengt um die Tränen zurückzuhalten. "Er... er wollte gegen mich kämpfen, aber ich konnte nicht, also lief ich davon. Und dann... traf ich auf Elendar und... er kämpfte gegen Abel, aber ich konnte nicht... konnte nicht..." Narissa blickte zu Boden. "Ich lief wieder weg, doch es war eine Sackgasse. Und als Abel Elendar... getötet hatte, kam er auf mich zu, und dieses Mal musste ich kämpfen. Ich habe verstanden, und ich habe ihn getötet, aber zu spät... zu spät..."
Als sie endete, hörten sie ein Stück vor ihnen einen Laut, der Narissas Herz beinahe in Stücke brechen ließ: Den verzweifelten Aufschrei eines jungen Mädchens.
"Oh, Sterne...", flüsterte Aerien, die noch blasser geworden war, falls das überhaupt möglich sein konnte. "Komm", sagte Narissa, und so schnell Aeriens verletztes Bein es zuließ, eilten sie in die Richtung. Sie erreichten die Kreuzung, an der Narissa Elendar getroffen hatte, wichen dem Körper des Mannes, den er getötet hatte, aus, und sahen in der nächsten Biegung Serelloth neben Elendars Leiche knien. Die Hände des Mädchens zitterten und bewegten sich ziellos, und ihre Lippen bewegten stumm. Als sie sie erreicht hatten, ließ Aerien sich neben Serelloth auf die Knie fallen, und legte ihr wortlos einen Arm um die Schulter.
Einen Moment lang verharrte Narissa regungslos, doch kein Wort fiel. Schließlich wandte sie sich ab, den Schlüssel, den Aerien ihr kurz vorher gegeben hatte, in der Hand. Sie konnte hier nichts tun.

Als sie den Schlüssel in das Türschloss stieß und herumdrehte, rührte ihre Mutter sich erneut im Schlaf. Narissa stieß sie Tür auf, sank neben ihr auf die Knie, und berührte mit zitternder Hand ihre knochige Schulter. "Mutter", flüsterte sie. "Ich bin hier. Narissa." Beim Klang ihres Namens öffnete Herlenna die Augen, und ein Strahlen ging über ihr eingefallenes Gesicht. "He, meine Kleine. Ich habe gewusst, dass du irgendwann kommst." Das Lächeln verschwand, als sie sagte: "Ich habe es gefürchtet."
"Gefürchtet, wieso?", fragte Narissa verwirrt, und strich ihrer Mutter sanft über die Wange. "Ich komme um dich zu retten!"
"Er hat es auch gewusst. Er hat gewusst, dass du eines Tages zu mir kommen würdest. Es ist eine Falle!", stieß Herlenna hervor, und in ihren dunklen Augen stand Angst.
"Ich weiß, dass es eine Falle war", erwiderte Narissa beruhigend. "Aber wir haben sie entschärft, und werden bald in Sicherheit sein."
"Mein Vater hat... dich ausgebildet", stellte ihre Mutter mit einem schwachen Lächeln fest, und setzte sich mühsam ein Stück auf. Narissa konnte sehen, wie viel Kraft sie jede einzelne Bewegung kostete. Zwölf Jahre...
"Das hat er", bestätigte sie, und erwiderte das Lächeln, obwohl ihr eher nach Weinen zumute war. "Und jetzt hole ich dich hier heraus."
Herlenna hob den rechten Arm, und strich Narissa mit einer kalten, kraftlosen Hand über die vernarbte Wange. Dann schüttelte sie den Kopf. "Nein, meine kleine Narissa. Ich bin nicht in der Lage, irgendwo hinzugehen."
Narissa schüttelte verzweifelt ebenfalls den Kopf, und sagte: "Ich werde dich nicht hier zurücklassen. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was ich getan habe..." Während sie sprach hatte ihre Mutter den Griff eines der Dolche aus Kerma ertastet, und in mit einer langsamen Bewegung aus der Scheide gezogen. "Nicht zurücklassen...", flüsterte sie. "Du musst mich gehen lassen."
Länger konnte Narissa die Tränen nicht zurückhalten, und sie hinterließen dunkle Flecken auf dem Kleid ihrer Mutter, als sie mit zusammengepressten Lippen den Kopf schüttelte. "Nein. Nein, nein. Ich wollte dich hier raus bringen. Dich retten!"
Herlenna lächelte, ein wenig traurig. "Alles was ich wollte war, dich noch einmal zu sehen bevor ich gehe. Zu wissen, dass es dir gutgehen wird. Ich will es so."
Narissa schüttelte weiterhin stumm den Kopf, und ihre Mutter zog sie in eine letzte Umarmung. "Oh, meine Kleine. Du weißt, dass ich dich sehr lieb habe, nicht wahr? Ich weiß, es ist schwer, aber erfüll mir diesen Wunsch. Ansonsten wäre ich schon vor sehr langer Zeit gegangen."
Sie strich Narissa schwach über den bebenden Rücken, und sagte zu jemandem, den Narissa nicht sehen konnte: "Achte gut auf sie, wer immer du sein magst. Ich kann sehen, wie sehr du sie liebst."
Narissa löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter, und sah nach einem Blick über die Schulter Aerien in der offenen Zellentür stehen und stumm nicken. Dann wandte sie sich erneut ihrer Mutter zu, und küsste sie sanft auf die Stirn, während ihr noch immer die Tränen über die Wangen liefen. "Ich habe dich auch lieb, Mutter. Wir sehen uns wieder", flüsterte sie, und ihre Mutter schloss die Finger um den Griff des kermischen Dolches, der neben ihr auf dem Boden lag. "Das werden wir. Aber erst, wenn du dein Leben gelebt hast. Versprich es mir."
"Ich... verspreche es", erwiderte Narissa mit brüchiger Stimme, und erhob sich langsam, obwohl ihre Knie zitterten. Ihre Mutter lächelte müde, aber aufmunternd. "Nun geht, bevor die Wachen zurückkommen."

Aerien ergriff Narissas Hand, und gemeinsam verließen sie das Gefängnis. Sie verließen es unbehelligt durch den Haupteingang, denn unter ihren Kapuzen verborgen schienen die Männer, die damit beschäftigt waren den Teil des Gebäudes, den der brennende Nazgûl in Brand gesetzt hatte, zu löschen, für Überlebende des Kampfes zu halten, und niemand sprach sie an. Sie gingen langsam nach Westen davon, in die nächtliche Landschaft hinein: Aerien, auf Narissas Schulter gestützt, vorneweg, und die vollkommen teilnahmslose, stumme Serelloth hinterher. Sie stolperten über Hügel und Dünen, an niedrigen Büschen und Felsen vorbei, bis sie einen winzigen verlassenen Tümpel, der von einem hohen Dornengestrüpp umstanden wurde, erreichten. Dort, außer Sichtweite des Gefängnisses, hielten sie erschöpft an.

Narissa, Aerien und Serelloth zur Harduin-Ebene
« Letzte Änderung: 22. Jan 2017, 23:17 von Fine »

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Re: Qafsah
« Antwort #11 am: 20. Okt 2024, 22:06 »
Narissa von vor der Stadt

Qafsah war in Dunkelheit gehüllt, als Narissa am oberen Ende der Treppe durch die eisenverstärkte Tür nach draußen schlüpfte. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen und auch die Sterne waren verhüllt. Von der südöstlichen Mauer und dem dort gelegenen Haupttor drang der Lärm der Schlacht heran, doch die Gassen der Stadt schienen beinahe vollständig leergefegt zu sein. Vermutlich hatten die Verteidiger die Bevölkerung gezwungen, sich in ihren Häusern zu verbergen. Das kam Narissa nicht gerade gelegen, denn in einer aufgeregten Menschenmenge wäre sie mit Sicherheit weniger aufgefallen. Sie verfluchte nicht zum ersten Mal ihre Haarfarbe, die sie auch in der fast vollständigen auffallen lassen würde, und ärgerte sich über sich selbst, nicht wenigstens eine Kapuze mitgenommen zu haben. Andererseits hatte sie ja nicht damit gerechnet, sich durch die Stadt schleichen zu müssen... Sie hoffte, dass die Zwillinge und auch Eayan, der sich an der der Schlacht abgewandten Seite der Stadt über die Mauern schleichen wollte, besser vorankamen als sie.
Vorsichtig arbeitete Narissa sich durch die engen Gassen voran, duckte sich immer wieder hinter Säulen und Kisten sobald sie irgendwo in der Nähe Schritte hörte. Hin und wieder eilten Trupps Soldaten durch die Stadt, brachten Pfeile oder Verstärkung zur Mauer, doch durch ihre Rüstungen hörte Narissa sie meistens bereits, bevor sie auch nur den Schein ihrer Fackeln sah.
Schließlich erreichte sie den großen Platz vor dem Haupteingang des Palastes, verließ die Gasse durch die sie gekommen war jedoch nicht. Stattdessen kauerte sie sich hinter einem etwas unangenehm riechenden Fass nieder, und versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Es sah nicht gerade vielversprechend aus. Zumindest von außen war der Palast trotz des Angriffs auf die Mauern so stark bewacht wie gewöhnlich, wenn nicht sogar stärker. Auf dem Vorplatz patrouillierten zwei Gruppen von fünf Wächtern, und vor dem großen Haupteingang zählte Narissa sechs weitere Männer. In der Dunkelheit konnte sie nicht viel mehr erkennen, doch sie war sich sicher, dass alle Nebeneingänge mindestens ebenso stark bewacht wurden. Auf diesem Weg würde es für sie kein einfaches Durchkommen geben - zumindest nicht, solange sie sich nicht etwas unauffälligere Kleidung beschafft hatte.
Schweren Herzens wandte sie sich vom Palast ab und schlich wieder zurück in das Gewirr der Gassen. Dieses Mal wandte sie sich nach Westen, in Richtung des Viertels in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Ein, zwei Mal ließen sie ihre Erinnerungen im Stich und führten sie in die Irre, doch schließlich erreichte sie den Hinterhof, den sie so gut kannte. Narissa hoffte, dass Yanas Haus noch leerstand - zwar war es nun schon einige Zeit her, dass sie Qafsah verlassen hatte, doch es war Narissas einzige Hoffnung, einen unauffälligen Unterschlupf zu finden.
Hinter den Fensterläden war kein Lichtschein zu erkennen. Narissa stieg vorsichtig die drei hölzernen Stufen zur Hintertür des Hauses hinauf, bemüht, jedes Knarren der Bretter zu vermeiden. Sie verschloss ihren Geist gegen die Flut an Erinnerungen, die bei jedem Schritt auf sie einstürzten - Erinnerungen an ihre Kindheit, aber auch an das letzte Mal, das sie hier in Qafsah gewesen war. Erinnerungen an Níthrar, der dreimal leise an der Tür klopfte, vor der sie jetzt Stand. An Aerien, die bleich und mit weit aufgerissenen Augen zur Tür hereinstürzte nach ihrer Begegnung mit dem Nazgûl in den Straßen der Stadt. An Yanas müdes und ausgezehrtes Gesicht. An Serelloth und Elendar, glücklich, bevor alles schiefgegangen war. An Aerien, wie sie in ihrem Kleid vor dem Spiegel stand. An Aerien, die aus dem Palast zurückkehrte, lächelnd. An Aerien...
Narissa atmete tief durch, und legte die Hand gegen den Türgriff, drückte - doch die Tür rührte sich nicht. "Kein Grund zur Panik", flüsterte sie sich selbst zu. "Wahrscheinlich hat Yana die Tür damals verriegelt, damit nicht irgendwelche Strolche hier einziehen..." Die Tür hatte kein Schloss, und wenn sie sich richtig erinnerte, wurde von innen ein Riegel vorgelegt, um sie zu verschließen. Sie zog Ciryantans Dolch hervor, und schob ihn in den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Es dauerte nicht lange bevor sie den Riegel gefunden und angehoben hatte.
Die Tür knarzte leise, als Narissa sie einen Spalt weit aufdrückte, und ins beinahe stockfinstere Innere des Hauses schlüpfte. Drinnen roch es keineswegs so abgestanden wie sie erwartet hatte, doch bevor sie Zeit hatte darüber nachzudenken, hatte sich von hinten eine kalte Klinge an ihrer Kehle gelegt.
Narissa erstarrte. Sie nahm sich keine Zeit, sich über ihre Unvorsichtigkeit zu ärgern - dazu würde sie später Gelegenheit haben. Falls es ihr gelang, sich aus dieser Situation irgendwie herauszuwinden...
"Wer immer du bist...", begann sie leise und mit gezwungen ruhiger Stimme, und hob langsam beide Hände. Bevor sie weitersprechen konnte, war die Klinge bereits von ihrem Hals verschwunden, und eine weibliche Stimme sagte: "Bist du verrückt hier einfach so aufzutauchen?" Eine bislang abgedeckte Lampe erhellte flackernd den Raum, und Narissa sah sich ihrer Kindheitsfreundin Yana gegenüber.



Fünfzehn Jahre zuvor...

"Mutter hat mir schon wieder die Haare abgeschnitten", schniefte Narissa, und vermied es dabei Yanas schwarze Haare, die dem anderen Mädchen bis auf den Rücken hinunterfielen, anzusehen. Ihre Freundin strich ihr sanft über den Rücken. "Schon wieder Läuse?", fragte sie mitfühlend. "Das kann doch nicht sein. Bei euch ist es doch immer sauber." Narissa fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte erneut. Für ein Mädchen von acht Jahren war es nicht leicht, immer mit kahlem Kopf oder mit Mütze herumzulaufen, während all ihre Freundinnen normal aussahen. Sie hatte darüber schon viel Spott und Hänseleien von den anderen Kindern des Viertels auf sich gezogen, nur von Yana nicht. Deshalb saßen sie jetzt auch gemeinsam am Fuß eines der mächtigen Wachtürme von Qafsahs Mauer, nachdem Narissa nach überstandener Kopfrasur so schnell wie möglich von zuhause weggelaufen war. Natürlich hatte Yana sie als erste gefunden. Eine beste Freundin wusste schließlich immer, wo die andere beste Freundin war.
"Kannst du deine Mutter nicht irgendwie überreden, deine Haare einfach wachsen zu lassen?", fragte Yana gerade. "Das kann doch nicht wirklich nötig sein."
Narissa wischte sich eine unwillkommene Träne aus dem Augenwinkel. "Ich hab's ja schon versucht. Immer wieder. Aber sie hört mir nie richtig zu. Und sie findet immer einen Grund."
"Deine Mutter ist schon ein bisschen seltsam." Da hatte Yana Recht. Narissa liebte ihre Mutter, keine Frage... aber seltsam war sie schon. Nicht nur wegen der Sache mit den Haaren. Wenn Narissa ihre Mutter mit den anderen Bewohnern Qafsahs verglich, fiel ihr auf, dass sie eher einigen der reisenden Händler oder Zuwanderer glich als den Leuten, deren Familien schon seit Ewigkeiten in der Stadt lebten. Manchmal verschwand sie auch ohne Erklärung für ein paar Tage und kehrte hin und wieder plötzlich mitten in der Nacht zurück. Ihr Vater, Yaran, schien zwar irgendetwas darüber zu wissen, doch Narissa hatte noch nie Erfolg damit gehabt, auch nur irgendein Wort aus ihm heraus zu bekommen.
"Und du bist auch seltsam", redete Yana weiter, doch bevor Narissa aufbrausen konnte, hatte Yana den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen. "Aber du bist trotzdem meine beste Freundin für alle Zeiten, Nissa."



"Bist du verrückt, hier zu sein?", gab Narissa im gleichen Tonfall zurück, noch bevor ihr der mächtig gerundete Bauch auffiel, den ihre Freundin vor sich hertrug. Sie schlug vor Schreck die Hand vor den Mund. "Yana, du bist..."
"Schwanger, ich weiß." Yana ließ sich mit einem Ächzen auf die Kante ihres Bettes fallen und lächelte bitter. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißtropfen im flackernden Licht der Lampe. Narissa setzte sich ein wenig zögerlich neben sie. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf versuchte sie zu erinnern, dass sie eigentlich keine Zeit dafür hatte, doch sie hörte nicht hin. "Von wem? Seit wann?"
"Seit wann? Kurz bevor ich die Stadt mit euch verlassen habe", erwiderte Yana. "Von wem? Von irgendeinem meiner Freunde im Palast, aber genauer... keine Ahnung." Narissa spürte, wie sie zusammenzuckte und ein wenig verkrampfte, und legte ihr einen Arm um die Schultern. "Und Eayan hat dich wieder zurückgeschickt? In dem Zustand?"
Yana schüttelte den Kopf. "Er wusste nichts davon." Ihre Stimme klang beinahe ein wenig schuldbewusst. "Ich habe ihm angeboten, zurück nach Qafsah zu gehen, als Informantin, und er hat das Angebot angenommen."
"Und du... du wusstest bereits Bescheid?" Yana blickte in ihren Schoß hinunter. "Ich hatte bereits den Verdacht. Aber... ich wusste, dass ich noch ein paar Monate Zeit hatte. Und ich wollte helfen. Ich wollte nützlich sein, wie du oder Aerien." Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Narissa fasste ihre Schulter ein wenig fester. "Oh, schön. Mach mir nur Schuldgefühle..."
"Das... war nicht meine Absicht, Nissa. Ich wollte auch, dass mein Kind in Qafsah zur Welt kommt. Was auch immer hier geschehen sein mag, es ist die einzige Heimat die ich habe."
"Du hättest eine andere haben können!", fuhr Narissa auf, beruhigte sich aber sogleich wieder, als Yana zusammenzuckte. "Du hättest mit mir kommen können. Wir hätten dir eine neue Heimat geben können."
"Vielleicht", erwiderte Yana müde. "Aber das ist jetzt gerade nicht von Belang." Sie stöhnte leise auf und krümmte sich ein wenig. Narissa sprang von der Bettkante auf. "Du... heißt das... Wann hat es angefangen?" Mit einem Schlag hatte sie begriffen.
"Nicht allzu lange bevor du hier aufgetaucht bist." Yana lächelte schwach. "Du bist genau zum falschen - oder richtigen - Zeitpunkt gekommen." Narissa ergriff ihre Hand, die eiskalt war. "Was soll ich tun?"

Nur kurze Zeit später hastete Narissa, dieses Mal ohne große Vorsicht walten zu lassen, durch die engen Gassen. Mit Mühe ignorierte sie die Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr immer drängender vorwarf, Zeit zu verschwenden. "Sie war... ist meine beste Freundin", flüsterte sie vor sich hin. "Und sie braucht Hilfe." Sie blieb vor einem ein wenig schiefen Haus mit einer Tür, die offenbar vor langer Zeit einmal blau angemalt worden war, stehen, und klopfte kräftig dagegen. Sie hielt es vielleicht drei Augenblicke aus, bevor sie erneut klopfte.
"Ja, ja. Nur keine Hast", ertönte eine Stimme von drinnen, bevor sich schlurfende Schritte näherten und die Tür geöffnet. "Etwas wichtiges, nehme ich an?", fragte die leicht gebeugte Frau, in deren grauen Haaren sich nur noch einzelne schwarze Strähnen zeigen.
"Ihr seid Safina?", fragte Narissa ein wenig atemlos. "Die Hebamme." Die Alte nickte knapp. "Um wen geht es? Offenbar ja nicht um dich selbst", fügte sie hinzu, nachdem sie Narissa von oben nach unten betrachtet hatte.
"Yana bint'Ayman", stieß Narissa hervor, und bevor sie mehr sagen konnte, unterbrach die Hebamme sie bereits. "Ah, ist es also soweit." Sie warf einen Blick nach Süden, von wo noch immer die Geräusche der Schlacht herandrangen. "Sie hat sich ja eine schöne Nacht ausgesucht. Der Sultan hat eine Ausgangssperre verhängt..." Narissa wollte schon protestieren, als Safina mit der Zunge schnalzte. "Na, ein Kind interessiert sich selten dafür, ob der Zeitpunkt gerade passt. Gib mir einen Augenblick, meine Sachen zu holen."

In Yanas Haus lief Narissa unruhig auf und ab. Yana lag auf dem Bett, während die Hebamme Safina saubere Tücher und Wasser bereit stellte und allerlei andere Vorbereitungen traf, die Narissa vollkommen rätselhaft erschienen. Vielleicht hatte ihre Ausbildung auf Tol Thelyn doch einige Lücken gelassen...
"Du hast mir noch nicht gesagt, warum du überhaupt hier bist", sagte Yana plötzlich. Narissa zuckte zusammen, aus ihren Gedanken gerissen. Die Stimme, die sie zur Eile antrieb, übertönte mit einem Mal alles andere. "Ich..." Sie atmete tief durch, blieb stehen und sah ihrer Freundin direkt ins Gesicht. "Du weißt, warum ich hier bin."
"Ich kann es mir denken", erwiderte Yana leise, und presste die Lippen aufeinander. "Allerdings frage ich mich, warum du dann hier bist und nicht im Palast."
"Der Palast ist bewacht", erklärte Narissa, und fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. "Und damit bin ich zu auffällig um mich hereinzuschleichen. Langsam verstehe ich, warum meine Mutter sie immer abgeschnitten hat..."
Yana lachte leise. "Ich habe oben einige Mäntel und Kapuzen liegen. Nimm was du brauchst. Und außerdem..." Sie zog einen kleinen eisernen Schlüssel hervor. "Den wirst du auch brauchen." Narissa nahm den Schlüssel stumm entgegen, und schloss für einen Augenblick ihre Hände um Yanas.
"Erinnerst du dich an einen Mann namens Hazin? Er hat Aerien damals in den Palast gebracht. Der arme Kerl hat mich während meiner Abwesenheit offenbar schrecklich vermisst..." Yana lächelte leicht, und erklärte: "Er hat mir den Schlüssel gegeben. Auf der Ostseite der Gärten gibt es eine kleine Lücke in der Mauer - wenn ich es geschafft habe, mich hindurch zu quetschen, schaffst du es erst recht. Wenn du den Palast erreichst, folge der Wand nach Norden. Es gibt dort eine kleine Tür, zu der der Schlüssel passt."
Narissa ließ den Schlüssel vorsichtig in den Beutel, der auch ihre Dolche enthielt, gleiten. "Was ist mit diesem Hazin? Wird er nicht dort sein?" Yana schüttelte den Kopf, und ihre Augen schimmerten verdächtig. "Vor drei Wochen hat Sûladan ihn für irgendeinen Fehlschlag verantwortlich gemacht und auf dem Platz vor dem Palast hinrichten lassen." Narissa drückte ihre an. "Tut mir Leid", sagte sie schlicht, und Yana schniefte ein wenig. "Er war sicherlich kein guter Mann", erwiderte sie. "Aber zu mir war er immer nett und niemals grausam - das ist mehr, als all die anderen behaupten könnten."

Nachdem sie sich Mantel und Kapuze übergezogen hatte, eilte Narissa die schmale Treppe wieder hinunter. Am Fuß der Treppe wurde sie von Safina aufgehalten, deren Hand sich mit einem für eine ältere Frau erstaunlicher Kraft um ihren Oberarm schloss. "So eilig, deine Freundin in dieser Lage allein zu lassen?", fragte die Hebamme ausdruckslos.
"Ich... muss", gab Narissa zurück. "Ich habe getan, was ich konnte." "Du könntest ihr Beistand leisten." "Sie will es selbst so. Sie will, dass ich meine Aufgabe erfüllen kann." "Das muss eine wichtige Aufgabe sein", sagte Safina ein wenig verächtlich. "Und ganz egal, was sie sagt: Ihr wäre es sicherlich lieber, du würdest sie nicht alleine lassen. Vielleicht bereust du es hinterher."
"Ist das eine Drohung?", zischte Narissa zornig, und die Alte schüttelte den Kopf. "Eine Warnung. Keine Geburt ist jemals ungefährlich, schon gar nicht, wenn die Mutter nicht bei vollen Kräften ist - und das ist sie nicht. Überlege dir gut, was dir wichtiger ist." Sie ließ Narissas Arm los, doch ihre Worte versetzten Narissa einen Stich ins Herz. Die Wahl, vor sie Safina - nein, das Schicksal - sie stellte, erschien ihr mit einem Mal unmöglich.
Sie trat ein wenig zögerlich an Yanas Bett heran, und kniete sich dann neben ihre Freundin. "Worum ging es da?", fragte Yana leise, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nicht wichtig." Sie konnte geradezu fühlen, wie sich Safinas Blicke in ihren Nacken bohrten. "Hör zu... ich würde gerne bleiben. Aber wenn ich das tue, gebe ich auf, und viele Menschen werden unnötig sterben." Sie umarmte Yana kurzentschlossen, und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich komme wieder - nachher. Also sieh gefälligst zu, dass du dann auch noch da bist."



Die Gärten, die sich im Norden und Osten um den Palast herumzogen, lagen in beinahe vollkommener Dunkelheit. Von einer hohen, von Eisenspitzen gekrönten, Mauer umgeben wurden sie offensichtlich längst nicht so sehr bewacht wie der Palast selbst. Auf dem Weg hierher hatte Narissa mehreren Soldatengruppen ausweichen müssten, je mehr sie sich dem Palast näherte umso öfter. Sie hatte es ungesehen geschafft, doch dafür länger gebraucht, als ihr lieb war. Vorsichtig tastete sie sich an der Ostseite der Mauer entlang, eine Hand über die Steine streichend, auf der Suche nach der Lücke von der Yana ihr erzählt hatte. Mit einem trafen ihre Finger auf etwas Spitzes, und vorsichtig tastend stellte sie fest, dass irgendeine stachelige Pflanze hier die Mauer überwuchert hatte. Sie schob zwei Ranken ein Stück auseinander, und tatsächlich - dahinter befand sich eine schmale Lücke im Stein. Das erklärte, warum das Loch unentdeckt geblieben war... "Natürlich hat sie euch nicht erwähnt", raunte sie den Dornen zu, bevor sie sich kurzentschlossen zwischen die Ranken quetschte. Trotz aller Vorsicht riss ihr ein besonders langer Dorn das Hemd an der rechten Schulter auf, und sie spürte ein wenig Blut an ihrem Arm herunterlaufen.
Auf der anderen Seite angekommen, duckte sie sich hinter eine Hecke, und betastete die Wunde vorsichtig. Zum Glück hatte war sie nicht besonders groß, und das Blut floss weniger als befürchtet. Also kein Grund zum Anhalten.
Bei einem Blick über die Hecke stellte Narissa fest, dass auch hier in den Gärten mindestens zwei Wächter mit Fackeln patrouillierten - aber das würde keine große Schwierigkeit darstellen. Hier gab es mehr als genug Deckung, und das Licht der Fackeln würde die Wachen blind machen für alles, was sich in der Dunkelheit außerhalb ihres Lichtkreises bewegte. Nicht viel später erreichte sie die Ostmauer des Palastes, und schlich rasch in nördlicher Richtung daran entlang. Die kleine Tür war genau dort, wo Yana sie beschrieben hatte, und auch der Schlüssel passte. Hinter sich hörte sie im Kies knirschende Schritte näher kommen, und so atmete Narissa tief durch, und schlüpfte ohne weiteres Zögern durch die Tür.

Drinnen war es stockfinster. Narissa beschloss, das als gutes Zeichen zu werten - offenbar hielt sich niemand in dem Raum, in den sie gekommen war, auf. Sie tastete sich langsam voran, und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Reihe Metallspitzen. Eine Harke, stellte sie fest - nur gut, dass sie nicht darauf getreten war. Von einer Harke ohnmächtig geschlagen zu werden, wäre ein besonders peinliches Scheitern ihrer Mission gewesen. Der Gedanke ließ sie unwillkürlich lächeln, und ihre Anspannung löste sich ein wenig - aber nur ein wenig. Seit sie den Palast betreten hatte, hatte sich ein unbehagliches Gefühl tief in ihrer Magengrube festgesetzt. Sie war jetzt allein. Das letzte Mal in Qafsah waren Aerien, Serelloth und Elendar bei ihr gewesen. Und später hatte sie fast immer Aerien an ihrer Seite gewusst - ob in Kerma oder Mordor. Doch jetzt war sie vollkommen allein. Wenn sie Glück hatte, schlich Eayan irgendwo im Palast herum, doch darauf konnte sie sich nicht verlassen. Sie würde sich vollständig auf sich selbst verlassen müssen, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Die Harke verriet ihr, dass es sich bei dem Raum vermutlich um eine Art Lager für die Diener, die sich um die Gärten kümmerten, handelte. Deshalb wurde er auch nicht weiter bewacht - kein Wunder, dass dieser Hazin diesen Weg genutzt hatte, um Yana zu einem Stelldichein in den Palast zu schmuggeln. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
Gegenüber der Eingangstür kam sie durch einen Vorhang in einen breiten Flur, der mit dicken Teppichen ausgelegt war und in regelmäßigen Abständen von Fackeln erhellt wurde. Das war nicht gut, denn auf dem Teppich würde sie Schwierigkeiten haben, sich nähernde Wachen rechtzeitig zu hören, und im Fackellicht wäre sie selbst jederzeit leicht zu entdecken. Tatsächlich bog in genau dem Augenblick ein Wächter um die Ecke, und Narissa zog noch gerade rechtzeitig den Kopf hinter den Vorhand zurück. Sie atmete flach und verharrte reglos, lauschend. Der Schatten des Mannes zog vor dem Vorhang vorbei, und die vom Teppich gedämpften, kaum hörbaren Schritte entfernten sich langsam wieder.
Soweit, so gut, dachte Narissa. Es gab nur ein weiteres Problem - sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung genau die Gemächer des Sultans lagen. Doch allein durch Warten würde sie es mit Sicherheit nicht herausfinden. "Also los", wisperte sie, und trat in den Flur hinaus, Ciryatans Dolch in der Hand. Zu ihrer Rechten konnte sie noch die sich allmählich entfernende Gestalt des Wächters erkennen, also wandte sie sich nach links um die Ecke - wo sie sich augenblicklich zwei weiteren Männern, die eine Tür bewachten, gegenüber sah. Die Wächter wirkten zu ihrem Glück mindestens ebenso erschrocken über ihr plötzliches Auftauchen wie sie selbst. "Guten Abend", stieß Narissa hervor, um die Aufmerksamkeit der Männer auf ihr Gesicht zu lenken, und sprang vorwärts. Sie packte den Speer des ersten Wächters mit der linken Hand und zog. Vollkommen überrumpelt stolperte der Mann nach vorne und entblößte dabei den Hals. Ihren Schwung ausnutzend führte Narissa den Dolch schräg nach oben und rammte ihm so die Klinge geradewegs in die Kehle. Noch während er mit einem gurgelnden Geräusch in die Knie brach nutzte Narissa seinen Speer, um sich vom Boden abzustoßen und dem anderen Wächter mit den Füßen voran gegen die Brust zu springen. Da sie keine Schuhe trug, schmerzte der Aufprall mehr als erwartet, hatte aber den gewünschten Effekt. Ihr Opfer verlor das Gleichgewicht und stürzte schwungvoll auf den Rücken, während Narissa über ihn hin flog, weich wieder auf den Füßen landete und ihm aus der Drehung den zuvor zweckentfremdeten Speer zielgenau durch die Lücke, die sich durch den Sturz am oberen Ende des Brustpanzers geöffnet hatte, in die Brust stieß. Der Wächter zuckte noch zweimal kurz, und lag dann still.

Eine mitten in der Nacht bewachte Tür bedeutete, dass sich auf der anderen Seite etwas wichtiges befand - vielleicht der Sultan selbst. Ohnehin blieb Narissa kaum eine Wahl, denn selbst wenn durch irgendein Wunder niemand den Kampf gehört hatte, würde die nächste Patrouille hier zwei Leichname finden und den Rest des Palastes alarmieren. Narissa stieß die Tür mit der Schulter auf, jetzt neben Ciryatans Dolch rechts auch Schwalbe in der linken Hand, kampfbereit. Doch statt Sûladan oder einem Raum voller Wachen gegenüberzustehen, sah sie sich mehreren verschreckten Frauengesichtern gegenüber. Sie senkte ihre Klingen, und zog rasch die Tür hinter sich zu.
"Keine Sorge, ich bin nicht euretwegen hier", sagte sie hastig, und dennoch wichen die Frauen gleichzeitig einen Schritt zurück, als sie näher kam. Sie musste in Sûladans Harem gelandet sein - kein besonders schöner Gedanken, doch andererseits bedeutete das wahrscheinlich, dass der Sultan nicht weit entfernt war.
"Mörderin!", stieß eine der jüngeren Frauen mit einem Mal panisch hervor, und öffnete den Mund wie zum Schrei, doch eine andere legte ihre die Hand davor. "Hier, um den Sultan zu töten?", fragte die zweite Frau, die deutlich älter wirkte.
Narissa nickte. Lügen hatte hier keinen Sinn mehr. "Wir sollten sie gehen lassen", mischte sich eine dritte Frau ein. "Das geht nicht", stieß die erste hervor, die sich von der Hand auf ihrem Mund befreit hatte. "Er wird uns bestrafen."
"Na und?", erwiderte die, die ihr den Mund zugehalten hatte. "Wenn er will findet er sowieso einen Grund." Weitere Frauen mischten sich ein - einige sprachen sich dafür aus, die Wachen zu alarmieren, andere wollten Narissa einfach gewähren lassen. Bevor Narissa Gelegenheit dazu hatte, sich selbst zu Wort zu melden, fühlte sie ein leichtes Tippen auf ihrer Schulter. Als sie sich umwandte, blickte sie in ein nicht mehr ganz jugendliches, aber nicht altes Frauengesicht - ihr Gegenüber mochte vielleicht zehn Jahre älter sein als sie, mehr nicht.
"Sie werden noch ewig diskutieren", wisperte die andere Frau, und ergriff ein wenig schüchtern Narissas Hand. "Komm mit." In Ermangelung besserer Möglichkeiten ließ Narissa sich von ihr mitziehen, und folgte ihr unauffällig durch eine Seitentür in einen kleinen Raum mit zwei Betten. Im kleineren Bett saß ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren, und starrte Narissa mit großen Augen an.
"Schsch", machte die Frau an das Kind gerichtet. "Leise." Sie wandte sich wieder Narissa zu. "Du bist sie, nicht wahr? Sûladans Tochter?"
Narissa erstarrte. "Woher weißt du davon?" "Der Sultan... wird manchmal redselig, wenn er zu viel Wein getrunken hat. Er redet häufig von dir. Wie du sein einziges Kind bist, dass seiner würdig wäre." Narissa presste so heftig die Zähne aufeinander, dass sie schmerzten. "Er mag mich gezeugt haben, aber das macht ihn nicht zu meinem Vater."
Der Junge zupfte am Gewand der Frau. "Mutter... wer ist das?" "Ruhig, Ishaq", flüsterte seine Mutter. Narissa stieß den angehaltenen Atem aus. "Sûladans Sohn?" Die Frau nickte. "Sein einziger. Aber er... der Sultan ist nicht zufrieden mit ihm. Er ist ihm nicht hart genug."
Draußen wurde die Tür zum Harem krachend aufgestoßen, und Narissa hörte, wie mehrere Wächter in den Raum stürmen. Die Frau, deren Namen sie immer noch nicht wusste, berührte sie kurz an der Schulter. "Bleib hier", sagte sie leise, und schlüpfte aus dem kleinen Nebenzimmer zurück in den Hauptraum, aus dem aufgeregte Stimmen zu hören waren. Narissa wartete ab, zwang sich, ruhig zu atmen. Wenn die Frau sie verriet saß sie rettungslos in der Falle.
Eine kleine Hand berührte ihren Ellbogen. "Wer bist du?", fragte der Junge - Sûladans Sohn - sie erneut. "Ich... heiße Narissa", antwortete sie mit trockenem Mund, während sie auf die Stimmen draußen lauschte und auf jedes Anzeichen, dass gleich eine Horde Wächter das kleine Zimmer stürmen würde. Während sie lauschte, war ihr der Gedanke, dass dieser Junge ihr Halbbruder war, unangenehm präsent. "Bist du gekommen um den Sultan zu ermorden?"
Narissa stockte, und für einen Augenblick war sie abgelenkt. Sie blickte dem Jungen, Ishaq, ins Gesicht. Seine Miene zeige keinerlei Schrecken bei dem Gedanken, und irgendetwas hielt sie davon ab, zu lügen oder abzulenken. "Ja", antwortete sie schlicht. "Er..." "... ist böse", flüsterte Ishaq. "Immer will er mich dazu bringen, jemandem wehzutun. Aber ich will nicht."
Draußen verstummten die Stimmen, und die eiligen Schritte der Wächter entfernten sich wieder. Vor der Tür hörte Narissa dafür die Stimme von Ishaqs Mutter: "Das ist kein besonders guter Zeitpunkt, Herr. Er... er schläft." "Unsinn, Alia", erwiderte eine männliche Stimme, und die Tür öffnete sich. Narissa blieb im Schatten der Tür stehen, bis der Mann ganz in den Raum getreten war, drückte ihn dann mit dem Rücken gegen die Wand und setzte ihm die Spitze ihre Dolches gegen die Kehle. "Kein Laut", zischte sie. Alia, die ihm gefolgt war und hastig die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand mit dem Rücken zur Tür und hatte vor Schreck die Hände vor den Mund geschlagen. Der Mann hingegen wirkte deutlich weniger beeindruckt. "Aah", machte er gedehnt. "Also nicht durchs Fenster geflüchtet." Er warf Alia einen Seitenblick zu. "Amenzu al-Irat, Statthalter von Qafsah", stellte er sich vor, als würde er sich auf einem herrschaftlichen Empfang befinden und nicht ein Messer an der Kehle haben. "Ihr müsst die berüchtigte Narissa sein - Sûladans Bastardtochter."
"Ganz recht", gab Narissa zurück, ohne den Dolch auch nur einen Millimeter von seiner Kehle zu entfernen. "Ihr könnt euch denken, warum ich hier bin."
"Nun, vermutlich nicht um zu eurem liebenden Vater zurückzukehren", erwiderte Amenzu mit beißender Ironie. "Er hat sich ja so geärgert, als ihr damals der kleinen Falle mit dem Gefängnis entkommen seid." Narissa verstärkte ein wenig den Druck der Klinge. "Ah, nun", stieß Amenzu hervor, und Narissa stellte mit Befriedigung fest, dass er nun doch ein wenig nervös wirkte. "Das wird wirklich nicht nötig sein. Ich habe keineswegs vor, euch aufzuhalten. Ganz im Gegenteil."
Narissa war geneigt ihren Ohren zu misstrauen. Sie blickte zu Alia hinüber, die ihren Blick fest erwiderte und langsam nickte.
"Erklärt." Mehr sagte Narissa nicht, und sie nahm den Dolch auch nicht von Amenzus Kehle, auch wenn sie den Druck ein wenig verringerte. Der Statthalter seufzte. "Nun gut. Sûladans Herrschaft ist... sagen wir, untragbar geworden. Mit jeder Niederlage gegen diesen Emporkömmling Qúsay wird er unberechenbarer, und dieses Bündnis mit Mordor... nun, es bring nur Elend und Leid über diese Stadt. Die Anwesenheit von Mordors Boten liegt immer wieder wie eine Wolke über unseren Köpfen." Er machte eine vorsichtige Kopfbewegung in Richtung Ishaqs, der zwischen den Betten stand und die Konfrontation mit großen Augen verfolgte. "Es wird Zeit für einen Machtwechsel."
Allmählich wurde Narissa klar, welches Spiel der Mann spielte. "Mit einem Kind als Marionette und euch als eigentlichem Machthaber", stellte sie fest.
Amenzu lächelte. "Ein Regent wird benötigt, und wer wäre dafür besser geeignet als jemand mit jahrzentelanger Erfahrung? Ich leugne nicht, dass ich eigene Interessen verfolge. Aber in diesem Augenblick kann euch das egal sein, nicht wahr?"
Da konnte Narissa ihm kaum widersprechen. Zögerlich nahm sie die Klinge von seinem Hals, und Amenzu atmete tief durch.
"Sobald Sûladan tot ist, werdet ihr die Stadt an Qúsay übergeben", begann Narissa, und überlegte kurz. "Bietet ihm folgendes an: Qafsah wird ihn als seinen Oberherrn anerkennen, sofern er Ishaq als Fürsten von Qafsah akzeptiert. Und meinetwegen euch als Regenten." Der Statthalter breitete die Hände aus und lächelte gewinnend. "Genau das wäre mein Vorschlag gewesen. Die Details werden wir dann klären." Sein Lächeln schwand, als er hinzufügte: "Es gibt allerdings einen Makel an diesem Plan - wir sind nicht die einzigen Verschwörer, die den Sultan gerne beseitigen und beerben würden."
"Taraezaphel", vermutete Narissa in Gedenken an die Nachricht, die Valions Onkel ihnen überbracht hatte. Amenzu nickte. "Und sie ist nicht allein." Er warf einen etwas schuldbewussten Blick in Ishaqs Richtung. "Ishaq ist nicht Sûladans einziger Sohn."
"Mustqîm", stieß Narissa hervor und verzog angewidert das Gesicht. "Was? Er?" Alia wirkte geschockt. "Er ist Sûladans Sohn?" Sie blickte ängstlich in Richtung ihres eigenen Sohnes, der bei Mustqîms Namen blass geworden war. "Er... hat gesagt, dass er mich eines Tages töten wird", sagte der Junge leise. "Er hat dabei gelächelt, aber ich habe gemerkt, dass er es ernst meinte."
"Ohne Zweifel", erwiderte Narissa ernst. "Aber mit Mustqîm werde ich zur Not jederzeit fertig."
"Schön." Amenzu rieb sich die Hände, als könnte er seinen Machtgewinn bereits spüren. "Es gibt einen versteckten Gang, der vom Harem aus zu den Gemächern des Sultans führt. Er wird nicht bewacht - und von da an sollte die ganze Sache doch ein Kinderspiel sein, nicht wahr?"



Während sie durch den schmalen Gang, der immer aufwärts führte, schlich, klopfte Narissas Herz so laut, dass sie fürchtete den ganzen Palast damit zu alarmieren. Oft wahr sie in dieser Nacht gerade so dem Scheitern entgangen, doch es nahte der Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Der Moment, in dem sie ihre Mission endlich erfüllen und ihre Rache bekommen, oder scheitern und sterben würde, ohne Aerien, Yana oder ihre Heimat jemals wiederzusehen. Der Gang endete an einer Tür, die vermutlich auf dieser Seite ebenso wie im Harem in den Verzierungen der Wände versteckt war. Narissa atmete dreimal tief durch um ihr beinahe rasendes Herz zu beruhigen, und trat dann durch die Tür ins Freie.
Sûladan erwartete sie bereits.

"Meine verlorene Tochter", sagte er mit weit ausgebreiteten Armen. "Ich freue mich, dass du es geschafft hast." Ohne ein Wort warf Narissa Ciryatans Dolch in seine Richtung, doch der Sultan wich mit einer beinahe beleidigenden Mühelosigkeit aus und die Klinge traf die gegenüberliegende Wand, prallte davon ab und landete klirrend auf dem Boden. Sûladans schwarze Augen leuchteten auf. "Sehr gut. Ich hatte mir nicht weniger erhofft." Narissa hatte bereits Nachtigall als Ersatz in der Hand und spannte sich zum Sprung an, als der Sultan die Hand hob. "Augenblick. Dafür ist gleich immer noch Zeit - ich verspreche auch, nicht nach meinen Wachen zu rufen. Die im Augenblick übrigens vermutlich am anderen Ende des Palastes verzweifelt nach dir suchen." Er lächelte, und dieses Lächeln jagte Narissa einen Schauer über den Rücken. Sie nutzte die Gelegenheit, Sûladan etwas genauer zu betrachten. Der Sultan war hochgewachsen, ein gutes Stück größer als sie, und hatte pechschwarze Haare, die ihm hinten in den Nacken fielen. Trotz seiner überlegenen Haltung wirkte er angegriffen - er war bleicher als sie erwartet hatte, und unter seinen schwarzen Augen lagen dunkle Ringe. "Was willst du?", fragte sie kalt und ohne ihn aus den Augen zu lassen. "Hm... keine Spur von mir in diesem Gesicht", sagte der Sultan beinahe ein wenig enttäuscht. Offensichtlich hatte er sie ebenso gründlich gemustert wie sie ihn. "Wenn nicht äußerlich, dann doch vielleicht innen. Ich habe deinen Weg gründlich beobachtet, und ich bin beeindruckt. Ich denke, in dir steckt mehr von mir als du vielleicht wahrhaben willst."
Narissa schüttelte verächtlich den Kopf. "Hast du vor, dir mit Schmeicheleien das Leben zu retten?"
"Nein, nein...", gab Sûladan zurück. "Das wird nicht nötig sein. Aber vielleicht... Ich brauche einen Erben. Ich habe ein Balg von einer meiner Konkubinen, aber der ist zu nichts nutze. Mustqîm... mit dem ist schon mehr anzufangen, aber er ist längst nicht so beeindruckend wie du. Gemeinsam könnten wir diesen Emporkömmling Qúsay vernichten, und ganz Harad unter einem Banner vereinen. Selbst Mordor könnte uns nicht widerstehen! Ich habe gehört, was du dort getan hast!" Bei seinen letzten Worten schien ein kalter Wind durch das Gemach zu wehen. Narissa blickte in Sûladans Augen, und sah dort den Wahnsinn funkeln.
"Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du meine Eltern getötet hast." Sie sprang vor, doch sofort hatte Sûladan seinen Krummsäbel in der Hand. "Dann eben auf die unangenehme Weise", stieß er hervor, und parierte ihren ersten Stoß mühelos.

Sûladan war schnell wie eine Schlange, und Narissa an Schnelligkeit beinahe gleichwertig. Seine Größe und sein Krummsäbel verschafften ihm zu dem einen Reichweitenvorteil, und sehr schnell wurde Narissa klar, dass dieser Kampf sehr viel ausgeglichener sein würde als sie erwartet hatte. Sie wirbelte um den Sultan herum, versuchte seine Aufmerksamkeit immer auf den einen Dolch zu richten und mit dem anderen eine Lücke in seiner Deckung zu finden. Doch er schien immer zu ahnen, wo der nächste Angriff kommen würde, und parierte, wich aus, immer und immer wieder. Schließlich traf sie doch, und Sûladan machte einen Sprung nach hinten. An seinem linken Oberarm war der Stoff seines Gewandes aufgerissen, und darunter lief ein wenig Blut aus einem oberflächlichen Schnitt. "Das erste Blut geht an dich", sagte er ein wenig außer Atem. Er wirkte merkwürdig zufrieden. Narissa gab ihm keine Antwort, sondern griff wieder an.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie gekämpft hatten, als Sûladans Säbel sie an der gleichen Stelle traf, an der sie ihn zuvor verletzt hatte - er versetzte ihr ebenfalls nur einen sehr oberflächlichen Schnitt, und gerade diese Tatsache verunsicherte sie. Spielte er nur mit ihr? Hatte er einen Plan, den sie nicht durchschaut hatte? Ihre Verunsicherung brachte sie ein wenig aus dem Rhythmus, und mehr brauchte der Sultan nicht. Unvermittelt hörte sie einen Knall, und etwas wickelte sich schmerzhaft fest um ihr rechtes Handgelenk. In Ruck ließ sie unwillkürlich nach vorne stolpern. Schwalbe fiel ihr aus der Hand, und im selben Augenblick traf der Krummsäbel sie in die linke Seite. Der Schmerz ließ sie stocken, und Sûladan, der mit einem Mal direkt vor ihr stand, rammte ihr das Knie gegen die Brust. Narissa wurde schwarz vor Augen, und als sie wieder sehen konnte, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden und blickte in Sûladans Gesicht hinauf.
"Gar nicht schlecht", keuchte der Sultan, dem ihr Zweikampf offenbar auch einiges abverlangt hatte. In der linken Hand hielt er nun den Griff einer Peitsche, die noch schmerzhaft fest um Narissas Handgelenk gewickelt war. Die Wunde an ihrer linken Seite brannte schmerzhaft und sie spürte wie das herausströmende Blut Hemd und Hose tränkte. "Nicht tödlich", stellte Sûladan zufrieden mit einem Blick auf ihre Seite fest. "Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders?" Narissa tastete mit der freien Linken nach einem ihrer Dolche, die ganz in der Nähe liegen mussten, doch sie hatte kein Glück.
"Fahr zur Hölle", gab sie müde zurück. Es brauchte ihre ganze Willenskraft mit fester Stimme zu sprechen. "Beende es schon. Wenn ich Glück habe, erwischen dich Qúsays Männer heute Nacht noch."
"Ah, diese Entschlossenheit... Genau davon habe ich geträumt. Genau das braucht es." Sûladan lächelte stolz. "Weißt du, diese Entschlossenheit habe ich damals auch gehabt, als ich meinen Vater, sagen wir mal... beerbt habe. Ich hätte es gern selbst getan, aber das war nun einmal nicht möglich." Er beugte sich vor, packte Narissa am Kragen wie einen Welpen und riss sie in die Höhe. "Ich nehme an, dieser Verräter Ifan ben-Mezd hat dir von dem Wassertunnel erzählt?" Er wartete keine Antwort hab, sondern stieß sie mit Wucht gegen die Wand, sodass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. In ihrer halb sitzenden und halb liegenden Position stellte Sûladan ihr den Fuß auf die Brust, sodass sie sich keinen Zentimeter rühren konnte.
"Dafür wird er natürlich sterben", fuhr er fort, als wäre nichts geschehen. "Dass es genau das war, was ich wünschte, konnte er ja nicht wissen."
"Hörst du... auch noch irgendwann... auch zu reden?", brachte Narissa mühsam hervor. Sûladans Lächeln wurde breiter. Es wirkte auf seinem Gesicht irgendwie... falsch. "Brauchst du ein wenig Ruhe, um über deine Optionen nachzudenken?", fragte er. "Das lässt sich einrichten. Vielleicht brauchst du ja weniger Zeit zu einer Entscheidung zu kommen als deine arme Mutter... Mustqîm!" Narissa hörte, wie sich eine Tür öffnete und Schritte näherten. Schließlich schob sich Mustqîms Gestalt in ihr etwas verschwommenes Gesichtsfeld. Er hatte ein Langschwert in der Hand. "Ah, eine Familienzusammenführung wie man sie sich nur wünschen kann", spottete er.
"Lass den Unsinn und bring sie in den Kerker", sagte Sûladan barsch. "Und dann..." Weiter kam er nicht, denn es gab einen dumpfen Schlag und voller Verwirrung stellte Narissa fest, dass Mustqîm sein Schwert tief in die Brust des Sultans gerammt hatte.
Sûladan hustete, und ein Schwall Blut floss aus seinem Mund hinunter über seine Brust. "Du... Bastard", stieß er hervor. "Treffend ausgedrückt", gab Mustqîm zurück, und drehte das Schwert herum. Sûladan verstummte, und brach auf den kunstvoll verzierten Fliesen zusammen. Sein Blut vermischte sich mit dem, das noch immer langsam aus der Wunde an Narissas Seite quoll. Sie blickte in das leblose Gesicht ihres leiblichen Vaters und fühlte - nichts. Keine Erleichterung, keine Befriedigung, keinen Hass... nur Müdigkeit. Trotzdem versuchte sie sich aufzurappeln, sobald Sûladan sie nicht mehr an die Wand drückte. Mustqîm trat ihr ungehemmt in die verletzte Seite, und Narissa sackte hustend wieder an der Wand zusammen. Vor ihren Augen tanzten Sterne.
"Und jetzt zu dir." Ein zweites Paar Stiefel schob sich in ihr Sichtfeld. "Spiel nicht mit ihr", sagte eine weibliche Stimme, und Narissa zwang sich, den Kopf zu heben. "Rae", murmelte sie, und sie dunkeläugige Frau versetzte ihr einen Tritt gegen die Hüfte. "Taraezaphel, wenn ich bitten darf. Zukünftige Fürstin von Qafsah und rechtmäßige Königin von Arzâyan." Sie wandte sich an Mustqîm. "Da das vorüber ist - ich werde mich darum kümmern, dass die Mauer nicht fällt. Halte du dich nicht zu lange mit ihr auf. Wir haben noch ein Heer zu vernichten."
"Natürlich", erwiderte Mustqîm. "Ich kann es kaum erwarten." Taraezaphel richtete ihre dunklen Augen noch einmal auf Narissa. "Vielleicht hättest du damals einfach auf deiner kleinen Insel bleiben sollen, dann hättest du vielleicht überlebt. Die Chance besteht jetzt nicht mehr." Sie wandte sich ab, und Narissa hörte wie ihre Schritte sich entfernten und sie die Tür hinter sich schloss.
"Ich... weiß was ihr vorhabt", brachte sie mühsam hervor. Mustqîm lächelte boshaft. "Nicht schwer zu erraten oder? Unser... Vater hatte schon die richtige Idee." Er blickte verächtlich auf Sûladans reglosen Körper. Er bemerkte nicht, dass sich die Hand des sterbenden Sultans bewegte und Ciryatans Dolch in Narissas Richtung geschoben hatte. "Morgen hat Qafsah einen neuen Fürsten, und dieser Fürst wird eine Gemahlin haben, mit der er den gesamten Süden dieser Welt unter einem Banner vereinigen wird." Mit ihrem etwas verschwommenen Blick glaubte Narissa zu sehen, wie sich am anderen Ende des Raumes die versteckte Tür zu den Haremsräumen einen Spalt weit öffnete. Die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich um den ihr so gut bekannten Dolchgriff.
"Du weißt schon... das sie dich... verraten wird?", fragte sie stockend. Mustqîm lachte. "Oh, aber natürlich. Aber nicht, bevor wir unser Ziel erreicht haben, und nicht, bevor sie einen Erben hat. Und wenn es soweit ist..." Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht unangenehm nah an ihrem war. "Dann ist nur die Frage, wer von uns beiden schneller ist, nicht wahr?"
"Du jedenfalls nicht", erwiderte Narissa, und riss mit ganzer Kraft ihren rechten Arm in die Höhe. Ciryatans Dolch traf Mustqîm am linken Kiefer, schlitzte ihm von dort aus nach oben die komplette Wange auf, sodass seine Zähne weiß hindurchschimmerten, und traf dann sein linkes Auge. "Aaaaah." Er schrie auf, taumelte einen Schritt zurück, und presste die linke Hand auf sein zerstörtes Gesicht - doch sein Schwert hatte er nicht fallen lassen, und in diesem Moment wusste Narissa, dass sie sterben würde.
"Dafür werde ich dich..." Sie erfuhr nie, was genau er vorhatte, denn auf einmal stolperte Mustqîm vorwärts, genau auf sie zu, und mit mehr Instinkt als Absicht richtete Narissa ihren Dolch genau auf sein Herz und stieß in dem Moment zu, als er auf sie fiel. Mustqîm zuckte noch einmal, und dann lag er still.
Narissa schloss einen Moment lang die Augen, bevor sie Mustqîms Leichnam mit letzter Kraft von sich herunter wuchtete, und kam mühevoll auf die Beine. Vor ihr stand Ishaq, blass im Gesicht und mit einem Ausdruck grenzenlosen Schreckens auf dem Gesicht.
"Schon gut", sagte Narissa leise, und ließ ihren Dolch fallen. Sie blickte an sich herunter. Hemd und Hose waren beinahe vollkommen blutgetränkt, und auch auf ihrem Gesicht spürte die Spritzer von Mustqîms Blut. "Das meiste davon ist nicht meins... glaube ich zumindest", sagte sie mehr an sich selbst als an den Jungen gerichtet.
"Sind... sind sie tot?", flüsterte Ishaq mit zitternder Stimme. Narissa warf einen Blick auf Sûladan, der jetzt auf dem Rücken lag, die offenen Augen blicklos an die Decke gerichtet. "Ja", antwortete sie, die linke Hand auf ihre Wunde in der Seite gepresst. "Und ich nicht. Du hast mir das Leben gerettet, Ishaq. Was... was machst du überhaupt hier?"
Der Junge antwortete nicht, sondern starrte weiterhin die beiden Leichen an, das Grauen ins Gesicht geschrieben. Durch die versteckte Tür stürmten Alia und Amenzu, und beide erstarrten bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Narissa, vollkommen blutüberströmt und äußerst wackelig auf den Beinen, die Leichen von Sûladan und Mustqîm und Ishaq, der zitternd dazwischen stand.
Alia war die erste die sich wieder regte. Sie stürmte zu Ishaq, fiel auf die Knie und schloss ihren Sohn fest in die Arme. "Du... böser Junge! Du kannst nicht einfach..."
"Nein", fiel Narissa ihr ins Wort. "Ohne ihn hätte ich nicht überlebt. Meinen... Bruder." Ishaq richtete über die Schulter seinen Blick auf sie, und der Schrecken in seinem Blick wich Überraschung. "Was?"
"Ich glaube, für diese Erklärung ist später Zeit", mischte sich Amenzu ein. Der Statthalter rieb sich die Hände. "Hervorragende Arbeit, wirklich hervorragend. Bleibt nur noch Taraezaphel, und..." Er unterbrach sich. "Nun ja. Zum triumphieren ist später noch Zeit. Vielleicht sollten wir zuerst dafür sorgen, dass ihr nicht verblutete. Das wäre doch zu schade."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Der Zorn der Löwenmaid
« Antwort #12 am: 21. Okt 2024, 10:43 »
Valion von der Schlacht vor der Stadt...

Mehr durch Glück als durch Verstand landete er weich - in einem großen Stapel Unkraut, der wohl der Beginn eines neu angelegten Komposthaufens darstellte. Valion war in einem direkt an die Mauer angrenzenden Garten gelandet, der erstaunlicherweise recht gut gepflegt aussah. Vermutlich stand er im Besitz von jemandem, der sich einen privaten Brunnen leisten konnte.
Valion hatte allerdings keine Zeit, sich mehr Gedanken darüber zu machen. Sein Sprung in die Tiefe war nicht unbemerkt geblieben. Raue Stimmen hallten von den Mauern zu ihm herunter und er wusste, dass man rasch nach ihm suchen würde. Er rappelte sich auf, prüfte den Sitz seiner Schwerter, und verließ raschen Schrittes den Garten. Sein linkes Bein schien beim Sturz etwas abbekommen zu haben, denn er spürte bei jedem Auftreten einen leichten Schmerz, doch Valion schob das Gefühl beiseite. Er trat durch das hölzerne Törchen des Gartens und wandte sich nach rechts - in die Richtung, in der das Tor liegen musste.

Doch dann hielt er inne. Am Tor werden sie zuerst nach mir suchen, schoss es ihm durch den Kopf. Sie können es sich nicht leisten, dass jemand den Belagerern das Tor öffnet, und werden dort sicherlich schon auf mich warten. Er lief wieder los, und bog in eine kleine Gasse ab, weg vom Tor, um erst einmal außer Sicht zu kommen. Sein Herz pochte vor Aufregung, doch er zwang sich zur Ruhe. Als das Geräusch von metallbeschlagenen Stiefel auf dem Pflaster der Straße um die Ecke hörte, presste er sich rasch in den Türrahmen eines der Häuser in der Gasse.
Wenn ich zum Tor gehe, gebe ich die Chance auf, diese Frau, Taraezaphel, zu finden, wurde es ihm schließlich klar, während die Schritte wieder leiser wurden. Am Tor wird der Widerstand der Männer Sûladans am stärksten sein. Alleine komme ich dort niemals so weit, dass ich eine Gelegenheit bekäme, das Tor zu öffnen.
Nachdem er sich entschlossen hatte, nicht zum Tor zu gehen, löste Valion sich aus dem Türrahmen in dem er sich verborgen hatte. Er hob den Blick und sah zwischen zwei Dächern mehrere schlanke Turmspitzen aufragen. Das muss der Sultanspalast sein, überlegte er. Ich werde es dort versuchen. Entweder ich finde dort mein Ziel, oder ich kann eventuell die Wachen ein wenig ablenken, damit Narissa freie Bahn hat.

Auf dem Weg durch die ihm vollkommen fremde Stadt hatte er mehrere Male großes Glück, nicht von den herumstreifenden Wachen entdeckt zu werden. Doch ohne Vorkenntnisse über die Straßen Qafsahs dauerte es nicht lange, bis Valion sich vollkommen verirrt hatte. Zwar halfen ihm die Türme des Palastes als grobe Orientierungshilfe, doch er war gezwungen, die größeren Straßen zu meiden, und die Vielzahl von kleinen und kleineren Gassen waren oft so verzweigt und gewunden, dass sie ihn nur selten auf Anhieb in die richtige Richtung führten. Als er schließlich ungefähr zwei Stunden nach seinem Sprung von den Mauern aus einem weiteren Gässchen auf einen kleinen, verlassenen Marktplatz trat, hatte seine Glückssträhne ein Ende. Kaum hatte er den Schatten der Hauswände verlassen, stieß er beinahe mit einem Krieger zusammen, der über den Platz getrabt kam. Sein Gegenüber trug eine feste, rötliche Lederrüstung mit großen eisernen Schulterschützern. Sein Haar und Bart waren schwarz, lang und lockig und zwei gezackte Klingen hingen an seinem Gürtel.
Ohne auf einen Reaktion des Mannes zu warten zog Valion seine Schwerter und hieb auf den Kerl los. Doch obwohl dieser breit und massig gebaut war, wich der Südländer Valions Angriff aus und wirbelte um die eigene Achse, hatte auf einmal in jeder Hand eines seiner Schwerter, und ging zum Gegenangriff über.
"Spiel nicht mit deiner Beute, Breyyad," sagte eine Frauenstimme hinter Valion, doch er hatte keine Zeit sich nach ihr umzublicken. "Wir müssen zusehen, dass wir zum Tor kommen. Wenn es dieser eine hier über die Mauern geschafft hat, werden ihm sicherlich noch mehr folgen."
Breyyad - Valions Gegner - brummte etwas Unverständliches, dann versetzte er Valion einen Hieb auf den linken Oberschenkel, als hätte er mit einem einzigen Blick erkannt, dass dessen Bein bereits angeschlagen war. Heißer Schmerz schoss durch das Bein und Valion taumelte einen Schritt rückwärts. Er bekam keine Gelegenheit, sich wieder zu fangen, denn Breyyad stürzte sich sofort wieder auf ihn. "Ich bin gleich fertig hier, Rae..." knurrte der Südländer und durchbrach Valions wackelige Deckung, packte ihn am Hals und schleuderte ihm mit beängstigender Kraft gut einen Meter über den Marktplatz. Valion gelang es irgendwie, sich halbwegs abzurollen und sprang auf die Beine, den Schmerz in seinem Bein für einen Moment vergessend. Breyyad hob die Klingen, doch Valions Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die Frau, die neben dem Krieger stand. Schwarzhaarig, dunkle Augen, blaues Halstuch, Kettenhemd, gestreiftes Stirnband... sie passte exakt auf die Beschreibung des Grundes, warum Valion überhaupt in Qafsah war.
Valion ging ein Gedanken durch den Kopf, gerade als Breyyad wieder auf ihn losstürmen wollte. Keuchend rief er der Frau zu: "Edrahil schickt mich."
Beide Gegner erstarrten. Taraezaphels dunkle Augen verengten sich, und ein Ausdruck von Abscheu, aber auch etwas anderes huschten über ihr hübsches Gesicht - war das ein Anflug von Furcht gewesen, oder hatte Valion sich das eingebildet?
"Beende es, Breyyad," sagte sie, kalt, und mit Verachtung in der Stimme. Hinter ihr begann der Marktplatz sich mit Wachen zu füllen, die zweifelsfrei vom Kampflärm angelockt worden waren. Valion wurde klar, dass er nur noch eine letzte Gelegenheit hatte. Er nahm all seine Kraft zusammen und sprang los, während er das Schwert in seiner rechten Hand mit voller Wucht gegen Breyyad schleuderte. Instinktiv hieb der stämmige Krieger danach und entblößte damit seine Deckung. Valion hatte die Distanz zwischen ihnen mit seinem Sprung überbrückt und stieß seine zweite Klinge durch die freie Achselhöhle tief in den Brustkorb Breyyads. Dieser sackte tot zusammen, doch Valion hielt nicht inne. Mit einer Drehung zog er das vor Blut spritzende Schwert aus dem Körper, nutzte den Schwung um sich zu Taraezaphel zu drehen, ehe ihn die heranstürmenden Wächter ergreifen konnten, und...
...prallte taumelnd zurück, als seine Klinge von einem Langschwert pariert wurde.

"Ergreift ihn," sagte Taraezaphel und ließ ihren Anderthalbhänder sinken. Wie sie es geschafft hatte, die Klinge so rasch zu ziehen, war Valion ein Rätsel. Doch es machte keinen Unterschied. Er war gescheitert. Die Wächter packten ihn und rissen ihm das Schwert aus der Hand. Taraezaphel ragte über ihm auf, die Klinge zum Todesstoß erhoben. "Ich werde Edrahil von deinem tollkühnen Mut berichten," sagte sie und Valion war es beinahe, als klänge auf einmal ein Hauch von Mitgefühl in ihrer sonst so gefühlskalten Stimme mit. Doch mit dem nächsten Satz war dieser Eindruck sofort wieder vorbei. "Ich erzähle ihn von deinem letzten Kampf, während... ich ihn zu Tode foltere."
Sie senkte die Spitze der Klinge leicht, sodass sie auf Valions Kehle zeigte. "Auf Wiedersehen, ungestümer, tapferer Narr." Valion schloss die Augen.

Doch anstelle eines raschen Todes ertönte ein durchdringender, tiefer Ton, der die Luft zum Beben brachte. Es kam von... außerhalb der Stadt? Valion war sich nicht sicher. Taraezaphel hingegen schien gleich zu verstehen, was es zu bedeuten hatte. "Ein Kriegshorn," stieß sie wütend hervor. "Also ist es ihm tatsächlich gelungen, das alte Reich..." sie brach mitten im Satz ab und ließ ihr Schwert sinken. "Wir können hier nicht bleiben," wies sie die Wächter an, die Valion noch immer festhielten. "Es wird Zeit zu retten, was in dieser verfluchten Stadt noch zu retten ist." Damit ballte sie die Faust, und verpasste Valion einen gezielten Hieb gegen die Schläfte. Ihm wurde schwarz vor Augen und er spürte... nichts mehr.

Valion in Taraezaphels Gefangenschaft zur Harduin-Ebene
« Letzte Änderung: 10. Nov 2024, 11:59 von Fine »
RPG:

Eandril

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Re: Qafsah
« Antwort #13 am: 26. Okt 2024, 20:46 »
Narissa zuckte unwillkürlich zusammen, als Alia den Verband um ihre Seite festzog. "Ich habe eine Frage", sagte Sûladans ehemalige Konkubine leise, während Narissa ihr blutiges Hemd zurecht rückte. "Sûladan ist - war - dein Vater, soviel habe ich inzwischen begriffen. Wer war deine Mutter?"
Sie waren Alias kleines Gemach im Harem zurückgekehrt um Narissas Wunde zu versorgen, während Amenzu seine Getreuen im Palast um sich sammelte um die Macht für Ishaq, und damit für sich selbst, zu sichern.
"Meine Mutter hieß Herlenna", antwortete Narissa ein wenig angestrengt. Eine knochentiefe Erschöpfung hatte sie ergriffen, nachdem sie realisiert hatte, dass Sûladan und Mustqîm tatsächlich tot waren. Jeder einzelne Knochen und Muskel in ihrem Körper schien zu Schmerzen, und sie spürte weniger Zufriedenheit als eine gleichgültige Müdigkeit. "Sûladan... hatte sich ihr aufgezwungen. Zehn Jahre später hat er sie gefunden und für den Rest ihres Lebens eingesperrt." Sie blickte Alia in die Augen. "Nicht so viel anders als deine Geschichte, nehme ich an." Alia nickte nur stumm, mit einem vielsagenden Blick auf Ishaq, der mit dem Rücken zur Wand auf dem anderen Bett saß und noch immer den Schrecken dessen, was er gesehen hatte, im Gesicht trug. Alia lächelte zaghaft. "Nur, dass es bei mir nicht der Rest meines Lebens sein wird. Und das verdanke ich dir."

Die Tür wurde aufgestoßen und sofort hatten sich Narissas Hände um die Griffe ihrer Dolche geschlossen. Sie entspannte sich, als Amenzu in den Raum trat - jedoch nur ein wenig, denn der Statthalter von Qafsah wirkte angespannter als zuvor. Beim Anblick der drei atmete er erleichtert aus, doch der besorgte Ausdruck in seinen Augen blieb. "Ihr seid in Sicherheit, gut." Auf Narissas fragenden Blick erklärte er: "Mustqîm, dieser Bastard, ist verschwunden. Offenbar habt euer Messer weniger genau getroffen als gedacht." Noch bevor er ausgesprochen hatte, war Narissa ungeachtet der Schmerzen in ihrer Seite so heftig von der Bettkante aufgesprungen, das Alia einen Schritt zurückweichen musste und beinahe gegen Ishaq gestoßen wäre. "Wohin?",  fragte Narissa knapp, und Amenzu zuckte hilflos mit den Schultern. "Als ich eben in die Gemächter des Fürsten kam, lag seine Leiche nicht mehr dort. Ich glaube nicht, dass jemand ihn fortgeschafft hat, also muss er noch am Leben sein."
Alia hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. "Und Sûladan?" "Er ist tot, das ist sicher", erwiderte Amenzu beruhigend. "Aber wir müssen..." Narissa ließ ihn nicht ausreden. Sie hatte bereits Ciryatans Dolch in der Hand - dieses Mal würde sie darauf achten, dass er sein Ziel nicht verfehlte.
"Habt ihr eine Idee, wohin er gehen könnte?" "Weit wird er mit seinen Wunden nicht kommen", überlegte Amenzu. "Entweder versucht er diese Schla... Schlange Taraezaphel zu finden, oder..." Seine Augen weiteten sich ein wenig. "Wenn er vorhat sich zu rächen, dann weiß ich wo er sein könnte. Im Keller des Palasts lagert eine gewaltige Menge kermischen Feuers. Ich weiß nicht, ob ihr davon gehört habt..."
"Habe ich", unterbrach Narissa ihn, und sie spürte ihr Herz schneller schlagen. "Wenn er es entzündet..."
Amenzu nickte stumm. Normalerweise beherrschte er eine Miene perfekter Gelassenheit, doch in diesem Moment entdeckte Narissa das erste Mal in dieser Nacht einen Anflug von Angst auf dem Gesicht des Statthalters. Auch sie verspürte tief in der Magengrube das ziehende Gefühl der Furcht. "Es einer von Sûladans Plänen, Qúsays Heer zu vernichten. Es gibt dort eine Wasserleitung zur Oase, und..." Er sprach nicht weiter.
Narissa drängte sich an ihm vorbei. "Wo ist dieser Keller?" "Geht zurück in die Gemächer des Fürsten", erklärte Amenzu rasch. "Von dort aus folgt dem Flur immer nach Norden, biegt am Ende nach links ab. Ein Stück weiter führt auf der linken Seite eine Treppe nach unten. Der Lagerraum liegt ganz am Ende des Gangs." Narissa nickte nur knapp, bevor sie sagte: "Sammelt alle, denen ihr vertraut, und flieht so schnell wie möglich aus dem Palast. Ich kümmere mich um Mustqîm, aber nur für den Fall..."
"Aber du bist verwundet!", wandte Alia ein, und Narissa zwang sich zu einem Lächeln. "Das ist Mustqîm auch."

So schnell ihre Füße sie trugen eilte Narissa zum zweiten Mal in dieser Nacht durch den schmalen Geheimgang zu den Gemächern des Fürsten. Ihr Herz schien mit jedem Schritt schneller zu schlagen, und das nagende Gefühl der Angst verstärkte sich mehr und mehr. Ein winziger Teil ihres Bewusstseins wunderte sich darüber - nicht einmal vor ihrer Konfrontation mit Sûladan hatte sie sich so gefürchtet. Vielleicht war ihr dieses Mal klarer als zuvor, dass ein Scheitern nur ihren Tod zur Folge haben konnte.
Im Gemach des Fürsten hielt Narissa für einen winzigen Augenblick inne, vom Anblick Sûladans, dessen Leichnam noch immer blicklos an die Decke starrte, ins Stocken gebracht. Von der offenen Tür zu ihrer Linken, die auf den Balkon führte, peitschte ein eiskalter Luftzug, der sie erschaudern ließ, herein. Gerade als sie sich abwenden wollte, landete mit einem dumpfen Krachen landeten zwei gewaltige, klauenbewehrte schwarze Füße auf der Brüstung des Balkons. Vom Rücken der Kreatur glitt eine Gestalt in nachtschwarzer Rüstung, das blanke Schwert in der Hand.
Nur ein einziges Wort hallte durch Narissas Kopf: Nazgûl!
Gib auf, ertönte eine eiskalte Stimme in ihren Gedanken. Narissa versuchte, die lähmende Furcht, die sie umschlungen hatte, niederzukämpfen und weiter zu rennen, doch sie verharrte wie angewurzelte. Der Ringgeist trat durch den Türbogen in den Raum und schien die Dunkelheit der Nacht mit sich zu bringen. Die brennenden Kerzen in seiner Näher verloschen zischend.
Diese Stadt gehört dem Herrn von Mordor, drängte sich seine Stimme wieder in ihre Gedanken. All eure Hoffnung ist vergebens. Auf dem Balkon brüllte sein Reittier auf. Eine zweite Gestalt sprang vom Balkon in den Raum. Ein Dolch glitt von der Rüstung des Nazgûl ab, doch für einen Augenblick war der Ringgeist abgelenkt. Die Lähmung verließ Narissa, und sie erkannte Eayan al-Tayir, der in rasender Geschwindigkeit um den Nazgûl herumwirbelte. "Nun lauf schon!", brüllte er, und wich im selben Augenblick mit Mühe einem Schwertstoß des Ringgeists aus.
Narissa machte nur einen winzigen Schritt auf ihn zu, bevor sie auf der Stelle umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung davon rannte. Sie wollte Eayan nicht im Stich lassen - doch wenn sie Mustqîm nicht erwischte, würden sie alle ohnehin sterben.
Ihr Herz hämmerte in der Brust als wollte es zerspringen und ihre Wunde brannte wie Feuer, doch Narissa rannte mit ganzer Kraft den breiten Flur im Herzen des Palasts entlang.
In rasender Geschwindigkeit bog sie am Ende des Flurs nach links um die Ecke, und hätte beinahe die Treppe verpasst, die in den Keller hinab führte. Eine einzelne Fackel beleuchtete den Eingang - ein zweiter Fackelhalter war leer. Im flackernden Licht der Flamme erkannte Narissa blutige Handabdrücke auf dem Geländer - Mustqîm konnte ihr nicht weit voraus sein.
Keuchend vor Anstrengung stürmte sie die Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Unten erkannte sie am Ende des dunklen Ganges eine leicht gebeugte Gestalt mit einer brennenden Fackel in der Hand. "Mustqîm!", rief sie, während sie atemlos die letzten Stufen hinab sprang, in der Hoffnung, ihn wenigstens kurz aufzuhalten. Er schien sie gar nicht gehört zu haben - doch hinter sich spürte Narissa mit einem Mal, als sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten, die Gegenwart des Nazgûl. Sie wusste, was das bedeutete, doch sie schob den Gedanken beiseite und rannte. Am Ende des Ganges stieß sie mit Schwung die Tür auf, die Mustqîm hinter sich geschlossen hatte, und stürmte in den Raum.
Sûladans Bastardsohn sah fürchterlich zugerichtet aus. Eine Hand hatte er auf die linke Seite seines Gesichts gepresst, und Blut quoll darunter hervor. Auch sein Gewand war vollkommen blutgetränkt und er stand leicht gekrümmt als leide er Schmerzen, doch bei Narissas Anblick richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. In seiner rechten Hand hielt er eine brennende Fackel.
Sein Mundwinkel zuckte, und er zischte vor Schmerz als er sagte: "Ah. Wie gut, dass du gekommen bist um zu sterben." Er sprach nur undeutlich, denn die Wunde in seinem Gesicht behinderte ihn, doch sein verbliebenes Auge glühte vor Hass. Hinter ihm standen in langen Reihen verschlossene Tonkrüge aufgereiht, und ein stechender Geruch beherrschte den Raum. Direkt neben Narissa, zu ihrer linken, befand sich ein großes, kreisrundes Loch im Boden, neben dem mehrere Eimer und leere Gefäße gestapelt waren.
Bevor Narissa reagieren konnte, hatte hinter ihr der Nazgûl den Eingang erreicht. Seine schwarze Gestalt schien den gesamten Rahmen auszufüllen, und die Schatten folgten ihm. Auf seinem im flackernden Licht von Mustqîms Fackel schimmernden Schwert glänzte ein wenig Blut.
Mustqîm zuckte zusammen, als habe er einen Schlag erhalten. Der Gebieter hat Pläne für dich, erklang die eisige Stimme auch in Narissas Kopf, und sie krümmte sich ein wenig. Mustqîms Hand mit der Fackel zitterte. Du wirst deine Rache bekommen, Mustqîm. Der Nazgûl kam näher, und Narissa blieb wie gelähmt stehen. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus, als die schwarze Gestalt des Ringgeists an ihr vorbei glitt. Sie gehört dir, wenn du willst.
Der Keller schien vor Narissas Augen zu verschwimmen, und gegen ihren Willen fiel sie auf ein Knie nieder. Dabei bemerkte sie die Pfütze aus grünlicher Flüssigkeit, in der Mustqîm stand.
Mustqîm öffnete zitternd den Mund zum Sprechen. Narissa nahm Maß, und mit letzter Kraft warf sie Ciryatans Dolch.
Es war der beste Wurf ihres Lebens. Die Klinge aus Númenor zischte um Haaresbreite an der Rüstung des Nazgûl vorbei, blitzte im Licht der Fackel auf und traf Mustqîm direkt unterm Kinn in den Hals. Mustqîm taumelte einen Schritt zurück... und ließ die Fackel fallen.
NEIN, peitschte die Stimme des Ringgeists durch Narissas schwindendes Bewusstsein.
Die Fackel traf auf dem Boden auf, und sofort schoss eine grünliche Feuerwand in die Höhe. Mit rasender Geschwindigkeit bewegten sich die Flammen auf die Tonkrüge voller kermischen Feuers zu. Mit letzter Kraft ließ Narissa sich zur Seite fallen - direkt durch das im Boden klaffende Loch. Die Zeit schien unendlich langsam zu vergehen, während sie fiel. Ein hoher, dünner Schrei der Verzweiflung gellte durch den Keller, und gerade bevor Narissa auf dem dunklen Wasser aufschlug, wurde er durch ein dumpfes Grollen übertönt und ein gleißender Blitz vertrieb die Dunkelheit. Dann traf Narissa auf die Wasseroberfläche. Durch das Brunnenloch drang fauchend eine Wand aus Feuer, doch ein heftiger Luftstoß drückte sie unter Wasser und nach hinten. Mit Wucht wurde sie in einer gewaltigen Welle rückwärts geschleudert, prallte heftig gegen die Gitterstäbe, die den Eingang zum Palast verschlossen, und sah und hörte nichts mehr.

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Re: Qafsah
« Antwort #14 am: 5. Nov 2024, 20:29 »
Nur langsam kehrte Narissas Bewusstsein zurück. Sie spürte Wasser um sich herum und einen Druck auf ihrer Brust, der das Atmen mühsam machte. Blinzelnd öffnete sie die Augen, und nur langsam schälten sich Umrisse ihrer Umgebung aus der Dunkelheit, schwach beleuchtet von einem grünlichen Flackern irgendwo über ihr.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Die Wunde in ihrer Seite pochte leise vor sich hin, ihr Hinterkopf fühlte sich an, als wäre er gespalten worden, und in ihren Schläfen hämmerte ein dumpfer Schmerz - doch sie lebte. Das war schon mehr, als Narissa erwartet hatte. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, die lose im Wasser trieben und zog scharf die Luft ein, als ein heißer Schmerz ihre linke Schulter durchzuckte. Staub und Rauch in der Luft ließen sie husten, was die Lage nicht gerade besser machte. Als die Schmerzen sich etwas gelegt hatten, bewegte sie die linke Schulter vorsichtig erneut - es tat zwar höllisch weh, doch weniger, als wenn sie gebrochen wäre.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie einigermaßen beweglich war, versuchte Narissa sich ein wenig zu orientieren. Sie trieb in dem Kanal, der Qafsahs Palast mit Wasser versorgte, glücklicherweise mit dem Gesicht nach oben, aber mit dem Oberkörper eingeklemmt zwischen den Gitterstäben hinter sich und einem großen Trümmerstück, dass offenbar aus der Decke herausgebrochen war. Durch das Loch in der Decke sah sie, dass der Palast noch immer in Flammen stand - also bestand die Möglichkeit, dass ihre Bewusstlosigkeit nicht allzu lange angedauert hatte.
Im selben Augenblick bröckelte ein weiteres Stück der Decke ab, und stürzte mit einem Platschen nicht weit von ihr entfernt ins Wasser. Sie konnte hier nicht bleiben und abwarten, bis jemand sie fand. Doch wie konnte sie hier herauskommen?
Langsam, um sich so viel Schmerz wie möglich zu ersparen, griff Narissa mit der Rechten hinter sich, und rüttelte ein wenig an dem Gitter in ihrem Rücken. Vielleicht hatte sich die Verankerung ein wenig gelockert... Und tatsächlich ließen sich die Metallstäbe ein wenig nach hinten drücken. Staub rieselte von oben auf ihre Haare herab.
"Kein anderer Ausweg...", murmelte Narissa vor sich hin und biss die Zähne zusammen. Mit aller verbliebenen Kraft drückte sie die Füße gegen die Trümmer vor sich und presste den Rücken gegen die Gitterstäbe. Über ihrem Kopf hörte sie ein leises Knirschen, mehr Staub rieselte von oben herab, und das Gitter bewegte sich ein wenig nach hinten - doch nicht weit genug. Narissa holte tief Luft, und drückte erneut, fester. Sie spürte ihre Beine zittern, und vor Anstrengung wurde ihr schwarz vor Augen... doch mit einem Mal gab das Mauerwerk, das das Gitter hielt, nach. Die Gitterstäbe lösten sich aus ihrer Verankerung, der Druck in ihrem Rücken verschwand und plötzlich ihres Halts beraubt stieß Narissa sich kräftiger als sie geplant hatte nach hinten ab. Für einen Moment tauchte sie unter Wasser und stieß sich dabei schmerzhaft die verletzte Schulter am Grund des Kanals, bevor sie reflexartig wieder an die Wasseroberfläche tauchte. Vor Schmerz tanzten helle Pünktchen vor ihren Augen, doch mit einem Beinschlag ließ sie sich gutes Stück weiter nach hinten treiben. Dem ohnehin schwer getroffenen Mauerwerk hatte ihre Befreiung den letzten Rest gegeben, und mit einem Krachen stürzte der Durchgang zum Palast in sich zusammen. Die durch die herabstürzenden Steine ausgelöste Welle spülte Narissa noch ein Stück weiter nach hinten, unter der Brücke auf der sie den bewusstlosen Wächter zurückgelassen hatte - vor einer Ewigkeit - hindurch. Mit einiger Mühe hielt sie sich über der Oberfläche, bis sich das Wasser beruhigt hatte, und zog sich dann hustend am Beckenrand ins Trockene.
"He! He du! Hilf mir!" Die seltsam gedämpfte Stimme gehörte zu dem Wächter, den sie gefesselt auf der Brücke hatte liegen lassen. Er lag noch immer dort, erkannte Narissa in der beinahe vollständigen Dunkelheit. Sie kam mühevoll auf die Füße, und humpelte auf die Brücke, einen Dolch in der Hand. Einen Augenblick zögerte sie. In ihrem derzeitigen Zustand hätte selbst ein einzelner übereifriger Wächter leichtes Spiel mit ihr. Doch eigentlich war es jetzt egal, Sûladan war tot. Also beugte sie sich herab, kämpfte einen Anfall von Schwindel nieder, und durchschnitt die Fesseln des Wächters.
"Raus hier, schnell", sagte sie. "Ich weiß nicht, wie lange die Decke noch hält."
"Natürlich, ja", erwiderte er, rappelte sich auf und rieb sich die sicherlich tauben Handgelenke. "Was ist überhaupt passiert?" Seine Stimme war noch immer seltsam dumpf, und nur langsam wurde Narissa klar, dass es gar nicht an ihm lag. In ihren Ohren ertönte auch dauerhaft ein leises Klingeln, dass sie erst jetzt bewusst wahrnahm. Der Lärm der Explosion musste auch ihr Gehör ein wenig mitgenommen haben. Sie ging nicht auf die Frage des Mannes ein, sondern wandte sich einfach ab und ging so schnell sie konnte - was nicht sehr schnell war - in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutete.

Oben in der Stadt herrschte Chaos. Menschen hasteten in Panik auf den Straßen hin und her, und im Norden erkannte Narissa hinter den Häusern ein bedrohliches Glühen. Der Palast musste noch immer in Flammen stehen. Trotz allem sog sie dankbar die kühle Nachtluft ein. Trotz allem war sie am Leben, trotz allem hatte sie Erfolg gehabt. Hinter trat der Wächter ins Freie. "Ich frage nicht, was du dort unten zu suchen hattest", hörte sie seine Stimme wie durch tiefes Wasser. "Aber ich danke dir, dass du mich befreit hast. Wer weiß, wann mich jemand gefunden hätte." Offensichtlich war ihm nicht klar, dass er seine prekäre Situation ihr überhaupt erst zu verdanken gehabt hatte... Narissa antwortete nicht und wandte sich auch nicht zu ihm um, sondern nickte nur knapp. Zum ersten Mal, seit sie den Palast betreten hatte, drängte sich Yana wieder in ihre Gedanken, und augenblicklich verschwand jeder Anflug eines Hochgefühls über ihren Erfolg. Sie wandte sich um, und ging langsam aber zielstrebig in Richtung von Yanas Haus davon. Dieses Mal war es ihr gleich, wer sie sah - in den Gassen herrschten ohnehin ein derartiges Chaos und Durcheinander, ausgelöst durch die Zerstörung des Palastes, dass niemand ihr auch nur einen zweiten Blick schenkte. Der Wächter rief noch irgendetwas hinter ihr her, doch sie hörte gar nicht mehr richtig hin. Die Bilder der Geschehnisse im Palast wurden verdrängt durch Bilder von Yana, wie sie hochschwanger auf ihrem Bett lag, und seltsamerweise auch von Yana, wie Narissa sie als Kind in Erinnerung hatte. Die Worte, die die Hebamme Safina ihr zum Abschied mitgegeben hatte, tauchten immer wieder auf, doch sie schob sie jedes Mal wieder zur Seite. So wichtig Yana auch war, in dieser Nacht war das Schicksal von Qafsah und vielleicht ganz Harad entschieden worden. Yana würde das ebenfalls verstehen.

Sie erreichte den kleinen Hof hinter Yanas Haus, der im Chaos der Stadt wie eine Oase der Ruhe erschien. Langsam schleppte Narissa sich die Treppe hinauf, stieß die Tür auf und sah sich Auge in Auge mit Safina, die ein in Tücher gewickeltes Bündel in den Armen hielt. Die Hebamme ließ einen undeutbaren Blick von Kopf bis Fuß über Narissa wandern. Mit einem Mal wurde Narissa sich vollständig bewusst, wie sie aussehen musste. Ich habe schon schlimmer ausgesehen, wollte sie sagen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Einerseits, weil es vermutlich eine Lüge gewesen wäre - jedenfalls hatte sie sich noch nie derartig zerschlagen gefühlt, nicht einmal in Abels Gefangenschaft - andererseits, weil ihr endlich klar wurde, was Safina in den Armen hielt.
Die Hebamme streckte ihr das Bündel entgegen. "Hier. Ihr kommt gerade rechtzeitig." Mehr aus Reflex als aus Absicht nahm Narissa das Kind vorsichtig in die Arme, auch wenn ihre verstauchte Schulter heftig dagegen protestiert. Sie verdrängte den Schmerz so gut es ging. "Und jetzt geht aus dem Weg."
Mit Mühe raffte Narissa ein paar klare Gedanken zusammen. "Wieso? Wo wollt ihr so eilig hin?"
"Eine Amme holen, natürlich. Die Mutter..." Die Hebamme unterbrach sich, und ihre eigentlich harten Gesichtszüge wurden für einen Augenblick weich. Sie legte Narissa eine Hand auf die Schulter, zum Glück auf die unverletzte rechte. "Macht euch nicht zu viele Vorwürfe." Sie schob Narissa sanft zur Seite, und eilte die Treppe hinunter in die Nacht.
Narissa blieb wie angewurzelt auf dem obersten Treppenabsatz stehen, das sich leicht regende Neugeborene noch immer in den Armen. Mit einem Mal schien erneut ein Stein auf ihrer Brust zu liegen, und sie hatte Schwierigkeiten, Atem zu holen. Nur langsam sammelte sie genug Überwindung, die Türschwelle zu übertreten.
Drinnen hing ein metallischer Geruch in der Luft, den Narissa augenblicklich erkannte. Yana lag ein einem Bett aus Blut, das Gesicht tödlich blass, doch sie hatte die Augen geöffnet und lächelte schwach, als sie Narissa ins Zimmer trat. "Du siehst furchtbar aus", sagte sie leise. Narissa blinzelte ein paar Mal rasch, und zwang sich dazu, das Lächeln einigermaßen glaubhaft zu erwidern. Ohne zu Zögern ließ sie sich auf der Bettkante nieder, ohne auf die blutgetränkten Laken zu achten. Es war viel Blut, fiel ihr auf.
"Schätze schon", erwiderte sie knapp, und wandte den Blick von Yana ab und auf das winzige Gesicht des Neugeborenen in ihren Armen. Inzwischen hatte es die Augen geschlossen und schien zu schlafen. "Ein Junge", erklärte Yana mit schwacher Stimme. "Ach, Narissa... ich hätte nicht gedacht, dass es so furchtbar sein würde." Narissa wischte verstohlen eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel, weiterhin unfähig, Yana anzusehen. "Aber wenn ich ihn ansehe... dann war es das alles wert."
"Hast du... hast du schon einen Namen ausgesucht?" Narissa spürte, wie Yanas Hand ihre umschloss. Die Hand war eiskalt.
"Ich dachte an Níthrar. Er hat... mir die Hoffnung erhalten, in den langen Jahren. Aber ich... meinst du, es wäre ihm recht?"
"Es wäre ihm eine Ehre", erwidert Narissa flüsternd, und fühlte eine Träne von ihrer Nasenspitze tropfen. "Da bin ich mir sicher."
Einen Augenblick schwiegen beide. Weitere Tränen tropften lautlos auf die Tücher, in die der kleine Níthrar eingewickelt war.
"Gib ihn mir einen Augenblick, sei so gut", sagte Yana schließlich. Als Narissa ihr ihren neugeborenen Sohn in die Arme legte, konnte sie nicht vermeiden, Yana ins Gesicht zu blicken. Yana blinzelte überrascht. "Du weinst", stellte sie fest. Sie blickte an sich hinunter, auf das blutgetränkte Bett. "Ah", machte sie leise, gleichzeitig ein Laut des Verstehens und der Überraschung. "Darum also bin ich so müde." Sie strich mit leicht zitternder Hand über den Kopf ihre Kindes. "Deswegen ist Safina gegangen." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Narissa nickte, die Lippen aufeinander gepresst und wollte sich abwenden, doch Yanas Hand schloss sich erstaunlich fest wieder um ihre und hielt sie zurück. Narissa spürte ihre Lippen zittern, und Yanas Gesicht verschwamm vor ihren Augen.
"Ich bin froh, dass du hier bist", sagte Yana leise. "Ich hätte gar nicht erst gehen sollen", stieß Narissa hervor, und schniefte. "Ich hätte... hätte... vielleicht wärst du..." Die Worte kamen nur stockend hervor. "Safina hat gesagt, ich würde... würde es vielleicht..."
"Schsch", machte Yana leise - wie eine Mutter, die ihr Kind beruhig. "Wenn Safina es nicht verhindern konnte, hättest du es auch nicht gekonnt." Sie atmete tief durch, und eine einzelne Träne lief aus ihrem linken Augenwinkel die blasse Wange hinab. "Du bist jetzt hier, und das bedeutet mir alles."
Narissa schloss für einen Moment die Augen, und wischte sich dann die Tränen fort. Doch es flossen neue. "Es ist nicht gerecht, Yana. Sûladan ist tot. Qafsah wird eine neue Zeit erleben, aber... es ist nicht gerecht. Es ist nicht gerecht, dass du es nicht erleben wirst. Dass du nicht erleben wirst, wie dein Kind..."
Yana wandte für einen Augenblick den Blick ab. "Nein", sagte sie, so leise, dass es beinahe ein Flüstern ist. "Es ist nicht gerecht, dass ich nicht erleben werde, wie mein Sohn aufwächst." Ihre Stimme wurde immer leiser. "Aber ich freue mich, dass die Welt in die er geboren wurde, vielleicht eine hellere sein wird." Sie blickte Narissa wieder direkt ins Gesicht, und ihre Augen waren klar. "Und wer weiß - vielleicht werden wir und eines Tages wiedersehen."
"Ja..." Narissa unterdrückte ein Schluchzen. Sie verstand nicht, wie Yana derart gefasst sein konnte. "Eines Tages sehen wir uns wieder. Und meine Mutter, und mein Vater... und deine Eltern... eines Tages." Sie schluckte mühsam. "Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich auf den Wachturm geklettert bin?"
Yana lächelte schwach. "Deine Mutter hatte schon wieder deine Haare geschnitten, und du warst wütend auf sie. Ich habe dir gesagt, dass du es nicht tun sollst."
"Ich wäre beinahe runtergefallen - mehr als einmal." Wider Willen lächelte Narissa durch die Tränen. "Mein Vater war so wütend, dass er mich verhauen hat. Das war das einzige Mal."
"Ich hatte recht, dass du es nicht tun solltest. Wie immer eigentlich. Weißt du noch, wie du einmal ein ganzes Salzfass in die Bierfässer im Gasthaus kippen wolltest?"
Sie sprachen weiter von den Erinnerungen ihrer gemeinsamen Kindheit, von Abenteuern die ihnen als Kindern groß und gefährlich erschienen waren, von Streichen, die sie geplant und gespielt hatten, von den anderen Kindern des Viertels und was aus ihnen wohl geworden war... Und langsam wurde Yanas Stimme immer leiser und leiser.
Und verstummte schließlich ganz.

Irgendwann kamen Safina und eine andere Frau. Sie sagten irgendetwas, doch Narissa hörte nicht zu. Sie blieb stumm auf der Bettkante sitzen und hielt weiterhin Yanas kalte Hand. Sie spürte Tränen in ihren Schoß tropfen, doch sie beachtete sie nicht weiter. Vage nahm sie war, dass die fremde Frau den kleinen Níthrar an sich nahm und mit ihm ins Nebenzimmer ging. Wieder sagte Safina irgendetwas, das sie nicht verstand, doch es war ihr egal. Sie blieb einfach an Yanas Seite sitzen. Stumm.

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva