Narissa von vor der StadtQafsah war in Dunkelheit gehüllt, als Narissa am oberen Ende der Treppe durch die eisenverstärkte Tür nach draußen schlüpfte. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen und auch die Sterne waren verhüllt. Von der südöstlichen Mauer und dem dort gelegenen Haupttor drang der Lärm der Schlacht heran, doch die Gassen der Stadt schienen beinahe vollständig leergefegt zu sein. Vermutlich hatten die Verteidiger die Bevölkerung gezwungen, sich in ihren Häusern zu verbergen. Das kam Narissa nicht gerade gelegen, denn in einer aufgeregten Menschenmenge wäre sie mit Sicherheit weniger aufgefallen. Sie verfluchte nicht zum ersten Mal ihre Haarfarbe, die sie auch in der fast vollständigen auffallen lassen würde, und ärgerte sich über sich selbst, nicht wenigstens eine Kapuze mitgenommen zu haben. Andererseits hatte sie ja nicht damit gerechnet, sich durch die Stadt schleichen zu müssen... Sie hoffte, dass die Zwillinge und auch Eayan, der sich an der der Schlacht abgewandten Seite der Stadt über die Mauern schleichen wollte, besser vorankamen als sie.
Vorsichtig arbeitete Narissa sich durch die engen Gassen voran, duckte sich immer wieder hinter Säulen und Kisten sobald sie irgendwo in der Nähe Schritte hörte. Hin und wieder eilten Trupps Soldaten durch die Stadt, brachten Pfeile oder Verstärkung zur Mauer, doch durch ihre Rüstungen hörte Narissa sie meistens bereits, bevor sie auch nur den Schein ihrer Fackeln sah.
Schließlich erreichte sie den großen Platz vor dem Haupteingang des Palastes, verließ die Gasse durch die sie gekommen war jedoch nicht. Stattdessen kauerte sie sich hinter einem etwas unangenehm riechenden Fass nieder, und versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Es sah nicht gerade vielversprechend aus. Zumindest von außen war der Palast trotz des Angriffs auf die Mauern so stark bewacht wie gewöhnlich, wenn nicht sogar stärker. Auf dem Vorplatz patrouillierten zwei Gruppen von fünf Wächtern, und vor dem großen Haupteingang zählte Narissa sechs weitere Männer. In der Dunkelheit konnte sie nicht viel mehr erkennen, doch sie war sich sicher, dass alle Nebeneingänge mindestens ebenso stark bewacht wurden. Auf diesem Weg würde es für sie kein einfaches Durchkommen geben - zumindest nicht, solange sie sich nicht etwas unauffälligere Kleidung beschafft hatte.
Schweren Herzens wandte sie sich vom Palast ab und schlich wieder zurück in das Gewirr der Gassen. Dieses Mal wandte sie sich nach Westen, in Richtung des Viertels in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Ein, zwei Mal ließen sie ihre Erinnerungen im Stich und führten sie in die Irre, doch schließlich erreichte sie den Hinterhof, den sie so gut kannte. Narissa hoffte, dass Yanas Haus noch leerstand - zwar war es nun schon einige Zeit her, dass sie Qafsah verlassen hatte, doch es war Narissas einzige Hoffnung, einen unauffälligen Unterschlupf zu finden.
Hinter den Fensterläden war kein Lichtschein zu erkennen. Narissa stieg vorsichtig die drei hölzernen Stufen zur Hintertür des Hauses hinauf, bemüht, jedes Knarren der Bretter zu vermeiden. Sie verschloss ihren Geist gegen die Flut an Erinnerungen, die bei jedem Schritt auf sie einstürzten - Erinnerungen an ihre Kindheit, aber auch an das letzte Mal, das sie hier in Qafsah gewesen war. Erinnerungen an Níthrar, der dreimal leise an der Tür klopfte, vor der sie jetzt Stand. An Aerien, die bleich und mit weit aufgerissenen Augen zur Tür hereinstürzte nach ihrer Begegnung mit dem Nazgûl in den Straßen der Stadt. An Yanas müdes und ausgezehrtes Gesicht. An Serelloth und Elendar, glücklich, bevor alles schiefgegangen war. An Aerien, wie sie in ihrem Kleid vor dem Spiegel stand. An Aerien, die aus dem Palast zurückkehrte, lächelnd. An Aerien...
Narissa atmete tief durch, und legte die Hand gegen den Türgriff, drückte - doch die Tür rührte sich nicht. "Kein Grund zur Panik", flüsterte sie sich selbst zu. "Wahrscheinlich hat Yana die Tür damals verriegelt, damit nicht irgendwelche Strolche hier einziehen..." Die Tür hatte kein Schloss, und wenn sie sich richtig erinnerte, wurde von innen ein Riegel vorgelegt, um sie zu verschließen. Sie zog Ciryantans Dolch hervor, und schob ihn in den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Es dauerte nicht lange bevor sie den Riegel gefunden und angehoben hatte.
Die Tür knarzte leise, als Narissa sie einen Spalt weit aufdrückte, und ins beinahe stockfinstere Innere des Hauses schlüpfte. Drinnen roch es keineswegs so abgestanden wie sie erwartet hatte, doch bevor sie Zeit hatte darüber nachzudenken, hatte sich von hinten eine kalte Klinge an ihrer Kehle gelegt.
Narissa erstarrte. Sie nahm sich keine Zeit, sich über ihre Unvorsichtigkeit zu ärgern - dazu würde sie später Gelegenheit haben.
Falls es ihr gelang, sich aus dieser Situation irgendwie herauszuwinden...
"Wer immer du bist...", begann sie leise und mit gezwungen ruhiger Stimme, und hob langsam beide Hände. Bevor sie weitersprechen konnte, war die Klinge bereits von ihrem Hals verschwunden, und eine weibliche Stimme sagte: "Bist du
verrückt hier einfach so aufzutauchen?" Eine bislang abgedeckte Lampe erhellte flackernd den Raum, und Narissa sah sich ihrer Kindheitsfreundin Yana gegenüber.
Fünfzehn Jahre zuvor..."Mutter hat mir schon wieder die Haare abgeschnitten", schniefte Narissa, und vermied es dabei Yanas schwarze Haare, die dem anderen Mädchen bis auf den Rücken hinunterfielen, anzusehen. Ihre Freundin strich ihr sanft über den Rücken. "Schon wieder Läuse?", fragte sie mitfühlend. "Das kann doch nicht sein. Bei euch ist es doch immer sauber." Narissa fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte erneut. Für ein Mädchen von acht Jahren war es nicht leicht, immer mit kahlem Kopf oder mit Mütze herumzulaufen, während all ihre Freundinnen normal aussahen. Sie hatte darüber schon viel Spott und Hänseleien von den anderen Kindern des Viertels auf sich gezogen, nur von Yana nicht. Deshalb saßen sie jetzt auch gemeinsam am Fuß eines der mächtigen Wachtürme von Qafsahs Mauer, nachdem Narissa nach überstandener Kopfrasur so schnell wie möglich von zuhause weggelaufen war. Natürlich hatte Yana sie als erste gefunden. Eine beste Freundin wusste schließlich immer, wo die andere beste Freundin war.
"Kannst du deine Mutter nicht irgendwie überreden, deine Haare einfach wachsen zu lassen?", fragte Yana gerade. "Das kann doch nicht wirklich nötig sein."
Narissa wischte sich eine unwillkommene Träne aus dem Augenwinkel. "Ich hab's ja schon versucht. Immer wieder. Aber sie hört mir nie richtig zu. Und sie findet immer einen Grund."
"Deine Mutter ist schon ein bisschen seltsam." Da hatte Yana Recht. Narissa liebte ihre Mutter, keine Frage... aber seltsam war sie schon. Nicht nur wegen der Sache mit den Haaren. Wenn Narissa ihre Mutter mit den anderen Bewohnern Qafsahs verglich, fiel ihr auf, dass sie eher einigen der reisenden Händler oder Zuwanderer glich als den Leuten, deren Familien schon seit Ewigkeiten in der Stadt lebten. Manchmal verschwand sie auch ohne Erklärung für ein paar Tage und kehrte hin und wieder plötzlich mitten in der Nacht zurück. Ihr Vater, Yaran, schien zwar irgendetwas darüber zu wissen, doch Narissa hatte noch nie Erfolg damit gehabt, auch nur irgendein Wort aus ihm heraus zu bekommen.
"Und du bist auch seltsam", redete Yana weiter, doch bevor Narissa aufbrausen konnte, hatte Yana den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen. "Aber du bist trotzdem meine beste Freundin für alle Zeiten, Nissa."
"Bist du verrückt, hier zu sein?", gab Narissa im gleichen Tonfall zurück, noch bevor ihr der mächtig gerundete Bauch auffiel, den ihre Freundin vor sich hertrug. Sie schlug vor Schreck die Hand vor den Mund. "Yana, du bist..."
"Schwanger, ich weiß." Yana ließ sich mit einem Ächzen auf die Kante ihres Bettes fallen und lächelte bitter. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißtropfen im flackernden Licht der Lampe. Narissa setzte sich ein wenig zögerlich neben sie. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf versuchte sie zu erinnern, dass sie eigentlich keine Zeit dafür hatte, doch sie hörte nicht hin. "Von wem? Seit wann?"
"Seit wann? Kurz bevor ich die Stadt mit euch verlassen habe", erwiderte Yana. "Von wem? Von irgendeinem meiner
Freunde im Palast, aber genauer... keine Ahnung." Narissa spürte, wie sie zusammenzuckte und ein wenig verkrampfte, und legte ihr einen Arm um die Schultern. "Und Eayan hat dich wieder zurückgeschickt? In dem Zustand?"
Yana schüttelte den Kopf. "Er wusste nichts davon." Ihre Stimme klang beinahe ein wenig schuldbewusst. "Ich habe ihm angeboten, zurück nach Qafsah zu gehen, als Informantin, und er hat das Angebot angenommen."
"Und du... du wusstest bereits Bescheid?" Yana blickte in ihren Schoß hinunter. "Ich hatte bereits den Verdacht. Aber... ich wusste, dass ich noch ein paar Monate Zeit hatte. Und ich wollte helfen. Ich wollte nützlich sein, wie du oder Aerien." Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Narissa fasste ihre Schulter ein wenig fester. "Oh, schön. Mach mir nur Schuldgefühle..."
"Das... war nicht meine Absicht, Nissa. Ich wollte auch, dass mein Kind in Qafsah zur Welt kommt. Was auch immer hier geschehen sein mag, es ist die einzige Heimat die ich habe."
"Du hättest eine andere haben können!", fuhr Narissa auf, beruhigte sich aber sogleich wieder, als Yana zusammenzuckte. "Du hättest mit mir kommen können. Wir hätten dir eine neue Heimat geben können."
"Vielleicht", erwiderte Yana müde. "Aber das ist jetzt gerade nicht von Belang." Sie stöhnte leise auf und krümmte sich ein wenig. Narissa sprang von der Bettkante auf. "Du... heißt das... Wann hat es angefangen?" Mit einem Schlag hatte sie begriffen.
"Nicht allzu lange bevor du hier aufgetaucht bist." Yana lächelte schwach. "Du bist genau zum falschen - oder richtigen - Zeitpunkt gekommen." Narissa ergriff ihre Hand, die eiskalt war. "Was soll ich tun?"
Nur kurze Zeit später hastete Narissa, dieses Mal ohne große Vorsicht walten zu lassen, durch die engen Gassen. Mit Mühe ignorierte sie die Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr immer drängender vorwarf, Zeit zu verschwenden. "Sie war...
ist meine beste Freundin", flüsterte sie vor sich hin. "Und sie braucht Hilfe." Sie blieb vor einem ein wenig schiefen Haus mit einer Tür, die offenbar vor langer Zeit einmal blau angemalt worden war, stehen, und klopfte kräftig dagegen. Sie hielt es vielleicht drei Augenblicke aus, bevor sie erneut klopfte.
"Ja, ja. Nur keine Hast", ertönte eine Stimme von drinnen, bevor sich schlurfende Schritte näherten und die Tür geöffnet. "Etwas wichtiges, nehme ich an?", fragte die leicht gebeugte Frau, in deren grauen Haaren sich nur noch einzelne schwarze Strähnen zeigen.
"Ihr seid Safina?", fragte Narissa ein wenig atemlos. "Die Hebamme." Die Alte nickte knapp. "Um wen geht es? Offenbar ja nicht um dich selbst", fügte sie hinzu, nachdem sie Narissa von oben nach unten betrachtet hatte.
"Yana bint'Ayman", stieß Narissa hervor, und bevor sie mehr sagen konnte, unterbrach die Hebamme sie bereits. "Ah, ist es also soweit." Sie warf einen Blick nach Süden, von wo noch immer die Geräusche der Schlacht herandrangen. "Sie hat sich ja eine schöne Nacht ausgesucht. Der Sultan hat eine Ausgangssperre verhängt..." Narissa wollte schon protestieren, als Safina mit der Zunge schnalzte. "Na, ein Kind interessiert sich selten dafür, ob der Zeitpunkt gerade passt. Gib mir einen Augenblick, meine Sachen zu holen."
In Yanas Haus lief Narissa unruhig auf und ab. Yana lag auf dem Bett, während die Hebamme Safina saubere Tücher und Wasser bereit stellte und allerlei andere Vorbereitungen traf, die Narissa vollkommen rätselhaft erschienen. Vielleicht hatte ihre Ausbildung auf Tol Thelyn doch einige Lücken gelassen...
"Du hast mir noch nicht gesagt, warum du überhaupt hier bist", sagte Yana plötzlich. Narissa zuckte zusammen, aus ihren Gedanken gerissen. Die Stimme, die sie zur Eile antrieb, übertönte mit einem Mal alles andere. "Ich..." Sie atmete tief durch, blieb stehen und sah ihrer Freundin direkt ins Gesicht. "Du weißt, warum ich hier bin."
"Ich kann es mir denken", erwiderte Yana leise, und presste die Lippen aufeinander. "Allerdings frage ich mich, warum du dann hier bist und nicht im Palast."
"Der Palast ist bewacht", erklärte Narissa, und fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. "Und damit bin ich zu auffällig um mich hereinzuschleichen. Langsam verstehe ich, warum meine Mutter sie immer abgeschnitten hat..."
Yana lachte leise. "Ich habe oben einige Mäntel und Kapuzen liegen. Nimm was du brauchst. Und außerdem..." Sie zog einen kleinen eisernen Schlüssel hervor. "Den wirst du auch brauchen." Narissa nahm den Schlüssel stumm entgegen, und schloss für einen Augenblick ihre Hände um Yanas.
"Erinnerst du dich an einen Mann namens Hazin? Er hat Aerien damals in den Palast gebracht. Der arme Kerl hat mich während meiner Abwesenheit offenbar schrecklich vermisst..." Yana lächelte leicht, und erklärte: "Er hat mir den Schlüssel gegeben. Auf der Ostseite der Gärten gibt es eine kleine Lücke in der Mauer - wenn ich es geschafft habe, mich hindurch zu quetschen, schaffst du es erst recht. Wenn du den Palast erreichst, folge der Wand nach Norden. Es gibt dort eine kleine Tür, zu der der Schlüssel passt."
Narissa ließ den Schlüssel vorsichtig in den Beutel, der auch ihre Dolche enthielt, gleiten. "Was ist mit diesem Hazin? Wird er nicht dort sein?" Yana schüttelte den Kopf, und ihre Augen schimmerten verdächtig. "Vor drei Wochen hat Sûladan ihn für irgendeinen Fehlschlag verantwortlich gemacht und auf dem Platz vor dem Palast hinrichten lassen." Narissa drückte ihre an. "Tut mir Leid", sagte sie schlicht, und Yana schniefte ein wenig. "Er war sicherlich kein guter Mann", erwiderte sie. "Aber zu mir war er immer nett und niemals grausam - das ist mehr, als all die anderen behaupten könnten."
Nachdem sie sich Mantel und Kapuze übergezogen hatte, eilte Narissa die schmale Treppe wieder hinunter. Am Fuß der Treppe wurde sie von Safina aufgehalten, deren Hand sich mit einem für eine ältere Frau erstaunlicher Kraft um ihren Oberarm schloss. "So eilig, deine Freundin in dieser Lage allein zu lassen?", fragte die Hebamme ausdruckslos.
"Ich... muss", gab Narissa zurück. "Ich habe getan, was ich konnte." "Du könntest ihr Beistand leisten." "Sie will es selbst so. Sie will, dass ich meine Aufgabe erfüllen kann." "Das muss eine wichtige Aufgabe sein", sagte Safina ein wenig verächtlich. "Und ganz egal, was sie sagt: Ihr wäre es sicherlich lieber, du würdest sie nicht alleine lassen. Vielleicht bereust du es hinterher."
"Ist das eine Drohung?", zischte Narissa zornig, und die Alte schüttelte den Kopf. "Eine Warnung. Keine Geburt ist jemals ungefährlich, schon gar nicht, wenn die Mutter nicht bei vollen Kräften ist - und das ist sie nicht. Überlege dir gut, was dir wichtiger ist." Sie ließ Narissas Arm los, doch ihre Worte versetzten Narissa einen Stich ins Herz. Die Wahl, vor sie Safina - nein, das Schicksal - sie stellte, erschien ihr mit einem Mal unmöglich.
Sie trat ein wenig zögerlich an Yanas Bett heran, und kniete sich dann neben ihre Freundin. "Worum ging es da?", fragte Yana leise, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nicht wichtig." Sie konnte geradezu fühlen, wie sich Safinas Blicke in ihren Nacken bohrten. "Hör zu... ich würde gerne bleiben. Aber wenn ich das tue, gebe ich auf, und viele Menschen werden unnötig sterben." Sie umarmte Yana kurzentschlossen, und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich komme wieder - nachher. Also sieh gefälligst zu, dass du dann auch noch da bist."
Die Gärten, die sich im Norden und Osten um den Palast herumzogen, lagen in beinahe vollkommener Dunkelheit. Von einer hohen, von Eisenspitzen gekrönten, Mauer umgeben wurden sie offensichtlich längst nicht so sehr bewacht wie der Palast selbst. Auf dem Weg hierher hatte Narissa mehreren Soldatengruppen ausweichen müssten, je mehr sie sich dem Palast näherte umso öfter. Sie hatte es ungesehen geschafft, doch dafür länger gebraucht, als ihr lieb war. Vorsichtig tastete sie sich an der Ostseite der Mauer entlang, eine Hand über die Steine streichend, auf der Suche nach der Lücke von der Yana ihr erzählt hatte. Mit einem trafen ihre Finger auf etwas Spitzes, und vorsichtig tastend stellte sie fest, dass irgendeine stachelige Pflanze hier die Mauer überwuchert hatte. Sie schob zwei Ranken ein Stück auseinander, und tatsächlich - dahinter befand sich eine schmale Lücke im Stein. Das erklärte, warum das Loch unentdeckt geblieben war... "Natürlich hat sie euch nicht erwähnt", raunte sie den Dornen zu, bevor sie sich kurzentschlossen zwischen die Ranken quetschte. Trotz aller Vorsicht riss ihr ein besonders langer Dorn das Hemd an der rechten Schulter auf, und sie spürte ein wenig Blut an ihrem Arm herunterlaufen.
Auf der anderen Seite angekommen, duckte sie sich hinter eine Hecke, und betastete die Wunde vorsichtig. Zum Glück hatte war sie nicht besonders groß, und das Blut floss weniger als befürchtet. Also kein Grund zum Anhalten.
Bei einem Blick über die Hecke stellte Narissa fest, dass auch hier in den Gärten mindestens zwei Wächter mit Fackeln patrouillierten - aber das würde keine große Schwierigkeit darstellen. Hier gab es mehr als genug Deckung, und das Licht der Fackeln würde die Wachen blind machen für alles, was sich in der Dunkelheit außerhalb ihres Lichtkreises bewegte. Nicht viel später erreichte sie die Ostmauer des Palastes, und schlich rasch in nördlicher Richtung daran entlang. Die kleine Tür war genau dort, wo Yana sie beschrieben hatte, und auch der Schlüssel passte. Hinter sich hörte sie im Kies knirschende Schritte näher kommen, und so atmete Narissa tief durch, und schlüpfte ohne weiteres Zögern durch die Tür.
Drinnen war es stockfinster. Narissa beschloss, das als gutes Zeichen zu werten - offenbar hielt sich niemand in dem Raum, in den sie gekommen war, auf. Sie tastete sich langsam voran, und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Reihe Metallspitzen. Eine Harke, stellte sie fest - nur gut, dass sie nicht darauf getreten war. Von einer Harke ohnmächtig geschlagen zu werden, wäre ein besonders peinliches Scheitern ihrer Mission gewesen. Der Gedanke ließ sie unwillkürlich lächeln, und ihre Anspannung löste sich ein wenig - aber nur ein wenig. Seit sie den Palast betreten hatte, hatte sich ein unbehagliches Gefühl tief in ihrer Magengrube festgesetzt. Sie war jetzt allein. Das letzte Mal in Qafsah waren Aerien, Serelloth und Elendar bei ihr gewesen. Und später hatte sie fast immer Aerien an ihrer Seite gewusst - ob in Kerma oder Mordor. Doch jetzt war sie vollkommen allein. Wenn sie Glück hatte, schlich Eayan irgendwo im Palast herum, doch darauf konnte sie sich nicht verlassen. Sie würde sich vollständig auf sich selbst verlassen müssen, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Die Harke verriet ihr, dass es sich bei dem Raum vermutlich um eine Art Lager für die Diener, die sich um die Gärten kümmerten, handelte. Deshalb wurde er auch nicht weiter bewacht - kein Wunder, dass dieser Hazin diesen Weg genutzt hatte, um Yana zu einem Stelldichein in den Palast zu schmuggeln. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
Gegenüber der Eingangstür kam sie durch einen Vorhang in einen breiten Flur, der mit dicken Teppichen ausgelegt war und in regelmäßigen Abständen von Fackeln erhellt wurde. Das war nicht gut, denn auf dem Teppich würde sie Schwierigkeiten haben, sich nähernde Wachen rechtzeitig zu hören, und im Fackellicht wäre sie selbst jederzeit leicht zu entdecken. Tatsächlich bog in genau dem Augenblick ein Wächter um die Ecke, und Narissa zog noch gerade rechtzeitig den Kopf hinter den Vorhand zurück. Sie atmete flach und verharrte reglos, lauschend. Der Schatten des Mannes zog vor dem Vorhang vorbei, und die vom Teppich gedämpften, kaum hörbaren Schritte entfernten sich langsam wieder.
Soweit, so gut, dachte Narissa. Es gab nur ein weiteres Problem - sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung genau die Gemächer des Sultans lagen. Doch allein durch Warten würde sie es mit Sicherheit nicht herausfinden. "Also los", wisperte sie, und trat in den Flur hinaus, Ciryatans Dolch in der Hand. Zu ihrer Rechten konnte sie noch die sich allmählich entfernende Gestalt des Wächters erkennen, also wandte sie sich nach links um die Ecke - wo sie sich augenblicklich zwei weiteren Männern, die eine Tür bewachten, gegenüber sah. Die Wächter wirkten zu ihrem Glück mindestens ebenso erschrocken über ihr plötzliches Auftauchen wie sie selbst. "Guten Abend", stieß Narissa hervor, um die Aufmerksamkeit der Männer auf ihr Gesicht zu lenken, und sprang vorwärts. Sie packte den Speer des ersten Wächters mit der linken Hand und zog. Vollkommen überrumpelt stolperte der Mann nach vorne und entblößte dabei den Hals. Ihren Schwung ausnutzend führte Narissa den Dolch schräg nach oben und rammte ihm so die Klinge geradewegs in die Kehle. Noch während er mit einem gurgelnden Geräusch in die Knie brach nutzte Narissa seinen Speer, um sich vom Boden abzustoßen und dem anderen Wächter mit den Füßen voran gegen die Brust zu springen. Da sie keine Schuhe trug, schmerzte der Aufprall mehr als erwartet, hatte aber den gewünschten Effekt. Ihr Opfer verlor das Gleichgewicht und stürzte schwungvoll auf den Rücken, während Narissa über ihn hin flog, weich wieder auf den Füßen landete und ihm aus der Drehung den zuvor zweckentfremdeten Speer zielgenau durch die Lücke, die sich durch den Sturz am oberen Ende des Brustpanzers geöffnet hatte, in die Brust stieß. Der Wächter zuckte noch zweimal kurz, und lag dann still.
Eine mitten in der Nacht bewachte Tür bedeutete, dass sich auf der anderen Seite etwas wichtiges befand - vielleicht der Sultan selbst. Ohnehin blieb Narissa kaum eine Wahl, denn selbst wenn durch irgendein Wunder niemand den Kampf gehört hatte, würde die nächste Patrouille hier zwei Leichname finden und den Rest des Palastes alarmieren. Narissa stieß die Tür mit der Schulter auf, jetzt neben Ciryatans Dolch rechts auch Schwalbe in der linken Hand, kampfbereit. Doch statt Sûladan oder einem Raum voller Wachen gegenüberzustehen, sah sie sich mehreren verschreckten Frauengesichtern gegenüber. Sie senkte ihre Klingen, und zog rasch die Tür hinter sich zu.
"Keine Sorge, ich bin nicht euretwegen hier", sagte sie hastig, und dennoch wichen die Frauen gleichzeitig einen Schritt zurück, als sie näher kam. Sie musste in Sûladans Harem gelandet sein - kein besonders schöner Gedanken, doch andererseits bedeutete das wahrscheinlich, dass der Sultan nicht weit entfernt war.
"Mörderin!", stieß eine der jüngeren Frauen mit einem Mal panisch hervor, und öffnete den Mund wie zum Schrei, doch eine andere legte ihre die Hand davor. "Hier, um den Sultan zu töten?", fragte die zweite Frau, die deutlich älter wirkte.
Narissa nickte. Lügen hatte hier keinen Sinn mehr. "Wir sollten sie gehen lassen", mischte sich eine dritte Frau ein. "Das geht nicht", stieß die erste hervor, die sich von der Hand auf ihrem Mund befreit hatte. "Er wird uns bestrafen."
"Na und?", erwiderte die, die ihr den Mund zugehalten hatte. "Wenn er will findet er sowieso einen Grund." Weitere Frauen mischten sich ein - einige sprachen sich dafür aus, die Wachen zu alarmieren, andere wollten Narissa einfach gewähren lassen. Bevor Narissa Gelegenheit dazu hatte, sich selbst zu Wort zu melden, fühlte sie ein leichtes Tippen auf ihrer Schulter. Als sie sich umwandte, blickte sie in ein nicht mehr ganz jugendliches, aber nicht altes Frauengesicht - ihr Gegenüber mochte vielleicht zehn Jahre älter sein als sie, mehr nicht.
"Sie werden noch ewig diskutieren", wisperte die andere Frau, und ergriff ein wenig schüchtern Narissas Hand. "Komm mit." In Ermangelung besserer Möglichkeiten ließ Narissa sich von ihr mitziehen, und folgte ihr unauffällig durch eine Seitentür in einen kleinen Raum mit zwei Betten. Im kleineren Bett saß ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren, und starrte Narissa mit großen Augen an.
"Schsch", machte die Frau an das Kind gerichtet. "Leise." Sie wandte sich wieder Narissa zu. "Du bist
sie, nicht wahr? Sûladans Tochter?"
Narissa erstarrte. "Woher weißt du davon?" "Der Sultan... wird manchmal redselig, wenn er zu viel Wein getrunken hat. Er redet häufig von dir. Wie du sein einziges Kind bist, dass seiner würdig wäre." Narissa presste so heftig die Zähne aufeinander, dass sie schmerzten. "Er mag mich gezeugt haben, aber das macht ihn nicht zu meinem Vater."
Der Junge zupfte am Gewand der Frau. "Mutter... wer ist das?" "Ruhig, Ishaq", flüsterte seine Mutter. Narissa stieß den angehaltenen Atem aus. "Sûladans Sohn?" Die Frau nickte. "Sein einziger. Aber er... der Sultan ist nicht zufrieden mit ihm. Er ist ihm nicht hart genug."
Draußen wurde die Tür zum Harem krachend aufgestoßen, und Narissa hörte, wie mehrere Wächter in den Raum stürmen. Die Frau, deren Namen sie immer noch nicht wusste, berührte sie kurz an der Schulter. "Bleib hier", sagte sie leise, und schlüpfte aus dem kleinen Nebenzimmer zurück in den Hauptraum, aus dem aufgeregte Stimmen zu hören waren. Narissa wartete ab, zwang sich, ruhig zu atmen. Wenn die Frau sie verriet saß sie rettungslos in der Falle.
Eine kleine Hand berührte ihren Ellbogen. "Wer bist du?", fragte der Junge - Sûladans Sohn - sie erneut. "Ich... heiße Narissa", antwortete sie mit trockenem Mund, während sie auf die Stimmen draußen lauschte und auf jedes Anzeichen, dass gleich eine Horde Wächter das kleine Zimmer stürmen würde. Während sie lauschte, war ihr der Gedanke, dass dieser Junge ihr Halbbruder war, unangenehm präsent. "Bist du gekommen um den Sultan zu ermorden?"
Narissa stockte, und für einen Augenblick war sie abgelenkt. Sie blickte dem Jungen, Ishaq, ins Gesicht. Seine Miene zeige keinerlei Schrecken bei dem Gedanken, und irgendetwas hielt sie davon ab, zu lügen oder abzulenken. "Ja", antwortete sie schlicht. "Er..." "... ist böse", flüsterte Ishaq. "Immer will er mich dazu bringen, jemandem wehzutun. Aber ich will nicht."
Draußen verstummten die Stimmen, und die eiligen Schritte der Wächter entfernten sich wieder. Vor der Tür hörte Narissa dafür die Stimme von Ishaqs Mutter: "Das ist kein besonders guter Zeitpunkt, Herr. Er... er schläft." "Unsinn, Alia", erwiderte eine männliche Stimme, und die Tür öffnete sich. Narissa blieb im Schatten der Tür stehen, bis der Mann ganz in den Raum getreten war, drückte ihn dann mit dem Rücken gegen die Wand und setzte ihm die Spitze ihre Dolches gegen die Kehle. "Kein Laut", zischte sie. Alia, die ihm gefolgt war und hastig die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand mit dem Rücken zur Tür und hatte vor Schreck die Hände vor den Mund geschlagen. Der Mann hingegen wirkte deutlich weniger beeindruckt. "Aah", machte er gedehnt. "Also nicht durchs Fenster geflüchtet." Er warf Alia einen Seitenblick zu. "Amenzu al-Irat, Statthalter von Qafsah", stellte er sich vor, als würde er sich auf einem herrschaftlichen Empfang befinden und nicht ein Messer an der Kehle haben. "Ihr müsst die berüchtigte Narissa sein - Sûladans Bastardtochter."
"Ganz recht", gab Narissa zurück, ohne den Dolch auch nur einen Millimeter von seiner Kehle zu entfernen. "Ihr könnt euch denken, warum ich hier bin."
"Nun, vermutlich nicht um zu eurem liebenden Vater zurückzukehren", erwiderte Amenzu mit beißender Ironie. "Er hat sich ja so geärgert, als ihr damals der kleinen Falle mit dem Gefängnis entkommen seid." Narissa verstärkte ein wenig den Druck der Klinge. "Ah, nun", stieß Amenzu hervor, und Narissa stellte mit Befriedigung fest, dass er nun doch ein wenig nervös wirkte. "Das wird wirklich nicht nötig sein. Ich habe keineswegs vor, euch aufzuhalten. Ganz im Gegenteil."
Narissa war geneigt ihren Ohren zu misstrauen. Sie blickte zu Alia hinüber, die ihren Blick fest erwiderte und langsam nickte.
"Erklärt." Mehr sagte Narissa nicht, und sie nahm den Dolch auch nicht von Amenzus Kehle, auch wenn sie den Druck ein wenig verringerte. Der Statthalter seufzte. "Nun gut. Sûladans Herrschaft ist... sagen wir, untragbar geworden. Mit jeder Niederlage gegen diesen Emporkömmling Qúsay wird er unberechenbarer, und dieses Bündnis mit Mordor... nun, es bring nur Elend und Leid über diese Stadt. Die Anwesenheit von Mordors Boten liegt immer wieder wie eine Wolke über unseren Köpfen." Er machte eine vorsichtige Kopfbewegung in Richtung Ishaqs, der zwischen den Betten stand und die Konfrontation mit großen Augen verfolgte. "Es wird Zeit für einen Machtwechsel."
Allmählich wurde Narissa klar, welches Spiel der Mann spielte. "Mit einem Kind als Marionette und euch als eigentlichem Machthaber", stellte sie fest.
Amenzu lächelte. "Ein Regent wird benötigt, und wer wäre dafür besser geeignet als jemand mit jahrzentelanger Erfahrung? Ich leugne nicht, dass ich eigene Interessen verfolge. Aber in diesem Augenblick kann euch das egal sein, nicht wahr?"
Da konnte Narissa ihm kaum widersprechen. Zögerlich nahm sie die Klinge von seinem Hals, und Amenzu atmete tief durch.
"Sobald Sûladan tot ist, werdet ihr die Stadt an Qúsay übergeben", begann Narissa, und überlegte kurz. "Bietet ihm folgendes an: Qafsah wird ihn als seinen Oberherrn anerkennen, sofern er Ishaq als Fürsten von Qafsah akzeptiert. Und meinetwegen euch als Regenten." Der Statthalter breitete die Hände aus und lächelte gewinnend. "Genau das wäre mein Vorschlag gewesen. Die Details werden wir dann klären." Sein Lächeln schwand, als er hinzufügte: "Es gibt allerdings einen Makel an diesem Plan - wir sind nicht die einzigen Verschwörer, die den Sultan gerne beseitigen und beerben würden."
"Taraezaphel", vermutete Narissa in Gedenken an die Nachricht, die Valions Onkel ihnen überbracht hatte. Amenzu nickte. "Und sie ist nicht allein." Er warf einen etwas schuldbewussten Blick in Ishaqs Richtung. "Ishaq ist nicht Sûladans einziger Sohn."
"Mustqîm", stieß Narissa hervor und verzog angewidert das Gesicht. "Was? Er?" Alia wirkte geschockt. "Er ist Sûladans Sohn?" Sie blickte ängstlich in Richtung ihres eigenen Sohnes, der bei Mustqîms Namen blass geworden war. "Er... hat gesagt, dass er mich eines Tages töten wird", sagte der Junge leise. "Er hat dabei gelächelt, aber ich habe gemerkt, dass er es ernst meinte."
"Ohne Zweifel", erwiderte Narissa ernst. "Aber mit Mustqîm werde ich zur Not jederzeit fertig."
"Schön." Amenzu rieb sich die Hände, als könnte er seinen Machtgewinn bereits spüren. "Es gibt einen versteckten Gang, der vom Harem aus zu den Gemächern des Sultans führt. Er wird nicht bewacht - und von da an sollte die ganze Sache doch ein Kinderspiel sein, nicht wahr?"
Während sie durch den schmalen Gang, der immer aufwärts führte, schlich, klopfte Narissas Herz so laut, dass sie fürchtete den ganzen Palast damit zu alarmieren. Oft wahr sie in dieser Nacht gerade so dem Scheitern entgangen, doch es nahte der Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Der Moment, in dem sie ihre Mission endlich erfüllen und ihre Rache bekommen, oder scheitern und sterben würde, ohne Aerien, Yana oder ihre Heimat jemals wiederzusehen. Der Gang endete an einer Tür, die vermutlich auf dieser Seite ebenso wie im Harem in den Verzierungen der Wände versteckt war. Narissa atmete dreimal tief durch um ihr beinahe rasendes Herz zu beruhigen, und trat dann durch die Tür ins Freie.
Sûladan erwartete sie bereits.
"Meine verlorene Tochter", sagte er mit weit ausgebreiteten Armen. "Ich freue mich, dass du es geschafft hast." Ohne ein Wort warf Narissa Ciryatans Dolch in seine Richtung, doch der Sultan wich mit einer beinahe beleidigenden Mühelosigkeit aus und die Klinge traf die gegenüberliegende Wand, prallte davon ab und landete klirrend auf dem Boden. Sûladans schwarze Augen leuchteten auf. "Sehr gut. Ich hatte mir nicht weniger erhofft." Narissa hatte bereits Nachtigall als Ersatz in der Hand und spannte sich zum Sprung an, als der Sultan die Hand hob. "Augenblick. Dafür ist gleich immer noch Zeit - ich verspreche auch, nicht nach meinen Wachen zu rufen. Die im Augenblick übrigens vermutlich am anderen Ende des Palastes verzweifelt nach dir suchen." Er lächelte, und dieses Lächeln jagte Narissa einen Schauer über den Rücken. Sie nutzte die Gelegenheit, Sûladan etwas genauer zu betrachten. Der Sultan war hochgewachsen, ein gutes Stück größer als sie, und hatte pechschwarze Haare, die ihm hinten in den Nacken fielen. Trotz seiner überlegenen Haltung wirkte er angegriffen - er war bleicher als sie erwartet hatte, und unter seinen schwarzen Augen lagen dunkle Ringe. "Was willst du?", fragte sie kalt und ohne ihn aus den Augen zu lassen. "Hm... keine Spur von mir in diesem Gesicht", sagte der Sultan beinahe ein wenig enttäuscht. Offensichtlich hatte er sie ebenso gründlich gemustert wie sie ihn. "Wenn nicht äußerlich, dann doch vielleicht innen. Ich habe deinen Weg gründlich beobachtet, und ich bin beeindruckt. Ich denke, in dir steckt mehr von mir als du vielleicht wahrhaben willst."
Narissa schüttelte verächtlich den Kopf. "Hast du vor, dir mit Schmeicheleien das Leben zu retten?"
"Nein, nein...", gab Sûladan zurück. "Das wird nicht nötig sein. Aber vielleicht... Ich brauche einen Erben. Ich habe ein Balg von einer meiner Konkubinen, aber der ist zu nichts nutze. Mustqîm... mit dem ist schon mehr anzufangen, aber er ist längst nicht so beeindruckend wie du. Gemeinsam könnten wir diesen Emporkömmling Qúsay vernichten, und ganz Harad unter einem Banner vereinen. Selbst Mordor könnte uns nicht widerstehen! Ich habe gehört, was du dort getan hast!" Bei seinen letzten Worten schien ein kalter Wind durch das Gemach zu wehen. Narissa blickte in Sûladans Augen, und sah dort den Wahnsinn funkeln.
"Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du meine Eltern getötet hast." Sie sprang vor, doch sofort hatte Sûladan seinen Krummsäbel in der Hand. "Dann eben auf die unangenehme Weise", stieß er hervor, und parierte ihren ersten Stoß mühelos.
Sûladan war schnell wie eine Schlange, und Narissa an Schnelligkeit beinahe gleichwertig. Seine Größe und sein Krummsäbel verschafften ihm zu dem einen Reichweitenvorteil, und sehr schnell wurde Narissa klar, dass dieser Kampf sehr viel ausgeglichener sein würde als sie erwartet hatte. Sie wirbelte um den Sultan herum, versuchte seine Aufmerksamkeit immer auf den einen Dolch zu richten und mit dem anderen eine Lücke in seiner Deckung zu finden. Doch er schien immer zu ahnen, wo der nächste Angriff kommen würde, und parierte, wich aus, immer und immer wieder. Schließlich traf sie doch, und Sûladan machte einen Sprung nach hinten. An seinem linken Oberarm war der Stoff seines Gewandes aufgerissen, und darunter lief ein wenig Blut aus einem oberflächlichen Schnitt. "Das erste Blut geht an dich", sagte er ein wenig außer Atem. Er wirkte merkwürdig zufrieden. Narissa gab ihm keine Antwort, sondern griff wieder an.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie gekämpft hatten, als Sûladans Säbel sie an der gleichen Stelle traf, an der sie ihn zuvor verletzt hatte - er versetzte ihr ebenfalls nur einen sehr oberflächlichen Schnitt, und gerade diese Tatsache verunsicherte sie. Spielte er nur mit ihr? Hatte er einen Plan, den sie nicht durchschaut hatte? Ihre Verunsicherung brachte sie ein wenig aus dem Rhythmus, und mehr brauchte der Sultan nicht. Unvermittelt hörte sie einen Knall, und etwas wickelte sich schmerzhaft fest um ihr rechtes Handgelenk. In Ruck ließ sie unwillkürlich nach vorne stolpern. Schwalbe fiel ihr aus der Hand, und im selben Augenblick traf der Krummsäbel sie in die linke Seite. Der Schmerz ließ sie stocken, und Sûladan, der mit einem Mal direkt vor ihr stand, rammte ihr das Knie gegen die Brust. Narissa wurde schwarz vor Augen, und als sie wieder sehen konnte, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden und blickte in Sûladans Gesicht hinauf.
"Gar nicht schlecht", keuchte der Sultan, dem ihr Zweikampf offenbar auch einiges abverlangt hatte. In der linken Hand hielt er nun den Griff einer Peitsche, die noch schmerzhaft fest um Narissas Handgelenk gewickelt war. Die Wunde an ihrer linken Seite brannte schmerzhaft und sie spürte wie das herausströmende Blut Hemd und Hose tränkte. "Nicht tödlich", stellte Sûladan zufrieden mit einem Blick auf ihre Seite fest. "Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders?" Narissa tastete mit der freien Linken nach einem ihrer Dolche, die ganz in der Nähe liegen mussten, doch sie hatte kein Glück.
"Fahr zur Hölle", gab sie müde zurück. Es brauchte ihre ganze Willenskraft mit fester Stimme zu sprechen. "Beende es schon. Wenn ich Glück habe, erwischen dich Qúsays Männer heute Nacht noch."
"Ah, diese Entschlossenheit... Genau davon habe ich geträumt. Genau das braucht es." Sûladan lächelte stolz. "Weißt du, diese Entschlossenheit habe ich damals auch gehabt, als ich meinen Vater, sagen wir mal... beerbt habe. Ich hätte es gern selbst getan, aber das war nun einmal nicht möglich." Er beugte sich vor, packte Narissa am Kragen wie einen Welpen und riss sie in die Höhe. "Ich nehme an, dieser Verräter Ifan ben-Mezd hat dir von dem Wassertunnel erzählt?" Er wartete keine Antwort hab, sondern stieß sie mit Wucht gegen die Wand, sodass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. In ihrer halb sitzenden und halb liegenden Position stellte Sûladan ihr den Fuß auf die Brust, sodass sie sich keinen Zentimeter rühren konnte.
"Dafür wird er natürlich sterben", fuhr er fort, als wäre nichts geschehen. "Dass es genau das war, was ich wünschte, konnte er ja nicht wissen."
"Hörst du... auch noch irgendwann... auch zu reden?", brachte Narissa mühsam hervor. Sûladans Lächeln wurde breiter. Es wirkte auf seinem Gesicht irgendwie... falsch. "Brauchst du ein wenig Ruhe, um über deine Optionen nachzudenken?", fragte er. "Das lässt sich einrichten. Vielleicht brauchst du ja weniger Zeit zu einer Entscheidung zu kommen als deine arme Mutter... Mustqîm!" Narissa hörte, wie sich eine Tür öffnete und Schritte näherten. Schließlich schob sich Mustqîms Gestalt in ihr etwas verschwommenes Gesichtsfeld. Er hatte ein Langschwert in der Hand. "Ah, eine Familienzusammenführung wie man sie sich nur wünschen kann", spottete er.
"Lass den Unsinn und bring sie in den Kerker", sagte Sûladan barsch. "Und dann..." Weiter kam er nicht, denn es gab einen dumpfen Schlag und voller Verwirrung stellte Narissa fest, dass Mustqîm sein Schwert tief in die Brust des Sultans gerammt hatte.
Sûladan hustete, und ein Schwall Blut floss aus seinem Mund hinunter über seine Brust. "Du... Bastard", stieß er hervor. "Treffend ausgedrückt", gab Mustqîm zurück, und drehte das Schwert herum. Sûladan verstummte, und brach auf den kunstvoll verzierten Fliesen zusammen. Sein Blut vermischte sich mit dem, das noch immer langsam aus der Wunde an Narissas Seite quoll. Sie blickte in das leblose Gesicht ihres leiblichen Vaters und fühlte - nichts. Keine Erleichterung, keine Befriedigung, keinen Hass... nur Müdigkeit. Trotzdem versuchte sie sich aufzurappeln, sobald Sûladan sie nicht mehr an die Wand drückte. Mustqîm trat ihr ungehemmt in die verletzte Seite, und Narissa sackte hustend wieder an der Wand zusammen. Vor ihren Augen tanzten Sterne.
"Und jetzt zu dir." Ein zweites Paar Stiefel schob sich in ihr Sichtfeld. "Spiel nicht mit ihr", sagte eine weibliche Stimme, und Narissa zwang sich, den Kopf zu heben. "Rae", murmelte sie, und sie dunkeläugige Frau versetzte ihr einen Tritt gegen die Hüfte. "Taraezaphel, wenn ich bitten darf. Zukünftige Fürstin von Qafsah und rechtmäßige Königin von Arzâyan." Sie wandte sich an Mustqîm. "Da das vorüber ist - ich werde mich darum kümmern, dass die Mauer nicht fällt. Halte du dich nicht zu lange mit ihr auf. Wir haben noch ein Heer zu vernichten."
"Natürlich", erwiderte Mustqîm. "Ich kann es kaum erwarten." Taraezaphel richtete ihre dunklen Augen noch einmal auf Narissa. "Vielleicht hättest du damals einfach auf deiner kleinen Insel bleiben sollen, dann hättest du vielleicht überlebt. Die Chance besteht jetzt nicht mehr." Sie wandte sich ab, und Narissa hörte wie ihre Schritte sich entfernten und sie die Tür hinter sich schloss.
"Ich... weiß was ihr vorhabt", brachte sie mühsam hervor. Mustqîm lächelte boshaft. "Nicht schwer zu erraten oder? Unser... Vater hatte schon die richtige Idee." Er blickte verächtlich auf Sûladans reglosen Körper. Er bemerkte nicht, dass sich die Hand des sterbenden Sultans bewegte und Ciryatans Dolch in Narissas Richtung geschoben hatte. "Morgen hat Qafsah einen neuen Fürsten, und dieser Fürst wird eine Gemahlin haben, mit der er den gesamten Süden dieser Welt unter einem Banner vereinigen wird." Mit ihrem etwas verschwommenen Blick glaubte Narissa zu sehen, wie sich am anderen Ende des Raumes die versteckte Tür zu den Haremsräumen einen Spalt weit öffnete. Die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich um den ihr so gut bekannten Dolchgriff.
"Du weißt schon... das sie dich... verraten wird?", fragte sie stockend. Mustqîm lachte. "Oh, aber natürlich. Aber nicht, bevor wir unser Ziel erreicht haben, und nicht, bevor sie einen Erben hat. Und wenn es soweit ist..." Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht unangenehm nah an ihrem war. "Dann ist nur die Frage, wer von uns beiden schneller ist, nicht wahr?"
"Du jedenfalls nicht", erwiderte Narissa, und riss mit ganzer Kraft ihren rechten Arm in die Höhe. Ciryatans Dolch traf Mustqîm am linken Kiefer, schlitzte ihm von dort aus nach oben die komplette Wange auf, sodass seine Zähne weiß hindurchschimmerten, und traf dann sein linkes Auge. "Aaaaah." Er schrie auf, taumelte einen Schritt zurück, und presste die linke Hand auf sein zerstörtes Gesicht - doch sein Schwert hatte er nicht fallen lassen, und in diesem Moment wusste Narissa, dass sie sterben würde.
"Dafür werde ich dich..." Sie erfuhr nie, was genau er vorhatte, denn auf einmal stolperte Mustqîm vorwärts, genau auf sie zu, und mit mehr Instinkt als Absicht richtete Narissa ihren Dolch genau auf sein Herz und stieß in dem Moment zu, als er auf sie fiel. Mustqîm zuckte noch einmal, und dann lag er still.
Narissa schloss einen Moment lang die Augen, bevor sie Mustqîms Leichnam mit letzter Kraft von sich herunter wuchtete, und kam mühevoll auf die Beine. Vor ihr stand Ishaq, blass im Gesicht und mit einem Ausdruck grenzenlosen Schreckens auf dem Gesicht.
"Schon gut", sagte Narissa leise, und ließ ihren Dolch fallen. Sie blickte an sich herunter. Hemd und Hose waren beinahe vollkommen blutgetränkt, und auch auf ihrem Gesicht spürte die Spritzer von Mustqîms Blut. "Das meiste davon ist nicht meins... glaube ich zumindest", sagte sie mehr an sich selbst als an den Jungen gerichtet.
"Sind... sind sie tot?", flüsterte Ishaq mit zitternder Stimme. Narissa warf einen Blick auf Sûladan, der jetzt auf dem Rücken lag, die offenen Augen blicklos an die Decke gerichtet. "Ja", antwortete sie, die linke Hand auf ihre Wunde in der Seite gepresst. "Und ich nicht. Du hast mir das Leben gerettet, Ishaq. Was... was machst du überhaupt hier?"
Der Junge antwortete nicht, sondern starrte weiterhin die beiden Leichen an, das Grauen ins Gesicht geschrieben. Durch die versteckte Tür stürmten Alia und Amenzu, und beide erstarrten bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Narissa, vollkommen blutüberströmt und äußerst wackelig auf den Beinen, die Leichen von Sûladan und Mustqîm und Ishaq, der zitternd dazwischen stand.
Alia war die erste die sich wieder regte. Sie stürmte zu Ishaq, fiel auf die Knie und schloss ihren Sohn fest in die Arme. "Du... böser Junge! Du kannst nicht einfach..."
"Nein", fiel Narissa ihr ins Wort. "Ohne ihn hätte ich nicht überlebt. Meinen... Bruder." Ishaq richtete über die Schulter seinen Blick auf sie, und der Schrecken in seinem Blick wich Überraschung. "Was?"
"Ich glaube, für diese Erklärung ist später Zeit", mischte sich Amenzu ein. Der Statthalter rieb sich die Hände. "Hervorragende Arbeit, wirklich hervorragend. Bleibt nur noch Taraezaphel, und..." Er unterbrach sich. "Nun ja. Zum triumphieren ist später noch Zeit. Vielleicht sollten wir zuerst dafür sorgen, dass ihr nicht verblutete. Das wäre doch zu schade."