Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad
Qafsah
Eandril:
Narissa, Aerien, Serelloth und Elendar von vor der Stadt
Am Tor herrschte ein großes Gedränge, als alle Händler, Handwerker und Angehörige sonstiger Berufsgruppen ihren Geschäften nachgingen, die in der Hitze des Mittags geruht hatten.
"Wir müssen uns so weit rechts wie möglich halten", raunte Níthrar Narissa zu. "Der Wächter dort hat eine Vereinbarung mit mir."
"Vertraust du ihm denn?", fragte Narissa, und zog ihre Kapuze zurecht, die ihr Gesicht und ihre Haare vor neugierigen Blicken verbarg.
"Nein", gab Níthrar zurück. "Aber er ist gierig. Ich bezahle ihn gut, und wenn er es seinen Vorgesetzten melden würde, wäre diese Einnahmequelle für immer versiegt. Und der Sultan wiederum ist nicht gerade für seine Großzügigkeit bekannt."
"Das mag ja sein, aber trotzdem..." Níthrar schnitt ihr das Wort ab, während er sich an einem edel gekleideten und sehr umfangreichen Händler vorbei schob: "Willst du in die Stadt oder nicht? Denn das ist der sicherste Weg."
Narissa erwiderte nichts, nickte aber entschlossen. Sie war nicht bis hierher gekommen, um jetzt umzukehren.
Sie erreichten den hohen Torbogen, und für einen Augenblick erhaschte Narissa einen Blick auf die Stelle, an der über zehn Jahre zuvor ein Trupp Wahrsager seine Zelte aufgeschlagen hatte. Dort hatte dieser ganze Wahnsinn seinen Anfang genommen. Sie warf einen kurzen Blick zurück zu Aerien, die keine Miene verzog und stur geradeaus blickte - doch Narissa entging nicht, dass ihre Hand die ganze Zeit auf dem Schwertgriff ruhte.
Níthrar sprach leise mit einem der Torwächter, und steckte ihm währenddessen so heimlich einige Münzen zu, dass Narissa es beinahe nicht gesehen hatte, und dann waren sie durch das Tor und auf den Straßen der Stadt.
Narissa erinnerte sich gut, wenn man von hier aus der Hauptstraße folgte und dann rechts abbog, kam man schließlich an den kleinen Platz, an dem der Halbmond gelegen hatte. Ein wenig wehmütig erinnerte sie sich an die Schenke und fragte sich, ob dort inzwischen wohl ein anderes Gebäude stand.
Níthrar folgte jedoch nicht der Hauptstraße, sondern bog direkt hinter dem Tor rechts ab in eine schmale Seitengasse. "Ich habe mir Qafsah irgendwie... weniger friedlich vorgestellt", sagte Aerien leise, als sie bereits ein Stück vom Tor entfernt waren, und der Lärm von den Hauptstraßen immer leiser wurde. "Hier leben Menschen", erwiderte Níthrar. "Ganz gewöhnliche Menschen, die nicht besser oder schlechter sind als die meisten anderen. Urteilt nicht über sie weil ihre Anführer Mordor folgen."
"Ganz sicher nicht", meinte Aerien mit einem schwachen Lächeln, und Narissa legte ihr wortlos eine Hand auf die Schulter.
"Ich erinnere mich an diese Stelle", sagte sie dann, während sie sich umsah. Sie hatten den Punkt erreicht, an dem die Mauer nach links abknickte, und von einem hohen Turm gekrönt wurde. "Als Kind bin ich einmal auf diesen Turm geklettert. Ich hätte es beinahe geschafft, ungesehen zu bleiben, doch kurz bevor ich wieder unten war, haben die Wachen mich entdeckt. Das gab eine ordentliche Tracht Prügel", erzählte sie, und verzog das Gesicht, als würden die betroffenen Stellen noch immer schmerzen.
"Du hast diesen Turm erklettert. Als Kind von höchstens zehn Jahren", meinte Elendar erstaunt und beeindruckt. "Ich kann ebenfalls gut klettern", mischte Serelloth sich ein. "Jedenfalls... auf Bäume und... Felsen." Die anderen mussten lachen, und Elendar gab ihr einen kurzen Kuss und sagte: "Da bin ich mir ziemlich sicher."
"Meine Mutter hat mir bereits einiges beigebracht", erklärte Narissa. "Natürlich heimlich, denn mein Vater war dagegen."
"Dein Vater?", fragte Aerien überrascht. "Du meinst..."
"Yaran", unterbracht Narissa sie. "Der Mann, den meine Mutter kurz vor meiner Geburt geheiratet hat. Er ist mein wirklicher Vater, nicht..." Sie stockte, wollte Suladâns Namen nicht aussprechen - nicht hier, im Zentrum seines Reichs. Níthrar, der sich bei Yarans Erwähnung unbehaglich gerührt hatte, sagte: "Der Sultan ist übrigens nicht in der Stadt... falls euch das beruhigt. Er führt Krieg weiter im Norden gegen Qúsay."
"Mögen die Valar Qúsay beistehen", meinte Narissa, und Aerien nickte zustimmend bevor Níthrar weiter sprach: "Wir sollten weitergehen, bevor die nächste Patrouille hier vorbeikommt und uns wegen verschwörerischer Treffen verhaftet. Selbst wenn Qafsah friedlich wirkt, sicher ist es hier nicht."
Er führte sie weiter, diesmal fort von der Mauer in das Gewirr von Gassen und kleinen Straßen, dass Narissa einst so gut gekannt hatte wie ihre eigene Tasche. Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie neben Níthrar ging, und fragte leise: "Wohin genau bringst du uns?"
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Qafsah lächelte er. "Das ist eine Überraschung - vielleicht keine ausschließlich schöne, aber zum größten Teil."
"Hm", machte Narissa nur, unzufrieden über die kryptische Auskunft - bis Níthrar erneut nach rechts abbog, in einen kleinen Hinterhof der ihr äußerst bekannt vorkam. Hier hatte sie als Kind oft gespielt, zusammen mit...
Níthrar stieg drei schmale, hölzerne Treppenstufen hinauf, und klopfte dreimal kurz an der Tür dahinter. Nach einer Weile schwang die Tür nach innen auf, und offenbarte eine schmale, anscheinend weibliche Gestalt. Im schwachen Licht des Abends und gegen das Licht, das durch die Tür fiel, brauchte Narissa eine Weile um das Gesicht der Frau zu erkennen. Währenddessen begrüßte sie Níthrar: "Heimatloser. Was braucht ihr von mir?"
"Ich habe hier vier Freunde, die deine Hilfe benötigen. Eine davon..."
Narissa unterbrach ihn, denn inzwischen hatte sie das Gesicht erkannt. "Yana?", stieß sie hervor, und auf dem Gesicht der Frau zeichneten sich Überraschung und Schock ab. "Das kann doch nicht... Nissa?"
"Ha!" Narissa nahm die drei Stufen mit einem einzigen Sprung, schob Níthrar unsanft zur Seite und umarmte ihre Kindheitsfreundin stürmisch. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe."
"Ich auch nicht", erwiderte Yana, die die Umarmung zunächst erwidert hatte, sich nun aber daraus löste. "Nicht seit..." Sie unterbrach sich, und schüttelte den Kopf. "Später. Lasst uns zuerst reingehen." Sie machte einen Schritt zurück in den kleinen Raum in den die Hintertür führte, und bedeutete den anderen mit einem Wink, ebenfalls hereinzukommen. Während ihre Freunde der Aufforderung folgten, warf Narissa einen kurzen Blick durch den Raum. Früher war es das Lager von Yanas Vater, einem kleinen Händler, gewesen, doch jetzt waren die Regale bis auf wenige Ausnahmen leer und staubig.
Níthrar blieb als letzter auf der Treppe stehen, und auf Narissas fragenden Blick hin, sagte er: "Ich muss wieder zurück. Aber ihr seid nun in guten Händen, und wir werden uns bald wiedersehen." Damit wandte er sich ab, eilte die Stufen hinunter und verschwand schließlich um eine Ecke. Narissa schloss mit einem Seufzer die Tür hinter ihm, und folgte dann Yana, die inzwischen die Tür am anderen Ende des Raumes geöffnet hatte, und in die kleine Empfangshalle hinausgetreten war. Von hier führten mehrere Türen zu anderen Räumen und nach draußen auf die Straße hinaus, und eine Treppe zum oberen Stockwerk. Als Kind war Narissa oft hier gewesen, und die Jahre hatten dem Haus nicht gut getan. Alles sah ein wenig schäbiger und ärmlicher aus als damals, und sie fragte sich insgeheim, was geschehen war. Vermutlich liefen durch den Krieg die Geschäfte für Yanas Vater nicht gut. Als sie sich alle vor der Treppe versammelt hatten, stellte Narissa ihre Freunde vor: "Dies sind Aerien Bereneth und Serelloth aus Gondor, zwei gute Freundinnen die ich in Aín Sefra getroffen habe, und Elendar bin Yulan."
"Hoffentlich ebenfalls ein guter Freund", warf Elendar mit einem Augenzwinkern ein, während Yana den Kopf neigte. "Ich freue mich, euch kennenzulernen. Ich bin Yana, die, nun ja... Herrin dieses Hauses."
"Warte mal", warf Narissa ein. "Heißt das etwa..." Yana nickte, und für einen Augenblick bröckelte ihre Maske. Narissa fiel auf, dass die Jahre nicht nur dem Haus, sondern auf ihrer Freundin geschadet hatten - in den Augenwinkeln bildeten sich erste Fältchen, auf den Schläfen färbten sich die ersten Haare grau, und auf ihrer Wange zuckte immer wieder nervös ein Muskel. "Mein Vater ist tot", erklärte sie. "Hat sich erhängt, nachdem das Geschäft immer schlechter lief, und meine Mutter eines Tages tot in einem Graben gefunden wurde."
"Oh", machte Serelloth, und Narissa ergriff Yanas Hand. "Yana, das... tut mir Leid." Ihre Freundin zuckte etwas hilflos mit den Schultern, und rang sich ein schwaches Lächeln ab. "Was geschehen ist, ist geschehen. Weißt du, dass der Halbmond niedergebrannt wurde?"
Narissa nickte stumm, und biss die Zähne zusammen. Ihr stand deutlich Elyanas Bild in Níthrars Zelt vor Augen, wie sie sagte Deine Mutter ist verschwunden, und der Halbmond niedergebrannt. Ihre Mutter war verschwunden. Verschwunden, nicht tot.
Sie fühlte Aeriens Hand auf ihrer Schulter, und zwang sich dazu, zu lächeln. "Es ist lange her. Wir sollten uns auf die Gegenwart konzentrieren."
"Allerdings", meinte Yana, die ihre Fassung allmählich wiedergewonnen hatte. "Ihr werdet vermutlich eine Weile hierbleiben wollen, nicht wahr? Nun, Platz habe ich genug..."
"Und Elendar und Serelloth können sich ein Zimmer teilen... vielleicht sogar ein Bett", sagte Aerien, ohne eine Miene zu verziehen. Serelloth lief daraufhin rot an, und Aerien zwinkerte Narissa aufmunternd zu.
Narissa straffte sich innerlich, und atmete tief durch. "Wir hatten eine anstrengende Reise, also sollten wir uns vielleicht zunächst ausruhen, bevor wir morgen damit anfangen uns umzuhören." Ihre Mitstreiter murmelten Zustimmung, und Yana sagte: "Gut - und morgen erfahre ich hoffentlich auch, was euch überhaupt hierher treibt."
Fine:
Aerien lag auf dem kleinen Bett in dem Zimmer, das sie sich mit Narissa teilte, und dachte nach. Es war ein Stockbett. Narissa, die beim Betreten des Zimmers sofort das obere Bett beschlagnahmt hatte, war inzwischen irgendwo verschwunden - Aerien vermutete, dass sie mit Yana sprach. Sie hatte sich für Narissa gefreut, dass ihre Freundin aus Kindheitstagen noch am Leben war, doch irgend etwas machte ihr zu schaffen. Sie hat sie "Nissa" genannt, dachte Aerien. Warum habe ich noch keinen Spitznamen für Narissa? Sie hat doch selbst gesagt, dass wir beste Freundinnen sind. Und sie hat auch keinen für mich. Aerien wusste nicht recht, wohin diese Gedanken führten. Sie hatte das Gefühl, immer weniger von dem zu verstehen, was in ihrem Inneren vorging. Sie drehte sich mit dem Rücken zur Wand und lauschte auf die leisen Geräusche der Stadt, die durch das kleine Fenster drangen. Níthrar hatte recht gehabt. Dies war eine Stadt, in der normale Menschen wohnten und ihrem täglichen Leben nachgingen, unabhängig davon wie böse der Mann war, der die Stadt und das umliegende Land beherrschte.
Als ihre Beine zu kribbeln begannen raffte sie sich auf und verließ den Raum. Aus dem Zimmer nebenan, das Elendar und Serelloth bezogen hatten, war nichts zu hören. Neugierig lauschte sie eine Minute an der Tür, doch noch immer hörte sie nichts. So leise es ihr möglich war, öffnete sie die Tür und spähte hinein. Das Doppelbett, das beinahe den gesamten Raum ausfüllte, war leer bis auf Elendars muskulöse Gestalt. Der junge Krieger war eingeschlafen. Offenbar hatte ihn die Anspannung und die Reise mehr angestrengt als Aerien gedacht hatte.
Jemand tippte ihr auf die Schulter. Es war Serelloth.
"Ich sagte dir doch schon, dass du dich nicht immer so anschleichen sollst," zischte Aerien leise.
"Was tust du hier, 'Rien?" fragt Serelloth verwundert. Sie trug noch immer ihre normale Kleidung und folgte Aeriens Blick mit einem amüsierten Lächeln. "Du bist aber voreilig," sagte sie, doch auf ihren Wangen zeigte sich eine zarte Röte. "Denkst du, ich bin so sprunghaft?"
"Ich weiß nicht was ich von der ganzen Sache halten soll," gab Aerien ehrlich zu.
"Von welcher Sache?" fragte Serelloth mit einem eigentümlichen Unterton in der Stimme. "Elendar und ich? Da bin ich mir selber noch nicht im Klaren darüber, was es ist. Er ist süß, das musst du zugeben. Und er kann gut küssen. Aber ich finde, wir sollten nichts überstürzen."
"Soso," gab Aerien zurück und lächelte. "Danke, dass du mich an deinen reichhaltigen Erfahrungen in Liebesangelegenheiten teilhaben lässt," scherzte sie.
"Jederzeit," sagte Serelloth und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie schien irgendetwas erkannt zu haben, das Aerien selbst noch nicht sehen konnte, doch Aerien konnte sich keinen Reim darauf machen. "Würde es dir etwas ausmachen, jemand anderes zu belauschen?" fragte die Waldläuferin zuckersüß. "Ich wäre jetzt gerne ein bisschen allein, wenn du erlaubst."
"Oh. Natürlich," sagte Aerien und trat von der Tür zurück. Serelloth schloss sie hinter sich.
Von Narissa und Yana fand Aerien im Haus keine Spur. Vielleicht sind sie spazieren gegangen, mutmaßte sie. Sie steckte den Kopf durch die Eingangstür des Ladens und schätzte die Lage draußen ein. Es war dunkel, doch die Nacht war noch nicht sehr alt. Die Luft war warm, und es waren immer noch viele Menschen unterwegs. Aerien beschloss, sich in der nahen Umgebung etwas umzusehen. Sie besaß einen guten Orientierungssinn und war sich sicher, dass sie Yanas Haus problemlos wiederfinden würde wenn sie sich nicht allzu weit davon entfernte. Sie ging noch einmal kurz in ihr Zimmer und nahm ihr Bastardschwert mit. Man kann nie vorsichtig genug sein. Sie nahm die Treppe, über die Nithrar sie hierher geführt hatte, und durchquerte den kleinen Hinterhof und die engen Gassen, durch die sie der Elb geleitet hatte, bis sie zu einer größeren, belebteren Straßen kam. Aerien ärgerte sich, dass sie die Sprache, die in Qafsah gesprochen wurde, nicht verstand. Westron hörte sie nur an einigen wenigen Stellen, und das was sie hörte betraf immer nur den Krieg, den Sûladan gegen Qúsay und dessen Verbündete führte. Aerien erfuhr, dass Aín Séfra angegriffen worden sein sollte, doch niemand wusste, wie die Schlacht ausgegangen war. Sie hoffte, dass Qúsay eine Chance gegen seine Feinde hatte.
Nach ungefähr einer Stunde, in der sie recht ziellos umhergewandert war entschied Aerien, dass die Zeit gekommen war, um zu Yanas Haus zurückzukehren. Doch dann sah sie von weitem eine Gruppe von haradischen Kriegern, die die Rote Schlange offen auf ihren Wappenröcken trugen und die immer wieder Menschen anhielten und befragten. Ganz offensichtlich waren sie auf der Suche nach etwas - oder jemandem. Ihre Vorsicht übernahm die Kontrolle, und eilig bog Aerien in eine Seitengasse ab, die, wie sie hoffte, ebenfalls zu Yanas Haus führen würde. Doch ihre Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Kurz darauf kam sie an eine Kreuzung, von der drei weitere Gassen abbogen und in unterschiedliche Richtungen führten. Ihr Orientierungssinn sagte ihr, dass sie rechts abbiegen musste, also tat sie das. Die Gasse führte um mehrere enge Biegungen und endete an einer Treppe, die ein Stockwerk weiter nach oben führte. Gerade wollte sie hinaufgehen, da hörte sie leise Stimmen, die sich zu ihrer Überraschung der schwarzen Sprache Mordors bedienten.
"Karnuzîr hat seinen Bericht noch nicht erbracht," sagte eine tiefe Männerstimme, die die Sprache mit einem starken Akzent sprach.
"Er verspätet sich doch sonst nie," antwortete eine zweite Stimme, die zu einer Frau gehörte. "Das sieht ihm gar nicht ähnlich."
"Der Bote wird ungeduldig," sprach der Erste. "Er spürt, dass hier etwas direkt vor unseren Augen geschehen wird. Wir müssen wachsam bleiben."
Aerien kroch langsam und so still wie eine Maus vorwärts, eine Stufe nach der anderen in der Hocke nehmend.
"Seine Aufmerksamkeit sollte sich auf die Rebellen richten," beschwerte sich die Frau. "Wäre er vor einer Woche nach Ain Séfra geritten, hätte Qúsays Krönung verhindert werden können."
"Dieser Emporkömmling wird bald schon unter Sûladans Stiefel zerquetscht sein. Mach dir keine Sorgen, Rae. Der Krieg ist unser geringstes Problem."
"Und was war dann in Umbar los? Du weißt, dass der Erbe des Turms dort gesehen wurde - mit meinen Verwandten. Wir müssen so bald wie möglich überprüfen, ob die Insel noch immer verlassen ist."
"Ich weiß," gab der Mann etwas zerknirscht zurück. "Ich bin selber erstaunt über das Ausmaß des Verrates der Minluzîri. Ihr Reichtum hat sie selbstgefällig werden lassen."
"Immerhin steht Umbar nun wieder unter Hasaels Kontrolle," fuhr die Frau fort. "Aber er hätte niemals zulassen sollen, dass es ihm überhaupt erst entrissen wird. Vielleicht wird es Zeit, einen fähigeren Fürsten einzusetzen."
"Du meinst wohl eher eine Fürstin?" stellte der Mann klar.
"Warum nicht?" sagte die zweite Stimme. "Ich fühle mich bereit. Und ich habe ein Anrecht."
"Nicht, solange Hasaels Söhne - und Qúsay - am Leben sind."
"Nun, zumindest Qúsay wird nicht mehr lange ein Problem für uns darstellen. Sûladans Heer ist bereits in Marsch gesetzt worden."
"Dann gehe ich davon aus, dass es Ain Séfra in Schutt und Asche legen wird?" fragte der Mann.
"Mehr als das," antwortete die Frau. "Es wird die Rebellen so gründlich vernichten dass niemand auch nur an einen Aufstand denken wird."
Aerien spähte vorsichtig über den Rand der oberste Stufe und erspähte zwei Gestalten am anderen Ende des kleinen Platzes, der vor ihr lag. Sie sah, wie die größere und breitere der beiden, bei der es sich um den männlichen Sprecher handeln musst, zufrieden nickte.
"Dann sollten wir den Sultan nicht länger warten lassen," sagte er, und die Frau stimmte ihm zu. Dann verschwanden sie durch die Gasse hinter ihnen.
Aerien blieb atemlos liegen und rief sich das, was die beiden Unbekannten gesagt hatten, erneut ins Gedächtnis. Eine Sache stach für sie deutlich hervor: Die Insel - Narissas Heimat. Die beiden hatten davon gewusst, und wollten dorthin zurückkehren. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch sie spürte, dass Narissa es vielleicht wissen könnte. Sie wollte sich gerade erheben, als sie eine neue Bewegung auf dem eigentlich leeren Platz erhaschte. Es war dunkel, doch ein Flecken in der Mitte der freien Fläche zwischen den Hausmauern schien wie ein noch dunkleres Loch in der Dunkelheit herauszustechen: ein Schatten in der Finsternis. Der Schatten, der einem mannsgroßen Bündel ähnelte, schwankte von links nach rechts; suchend... jagend. Ein namenloses Grauen kam über Aerien und sie spürte, wie ihr die Haare zu Berge standen. Doch sie konnte sich nicht bewegen; starrte hilflos auf den Schatten, der sich nun in ihre Richtung wandte. Langsam richtete sich die Gestalt auf und Aerien erkannte, worum es dabei handelte. Und endlich reagierte ihr Körper und sie rollte sich die Treppe hinab, rappelte sich auf und rannte, von Panik beflügelt, so schnell ihre Beine sie trugen, ziellos durch die immer leerer werdenden Gassen mit nur einem einzigen Gedanken in ihrem Verstand: Weg, nur weg von hier!
Wie sie zurück zu Yanas Haus fand konnte sie nicht sagen. Sie fand sich schwer atmend in den kleinen Hinterhof wieder, doch das Grauen hatte nicht von ihr abgelassen, insbesondere da sie nur zu gut wusste, was sie verfolgte. Aerien nahm die kleine Treppe mit einem einzigen Satz und sprintete durch den Flur bis zu ihrem Zimmer. Sie riss die Tür auf. Narissa, die ihre Matratze aus dem oberen Bett auf den Boden neben dem Fenster gelegt hatte und gerade die Sterne beobachtet hatte, fuhr herum. Aerien hastete zu ihr hinüber und ließ unterwegs ihr Schwert klirrend auf den Boden fallen. Es war ihr egal, was Narissa über ihr seltsames Verhalten denken mochte. Aerien schlang die Arme um ihre Freundin und klammerte sich an sie, vor Furcht zitternd und ohne auch nur ein Wort herauszubringen.
"Aerien, was ist mir dir?" fragte Narissa voller Verwirrung. Doch Aerien starrte nur geradeaus, auf die Tür, die sie hinter sich zugeschlagen hatte und ihre Hand packte Narissas Dolch, umklammerte den Griff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. In ihren Augen stand blanke Angst. Narissa legte ihren Arm um Aerien und löste sanft, aber bestimmt, ihre Finger vom Griff des Dolches. "Was hast du gesehen?" flüsterte sie. "Was ist dir zugestoßen?"
"Sie kommen," stieß Aerien beinahe unhörbar hervor. "Sie kommen, um mich zu holen."
Eandril:
Narissa strich mit der freien Hand sacht über Aeriens Wange, und sagte: "Hier ist niemand, und niemand wird uns hier finden. Und wenn doch... werde ich sicherlich nicht zulassen, dass sie dich holen." Die Haut ihrer Freundin fühlte sich eiskalt an, obwohl die Nächte in Qafsah warm waren. Aerien blickte sie aus weit aufgerissenen, grauen Augen an. "Sie finden jeden, den sie suchen - und man kann sie nicht aufhalten."
Ein Schauer überlief Narissa. Sie hatte Aerien nie zuvor derart verängstigt gesehen, und sie auch nie für jemanden gehalten, der leicht zur erschrecken war.
"Wer sind sie?", fragte sie leise, aber doch eindringlich. Wenn sie helfen wollte, musste sie wissen was geschehen war. "Die... die Schwarzen. Schatten", stieß Aerien hervor. "Einer von ihnen ist hier, ich habe ihn gesehen."
Narissa begriff, doch sie musste es aussprechen um sicher zu gehen. "Nazgûl", flüsterte sie so leise wie möglich, und spürte Aeriens gesamten Körper erzittern. "Ja", hauchte sie. "Sie sind hier, um mich zurück zu bringen. Zurück nach Mordor."
Narissa umarmte sie fester, und sagte: "Du gehörst nicht nach Mordor. Du gehörst in den Westen, und..." Sie stockte, unsicher was sie überhaupt hatte sagen wollen.
Der Schwarze Atem, dachte sie. Ihr Großvater hatte davon erzählt. Aerien brauchte Licht, Wärme und vor allem Frieden.
"Bist du jemals am Meer gewesen?", fragte Narissa leise, und schloss mit der einen Hand vorsichtig die Fensterläden, sperrte die Nacht aus, ohne Aerien mit der anderen loszulassen. Aerien schüttelte stumm den Kopf, und ihr Atem ging noch immer stockend und stoßweise. "Es wird dir gefallen", fuhr Narissa beruhigend fort - zumindest hoffte sie das, denn sie hatte wenig Erfahrung in diesen Dingen. "Eines Tages nehme ich dich mit auf die Insel, und dann wirst du es sehen: Wie die Wellen des großen Meeres an die Klippen schlagen, der leichte Salzgeschmack in der Luft, der Wind, der dir das Haar zerzaust, und das Schreien der Möwen." Ihr eigenes Herz krampfte sich zusammen bei der Erinnerung an ihre Heimat, und erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie es eigentlich vermisste. Doch Aerien schien sich ein wenig zu beruhigen, also sprach sie weiter: "Und dahinter sanft abfallende grüne Hänge, mit kleinen Wäldern dazwischen, und irgendwo steht ein hoher weißer Turm, von dem man die ganze Insel überblicken kann. Und ein Stück weiter ein kleiner Hafen, auf dem wir ein Schiff besteigen werden." Narissa stockte erneut und blinzelte eine Träne weg, die sich in ihrem Augenwinkel gebildet hatte, und schluckte, bevor sie weiter erzählte: "Auf diesem Schiff fahren wir nach Westen über das Meer, immer weiter nach Westen... bis wir schließlich einen einsamen Gipfel inmitten der Wellen erreichen. Und... und dort werden wir auf der Spitze des Meneltarma stehen, und vielleicht von dort sogar einen Blick auf den alten Westen erhaschen - nur... wir beide. Wäre das schön?"
Aerien gab keine Antwort, doch ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, ihre Augen waren geschlossen, und als Narissa ihr die Hand auf die Stirn legte spürte sie, dass Aeriens Haut warm war. Noch einen Moment blieb Narissa sitzen, und hielt ihre schlafende Freundin in Armen, denn es fühlte sich auf eine merkwürdige Weise richtig an.
Schließlich erhob sie sich langsam, und ließ Aerien sanft auf die Matratze gleiten.
"Schlaf...", flüsterte sie, als Aerien sich im Schlaf auf die Seite drehte. Sie bückte sie, und hob Aeriens Schwert auf, und legte es leise neben ihre Besitzerin. Ebenso leise verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Im dunklen Flur gestattete Narissa sich zum ersten Mal, ihrer eigenen Angst nachzugeben. Sie lehnte sich neben der Zimmertür an die Wand, atmete tief durch und versuchte ihre zitternden Knie in den Griff zu bekommen. Einer der Neun war in Qafsah. Sie hatten Geschichten über diese Wesen gehört, die ihr Großvater ihr erzählt hatte, doch weder sie noch er noch irgendjemand sonst den sie kannte, war ihnen je begegnet. Und Aerien... Aerien war in Mordor aufgewachsen, wo sie diesen Wesen vermutlich näher gewesen war als sonst irgendwo in Mittelerde, und diese Begegnung schien dennoch etwas in ihr zerbrochen zu haben. Narissa hatte Aerien vorgeworfen, Angst zu haben, als diese nur ihre Sorgen über ihre Vorhaben zum Ausdruck gebracht hatte, und das war ungerecht gewesen. Heute war das erste Mal gewesen, dass Narissa wirklich Angst in Aeriens Augen gesehen hatte, und diese Tatsache war der wichtigste Grund für ihre eigene Furcht. Vermutlich wusste Aerien viel mehr als sie selbst über die Ringgeister, und es war genug um sie tief zu verstören.
Tief in Gedanken, was die Anwesenheit eines Nazgûl in Qafsah für ihre Aufgabe bedeutete, bemerkte Narissa nur langsam, dass aus dem unteren Stockwerk des Hauses leise Geräusche zu hören waren. Sie blieb regugslos in der Dunkelheit stehen, die Hand auf den Dolchgriff gelegt. War der Schatten Aerien hierher gefolgt? Oder hatte er Suladâns Schergen auf ihre Spur gelockt? Narissa biss die Zähne zusammen, und zog leise ihren Dolch. Was immer es war, sie würde es herausfinden müssen.
Sie schlich leise den Flur entlang, an der Tür zu dem Zimmer, in dem Serelloth und Elendar schliefen, vorbei, und erreichte schließlich den oberen Absatz der Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Unter der Tür zu dem kleinen Lagerraum, durch den sie vorhin das Haus betreten hatten, drang Licht hervor. Narissa packte den Dolch fester, schlich die Treppe hinab, und gerade als sie die Tür erreichte, schwang diese auf.
Narissa wäre beinahe mit Yana zusammengeprallt, die mit einer kleinen Laterne in der Hand den Lagerraum verließ, und in einen dunklen Mantel gekleidet war.
"Yana!", stieß Narissa hervor, und ihre Kindheitsfreundin wurde blass vor Schreck. "Nissa. Was... was tust du hier, um diese Zeit?"
"Ich habe Geräusche gehört, und..." Narissa steckte ihre Waffe weg, und fragte ein wenig misstrauisch: "Viel mehr interessiert mich, was du um diese Zeit draußen treibst."
"Nichts... nichts wichtiges", erklärte Yana stockend, und wich einen Schritt zurück. "Nichts, was dich interessieren müsste."
"Nicht interessieren?", stieß Narissa hervor, und legte die Hand wieder auf den Dolchgriff. "Ich bin in einer feindlichen Stadt, draußen läuft ein Ringgeist herum der meine beste Freundin auf der Welt in Angst und Schrecken versetzt hat, und du schleichst mitten in der Nacht heimlich aus dem Haus und wieder zurück. Natürlich interessiert mich, was du getrieben hast."
Wortlos stellte Yana die Laterne auf den Boden und ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten. Darunter trug sie ein äußerst freizügiges Kleid, das weniger verbarg als es zeigte. "Was glaubst du, wie ich überleben konnte?" Yanas Stimme war bitter. "Mit vierzehn Jahren ohne Eltern hier zu überleben... man muss Kompromisse eingehen, und Dinge tun... Dinge, die man eigentlich nicht mit sich vereinbaren kann."
Narissa hatte entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen, als sie im flackernden Licht der Laterne die Kratzer und blauen Flecken auf Yanas nackten Armen erblickt hatte. "Oh, Yana... wer hat das getan?"
"Das?", fragte Yana, und warf einen beiläufigen Blick auf ihre Arme. "Das ist harmlos. Aber viele wichtige Leute bezahlen viel dafür, wenn man mit sich machen lässt, was immer sie wollen."
"Du kannst doch so nicht leben...", flüsterte Narissa, und Yana lächelte müde. "Manchmal denke ich das auch." Sie drehte die Unterseite ihres linken Armes ins Licht, und Narissa erkannte eine blasse, feine Linie, die sich quer über Yanas Handgelenk zog. "Ich bin aus der Stadt gegangen, und habe mir die Handgelenke geöffnet", erzählte Yana mit teilnahmsloser Stimme, als würde sie über jemand anderes sprechen. "Doch bevor ich verbluten konnte, hat der Heimatlose mich gefunden, und mich geheilt. Er hat mir einen Funken Hoffnung gegeben. Viel ist es nicht, doch es hat gereicht mich bislang am Leben zu halten." Sie schüttelte den Kopf, und senkte den Arm wieder.
"Also, was ist ein Ringgeist?", fragte sie, und beim klang des Wortes stand Narissa das Bild Aeriens vor Augen, mit weit aufgerissenen, furchterfüllten Augen.
"Nicht... nicht hier", sagte sie. "Nicht im Dunkeln."
Yana nickte, ohne zu widersprechen. "Dann glaube ich, ich weiß was du meinst. In der Stadt gibt es das Gerücht, ein Schatten würde im obersten Gemach des höchsten Turmes hausen. Ein Schatten, vor dem sogar der Sultan Angst hat. Ich habe seine Gegenwart gespürt, wenn ich jemanden im Palast besucht habe."
"Und du?", fragte Narissa zögerlich. "Hast du keine Angst vor ihm?"
Das Lächeln, das Yana ihr schenkte, war das traurigste das Narissa je gesehen hatte. "Was auch immer dieses Wesen mir antun könnte, es kann nicht schrecklicher sein als das Leben, dass ich führe, und es gibt nicht, das es mir nehmen könnte. Und trotzdem... ja, ich habe Angst davor."
Fine:
Aerien erwachte - und stellte fest, dass es um sie herum dunkel war. Sie blinzelte mehrmals, doch noch immer konnte sie nichts sehen. Mehrere Minuten vergingen, in denen sie sich immer unbehaglicher zu fühlen begann.
"Wo bin ich?" fragte sie.
Und da antwortete ihr eine Stimme, die kälter als Eis zu sein schien: "Azruphel..." sagte sie, halb flüsternd, halb zischend. "Nach Mordor! Nach Mordor werde ich dich bringen..."
Aerien verfiel in Panik. Vor ihr stieg ein roter Schein auf, vor dem sich ein dunkler Schatten abhob. Sie wusste, was das bedeuten musste.
"Nazgûl..." flüsterte sie.
"Du gehörst dem Großen Gebieter," wisperte der Ringgeist. "Zu ihm kehrst du zurück. Es gibt kein Entkommen..."
Aerien versuchte verzweifelt, sich zu bewegen, doch ihr Körper reagierte nicht. Die dunkle Gestalt des Ringgeists nahm nun ihr gesamtes Blickfeld ein.
"Nach Mordor..."
Schweißgebadet fuhr Aerien aus dem Schlaf hoch. Sie warf einen hektischen Blick durch das kleine Zimmer, durch dessen Fenster das Licht der Morgensonne drang. Von draußen waren die Geräusche der erwachenden Stadt zu hören, und sogar das Zwitschern einiger Vögel drang an Aeriens Ohr, was eine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Aerien atmete tief durch. Sie entdeckte Narissa, die im unteren Bett in voller Bekleidung lag, ihren Dolch noch immer in der Hand. Muss wohl beim Wache halten eingenickt sein, dachte sie und ging zu ihrer Freundin hinüber. Vorsichtig nahm sie Ciryatans Dolch aus Narissas Hand und betrachtete die Waffe für einen kurzen Moment, ehe sie sie beiseite legte. Dann strich sie sanft eine verwuschelte Strähne aus Narissas Gesicht.
Sie sieht so friedlich aus, dachte Aerien. Als würden die Schatten der Nacht ihr überhaupt keine Angst einjagen. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Narissa vermutlich gar nicht so recht wusste, was die Nazgûl wirklich waren. Vor Azruphels Flucht aus Mordor hatte sie zwar nur selten von den Neun gehört, doch alles, was ihr ihre Eltern von Saurons wichtigsten Dienern erzählt hatte hatte sie immer dazu gebracht, froh zu sein, dass sie auf derselben Seite standen. Nun hatte sich das jedoch geändert, und die Ringgeister waren ihre Feinde; jagten sie offensichtlich sogar.
Narissa regte sich im Schlaf und zog Aeriens Aufmerksamkeit auf sich. Sie hockte sich mit dem Rücken zum Bett auf den Boden daneben und wartete, bis Narissa von selbst erwachte. Bis es schließlich soweit war, verging noch etwa eine halbe Stunde, die Aerien dazu verwendete, um den Albtraum aus ihren Gedanken zu verbannen.
Eine Hand strich ihr durchs Haar und da wusste Aerien, dass Narissa wach war. "Gut geschlafen?" fragte sie.
"Nicht sonderlich," gab Narissa zurück und gähnte. "Ich muss wohl - "
" - beim Wache halten eingenickt sein, ich weiß", beendete Aerien den Satz und drehte sich zu Narissa um, die sich im Bett aufgesetzt hatte. "Das hättest du nicht tun müssen."
"Ich weiß," gab Narissa zurück. "Aber es gab einiges, worüber ich nachdenken musste. Ich habe die Zeit also gut genutzt."
Aerien fragte sich, worüber Narissa wohl nachgedacht haben könnte. Sie erinnerte sich daran, wie sie am vergangenen Abend instinktiv bei Narissa Schutz gesucht hatte und wurde etwas verlegen. "Also, weißt du, Narissa, ich..." begann sie, doch gleichzeitig sagte Narissa: "Hast du die Sache gestern ein wenig verarbeiten können?"
Aerien biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Narissa hatte ihren Gedankengang unterbrochen, und sie an den Schrecken erinnert, den sie gestern erlitten hatte. "Ich... bin mir nicht ganz sicher," sagte sie leise und ließ den Kopf hängen. "Narissa, du magst vielleicht schon von den Nazgûl gehört haben, aber... du kennst sie nicht. Sie sind das abolute Böse," flüsterte sie.
"Mein Großvater hat mir von ihnen erzählt, und von den Ringen der Macht, die sie zu dem machten, was sie jetzt sind," antwortete Narissa.
"Das mag sein," gab Aerien zurück. "Aber das bedeutet nicht, dass du verstehst, welche Kräfte sie haben, und wie unnachgiebig sie sind. Haben sie einmal ein Ziel gewählt hören sie niemals auf, es zu jagen."
"Du weißt nicht, ob der Ringgeist, den du gesehen hast, wirklich deinetwegen hier ist," argumentierte Narissa. "Das Gerücht von Furcht und Schatten im Palast geht schon seit Wochen um, sagt Yana. Wie hätte er voraussagen können, dass du nach Qafsah kommst?"
"ich... ich weiß es nicht," stotterte Aerien und ließ die Schultern sinken. Sie fühlte sich wieder so hilflos wie in ihrem Traum.
"Beruhige dich," sagte Narissa leise und ergriff Aeriens Hand, die sie behutsam drückte. "Ich lasse nicht zu, dass sie dich zurück nach Mordor bringen, hörst du?"
Aerien nickte und kam sich ein wenig wie ein kleines Mädchen vor. Erneut wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
"Vielleicht sollten wir uns erst einmal mit einem guten Frühstück stärken," schlug Narissa vor und zog Aerien auf die Beine. "Komm schon. Du kannst nachher wieder trübselig sein."
Kurz darauf saßen sie zu fünft an einem der Tische im größten Raum des Hauses. Elendar hatte darauf bestanden, Yana für die Unterkunft, die sie ihnen bot, zu bezahlen - und zwar deutlich mehr, als sie in einem der Gasthäuser in der Stadt gezahlt hätten. Yana hatte das Geld schließlich nach langem Widerstand angenommen und von einem Teil davon Gebäck und Milch für ein reichhaltiges Frühstück gekauft, über das sie sich nun alle heißhungrig hermachten.
"Wir müssen uns nach Informationen über meine Mutter umhören," sagte Narissa während sie noch aßen.
"Nissa, du bist viel zu bekannt hier," warf Yana ein. "Je länger du dich da draußen zeigst, desto mehr riskierst du, entdeckt zu werden."
"Das macht nichts," mischte sich Serelloth mit vollem Mund ein. "Dafür hat sie ja uns dabei. Elendar, Aerien und ich machen das schon."
"I-ich würde eigentlich auch lieber hier bleiben," sagte Aerien leise, doch Serelloth merkte sofort, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
"Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?" fragte sie. Aerien beugte sich zu der Waldläuferin hinüber und flüsterte ihr die gestrigen Geschehnisse - auf wenige Sätze zusammengefasst - ins Ohr. Zu ihrem Erstaunen brach Serelloth in schallendes Gelächter aus.
"Da kommt sie aus Mordor, und hat trotzdem Angst im Dunkeln!" rief sie und konnte sich nur schwer beruhigen. "Also wirklich," fuhr sie dann fort. "Du kennst doch von uns allen bestimmt die meisten Tricks, um mit den schwarzen Reitern umzugehen."
"...Mordor?" fragte Yana, die bleich im Gesicht geworden war.
"Ich erkläre es dir später," sagte Narissa. "Du musst dir keine Sorgen machen."
"Wenn du das sagst, Nissa," antwortete Yana, doch in ihrer Stimme lag Zweifel.
"Du weißt nicht wovon du redest, Serelloth," sagte Aerien derweil verärgert.
"Und ob ich das weiß," gab diese zurück. Sie hatte aufgehört zu lachen und tatsächlich eine ernste Miene aufgesetzt. "Im Gegensatz zu dir habe ich schon gegen die Ringgeister gekämpft. Drei von ihnen sind in den letzten Jahren ständig in der Nähe von Ithilien stationiert gewesen und haben meinem Vater und seinen Leuten das Leben schwer gemacht. Aber wir haben gelernt, wie man sich gegen sie zur Wehr setzen kann."
"Wie?" fragte Aerien mit großen Augen.
Statt einer Antwort zeigte Serelloth auf den Kamin in der Ecke. "Mit Feuer."
Eine halbe Stunde später brachen die drei Gefährten von Yanas Haus aus auf, um in den Straßen Qafsahs nach Narissas Mutter zu suchen. Elendar und Serelloth, die die in der Stadt gesprochene Sprache verstanden, wussten inzwischen von den beiden zwielichtigen Gestalten, die Aerien am Abend zuvor belauscht hatte, und versprachen, ein Auge nach den beiden offen zu halten. Dann trennten sie sich. Aerien schlug einen Weg ein, der sie so weit wie möglich vom Palast wegführte. Sie fragte sich, wie es Narissa wohl ging, und ob sie noch immer Träume von ihrer Mutter hatte. Aerien fühlte sich sehr schlecht, weil es am vergangenen Abend und an diesem Morgen nur um sie selbst gegangen war und sie gar nicht darauf geachtet hatte, wie Narissa sich fühlte. Sie nahm sich vor, gleich bei ihrer Rückkehr danach zu fragen.
Eandril:
Narissa blieb alleine mit Yana in dem Haus zurück, und begann, unruhig von einem Raum zum anderen zu laufen. Schließlich sagte Yana, die die Überreste ihrer Mahlzeit beseitigt hatte: "Du machst mich fürchterlich nervös, weißt du das? Setz dich lieber hin, und erzähl mir noch ein bisschen was." Narissa war bereits aufgefallen, dass Yana äußerst begierig auf jegliche Informationen von außerhalb Qafsahs war. Sie ließ sich unwillig auf einen der abgewetzten Stühle fallen, und begann schnell mit dem Fuß auf den Boden zu tippen. Auch wenn sie es selbst beschlossen hatte, es machte sie schier verrückt, dass sie das Haus nicht verlassen konnte, während ihre Freunde nach ihrer Mutter suchten. Erst nach einem strengen Blick Yanas hielt sie den Fuß still, und fragte: "Also, was willst du wissen?"
Yana setzte sich ihr gegenüber, vor sich auf dem Tisch eine Tasse mit einem dampfend heißen Getränk. Viele Bewohner Qafsahs taten das, doch Narissa hatte nie verstanden, wie man in diesem Klima auch noch heiße Sachen trinken konnte. "Deine Freundin Aerien... kommt sie wirklich aus Mordor?" Das letzte Wort flüsterte sie beinahe, und Narissa nickte langsam, während sie unbehaglich mit der Kette um ihren Hals spielte. "Ja, sie stammt ursprünglich aus diesem Land aber... sie gehört dort nicht hin. Sie hat es verlassen, und kämpft jetzt gegen alles, was dort herkommt."
Yana wirkte nicht vollständig überzeugt. "Und vertraust du ihr? Ich meine, vollständig?" Vor wenigen Tagen hätte Narissa vielleicht noch einen winzigen Augenblick gezögert, doch jetzt antwortete sie augenblicklich: "Ja, bedingungslos. Als der Kopfgeldjäger Abel mich gefangen hatte, ist sie mir durch halb Harad gefolgt um mich zu befreien - obwohl wir uns nicht lange kannten, und ich am Abend zu vor sehr unschöne Dinge gesagt habe. Und als ich das hier bekommen habe", sie zog mit zwei Fingern ihre Narbe nach, "hat sie mich auf ihr Pferd gehoben und unter Lebensgefahr in Sicherheit gebracht."
"Warum?", fragte Yana nur, und Narissa stockte. "Ich... weiß es nicht. Ich habe ihr mit Sicherheit keinen Grund dafür gegeben..." Einen Augenblick starrte sie ins Leere, bevor sie weitersprach: "Es ist aber auch nicht wichtig, warum sie es getan hat, sondern dass sie so gehandelt hat. Sie war bei mir, bis meine Wunde verheilt war, und sie hat mich hierher begleitet, obwohl sie dagegen war und ich ihr allen Grund gegeben habe, zu gehen."
Yana sagte nichts, und für einen Moment senkte sich Schweigen über den Raum während Narissa nachdachte. Schließlich meinte Yana: "Ich wollte nicht misstrauisch klingen. Es ist nur so... reine Freundlichkeit und Güte sind mir in den letzten Jahren so selten begegnet, dass ich beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlt. Ich hatte erst vor, euch zu verraten", schloss sie so ruhig, dass Narissa einen Augenblick brauchte, um das gesagte zu begreifen.
"Du hattest vor uns..." "... zu verraten, richtig", beendete Yana den Satz für sie. Sie breitete die Hände aus. "Schau nicht so überrascht, Nissa. Du hast doch gestern selbst gehört, wie meine Lage hier ist. Um ehrlich zu sein, wollte ich es gestern bereits tun, doch als es soweit war... konnte ich nicht. Und nach dem Gespräch von gestern Nacht, werde ich es auch auf keinen Fall mehr tun. Ich werde der einzigen Freundin, die ich in Mittelerde noch habe, niemals schaden."
"Was haben sie mit dir gemacht?", flüsterte Narissa. Sie erinnerte sich an Yana, wie sie als Kind gewesen war - immer fröhlich, immer zu einem Abenteuer bereit, und immer an der Seite ihrer Freunde. Von diesem Kind schien nicht allzu viel übrig zu sein. Yana lächelte ihr trauriges Lächeln, dass Narissa beinahe das Herz brechen wollte. "Das Leben hat mich gebrochen, könnte man sagen", antwortete sie, und wirkte dabei viel älter als sie eigentlich war. "Ich finde irgendwo einen Ort für dich. Einen Ort, an dem du Frieden finden und heilen kannst", sagte Narissa, und Yanas Augen glänzten verdächtig, als sie erwiderte: "Ich weiß nicht, ob es einen solchen Ort in Mittelerde gibt."
Nur wenig später kehrten Elendar und Serelloth von ihrer Suche zurück, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte und sich die Straßen in der Mittagshitze leerten. "Wir haben ein bisschen herumgefragt, was das zerstörte Gasthaus angeht", berichtete Elendar. "Unauffällig natürlich, als wäre wir einfach nur Reisende, denen die Ruine aufgefallen ist", ergänzte Serelloth. "Die Leute reden offenbar nicht gerne darüber. Aber wir haben erfahren, dass der Besitzer vor etwa zwölf Jahren öffentlich hingerichtet wurde bevor der Halbmond niedergebrannt wurde."
Narissa nickte mit trockenem Mund. Das deckte sich mit dem, was Elyana ihr damals erzählt hatte, doch der Gedanke daran, wie Yaran von Suladâns Männern auf den großen Platz gezerrt worden war, bevor man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, war nach wie vor schmerzhaft. Bevor Serelloth weitersprechen konnte, kehrte auch Aerien von ihrem Erkundungsgang zurück, und klopfte sich den Straßenstaub von den Schuhen. Auf Narissas fragenden Blick hin sagte sie: "Nichts. Höchstens einer von zehn Leuten hier scheint eine verständliche Sprache zu sprechen, und die mit denen ich gesprochen habe, wussten nichts."
"Dafür haben immerhin wir etwas herausgefunden", warf Serelloth ein wenig triumphierend ein, und Aerien warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Narissa erkannte erleichtert, dass ihre Freundin inzwischen über ihre Begegnung mit dem Nazgûl hinweggekommen zu sein schien, auch wenn sie sich sicher war dass Aerien ebenfalls die nagende Angst am Rande ihres Bewusstseins verspürte. "Nun...", fuhr Elendar etwas verlegen fort. "Jedenfalls haben wir weiter gefragt, und es geht das Gerücht um, dass die Frau des Gastwirtes in den Palast verschleppt wurde und seitdem hat sie niemand wieder gesehen. Wenn deine Mutter also tatsächlich noch am Leben sein sollte, ist sie dort."
Narissa stieß angespannt die Luft aus. Sie hatte nicht wirklich mit etwas anderem gerechnet, doch nun war es klar: "Wir müssen also in den Palast. Hat jemand eine Idee?"
Für einen Augenblick herrschte Schweigen, bis Serelloth sich an Aerien wandte: "Bist du nicht in so etwas ausgebildet, 'Rien? Höfisches Benehmen und so?"
"Schon, aber...", begann Aerien, und verzog das Gesicht. Narissa wusste, woran sie dachte, und auch Serelloth schien begriffen zu haben. "Und wenn sich dieser Schwarze Reiter zeigt", sagte die junge Waldläuferin aufmunternd, "zündest du ihn einfach an."
"Ich... weiß nicht", sagte Aerien, und suchte kurz Narissas Blick. "Ich muss darüber nachdenken."
"Falls du dich dazu entschließt es zu tun, finde ich einen Weg, dich an den Sultanshof zu bringen", warf Yana, die bislang geschwiegen hatte, ein. "Es gibt den ein oder anderen Adligen, der mir vielleicht einen kleine Gefallen tun würde..."
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