Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad
Qafsah
Fine:
"Halt das mal, ja?" bat Aerien, die vor Yanas großem Spiegel stand und nichts als ein leichtes Tuch, das sie um ihren Körper gewickelt hatte, trug. Sie hatte sich mit Wasser gründlich gewaschen, das Elendar und Serelloth aus einem nahen Brunnen geholt hatten, und die angenehme Kühle war ihr in der Hitze des anbrechenden Sommermittags gerade recht gewesen. Ihre schwarzen Haare hingen feucht glänzend über Hals und Rücken hinunter, und Aerien begann, sie mit oft geübten Handgriffen zu einer aufwändigen Frisur aufzutürmen, bei der Flechtkünste ebenso vonnöten waren wie geschicktes Hochstecken und Zusammenbinden. Ungeduldig streckte sie Narissa, die mit einem relativ beeindruckten Gesichtsausdruck neben ihr stand, das Fläschen mit dem Duftmittel entgegen, dass Yana irgendwo aufgetrieben hatte. Narissa nahm den Gegenstand aus Aeriens Hand und sah zu, wie ihre Freundin ihr Haar in eine Form brachte, die sie augenscheinlich kaum für möglich gehalten hätte.
Nachdem es Serelloth und Narissa durch viel gutes Zureden gelungen war, Aerien davon zu überzeugen, sich am Abend in den Palast zu geben, hatte es nicht lange gedauert, bis Aerien in einen Zustand konzentrierter Betriebsamkeit verfallen, der sie selbst ein wenig überrascht hatte. Doch nun, da die die Entscheidung gefallen war, stellte sie sich den Anforderungen, die die Aufgabe, in den Sultanspalast einzudringen, mit sich brachte. Sie würde alles, was ihre Mutter sie jahrelang über das Verhalten bei Hofe gelehrt hatte, anwenden müssen, um ihre Tarnung nicht auffliegen zu lassen und dabei Informationen über den Verbleib von Narissas Mutter herauszufinden. Yana würde ihr eine Gelegenheit verschaffen, ins Innere des Komplexes zu gelangen, doch ab da würde Aerien auf sich allein gestellt sein. Sie hatte nicht nachgefragt, weshalb Yana einen ungewöhnlich großen Vorrat an Schminke besaß, doch auch dieser Zustand kam Aerien zugute. Sie hatte eine Rolle zu spielen, und um dabei Erfolg zu haben, würde sie entsprechend aussehen müssen und ein passendes Verhalten an den Tag legen.
Als die Frisur fertig geformt worden war, betrachtete Aerien sich kritisch im Spiegel. Sie erinnerte sich noch gut daran, die Handgriffe tausende Male geübt zu haben, so lange, bis sie sie im Schlaf hätte machen können. Ihre Mutter war in dieser Hinsicht äußerst streng gewesen. Sie ließ sich von Narissa die unterschiedlichsten Dinge aus Yanas Vorrat reichen und ihr entging nicht, dass Narissa durchaus beeindruckt von Aeriens Geschicklichkeit zu sein schien. Vielleicht hatte sie bisher nicht so oft die Gelegenheit, sich mal so richtig hübsch zu machen, dachte Aerien, und nahm sich vor, ihrer Freundin eines Tages die Gelegenheit dazu zu geben. Vielleicht, wenn die Sache in Qafsah vorbei ist. Sie färbte ihre Lippen in einem zarten Rotton, der mit ihrer Hautfarbe harmonierte, und zog die Konturen ihrer Augen mit dem kleinen Kohlestift nach, den sie bei Yanas Sachen gefunden hatte. Dann verdunkelte sie mit der Schminke ihre Augenlider und den Zwischenraum zwischen Brauen und Auge, und stellte mit einigen zielsicheren Scherenschnitten sicher, dass ihre Augenbrauen die korrekte Form besaßen. Zuletzt tauchte sie ihre Fingerspitzen in die rote Tusche und tupfte vorsichtig etwas Röte auf ihre Wangen. Prüfend starrte sie in den Spiegel, und war schließlich zufrieden.
"Gut," sagte sie und schaute zu Narissa hinüber. "Ich denke, das geht. Zuhause hätte ich noch mehr Möglichkeiten gehabt, aber ich denke, für heute muss ich mit dem arbeiten, was ich zur Hand habe."
"Das sieht... wirklich schön aus," sagte Narissa etwas betreten. Aerien wurde klar, dass die Schminke ihr Aussehen wohl mehr verändert hat, als Narissa es womöglich erwartet hatte, und sagte daher: "Ich bin immer noch ich, auch wenn ich eine andere Ausstrahlung habe," sagte sie und strich über Narissas Schulter. "Reichst du mir das Kleid, bitte? Und... dreh dich um, ja?" Sie wusste nicht recht, warum sie den letzten Satz hinzugefügt hatte. Irgendetwas in ihrem Inneren brachte sie dazu, das Aerien noch nicht ganz verstand. Narissa hingegen nickte und reichte ihr das Kleid, das über einem Stuhl in der Nähe hing. Gehorsam drehte sie sich um und Aerien ließ das Tuch fallen. Schnell zog sie sich um und prüfte, ob alles korrekt saß, dann tippte sie ihrer Freundin auf die Schulter. "Also," sagte sie, zu gleichen Teilen zuversichtlich und seltsamerweise mit einem Anflug von Aufregung. "Wie seh' ich aus?"
Das schwarze Kleid war tief ausgeschnitten und von silbrigem Stoff durchsetzt, der, je nach Lichteinfall, aussah, wie ein dunkler, nur von Sternen erhüllter Nachthimmel. Die Ärmel waren lang und liefen in weite, herunterhängende Enden aus, die erst auf der Höhe von Aeriens Oberschenkeln endete. Ab ihrer Hüfte wurde das Kleid etwas weiter, im oberen Teil war es relativ eng. Sie wusste nicht recht, wie wohl sie sich bei der Feststellung fühlte, dass der Händler Sahír, der ihr das Kleid geschenkt hatte, ihre Körpermaße sehr genau abgeschätzt hatte.
"Es ist wunderschön," sagte Narissa leise, mit einem seltsamen Klang in der Stimme, und Aerien ertappte sich dabei, einen leichten Stich der Enttäuschung zu verspüren, da Narissa offensichtlich das Kleid meinte. "Du siehst wie verwandelt aus," fügte Narissa hinzu.
"Eines fehlt noch," sagte Aerien und schluckte das, was sie wirklich sagen wollte, herunter. Sie drehte Narissa den Rücken zu und reichte ihr die Kette mit dem Sternenanhänger. "Hilfst du mir mal eben?" bat sie, und Narissa legte ihr die Kette um den Hals. Der Anhänger war angenehm kühl und passte genau in den Raum zwischen Aeriens Halsansatz und dem oberen Saum des Kleides, der eine geschwunge Kurve von ihrer Schulter zur anderen formte.
Serelloth platzte herein und rief begeistert: "Du siehst so schön aus!", was Aerien mit einem etwas gezwungenen Lächeln quittierte. Sie hatte noch eine letzte Bitte an Narissa.
"Leihst du mir deinen Dolch, nur für heute Abend?" bat sie.
Narissa zog das Erbstück hervor. "Aber gib darauf gut acht," sagte sie und reichte Aerien die Waffe samt Halterung, die Aerien später an ihrem Oberschenkel verborgen zu tragen plante.
"Das werde ich," versprach sie.
Kurz darauf war es Zeit, aufzubrechen. "Sei vorsichtig!" rief Serelloth Aerien nach, als sie, geführt von Yana, das Haus verließ. Narissas Freundin als Kindheitstagen führte Aerien durch einige kleinere Gassen bis zu einem der Seiteneingänge, wo bereits ein haradischer Würdenträger auf sie wartete. Offensichtlich schuldete der Mann Yana einen Gefallen, denn er warf nur einen kurzen Blick auf Aerien und stellte keine Fragen. Die Wachen, die den Eingang aufmerksam beobachteten, schienen entweder ebenfalls instruiert zu sein, oder sahen nichts Alarmierendes an der Sache, sodass Aerien dem Mann, der sich im Gehen als Hazin vorstellte, problemlos ins Innere des Palastkomplexes folgen konnte. Unterschwellig spürte sie die Anwesenheit des Ringgeistes, doch sie verdrängte die Furcht so gut es ging. Sie konnte es sich jetzt nicht erlauben, sich ablenken zu lassen. Als sie in die große Halle des Palastes kamen stellte Aerien fest, dass sie beinahe vollständig mit Gesandten, Adeligen und anderen Würdenträgern gefüllt war. Hazin verabschiedete sich von ihr und verschwand in der Menge. Nun galt es, an Informationen zu gelangen.
Sie stellte rasch fest, dass die Anwesenheit der meisten Hofgäste mit dem Krieg zu tun hatte, der in Harad zwischen den Loyalisten Sûladans und den Rebellen Qúsays ausgebrochen war. Aerien fand heraus, dass Sûladan einem Mann namens Amenzu al-Irat die Regierungsgeschäfte in Qafsah überlassen hatte, während er mit seinem Heer nach Norden zog. Und schon bald gelang es Aerien, sich ein Bild von dem Mann zu machen, denn Sûladans Statthalter, der die Menge einige Zeit vom erhöhten Sitz am Ende der Halle beobachtet und mit einigen Bittstellern gesprochen hatte, mischte sich schließlich unter die Menge - und stand mit einem Mal überraschend direkt vor ihr, den Blick auf das ihm unbekannte Gesicht gerichtet.
Er gab sich freundlich, doch Aerien sah, wie er mit einer unmerklichen Handbewegung Diener entsandte, die in der Tarnung der Leute um sie herum aufstellten. "Ich grüße Euch, meine Dame," sagte Amenzu und stellte sich vor. "Darf ich Euren Namen erfahren?" fragte er und fuhr dann mit einem etwas schärferen Ton fort: "Und, was ihr hier tut."
Aerien atmete innerlich tief durch. Jetzt würde sich zeigen, ob ihre Ausbildung etwas wert war oder nicht. Sie legte einen etwas arroganten Unterton in ihre Stimme und sagte: "Ich bin Azruphel von Durthang, Gesandte des Bar n'Adûnâi - der zufällig auch mein Vater ist."
"Ihr seid die Tochter Varakhôr Adûnphazâns?" wiederholte Amenzu vorsichtig, und stellte damit klar, dass er über die Ränge der Schwarzen Númenorer gut Bescheid wusste.
"In der Tat," bestätigte Aerien und beschloss, die Scharade bis zum Ende durchzuziehen. Wenn der Ringgeist wirklich nicht ihretwegen in Qafsah war - wie Narissa ihr erneut eingeschärft hatte - dann bestand Hoffnung, dass die Nachricht von ihrer Flucht aus Mordor noch nicht durch die Wirren des haradischen Bruderkrieges bis nach Qafsah gedrungen war.
"Nun gut," sagte Sûladans Statthalter ungerührt. "Dürfte ich erfahren, welchen Grund Euer Besuch hat, und weshalb Ihr Euch nicht bei mir oder meinem Herrn angekündigt habt?"
"Ich bin wegen einer Familienangelegenheit hier," spann Aerien ihre Geschichte. "Vielleicht habt Ihr bereits davon gehört, dass vor einigen Wochen die Mutter des Königs Músab von Kerma auf der Durchreise durch das Gebiet von Qafsah ermordet wurde."
Amenzu al-Irat zeigte keine Regung bis auf ein kleines Nicken. "Ja, wir haben davon erfahren."
"Dann wisst Ihr auch, dass vermutet wird, dass sich besagter König Músab den Rebellen Qúsays angeschlossen hat, und in Mordor wird vermutet, dass die Ermordung seiner Mutter der entscheidende Grund war, der ihn dazu brachte, diese Wahl zu treffen."
"Das ist nur eine von vielen möglichen Theorien," gab der Herr von Qafsah zurück. "Was hat all dies mit Eurer Familie zu tun, Herrin Azruphel?"
"In Durthang wurde vor kurzem ein großer Verrat aufgedeckt," begann Aerien, die beschlossen hatte, ein großes Wagnis einzugehen. "Ein Mitglied meiner Familie ist desertiert und nach Süden gereist, und ich folge nun den Spuren dieser Person. Es besteht der Verdacht, dass Músabs Mutter - die im Übrigen ebenfalls aus Durthang stammte - absichtlich ermordert wurde, und zwar von dem Verräter, von dem ich sprach, um Kerma in Qúsays Arme zu treiben."
"Ein äußerst hinterlistiger Plan," stimmte Amenzu etwas zögerlich zu, doch Aerien sah an den winzigen Regungen seines Gesichtes, dass er ihre Geschichte zu glauben begann. "Nun, ich werde natürlich einer Botin aus Mordor so gut ich kann, behilflich sein. Doch sicherlich wisst Ihr, meine Dame, dass bereits ein Abgesandter des Großen Gebieters hier ist, und das bereits seit geraumer Zeit?"
"Der Ringgeist ist hier, um dem Krieg zu überwachen und sicherzustellen, dass euer Sultan nicht auf falsche Gedanken kommt," sagte Aerien eiskalt und bedrohlich. Sie war froh, dass Narissa sie jetzt gerade nicht sehen oder auch nur hören konnte. "Das wisst Ihr ebensogut wie ich. Er hat keine Zeit für solch triviale Aufgaben wie die, mit der mein Vater mich betraut hat."
"Ich verstehe natürlich," antwortete Amenzu, der unbewusst begonnen hatte, sich nervös die Hände zu reiben - ein weiteres Zeichen dafür, dass Aeriens Täuschung funktionierte. "Doch weshalb die Heimlichtuerei?"
"Es gibt einige schwarze Númenorer in Harad, deren Loyalität nicht mehr vollständig bei Mordor liegt," erklärte Aerien und senkte die Stimme. "Sicherlich habt ihr schon von Aglazôr und seinem Sohn Karnuzîr gehört?"
"Karnûzîr Wüstenklinge? Er ist ein treuer Söldner meines Herrn!" stellte der Statthalter klar.
"Nun, das mag inzwischen so sein, aber mein Vater hat mir äußerste Geheimhaltung befohlen," sagte Aerien. "Ich konnte mich nicht einfach ankündigen, ohne dass der Mörder der Königinmutter von Kerma davon erfahren hätte. Das versteht Ihr doch, oder?"
"Sicher, sicher," antwortete Amenzu. "Nun, Herrin, wie darf ich Euch bei Eurer Aufgabe behilflich sein?"
"Zunächst möchte ich darum bitte, mit Euch unter vier Augen zu sprechen, wenn es Eure Zeit erlaubt," begann Aerien. "Gibt es vielleicht einen Ort, wo wir ... ungestört sein können?" Sie betonte das letzte Wort und hoffte, dass Sûladans Truchsess darauf anspringen würde.
"Gewiss," sagte dieser und sein Gesicht, dass zwischendurch etwas bleich geworden war, bekam wieder mehr Farbe. "Gebt mir eine halbe Stunde, um mit den wichtigsten Bittstellern und Boten zu spreche. Ich werde ein privates Zimmer vorbereiten lassen."
Kurz darauf hatte ein Bediensteter Aerien in ein Gemach geführt, das einen großen Balkon besaß. Die Terasse ging nach Norden, und zeigte daher von der Stadt weg, an deren Nordende der Palast etwas erhöht auf einer künstlichen Anhöhe stand. Eine sanfte Brise wehte durch die warme Abendluft, und Aerien trat nachdenklich an das Geländer. Sie stützte sich mit beiden Armen darauf ab und fragte sich, wie es Narissa und den anderen wohl gerade ging. Ob sie sich Sorgen macht? fragte sie sich. Aerien ließ den Blick über das dunkle Land schweifen, das sich vor ihr ausbreitete, und sah zu, wie die ersten Sterne am Himmel auftauchten und sich auf den Wassern des Harduin spiegelten, der nördlich der Stadt vorbeifloss. Als sie dem Fluss folgte entdeckte sie eine Ansammlung von Gebäuden und Anlagen, bei dem es sich wohl um den Hafen von Qafsah handeln musste. Aerien richtete den Blick nach Nordwesten, und entdeckte jein Stück jenseits des Hafens, aber immer noch am diesseitigen Ufer des Flusses, eine kleine Festung, deren Zweck sich ihr nicht ganz erschloss. Ehe sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, erklang hinter ihr ein höfliches Räuspern. Aerien drehte sich anmutig um und fand Statthalter Amenzu vor, der zwei gut gefüllte Weingläser in Händen trug und ihr eines der beiden reichte.
"Wie aufmerksam von Euch," sagte Aerien mit falscher Dankbarkeit. Sie war sich natürlich ihrer Ausstrahlung bewusst und hoffte, dass auch der gewagte Schnitt ihres Kleides seine Wirkung nicht verfehlen würde.
"Nun, ich halte mich für einen Mann, der weiß, wie mit einer Dame von Eurem Stand umzugehen ist," sagte er galant und bot ihr den Arm an. Aerien hakte sich unter und ließ sich zurück zum Geländer führen.
"Dieser Eindruck scheint mir zutreffend zu sein," hauchte sie und nahm einen Schluck von dem Wein.
"Das hatte ich gehofft," antwortete Sûladans Statthalter. "Wie darf ich Euch behilflich sein, Herrin Azruphel?"
"Ich hätte gern uneingeschränkte Zugang zum Palast," forderte sie. "Aber keine Sorge. Sûladan kann seine Geheimnisse behalten, ich habe kein Interesse daran, in jede Ecke zu schauen. Mir würde es reichen, mir die Verliese anzusehen."
"Die Verliese?" wiederholte Amenzu mit gerunzelter Stirn. "Was könnt Ihr dort wollen?"
"Das ist eine etwas delikate Angelegenheit," flüsterte Aerien und hoffe, dass der Wein ihre Wangen rötete. "ich möchte Euch nicht mit unwichtigen Details belasten."
"Oh, das tut Ihr nicht, meine Dame," beschwichtigte Amenzu. "Ihr könnt mir voll und ganz vertrauen. Ich komme Euch sogar entgegen und spreche es für euch aus: Ihr seid eine vielbeschäftigte Frau, die ab und zu etwas... Entspannung benötigt, nicht wahr?"
"So weit habt Ihr vollkommen recht," bestätigte Aerien, gespannt darauf, ob er ihren Köder geschluckt hatte.
"Wir haben hier natürlich nicht die selben Foltermethoden wie in Mordor," fuhr er fort, "doch ich denke, Ihr seid kreativ genug um eure Bedürfnisse zu decken." Ein wissendes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, und Aerien dachte: Hab ich dich.
"Ihr seid ein scharfsinniger Mann," sagte sie mit einem gespielten bewundernden Blick. "Hattet Ihr bereits mit den Adûnâi zu tun?"
Amenzu al-Irat nickte bestätigend. "Es war Euer eigener Bruder Balakân, der Erbe von Durthang, der uns vor gar nicht allzu langer Zeit beehrte und mich lehrte, was Euer Volk zur... Entspannung benötigt."
Balakân war hier? schoss es Aerien durch den Kopf, doch sie schob den Gedanken fürs Erste beiseite "Denkt daran, dass diese... Eigenschaft... nicht auf alle meines Volkes zutifft," stellte sie richtig.
"Aber auf Euch," schlussfolgerte er, und Aerien nickte. "Nun, dann will ich sehen, was sich machen lässt, Herrin. Seht Ihr die Burg im Nordwesten, zur Rechten des Hafens? Dort bewahrt der Sultan seine wichtigsten Gefangenen auf - im Palast stehen derzeit alle Zellen leer."
Im Palast gibt es keine Gefangenen? Das muss bedeuten, dass Narissas Mutter in dem Gefängnis außerhalb der Stadt sitzt... dachte Aerien. "Ich weiß, Ihr seid sicherlich etwas enttäuscht," sagte Amenzu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Doch Ihr würdet in der gesamten Stadt zurzeit kein Opfer finden, das Euch zufriedenstellen würde - in den Verliesen der Stadtwache sitzen nur Kleinkriminelle und andere Unruhestifter, die bereits bei der Androhung von Schmerzen nachgeben. Ihr sucht widerstandsfähigere Subjekte, nicht wahr?"
"Das wäre wünschenswert," bestätigte Aerien kalt. "Besteht die Möglichkeit eines Besuchs in der Anlage außerhalb der Stadt?"
"Es ließe sich einrichten, jedoch zu meinem Bedauern nicht mehr heute," antwortete Amenzu. "Kommt in den kommenden Tagen am Vormittag zu mir und ich werde sehen, was sich machen lässt."
"Also gut. Ich bin euch dankbar für die Hilfe. Sprecht mit niemandem darüber, wenn Ihr nicht den Zorn meines Vaters auf Euch laden wollt!" fügte sie drohend hinzu.
"Das würde ich nicht wagen," gab Amenzu wahrheitsgemäß zu.
Nachdem Aerien einige weitere belanglose Höflichkeiten mit dem Statthalter ausgetauscht und ihm weiterhin den Eindruck, auf eine gewisse Weise an ihm interessiert zu sein, gegeben hatte, ließ sich Aerien zum Ausgang des Palastes bringen. Sie hatte erreicht, weshalb sie in den Palast gegangen war: Narissas Mutter befand sich nicht dort, sondern offenbar in dem Gefängnis Sûladans außerhalb der Stadt. Âls sie den Palast verließ verspürte sie noch einmal deutlich die Anwesenheit des Ringgeists und sah sich vorsichtig und mit unterdrückter Panik um - doch es war nichts zu sehen.
Nachdenklich machte sie sich auf den Rückweg zu Yanas Haus.
Eandril:
Sobald Aerien und Yana das Haus verlassen hatten, begann Narissa erneut unruhig auf und abzulaufen. "Sie kommt schon zurecht", sagte Serelloth schließlich beruhigend. "Aerien ist immerhin genau darin ausgebildet, niemand wird sie verdächtigen."
"Und wenn der Nazgûl sie findet?", fragte Narissa, und fuhr sich mit der Hand nervös durch die Haare.
"Das... ist dann ein kleines Problem", gab Serelloth langsam zu. "Aber wenn jemand damit fertig wird, dann Aerien - sie wird einfach eine Kerze auf ihn werfen oder so." Bei dem Gedanken musste Narissa trotz ihrer Sorge flüchtig lächeln. Serelloth besaß wirklich ein Talent dafür, Menschen aufzuheitern. Ein äußerst wertvolles Talent in diesen Zeiten, dachte Narissa bei sich.
"Ich weiß, es war meine Idee in den Palast zu gehen", erwiderte sie. "Und ich glaube auch eigentlich, dass Aerien es schaffen wird - aber trotzdem mache ich mir Sorgen."
"Hm", machte Serelloth, und blickte nachdenklich auf die Tür, durch die kurz zuvor Elendar den Raum verlassen hatte. "Genauso, wie ich mir Sorgen um Elendar machen würde."
"Nicht ganz genauso", meinte Narissa, aus irgendeinem Grund etwas verlegen. Sie dachte an den Moment, als Aerien schließlich in ihrem Kleid, fertig geschminkt und frisiert vor ihr gestanden hatte. Sie selbst hatte sich nie allzu große Gedanken über ihr eigenes Aussehen gemacht, und auch nie wirklich danach gehandelt. Sie hatte fast nie in ihrem Leben ein Kleid getragen, geschweige denn ein so schönes, wie Aerien es trug, und sich niemals selbst geschminkt - und dennoch schienen viele Männer sie anziehend und begehrenswert zu finden, Bayyin und Elendar waren der beste Beweis dafür. Das mochte sich nun geändert haben. Mit dem Zeigefinger zog Narissa die gebogene Narbe auf ihrer linken Wange nach. Die Narbenränder waren längst abgeschwollen und insgesamt etwas verblasst, und dennoch war sie weiterhin deutlich sichtbar. In den letzten Tagen hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr Haar mehr über die linke Gesichtshälfte fallen zu lassen, was die Narbe etwas verbarg - doch sie blieb weiterhin gut sichtbar, und Narissa wusste, dass sie für den Rest ihres Lebens entstellt bleiben würde.
Und als sie nun vorhin neben der fertig angekleideten Aerien gestanden hatte - der wunderschönen Aerien - hatte sie sich so unscheinbar gefühlt, wie nie zuvor. Und dennoch hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung keinen Neid verspürt, sondern nur Freude für Aerien. Und sie hatten den Anblick genossen.
Ihre Gedanken wanderten ein wenig, zu dem Moment als Aerien nach dem Waschen nur mit einem Handtuch bekleidet vor dem Spiegel gestanden und sich geschminkt hatte, und sie spürte sich selbst leicht erröten. Was ist los?
Narissa wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Yana durch die Haupttür des Hauses eintrat. Serelloth musste in der Zwischenzeit den Raum verlassen haben, und Narissa war ein wenig beschämt als sie feststellte, dass sie tief in Gedanken die Waldläuferin nicht hatte gehen hören. "Sie ist sicher im Palast angekommen", berichtete Yana zur Begrüßung. "Alles weitere liegt nicht mehr in meiner Hand."
"Danke", sagte Narissa leise, und presste die Lippen zusammen. Ihre Nervosität war ihr offenbar deutlich anzumerken, denn Yana setzte sich, faltete die Hände im Schoß und sagte: "Sie wird es schon schaffen. Nach dem was ich gesehen habe, weiß Aerien sehr genau, was sie zu tun hat."
"Das höre ich heute schon zum zweiten Mal", erwiderte Narissa mit einem schwachen Lächeln, und ließ sich Yana gegenüber auf einen Stuhl fallen. Ihre Freundin betrachtete sie prüfend.
"Sie bedeutet dir viel, nicht wahr?", fragte sie schließlich, und nach kurzem Zögern nickte Narissa. "Alles", sagte sie so leise, dass es beinahe ein Flüstern war. Ein seltener Moment der absoluten Ehrlichkeit, auch ihr selbst gegenüber.
"Ich verstehe - glaube ich", meinte Yana. "Vielleicht solltest du mit ihr reden, wenn sie wieder da ist."
Narissa hob ein wenig hilflos die Schultern. "Ich weiß nicht einmal, worüber."
"Ich glaube schon." Yana blickte sie fest an, doch Narissa wich ihrem Blick aus. "Wenn du den Mut findest..."
Narissa schüttelte den Kopf und atmete tief durch. "Mit Mut hat das nichts zu tun, ich weiß wirklich nicht wovon du sprichst." Sie stand auf und machte einen Schritt zur Tür hin. "Ich werde ein wenig spazieren gehen, ich brauche etwas Zeit für mich."
Yana nickte. "Natürlich. Aber halt dich am besten von den Hauptstraßen fern - und auch vom Palast."
Als Narissa von ihrem Spaziergang zurückkehrte, war Aerien noch immer nicht zurück. "Sie wird schon kommen", sagte Elendar, der mit Serelloth am Tisch saß und sich die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieb. "Es braucht einige Zeit, sich in einen Palast einzuschleichen und dir richtigen Informationen zu beschaffen." Trotz seiner Worte wanderten sowohl seine als auch Serelloths Augen immer wieder zur Tür. Eine weitere halbe Stunde verging, bevor es schließlich dreimal kurz hintereinander an der Tür des Hauses klopfte.
Narissa, die sich halbherzig an Serelloths und Elendars Spiel beteiligt hatte, sprang so schnell auf dass ihr Stuhl nach hinten umkippte, und war mit zwei langen Schritten an der Tür. Sie riss die Tür auf, und fiel der überraschten Aerien um den Hals. "Du hast es geschafft!"
"Langsam, langsam", erwiderte Aerien lächelnd, und löste sich aus der Umarmung. "Du weißt doch noch gar nicht, ob ich Erfolg hatte."
"Du bist ungesehen rein und wieder raus gekommen", meinte Narissa ein wenig atemlos und verlegen. "Das zählt schon als Erfolg."
"Es war nicht unbedingt leicht", sagte Aerien, während Narissa beiseite trat und die Tür hinter ihr schloss, und fügte mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: "Aber sogar fast ein bisschen aufregend. Ich glaube, Suladâns Stellvertreter mag mich."
Narissa schwieg, unsicher was sie bei diesen Worten fühlte, und so sagte Serelloth stattdessen: "Und wer könnte es ihm verdenken? Du siehst wirklich wundervoll aus."
Aerien errötete ein wenig, setzte sich und strich ihr Kleid mit einer anmutigen Geste glatt. Ihr ganzes Verhalten hätte an der Aerien, die Narissa bislang zu kennen geglaubt hatte, unnatürlich gewirkt - doch nicht jetzt. Jetzt wirkte es perfekt. "Ich habe tatsächlich etwas herausgefunden", berichtete Aerien, während Narissa sich auf dem Stuhl neben ihr niederließ. "Im Palast wird im Augenblick niemand gefangen gehalten. Die wichtigen Gefangenen befinden sich alle in einem Gefängnis nordwestlich der Stadt."
"Dann wird meine Mutter dort sein!", sagte Narissa aufgeregt. "Wir müssen nur..." Sie unterbrach sich, und sah Aerien an. "Danke, Aerien." Aerien erwiderte nichts, sondern lächelte nur.
"Wenn ihr in dieses Gefängnis gehen wollt...", begann Yana. "Ich... kenne den Verwalter." Sie wechselte einen unbehaglichen Blick mit Narissa, die als einzige im Raum wusste, auf welche Art Yana den Verwalter kannte. "Ich kann euch den Hauptschlüssel von ihm besorgen, aber alles andere müsst ihr selbst tun."
"Das wird nicht nötig sein", erklärte Aerien. "Ich konnte Statthalter Amenzu überreden, mir das Gefängnis zu... Entspannungszwecken zu zeigen." Sie wirkte verlegen, und Narissa drückte sanft ihre Hand. "Das bist nicht du", sagte sie. "Und das wissen wir alle." Nur wenig später hatten sie einen Plan gefasst: Am nächsten Vormittag würde Aerien zum Statthalter gehen, und sich von ihm zum Gefängnis führen lassen. Dort würden Narissa, Serelloth und Elendar zu ihr stoßen, als ihr Gefolge verkleidet, und Aerien würde Amenzu dazu bringen, auch diese mit in das Gefängnis einzulassen. Und sobald sie drinnen waren, würden sie improvisieren müssen - es war kein perfekter Plan, doch sie alle waren sich einig, dass er von allen Möglichkeiten die besten Erfolgsaussichten hatte.
Narissa hatte sich gerade in ihrem Bett ausgestreckt, um trotz ihrer Aufregung vor dem morgigen Tag ein wenig Schlaf zu finden, als Aerien vom unteren Bett her sagte: "Da gibt es noch etwas, was ich erzählen muss."
Narissa drehte sich auf die Seite, streckte den Kopf über die Bettkante hinaus und blickte hinunter zu Aerien, die sich am Kopfende ihres Bettes aufgesetzt hatte. "Bevor ich gestern dem... Nazgûl... begegnet bin, konnte ich ein interessantes Gespräch mithören", begann Aerien zu erzählen. "In meiner Aufregung habe ich es bislang völlig vergessen. Es waren ein Mann und eine Frau, die miteinander sprachen - offenbar kannten sie meinen Vetter Karnuzîr. Sie sprachen über einen Aufstand in Umbar, und darüber, dass der Erbe des Turms währenddessen dort gesehen wurde."
"Der Erbe des Turms?", fragte Narissa verwirrt. "Aber während ich dort war, gab es keinen... warte. Bist du dir sicher, dass sie der Erbe gesagt haben?"
Aerien nickte langsam. "Allerdings. Weißt du, von dem sie gesprochen haben könnten?"
"Nein...", sagte Narissa, doch in ihrem Kopf rasten die Gedanken. Sie hatte auf der Insel Geschichten von ihrem Onkel gehört, der nicht den Weg des Turmes einschlagen wollte und ihren Großvater im Stich gelassen hatte. Immer hatte sie angenommen, dass dieser tot sei... doch was wenn nicht? Was, wenn noch immer ein weiterer aus ihrem Haus am Leben war? Sie fühlte ihr Herz aufgeregt schneller schlagen. "Vielleicht ja", widersprach sie sich selbst. "Aber... ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Morgen ist der entscheidende Tag für unsere Aufgabe, und wir sollten etwas schlafen. Und danach... Danke, Aerien", sagte sie erneut.
"Wofür?", fragte Aerien, lächelte aber.
"Für alles."
Fine:
Mitten in der Nacht wachte Aerien auf. Sie hatte nicht geträumt - oder konnte sich vielleicht auch nur nicht an etwaige Träume erinnern - und konnte sich daher nicht erklären, weshalb sie erwacht war.
"Narissa," flüsterte sie leise, doch im oberen Bett regte sich nichts. Der Vollmond schien durch das offene Fenster herein und ließ das kleine Zimmer ungewöhnlich hell wirken. Aerien setzte sich nachdenklich auf. Sie dachte draüber nach, was am vergangenen Tag passiert war, und konnte nicht recht glauben, wie gut ihr Besuch im Palast abgelaufen war. Nicht nur war sie heil rein- und wieder herausgekommen, darüber hinaus hatte sie auch den wahrscheinlichen Aufenthaltsort von Narissas Mutter herausgefunden und einen Weg dorthin gleich mitgebracht. Doch anstatt eine beruhigende Wirkung zu haben löste diese gute Entwicklung eher Sorge in Aerien aus. Nithrar und Eayan haben uns nicht umsonst vor Qafsah gewarnt,, dachte sie. Und wir sollten nicht vergessen, dass einer der Neun sein Unwesen in der Stadt treibt. Sie glaubte zwar nicht mehr daran, dass der Schwarze Reiter ihretwegen in Qafsah war, doch sie fragte sich dennoch, wie lange sie ihre Tarnung aufrecht erhalten können würde. Sie hatte viel riskiert als sie Amenzu ihren wahren Namen verraten hatte. Es muss nur noch bis morgen funktionieren, dachte sie. Morgen abend sind wir hoffentlich schon weit weg von Qafsah... mit Narissas Mutter oder ohne.
Sie erhob sich und trat ans Fenster. Das leichte Nachthemd das sie trug, bewegte sich in der sanften Brise, die durch das Fenster drang. Aerien blickte hinaus auf die runde Scheibe des Mondes, der hoch über der Stadt stand. Man kann nie vorsichtig genug sein, dachte sie, und schloss das Fenster so leise wie möglich. Nahezu lautlos trat sie an das Bett und betrachtete die schlafende Narissa, deren Gesicht nun nicht mehr von den Mondstrahlen erhellt wurde. Aerien streckte eine Hand aus und fuhr vorsichtig und sanft über die Narbe unter Narissas Auge. Sie wusste, dass Narissa die Verletzung als Makel ansah. Aber ich tue das nicht, dachte sie. Trotz allem bist du schön, Narissa.
Etwas schloss sich um ihre Finger und Aerien zuckte überrascht zurück. "Was machst du da?" fragte Narissa schläfrig. Aerien war froh, dass es relativ dunkel im Zimmer war, denn sie lief so rot an wie noch nie und stammelte verlegen: "Ich wollte... nur sehen ob du... ob du schläfst."
Du dummes Mädchen! schrie sie sich selbst innerlich an. Jetzt wird sie dich für noch seltsamer als vorher halten!
"Ich glaube, ich bin wach," antwortete Narissa, die Aerien zu mustern schien. Aerien wurde sich bewusst, wie wenig sie trug, und legte verlegen die Hände um ihren Oberkörper.
"Am besten, wir versuchen wieder zu schlafen," brachte sie heraus.
"Das ist die beste Idee die du seit Langem hattest," murmelte Narissa, die sich offenbar schon wieder auf halbem Weg ins Reich der Träume befand.
Mit erhitzten Wangen und wie wild pochendem Herzen legte sich Aerien wieder hin und verkroch sich unter ihrer Decke, bis es ihr dort zu heiß wurde. Gnädigerweise kam der Schlaf nach wenigen Minuten über sie.
Am nächsten Morgen schien Narissa die ganze Sache vergessen zu haben, und Aerien fiel ein Stein vom Herzen. Yana hatte erneut (mit Elendars Geld) für Frühstück gesorgt, und alle schienen in bester Laune zu sein. Sie stärkten sich ausgiebig und gingen dann noch einnmal den geplanten Ablauf für ihr Eindringen im Gefängnis nordöstlich der Stadt durch. Aerien würde als erstes zum Palast gehen und sich entweder von Sûladans Statthalter höchstpersönlich zu der Burg bringen lassen, in der sie Narissas Mutter vermuteten, oder sich einen Freibrief (oder eine andere Zugangsberechtigung) geben lassen. Dann würde sie am östlichen Tor von Qafsah auf den Rest der Gruppe stoßen, und den Weg zum Gefängnis gemeinsam fortsetzen.
"Wenn wir erst einmal drinnen sind, muss es schnell gehen," sagte Narissa. "Ich nehme an, dass du dir einen Gefangenen für deine Zwecke aussuchen darfst?" fragte sie in Aeriens Richtung, die aus ihren Gedanken hochschreckte.
"Was? Äh - ja. Ich darf wählen, nehme ich an. Und ich werde mir einfach alle zeigen lassen. Oder soll ich direkt nach einer Frau fragen?"
"Ich denke, das solltest du tun," sagte Elendar. "Je weniger Zeit wir dort drinnen verbringen müssen, desto besser."
"Also gut," bestätigte Aerien. "Ich frage also nach einer Frau, und wenn deine Mutter unter denen ist, die man mir zeigt, was dann?"
"Dann improvisieren wir," entschied Narissa. "Vielleicht kannst du sie einfach mitnehmen. Wenn nicht... kämpfen wir uns den Weg frei."
"Ich hoffe, dazu kommt es nicht," sagte Yana.
"Wir werden sehen," meinte Narissa.
Nach dem Ende ihrer kleinen Besprechung wurde es für Aerien Zeit, sich erneut herauszuputzen. Da sie die gestrigen Handgriffe noch immer gut im Gedächtnis hatte, ging alles ein wenig schneller als am Tag zuvor. Aerien bemerkte, wie Narissa ihr aufmerksam zusah.
"Ich könnte dich auch mal so schön schminken, wenn du möchtest," schlug sie vor während sie die Kontur ihrer Augen sorgfältig nachzog und einen breiten schwarzen Rand darum legte. "Wir könnten dich richtig hübsch machen. Wir kaufen dir ein Kleid und ich zeige dir eine einfache, aber wunderschöne Frisur, und..."
Offenbar hatte sie etwas Falsches gesagt, denn Narissa verkniff das Gesicht und verschränkte die Arme. "Bin ich dir also nicht hübsch genug?" sagte sie mit spitzer Stimme.
Aerien hielt mitten in der Bewegung inne und setzte den Kohlestift ab. "Nein, so war das nicht gemeint, Narissa. Ich wollte nur..."
"Du wolltest mir sagen, dass die Narbe mich entstellt," beendete Narissa den Satz.
"Nein, das wollte ich nicht," verteidigte sie sich, obwohl sie sah, dass Narissa bereits zuzumachen begann. Aerien gab die Hoffnung nicht auf und sagte: "Ich habe gesehen, wie du die Schminksachen ansiehst. Ich wollte dir nur die Möglichkeit geben, auch davon Gebrauch zu machen. Ich könnte dir so viel zeigen! Mit keinem Wort wollte ich sagen, dass deine Narbe eine Entstellung darstellt. Ich finde, sie gibt dir etwas ... verwegenes."
Und tatsächlich schien sie zu Narissa durchzudringen, die die Arme sinken ließ. "Findest du, mir würde ein Kleid stehen?" fragte sie mit einem seltsamen Ton in der Stimme.
Aerien nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich den Anblick von Narissa in einem wunderschönen Kleid vorzustellen und sie stellte fest, dass ihre Wangen sich erwärmten. "Natürlich," sagte sie. "Du sähest wunderschön aus. Das... tust du auch jetzt schon."
Narissa antwortete nicht darauf, doch immerhin schien sie nicht mehr verärgert zu sein. "Wenn wir deine Mutter gerettet und in Sicherheit gebracht haben, darfst du meines anprobieren," versprach sie. "Und dann kaufen wir dir ein eigenes, ja?"
Die Antwort ihrer Freundin bestand aus einem zaghaften Nicken.
Eine halbe Stunde später stand Aerien vor den Toren des Palastes und traute ihren Ohren nicht.
"Er ist beschäftigt?" wiederholte sie die Aussage des Wächters, dessen Speer ihr den Weg versperrte.
"Meine Anweisungen lauten, Euch nicht hineinzulassen, Herrin," sagte der Mann, der Aeriens Ärger ohne daran schuld zu sein ertragen musste.
"Ich verlange, sofort mit dem Statthalter zu sprechen," forderte sie im Befehlston.
"Es tut mir Leid, Herrin," antwortete der Mann. "Ich darf Euch nicht hineinlassen. Der Statthalter ist heute sehr beschäftigt. Ich fürchte, Ihr müsst morgen wiederkommen."
Aerien sah ein, dass im Moment nichts zu machen war, und marschierte ärgerlich davon. Ich wusste ja, dass es zu gut für uns läuft. Und schon gehen die Schwierigkeiten los.
Sie ließ sich von der Menschenmenge, die die Straßen bevökerte, in Richtung des Tores, an dem sie ihre Freunde treffen sollte, treiben. Nach ungefähr hundert Schritten fiel ihr schließlich auf, dass sie offenbar verfolgt wurde: Drei Männer und eine Frau in unauffälliger haradischer Kleidung waren in einem losen Halbkreis stets hinter ihr geblieben und hielten einen stetigen Abstand von einigen Metern. Aereien wurde misstrauisch und bog in eine kleinere Straße ab. Und tatsächlich folgte ihr die Gruppe, selbst als sie einige weitere Ecken umrundete und schließlich wieder in die Nähe des Palasteingangs kam. Das ist gar nicht gut, schoss es ihr durch den Kopf. Sie beschleunigte ihre Schritte und stellte fest, dass ihre Verfolger sich an das neue Tempo anpassten. Zu ihrer Linken kam ein Gemüsemarkt in Sicht, und eilig steuerte Aerien darauf zu. Im dortigen Gedränge ließ sie sich ohen Vorwarnung neben einem großen Salatstand fallen und kroch auf Händen und Füßen unter die aufgestellten Waren, und von dort langsam und leise weiter bis zur Hauswand, an die der hölzerne Stand lehnte. Aus ihrem Versteck heraus beobachtete sie, wie die Verfolgergruppe sich aufteilte um nach ihr zu suchen. Also haben sie mich tatsächlich aus den Augen verloren, dachte sie zufrieden. Sie wartete noch eine Viertelstunde und strich den Dreck der Straße von ihrem Kleid. Dann zwängte sie sich zwischen der Mauer und dem Stand hindurch und ging geduckt über den Markt weiter, im Schatten der Menschenmenge.
Am Treffpunkt angekommen teilte sie den anderen die schlechte Nachricht mit.
"Dann müssen wir doch auf dein Angebot zurückkommen," sagte Narissa zu Yana. "Du kannst den Schlüssel doch besorgen, oder?"
"Ja, kann ich," sagte Yana, auch wenn sie dabei ein unbehagliches Gesicht machte. "Wartet hier auf mich, und gebt mir etwas Zeit. Es wird nicht allzu lange dauern." Damit verschwand sie in einer Seitengasse.
Sie mussten nur eine halbe Stunde warten, in der Aerien sich unaufälligere Kleidung anzog und ihr Schwert aus Yanas Haus holte. Sofort verfiel sie wieder in eine kampfbereite Haltung und legte das höfische Betragen ab. Jedoch blieb keine Zeit, die Schminke zu entfernen. Als Yana zurückkehrte war ihre linke Wange gerötet, doch sie hielt triumphierend den Schlüssel hoch.
"Bitte seid vorsichtig," sagte sie und wünschte ihnen viel Glück. Sich vorsichtig nach Verfolgern umsehend verließ die Gruppe schließlich die Stadt durch das östliche Tor.
Eandril:
Die Sonne begann erneut zu sinken, als vor ihnen das Gefängnis des Sultans auftauchte.
"Das ist es also", sagte Aerien, während sie auf dem Gipfel des eines flachen Sandhügels stehen blieben. Ein Stück vor ihnen erhob sich eine kleine Festung aus gelbem Sandstein am Ufer des Harduin. Das Gebäude besaß keine zusätzliche Außenmauer, sondern bestand im Grunde nur aus einem einzelnen, breiten Turm, mit kleinen Seitentürmen, der nach oben hin immer schmaler wurde.
"Sind alle bereit und wissen was sie zu tun haben?", fragte Narissa, und Elendar und Serelloth, die bereits die Kapuzen aufgesetzt hatten die ihre Gesichter verbergen sollten, nickten.
"Es wäre mir wirklich lieber, wenn zumindest Serelloth zurückbleiben würde", sagte Aerien, doch Serelloth widersprach ihr augenblicklich mit verschränkten Armen und zornfunkelnden Augen. "Ich bin den ganzen Weg mit euch gekommen, und ich werde jetzt nicht hier draußen bleiben, wie ein lästiges Gepäckstück. Außerdem kann ich auf mich aufpassen, ihr werdet es sehen." Sie stapfte verstimmt den Hügel hinunter, und Elendar eilte ihr betreten hinterher.
"Wer ist nun hier die Sture?", fragte Narissa leise, und lächelte in sich hinein. Als Aerien den anderen gerade folgen wollte, hielt Narissa sie aus einem Impuls heraus zurück. Auf ihrem Weg von der Stadt hierher hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt - über das, was Yana am gestrigen Abend zu ihr gesagt hatte, und vieles was Aerien heute und gestern gesagte und getan hatte. Vieles, was ihr Hoffnung machte, dass...
"Es gibt da etwas, das ich tun muss bevor wir gehen." Sie merkte, dass ihre Stimme ein wenig heiser klang, und warf einen kurzen Blick zu Elendar und Serelloth hinüber, die allerdings weiterhin in die andere Richtung blickten. Als sie sich wieder Aerien zuwandte, stand in ihren Augen Unverständnis. "Du kannst mich hinterher dafür hassen oder was auch immer du willst... aber sollte das hier schiefgehen und einer oder beide von uns sterben, würde ich es bereuen es nicht getan zu haben. Weißt du, ich..." Sie unterbrach sich, und lächelte schief. Die Nervosität war verschwunden, und sie wusste, was zu tun war. "Ich rede zu viel", sagte sie, trat einen Schritt näher, und küsste Aerien direkt auf den Mund.
Im ersten Augenblick zuckte Aerien ein winziges Stück zurück, doch dann rührte sie sich nicht vom Fleck. Sie erwiderte den Kuss nicht, verweigerte sich aber auch nicht, und in ihren grauen Augen spiegelten sich Schock, Überraschung und... vielleicht noch etwas anderes.
Narissa zog den Kopf zurück, ohne den Blick von Aeriens Gesicht abzuwenden. "Hm", sagte sie leise. "Das war doch nett." Sie warf einen Blick den Hügel hinunter, wo Serelloth und Elendar auf sie warteten und ihnen zum Glück den Rücken zugewandt hatten. "Also los", meinte sie zu Aerien, die sich noch immer keinen Fußbreit gerührt hatte. "Gehen wir meine Mutter retten."
"Mein Name ist Azruphel von Durthang", sagte Aerien mit gebieterischer, kalter Stimme zu dem Soldaten, der den Eingang des Gefängnisses bewachte. "Statthalter Amenzu al-Irat hat mir gestattet, mit meinem Gefolge das Gefängnis zu betreten."
Es war ein großes Risiko, dass sie eingingen. Aber es bestand die Möglichkeit, dass der Verdacht, den der Statthalter geschöpft hatte, noch nicht bis zum Gefängnis vorgedrungen war.
"Davon ist mir nichts bekannt", sagte der Wächter, doch er klang dabei zu Narissas Erleichterung nicht besonders misstrauisch. Sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick immer wieder magisch von Aeriens Hinterkopf angezogen wurden, und ihre Gedanken zu dem Moment auf dem Hügel wanderten... Konzentration, ermahnte sie sich selbst, gerade als Aerien den Gefängnisschlüssel aus der Tasche zog, und dem Wächter vor das Gesicht hielt. "Er hat mir diesen Schlüssel gegeben, und den Weg zum Gefängnis beschrieben. Reicht euch das nicht?"
"Tut mir leid, aber..." Der Wächter kam nicht weiter, denn Aerien unterbrach ihn mit so kalter Stimme, dass Narissa ein Schauer über den Rücken lief. "Willst du den Zorn Mordors über dich bringen, Narr? Ich habe dir gesagt wer ich bin!"
Der Wächter erbleichte, und trat einen Schritt zur Seite. "N-natürlich nicht, Herrin. Bitte."
Aerien schob den Schlüssel ins Türschloss, drehte ihn herum, und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken. Narissa atmete doppelt erleichtert durch - einerseits, weil Yana ihnen den richtigen Schlüssel gebracht hatte, und andererseits weil sie mit der Vermutung richtig gelegen hatte, dass Suladân seine besten Männer in den Krieg geführt hatte, und die Wächter zu den weniger gut ausgebildeten gehörten.
Sie hatten erst einige wenige Schritte in den dunklen Gang zurückgelegt, als hinter ihnen die Tür ins Schloss fiel, und Narissa hörte, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
"Oh nein", flüsterte sie, und im selben Augenblick traten aus zwei beleuchtete Räumen zu beiden Seiten des Ganges gerüstete und bewaffnete Männer. Das Gesicht des Anführers kam Narissa bekannt vor, und ihre Narbe begann bei seinem Anblick zu kribbeln: Es war Karnuzîr. "Ratten in der Falle", sagte er. "Willkommen in Qafsah, Azruphel - und auch du, Sultanstochter." Sein Trupp versperrte Narissa und ihren Gefährten den Weg, und in diesem engen Gang würde ein Kampf sie lange aufhalten.
"Wie ich sehe, ist deine Wunde gut verheilt", fuhr Karnuzîr fort. "Ich weiß, wonach du hier suchst, und lass mich dir sagen: Du wirst deine Mutter finden - kurz bevor wir euch beide töten."
Die ganze Zeit hatte Narissa nach einem Ausweg gesucht, doch es gab keinen. Hinter ihnen war die verschlossene Tür und vor ihnen Karnuzîr und seine Männer - es gab kein Entkommen, und so entschloss sie sich bei Karnuzîrs letzten Worten das einzig mögliche zu tun. Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog sie eines ihrer Wurfmesser, und schleuderte es ihren Feinden entgegen. Die Klinge flog in einer schnurgeraden Linie durch den Gang und bohrte sich einem der Krieger tief in die Kehle. Der Mann griff sich verwirrt an den Hals, und brach regungslos auf der Stelle zusammen. "Nicht, wenn wir euch vorher töten", stieß Narissa hervor, zog ihre Dolche und griff an.
Nach einem winzigen Moment der Überraschung hatte auch Aerien ihr Schwert gezogen, und die Klinge sang als sie Karnuzîrs Schwerthieb parierte. Narissa tauchte unter dem Schlag eines der Krieger weg, bohrte ihm ihren Dolch in den Hals, und fuhr sofort herum um mit gekreuzten Klingen einen weiteren Schwerthieb abzuwehren. Ihr Gegner fiel, als Serelloth ihm ihr eigenes Schwert in den Rücken rammte. "Wenn die schon wissen, dass wir hier sind, sollten wir schnell machen", sagte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen, während Elendar sich in den Kampf stürzte und mit raschen Schwerthieben einen Gegner gegen die Wand drängte. "So im Kampf bin ich tatsächlich nicht zu viel nutze, aber ich bin schnell und schwer zu sehen. Ich werde mich unten umsehen." Narissa nickte ohne etwas zu sagen, und Serelloth quetschte sich an den Kämpfenden vorbei und verschwand offenbar ungesehen in den Gang hinter ihnen. Während sie vor einem mit einem Krummsäbel geführten Hieb zurückwich fragte Narissa sich unwillkürlich, ob das das letzte war, was sie von dem Mädchen sah.
Sie fällte ihren Gegner, in dem sie ihm beide Dolche gleichzeitig in den Hals rammte, und verschaffte sich in der kurzen Atempause die ihr blieb einen Überblick über den Kampf. Aerien kämpfte noch immer gegen Karnuzîr, während Elendar es mit gleich zwei Feinden aufgenommen hatte und ihnen mindestens ebenbürtig zu sein schien. Doch aus der einen Tür drängten mehr Feinde heran, und im nächsten Augenblick wurde Narissa von drei Gegnern durch die andere hindurch in einen weiteren Gang gedrängt, fort von ihren Freunden.
Sie wehrte sich verzweifelt gegen die unbarmherzig auf sie einprasselnden Hiebe, war jedoch gezwungen, Schritt für Schritt immer weiter zurückzuweichen. Sie hatte keine Zeit zu denken, keine Zeit Angst zu haben, nur um ihr Leben zu kämpfen. Schließlich gelang es ihr, ihren Gegnern einen verwaisten Hocker, auf dem vermutlich zuvor einer der Gefangenenwächter gesessen hatte, vor die Füße zu treten, und einen von ihnen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ohne zu zögern schlug sie zu, und der Mann stürzte mit einer klaffenden Halswunde zu Boden. Gegen zwei Feinde wurde der Kampf gleich deutlich leichter, und obwohl Narissa inzwischen Schweißtropfen den Nacken hinunterliefen gelang es ihr bald, sich auch ihrer beiden anderen Gegner zu entledigen.
Angestrengt keuchend blieb sie einen Moment stehen, sah sich um, und musste feststellen, dass sie keine Ahnung hatte wo sie sich befand, und wie sie zurück zu ihren Freunden gelangen konnte. Kurzentschlossen stieg sie über die Leichen der drei Männer hinweg, und wollte gerade den Weg entlanggehen, den sie gekommen war, als sie wie von einem Hammerschlag getroffen zurückprallte. Nur wenige Meter vor ihr bog Abels knochige Gestalt um die Ecke, und als er sie erblickte, verzerrte sein grässliches Lächeln sein totes Gesicht. "Ah, meine kleine Freundin. Ich dachte mir, dass ich dein liebliches Stimmchen gehört hatte."
Narissa spürte ihre Hände zittern, und packte ihre Dolche fester. "Was tust du hier?"
"Oh, der gute Karnuzîr und ich haben einen Weg gefunden uns zu einigen. Auf diese Weise bekommen wir beide", er zog mit einem scharrenden Geräusch sein Schwert, "was wir wollen. Also komm, Sultanstochter. Tanz mit mir, ein letztes Mal."
Narissa machte einen Schritt zurück, dann noch einen, dann wandte sie sich um und rannte. Sie rannte blindlings davon, von Panik ergriffen, egal wohin, denn sie konnte nicht gegen ihn kämpfen.
Schließlich, sie wusste nicht wie viele Treppen sie hinauf und hinunter und wie viele Gänge sie entlang gerannt war, blieb sie an einer Kreuzung stehen, von der drei Gänge abgingen. Sie blieb leise keuchend stehen, starrte in den Flur aus dem sie gekommen war, doch niemand war zu sehen. Stattdessen spürte sie plötzlich eine Schwertspitze, die gegen ihren Nacken gedrückt wurde.
"Lass die Dolche fallen, und dreh dich dann schön langsam um", sagte eine männliche Stimme in der Sprache von Qafsah, der Sprache ihrer Kindheit. Als sie nicht sofort reagierte verstärkte sich der Druck, und Narissa spürte einen Blutstropfen ihren Rücken hinunterrinnen. "Tu es...", sagte die Stimme, doch das letzte Wort ging in ein ersticktes Stöhnen übrig, und die Klinge in ihrem Nacken verschwand. Sofort fuhr Narissa herum, und sah sich Elendar gegenüber, der gerade sein Schwert aus dem Rücken des Wächters zog. "Gern geschehen", sagte er lächelnd, obwohl er aus mehreren Schnitten am ganzen Körper blutete, und einen blutigen Kratzer an der Schläfe hatte. "Hast du Serelloth gesehen?"
"Sie wollte in den Kellern suchen", erwiderte Narissa, und versuchte angestrengt ihren Atem zu beruhigen, der noch immer stoßweise ging, und Elendar verzog das Gesicht. "Dann bin ich also genau in die falsche Richtung gelaufen, großartig. Komm, wir sollten..." Er unterbrach sich, als Narissa die Hand hob. Aus dem Flur durch den sie gekommen war, hörte sie leise, gleichmäßige Schritte, und im selben Moment kam Abel in Sicht, der so locker wirkte, als würde er lediglich einen Spaziergang unternehmen. "Ich kann nicht gegen ihn kämpfen", stieß Narissa hervor. "Ist das dieser Kopfgeldjäger, von dem du erzählt hast?", fragte Elendar, und zog die Augenbrauen zusammen.
"Ja", antwortete sie, und erzitterte bei dem Anblick von Abels Gesicht. "Wenn du nicht kannst, werde ich es tun", sagte Elendar entschlossen, hob sein Schwert und schob sich zwischen sie und Abel. "Du bist nicht die einzige, die auf der Insel ausgebildet wurde. Wenn du kannst, kämpf mit mir - wenn nicht, lauf. Und grüß Serelloth von mir, wenn ich es nicht mehr kann."
Für einen Moment war Narissa unentschlossen, doch nach einem Blick in Abels Augen überwältigte sie die Panik erneut, und sie rannte los, während hinter ihr das Geräusch von Stahl auf Stahl erklang. Nicht in den Gang, aus dem Elendar gekommen war, sondern in den dritten - was sich als Fehler erwies, als sie um eine Ecke bog und feststellte, dass sie in eine Sackgasse geraten war, an deren Ende der Mond durch ein einzelnes Fenster herein schien. Narissa stieß einen Fluch aus, fuhr herum und wollte gerade zurücklaufen, als Elendar um die Ecke getaumelt kam. Er war blutbespritzt, stolperte, schlug lang hin und rührte sich nicht mehr. Über ihn hin weg stieg Abel, das blutige Schwert in der Hand. "Der junge Mann hat ins Gras gebissen", sagte er gleichmütig, ohne den Blick von Narissa abzuwenden, die langsam zurückwich. "Ich hoffe, du lieferst mir einen besseren Kampf."
Narissa wich immer weiter zurück, und blieb erst stehen, als sie mit dem Rücken gegen den Fenstersims stieß. Sie atmete tief durch, packte beide Dolche fester, und begriff. Es musste so sein, es gab keinen Ausweg. Kein Loch, in das sie kriechen konnte, niemand, der zwischen ihr und Abel stand. Es gab nur noch sie und ihn, und einer von ihnen würde hier sterben.
"Erinnerst du dich an das, was ich dir beigebracht habe?", fragte Abel, während er näher kam. Seine Lektionen waren immer schmerzhaft gewesen, und sie waren Narissa im Gedächtnis geblieben. "Ich erinnere mich an alles", erwiderte sie ruhig, und dann begann der Kampf.
In vielem ähnelte er dem Kampf vor dem Gasthof in der Nähe von Aín Sefra, doch dieses Mal war Abel nicht schneller als sie. Damals hatte sie wütend gekämpft, und obwohl auch dieses Mal der Zorn in ihr tobte, zwang sie sich zur Ruhe. Sie dachte an Aerien, und das Gefühl, als sie sie geküsst hatte, und an alles, wofür sie überleben musste.
Schließlich holte Abel weit aus zum Schlag, wie bei Aín Sefra, doch dieses Mal nutzte Narissa die Gelegenheit nicht, bezwang ihren Hass. Ich verstehe, dachte sie. Manchmal musste man nachgeben, um zu gewinnen.
Die Wucht seines eigenen, ins Leere gehenden Schlages brachte Abel ins Wanken, und im richtigen Moment schlug Narissa zu, ruhig und sicher. Beide Dolche bohrten sich tief in Abels Brust, und sein Schwert fiel klirrend zu Boden als er mit weit aufgerissenen Augen zurücktaumelte. "Du... du hast...", stieß er hervor, und Narissa zog ihm mit einer ausholenden Bewegung eine rote Linie über die Kehle. "Ich habe doch gesagt, dass ich mich an alles erinnere", sagte sie kalt, als Abel zu Boden stürzte und sein Atem schließlich erlosch. Sie stand über ihm und blickte ihm bis zum Ende ins Gesicht, damit er ihren Anblick mitnahm, wo immer er hinging.
Er jetzt bemerkte Narissa die vergitterte Zelle, die neben ihr vom Flur abging, und sie warf einen flüchtigen Blick hinein. Drinnen lag eine weibliche Gestalt, trotz des Kampfes offenbar friedlich schlafend, und Narissa glaubte, ihr Herz würde stehenbleiben. Obwohl das schwarze Haar grau und schütter geworden und das einst schöne Gesicht verwüstet und blass war, hätte sie es überall auf der Welt erkannt. In einer sonderbaren Fügung des Schicksals hatte Abel sie genau an ihr Ziel getrieben.
Narissa schloss die Hände um zwei Gitterstäbe, drückte ihr Gesicht dagegen und flüsterte: "Mutter." Bei dem Klang des Wortes rührte sich die Gestalt leicht, erwachte aber nicht. Das Gitter konnte Narissa nicht aufbrechen, und für das Schloss fehlte ihr der Schlüssel - den Aerien hatte. "Ich komme zurück", sagte sie leise, während sie sich schweren Herzens abwandte. Als sie die Biegung erreicht hatte, kniete sie neben Elendar nieder und legte ihm zwei Finger an den Hals. Unter der Haut rührte sich nichts, auch keine Spur von Atem war zu erkennen, und Narissa begriff, dass er tot war.
Serelloth, dachte sie, und Schuld und Trauer krampften ihr Herz zusammen. Neben Bayyin war Elendar der einzige, der ihr von ihrer Zeit auf der Insel noch geblieben war, und nun war er tot. Sie drehte ihn auf den Rücken, bemüht die schreckliche Wunde in seiner Brust nicht zu genau anzusehen, und schloss sanft seine noch immer geöffneten Augen. "Wandere mit den Sternen, Elendar bin Yulan - mein Freund. Ich hoffe, wir sehen uns wieder." Eine einzelne Träne tropfte auf Elendars Körper hinunter, als Narissa sich schließlich erhob. Zunächst langsam, dann immer schneller ging sie davon, auf der Suche nach Aerien.
Fine:
Aerien erhob ihr Schwert mit beiden Händen, um einen erneuten Schlag ihres Vetters zu parieren. Sie drehte ihren Körper leicht zur Seite, sodass Karnuzîrs Hieb an ihrer Klinge abglitt und ins Leere lief. Schnell versuchte sie, ihren Vorteil zu nutzen, doch Karnuzîr wirbelte geschickt aus der Reichweite ihres Konterhiebs. Aerien machte zwei schnelle Schritte rückwärts und hielt Lóminzagar diagonal nach unten zeigend, mit Händen auf Kopfhöhe, den nächsten Angriff erwartend. Es war eine ungewöhnliche Paradehaltung, die ihren Gegner verwirren sollte, doch wie sie feststellen musste, war sie nicht die Einzige gewesen, die eine Ausbildung bei Tarkuzôr, dem Waffenmeister von Durthang, durchlaufen hatte. Karnuzîr ließ sich nicht von Aeriens Haltung beirren sondern setzte zu einer Serie von niedrig geführten Schlägen an, die sie dazu zwangen, ihre Klinge in einem tiefen Bogen zu schwingen um ihre Verteidigung aufrecht zu erhalten. Dabei drängte er sie Schritt für Schritt den Gang entlang zurück, weg vom größeren Gefecht, und schon bald waren die beiden Kontrahenten allein. Erneut griff Karnuzîr an, diesmal mit einem wilden, beidhändig geführten Schlag, der auf Aeriens Oberkörper zielte. Sie wartete bis zum letztmöglichsten Augenblick, und machte dann einen Schritt vorwärts, während sie ihre Brust seitlich wegdrehte, sodass die Klinge knapp an ihr vorbeiging. Aerien nutzte Karnuzîrs vorgestreckten Arm, schlug mit der flachen Seite ihres Schwertes darauf und versetzte ihm mit der freien Hand einen Fausthieb ins Gesicht, der ihn rückwärts taumeln ließ. Karnuzîr spuckte aus und sie sah, dass Blut aus seiner Nase lief. Doch ungerührt wechselte er das Schwert in die linke Hand, mit der er offenbar ebensogut trainiert war. Aeriens Treffer an seinem rechten Oberarm würde nicht ewig schmerzen, was ihren Erfolg so gut wie zunichte machte. Dennoch hatte es sich gut angefühlt, ihrem Vetter Schmerzen zuzufügen.
Doch wenn die schwarzen Númenorer in die Schlacht zogen, waren Schwerter, Pfeile und sonstige Klingen nicht ihre einzigen Waffen. Schon zu Beginn ihrer Ausbildung hatte man Azruphel stets dazu ermutigt, auch die Waffen des Geistes nicht außer Acht zu lassen. Hohn, Spott und Demütigungen konnten den Kampfgeist eines Gegners brechen und so manchen Kampf schneller beenden als eine gut geführte Klinge. Und Karnuzîr stellte keine Ausnahme dar.
"Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich dich an deinen Haaren nach Mordor zurückschleifen und dann wirst du mein sein," drohte er mit einem abscheulichen Lächeln, während sie sich langsam und abwartend umkreisten. "Keine Sorge - ich werde dein hübsches Gesicht schonen und auch deinen Körper größtenteils intakt lassen, damit du mir die Erben schenken kannst, die mir zustehen," fuhr er bösartig fort. "Ich habe es dir an dem Tag versprochen, als ich dich zum ersten Mal sah."
"Dazu wird es nicht kommen," gab Aerien kalt zurück. "Du hast kein Anrecht auf meine Hand. Mein Vater wird dem niemals zustimmen."
"Oh doch, das wird er," antwortete Karnuzîr selbstsicher. "Denn wenn ich ihm die Verräterin vorführe wird ihm gar keine andere Wahl bleiben, als seine geliebte, einzige Tochter zum Tode durch den Strick zu verurteilen. Du weißt, welches Schicksal der Große Gebieter für Abtrünnige vorgesehen hat. Es wird keine Gnade für dich geben, nur den Galgen. Und dann werde ich auf mein Recht als derjenige bestehen, der dich gefangen hat, und dein Vater wird nach diesem Strohhalm greifen, um dein Leben zu retten. Es ist die einzige Chance, die du hast."
"So weit wird es nicht kommen," stellte Aerien klar. "Du bist nichts mehr als ein unwürdiges Halbblut," höhnte sie. "Ich sehe die Schwäche deiner Mutter in dir. Dein Vater hat sein kostbares, reines Blut an ihr verschwendet."
Das schien Karnuzîr wütend zu machen, und Aerien wusste, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. "Was mir an Geblüt fehlt mache ich durch meine Taten wieder wett!" rief ihr Vetter zornig. "Die Linie Balákars mag seit Jahrtausenden rein gehalten worden sein, doch was macht schon eine einzige, kleine Abweichung? Meine Erben werden deines und mein Blut in sich vereinen und diese Schwäche wieder ausmerzen."
"Dein Vater hat dir bereits viele Jahre gestohlen," fuhr Aerien fort. "Du wirst früh sterben, viel früher als jeder andere aus unserer Familie. Niemals werden die Adûnâi einen wie dich akzeptieren."
"Sie werden sich beugen, wenn die Erben Varakhôrs von meiner Hand niedergestreckt wurden," erwiderte Karnuzîr. "Dein Bruder mag hoch in der Gunst des Gebieters stehen, doch ich kenne den Süden besser als er. Und eines Tages wird er von einer seiner Reisen nach Harad nicht wieder zurückkehren. Und was den kleinen Varazîr betrifft..." er ließ den Satz drohend ausklingen ohne ihn zu beenden. Aeriens jüngerer Bruder war nach ihrem Umzug in den Dunklen Turm in Durthang geblieben. Varazîr wies als einziger der drei Geschwister ein großes Talent für die dunklen Künste auf, und durchlief seit seinem zehnten Lebensjahr eine Ausbildung, die ihm nur wenig Zeit für seine Familie ließ. Aerien hatte ihn seitdem nur selten zu Gesicht bekommen, doch er lag ihr mehr am Herzen als ihr älterer Bruder Balâkan, der grausamer und kriegerischer als selbst ihr Vater war und oft weitere Reisen nach Osten oder Süden im Auftrag des Dunklen Herrschers unternahm.
Aerien machte zwei schnelle Schritte vorwärts und hieb auf Karnuzîr ein, um ihn zum Schweigen zu bringen, und das Gefecht ging weiter. Doch seine Worte hatten in ihrem Inneren eine Wirkung hinterlassen und sie stellte fest, dass es ihr nicht mehr so gut gelang, sich zu konzentrieren. Sie musste dagegen ankämpfen, sich nicht vorzustellen was geschehen würde wenn Karnuzîr wirklich ihre Brüder töten und als letzter verbliebener männlicher Erbe von Haus Balákar sein Recht als Fürst von Durthang einforderte. Das würde sie nicht zulassen. Ihre Hiebe wurden kräftiger, aber ungenauer, und schon bald duckte sich ihr Vetter unter einem auf seinen Kopf gezielten Streich weg, tauchte ganz nah vor ihrem Gesicht wieder auf, und ein heißer Schmerz flammte auf, als er einen seiner Wurfsterne über Aeriens Bauch kratzte und einen tiefen Schnitt hinterließ. Instinktiv hob sie das rechte Bein und trat ihm vor die Brust, um wieder Abstand zwischen sich zu bringen, doch die Verletzung war mit großer Präzision zugefügt worden und beeinträchtigte Aerien in ihrer Beweglichkeit. Sie blickte sich eilig um und analysierte die Situation. Mache dir deine Umgebung zu Nutzen, sagte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Und tatsächlich entdeckte sie wenige Schritte den Gang hinunter einen Hebel, der ein eisernes Gitter öffnen oder schließen konnte. Mit drei schnellen Schritten erreichte sie den Hebel und zog mit aller Kraft daran. Das Gitter rasselte krachend herunter und trennte sie von Karnuzîr, der auf der falschen Seite gefangen war.
"Du kannst nicht entkommen, Azruphel," knurrte er, ein bösartiges Lächeln im Gesicht. "Du kennst mein Versprechen: Du wirst mir gehörten und ich werde dich zu meiner Frau machen."
"Niemals," stieß Aerien schwer atmend hervor und dachte an Narissa, die irgendwo in der Burg um ihr Leben kämpfte und nach ihrer Mutter suchte. "Du bist hier eingesperrt, und ich habe den Schlüssel," fügte sie mit ein klein wenig Stolz in der Stimme hinzu.
"Denkst du wirklich, ich wüsste nicht über jede noch so kleine List von dir und deinen Freunden Bescheid?" sagte Karnuzîr überlegen. "Dachtest du wirklich, ich würde einfach zulassen, dass du den einzigen Schlüssel an dich nimmst?" Grinsend zog er einen Schlüsselbund hervor, der dem, den Aerien trug, bis ins Detail glich. "Dieses Gitter wird mich nicht ewig aufhalten."
"Aber vielleicht lange genug," antwortete Aerien und ließ ihn stehen.
So schnell sie konnte stürmte sie durch die verzweigten Gänge des Gefängnisses, immer auf der Suche nach ihren Freunden. Und endlich fand sie Spuren: Blut, das auf dem steinernen Boden verspritzt war, und die Leiche eines Haradrim-Kriegers. Aerien stieg darüber hinweg und bog um eine Ecke. Sie hatte die Stelle erreicht, an der sie Narissa zuletzt gesehen hatte und atmete tief durch. Sie muss hier irgendwo in der Nähe sein, dachte Aerien und spitzte die Ohren. Und tatsächlich erklang in der Ferne das Geräusch von Stahl auf Stahl. Eilig bog sie in einen der Gänge ab, aus dem sie den Kampfeslärm vernahm, und sprintete, ihre Verletzung ignorierend, den langen geraden Gang entlang, auf eine Treppe zu, die zu den oberen Ebenen zu führen schien. Als sie gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte durchfuhr ein schrecklicher Schmerz ihre Wade und sie entdeckte einen agân-Wurfstern, der sich tief hineingebohrt hatte. Mit einem Schmerzensschrei sank Aerien auf das unverletzte Knie herab und zerrte an dem scharfen Gegenstand, der Widerhaken aufwies und fest in ihrem Bein steckte. Sie hörte langsame Schritte, die sich von hinten näherten, und wusste, dass Karnuzîr sie erneut gefunden hatte.
"Ich hatte dich gewarnt, Azruphel," ertönte seine höhnische Stimme, zwar noch aus einiger Entfernung, doch stetig näher kommend. "Du wirst mein sein. Es ist unvermeidlich."
Aerien schrie laut auf und riss den Wurfstern brutal aus der Wunde. Die Schmerzen brachten sie fast an den Rand der Besinnungslosigkeit. Eilig riss sie den Saum ihres Umhangs ab und wickelte ihn hastig in einem improvisierten Verband um ihre Wade, während Karnuzîrs Stimme und seine Schritte immer näher kamen. "Du solltest aufgeben, wenn du nicht noch mehr Schmerzen hinnehmen willst," schlug ihr Vetter vor. "Erspar dir alles weitere Leid und komm freiwillig mit. Vielleicht wird deine Bestrafung dann milder ausfallen."
Aerien wusste genau, dass dies eine Lüge war. In Mordor gab es keine Gnade. Sie zerrte den Verband notdürftig fest und packte ihre Klinge, die sie fallen gelassen hatte. Da legte sich eine schwere, gepanzerte Hand auf ihre Schulter.
"Gib auf," wisperte Karnuzîr in ihr Ohr. "Es ist vorbei."
"Nicht, solange ich noch atme," stieß sie hervor und wandte ein Manöver an, das sie während ihrer Zeit in Barad-Dûr perfektioniert hatte.
"Wie kommt man nach einem Sturz inmitten des Kampfes wieder sicher auf die Beine?" hatte Aragorn sie gefragt, als sie sich in einem seltenen Moment des freien Gespräches über Schwertkampftechniken ausgetauscht hatten. "Man zieht mit seiner Klinge einen schützenden Kreis um sich, der auf Höhe der Knöchel beginnt und während man sich erhebt, an Höhe gewinnt." Und genau das tat sie jetzt, ihr Gewicht auf ihr unverletztes Bein verlagernd. Lóminzagar rauschte wirbelnd im Kreis um sie herum als Aerien sich aufrichtete und mit ihrer Klinge mitdrehte. Karnuzîr gelang es gerade noch, sein eigenes Schwert hochzureißen und einen schnellen Sprung rückwärts zu machen, doch er musste einen tiefen Schnitt am Oberkörper hinnehmen. Mit einem wütenden Knurren stürzte er sich wieder auf Aerien, die seine Schläge parierte und ins Leere laufen ließ. Sie stieß sich von der Wand ab und ließ sich von ihrem Sprung direkt auf Karnuzîr zutragen, die Klinge auf sein Gesicht zielend. Überrascht duckte er sich weg und Aerien rollte sich hinter ihm geschickt ab. Sie ergriff ein am Boden liegendes haradisches Krummschwert und ging mit je einer Waffe in der Hand auf ihren Vetter los, der rückwärts die Treppe hinauf gedrängt wurde. Aerien wusste, dass sie diesen Kraftakt nicht lange durchstehen würde, weshalb sie ihre Anstrengungen verdoppelte. Die zweite Klinge verlieh ihr einen zusätzlichen Angriffspunkt, der Karnuzîr vollständig in die Defensive trieb. Am oberen Ende der Treppe angekommen wich er Schritt für Schritt vor Aeriens wilden Angriffen zurück, das Gesicht zu einer Maske der Anstrengung verzerrt, bis er mit dem Rücken gegen ein niedriges Fenstersims am Ende des Gangs stieß.
"Warte, warte," rief er noch, doch Aerien hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Mit einem gut gezielten Hieb schlug sie Karnuzîrs Klinge beiseite, presste sie aus dem Weg, nahm all ihre verbliebene Kraft zusammen, ließ die zweite Klinge fallen - und versetzte ihm einen verheerenden Tritt gegen den Oberkörper, der ihn rückwärts aus dem offenen Fenster stürzen ließ.
Aerien sank entkräftet an der Wand des Gangs in sich zusammen und stützte sich auf ihr Schwert, das über den gemauerten Boden kratzte. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, und ihre Wunden brannten wie Feuer. An den Rändern ihres Blickfeldes dräute eine unheilvolle Schwärze, und sie wusste, dass sie bereits viel Blut verloren hatte. Sie musste Narissa und die anderen finden, solange sie noch dazu imstande war. Aerien riss weitere Fetzen ihres grauen Umhanges ab und erneuerte und verstärkte den Verband an ihrem Bein, und zog sich schließlich stöhnend auf die Beine. Sie drehte sich vom Fenster weg und warf einen vorsichtigen Blick den Gang hinunter. Und erstarrte.
Am Ende des Gangs tauchte eine Gestalt aus ihren schlimmsten Albträumen auf. Gehüllt in eine schwarze Kutte und ein düsteres Schwert in der rechten Hand haltend kam der Ringgeist langsam, aber unaufhaltsam näher, und seine Stimme ließ Aeriens Blut in den Adern gefrieren.
"Nach Mordor... nach Mordor werde ich dich bringen..." zischte die Kreatur, und Aerien sah sich nicht dazu imstande, die Flucht zu ergreifen. Jede Faser ihres Körpers strebte danach, wegzulaufen, doch ihr fehlte der Wille dazu. Nicht einmal pure Todesangst konnte ihre versteinerten Muskeln jetzt noch bewegen.
"Das Auge hat dich gesehen," sagte der Ringgeist und war schon fast heran. "Deine Flucht endet hier."
Aerien versuchte, etwas zu sagen, doch ihre Kehle war vollständig trocken. Nicht einmal ihr Schwert konnte sie noch heben. Der Nazgûl schloss zu ihr auf und packte sie mit der behandschuhten Hand am Hals. "Du gehörst nach Mordor..." wisperte er.
"Nein," widersprach eine Stimme, die wie von fern an Aeriens Ohr drang. "Sie gehört zu mir."
Etwas traf den Ringgeist in den Rücken, und die Kreatur ließ ein ohrenbetäubendes Kreischen hören. Der Griff um Aeriens Kehle lockerte sich und sie sah, dass die Robe ihres Feindes in Flammen stand. Wie wahnsinnig taumelte der Nazgûl mehrere Schritte von ihr weg - und verschwand in einem Seitengang. Und am Ende des Gangs kam Narissa zum Vorschein, eine Fackel in der Hand haltend. Ihre zweite Hand war leer - sie hatte die zweite Fackel auf den Ringgeist geworfen, und Aerien das Leben gerettet.
"Narissa," hauchte Aerien als ihre Freundin zu ihr kam und sie auf die Beine zog. "Du bist am Leben. Ich dachte..."
"Schsch," machte Narissa beruhigend und legte Aerien eine Hand auf die Wange. Dann küsste sie sie, und diesmal ließ Aerien es ohne Widerstand geschehen, und erwiderte sachte die Berührung - bis sie dabei ihr Gewicht auf das verletzte Bein verlagerte und ein schmerzerfülltes Geräusch von sich gab.
"Du bist verletzt," stellte Narissa besorgt fest.
"Später," wehrte Aerien ab. "Wir müssen die anderen finden, und von hier verschwinden."
"Hast du den Schlüssel noch?" fragte Narissa eindrücklich, und Aerien zog den Gegenstand hervor, den Narissa hastig ergriff. "Komm," sagte sie und stützte Aerien auf ihre Schulter auf. "Ich habe meine Mutter gefunden."
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