Edrahil, Qúsay und das Heer von Vor der Stadt... Mit den ersten Sonnenstrahlen hatte sich das große Tor von Qafsah geöffnet. Kein Gegenangriff erfolgte durch den offenen Torbogen, und so zog Qúsay an der Spitze seines Heeres in die Stadt ein.
Die große Straße, die vom Tor in nördlicher Richtung auf den Palast zuführte, war von den überlebenden Verteidigern gesäumt, die ihre Waffen zu Boden warfen sobald die Spitze von Qúsays Heer sie erreichte.
"Scheint, als hätte dieser Statthalter Wort gehalten", sagte Erchirion, aus dem Sattel zu Edrahil, der neben ihm ritt, hingebeugt. Edrahil nickte nur stumm, und lies den Blick aufmerksam schweifen. Die Häuser sahen nicht viel anders aus als in Ain Salah, doch noch mehr als dort fehlte hier jeglicher Einfluss númenorischer Bauweise. Hinter Fenstern und auf Balkonen beobachteten die Bewohner schweigsam den Einzug der siegreichen Belagerer, doch Edrahil konnte auf ihren Gesichtern erstaunlich wenig Feindseligkeit entdecken. Ein wenig verwunderte ihn das, denn kein Stadtbewohner sah gerne ein feindliches Heer durch seine Straßen ziehen. Doch auch keine Freude zeigte sich auf den Gesichtern, und kein Laut des Jubels war zu hören, weder für Qúsay noch für König Músab von Kerma, der neben ihm ritt - stattdessen lag eine unbehagliche Stille über Qafsah. Die Bewohner der Stadt wirkten wie in Schockstarre. Valirë drängte ihr Pferd zwischen Edrahil und ihren Verlobten. "Ich kann Valion nirgendwo entdecken." Ihre Stimme klang besorgter, als Edrahil sie jemals gehört hatte. "Er sollte doch mitbekommen haben, dass die Stadt gefallen ist."
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Bei Valion vom Ethir weiß man nie so genau...", sagte er leichthin, doch insgeheim teilte er Valirës Bedenken. Wenn Valion noch lebte, konnte er den Einzug des Heeres eigentlich kaum übersehen haben, und hätte keinen Grund, sich zu verbergen. Es sei denn, er war gefangen genommen, und Amenzu hatte beschlossen, ihn fürs erste als Faustpfand zu behalten.
"Ich bin sicher, Valion geht es gut", ergänzte Erchirion, doch auch aus seiner Stimme hörte Edrahil den besorgten Unterton heraus. "So leicht lässt er sich nicht unterkriegen."
Valirë wirkte nicht unbedingt beruhigt, doch in diesem Moment kam der Palast von Qafsah in Sicht - oder vielmehr das, was von ihm übrig war. Sowohl Valirë als auch Erchirion zogen erschrocken die Luft ein, und der gesamte Heerzug geriet für einen Augenblick ins Stocken. Beim Anblick des Palastes wurde Edrahil klar, warum eine derartig drückende Stille über der Stadt lag.
Die westliche Hälfte des Palastes sah aus, als wäre sie von einer gewaltigen Hand gepackt und auseinander gerissen worden. Vom Feuer geschwärzte Steine waren in alle Richtungen davon geschleudert worden, und übersäten gepflasterten Vorplatz. Das Dach war eingesackt und die Mauern verdreht und zertrümmert. Mehrere Rauchsäulen stiegen noch immer von der Ruine auf und an einigen Stellen flackerten noch immer Flammen zwischen den Trümmern. Selbst im Vorplatz klaffte ein breiter Riss, als ob ein Gewölbe darunter eingestürzt war. Die östliche Hälfte des Gebäudes stand zwar noch, doch auch dort waren Fenster gesplittert, einige Dächer eingestürzt und an einigen Stellen stieg ebenfalls Rauch auf.
"Was für eine Macht kann solche Zerstörung anrichten?", fragte Erchirion leise, und Edrahil wusste, dass der Prinz ebenso wie er an Dol Amroth dachte.
"Kermisches Feuer", antwortete ein Mann, der sich mit einem Mal aus der Menge am Straßenrand gelöst und dem Heerzug angeschlossen hatte. Edrahil hatte ihn bereits an der Stimme erkannt, bevor Eayan die Kapuze abgeworfen hatte. Das Gesicht des Schattenfalken war blasser als gewöhnlich und unter dem Mantel glaubte Edrahil einen Verband um seine Schulter zu erkennen, doch seine Miene war beherrscht wie immer. "
Kermisch?", fragte Valirë mit einem misstrauischen Blick nach vorne, wo der König selbigen Landes an der Spitze des Zuges ritt.
Eayan schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass König Músab etwas damit zu tun hat. Ich vermute eher, dass Sûladan es über lange Zeit gesammelt hat und damit vorhatte, Qúsays Heer zu vernichten." Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. "Er wird kaum damit gerechnet haben, dass es stattdessen seinen Palast in Schutt und Asche legt."
Edrahil lenkte das Gespräch zurück auf die wesentlichen Dinge, während die vordersten Reihen den offenen Platz vor dem Palast erreichten. "Was ist mit Valion? Oder Narissa?" Er beherrschte seine Stimme dieses Mal nur mit einiger Mühe, denn die Sorge, die er verspürte, war untypisch heftig für ihn. Über Eayans Gesicht wanderte ebenfalls ein Schatten der Besorgnis. "Valion ist nicht bei euch? Ich habe ihn nicht gesehen." Valirë zuckte bei seinen Worten im Sattel zusammen. "Edrahil..."
Eayan sprach weiter. "Was Narissa angeht..." Er seufzte leise. "Sie ist am Leben und im Augenblick in Sicherheit, aber... sie wird etwas Zeit brauchen."
Ein Raunen ging durch Qúsays Heer, und Edrahil richtete den Blick wieder nach vorne. Er bemühte sich, die Mischung aus Sorge und Erleichterung, die Eayans Worte ausgelöst hatte, niederzukämpfen und sich stattdessen auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Vor der Ruine des Palastes knieten zwei Menschen auf dem harten Pflaster - der Statthalter Amenzu und neben ihm der junge Sohn Sûladans.
"Malik Qúsay, Fürst von Umbar, und Músab, König von Kerma. Ich heiße euch willkommen in Qafsah und lege euch die Stadt und all ihre Bewohner zu Füßen", hallte Amenzus Stimme über den Platz.
Qúsay glitt vom Rücken seines Pferdes, und bedeutete den Knienden mit einer Geste, sich zu erheben. Dann begann er zu sprechen: "Sûladan, der Fürst von Qafsah und so genannte Sultan von Harad ist tot! Am heutigen Tage endet seine Herrschaft über Qafsah und ganz Harad für immer. Nie wieder werden die Feinde der Menschen die Herrschaft über auch nur einen Fußbreit von Harad erlangen. Vom heutigen Tag an steht Qafsah unter dem Schutz des Maliks von Harad. Jedem Bewohner der Stadt, der mir in Treue und Verbundenheit folgt, wird die Gefolgschaft Sûladans vergeben sein."
Edrahil warf einen Blick zu König Músab, dessen Gesicht bei Qúsays Worten beinahe unmerklich zuckte. Offenbar war der König nicht ganz damit einverstanden, dass Qúsay Qafsah so offen als Teil des Malikats bezeichnete. Er seufzte leise. "Ein Machtgerangel um Qafsah ist genau das, was wir jetzt nicht brauchen können..."
"Ich werde versuchen, mich in die Verhandlungen einzuschalten", erwiderte Erchirion leise. "Als Vertreter Gondors könnte ich ein neutraler Vermittler sein."
"Nicht ganz neutral, bedenkt man, dass Qúsay mit deiner Schwester verlobt ist", gab Valirë zu bedenken. Ihr Blick schweifte noch immer unruhig über die Menge, als hoffte sie, ihren Zwillingsbruder irgendwo zu entdecken.
"Es ist trotzdem eine gute Idee", meinte Edrahil. "Wir könnten einen Beobachter bei diesen Verhandlungen gut brauchen." Er ließ sich vorsichtig vom Rücken seines Pferdes gleiten, wobei er darauf achtete, zuerst mit dem rechten Bein aufzukommen. Er blickte Eayan an. "Narissa. Wo ist sie?"
Eayan wirkte beinahe unbehaglich, aber vielleicht machte ihm auch nur seine Verletzung zu schaffen. "In Sicherheit, wie ich sagte. Aber..." Edrahil blickte ihm fest in die Augen. "Es ist mir gleich, ob sie Zeit braucht und was geschehen ist. Ich
muss mit ihr sprechen." Eayan erwiderte seinen Blick stumm, bevor er knapp nickte. "Also schön. Aber vielleicht zeigst du dann ein wenig mehr Einfühlsamkeit als üblicherweise..."