Mathan, Oronêl, Kerry, Halarîn, Faelivrin, Finelleth, Anastorias, Farelyë, Adrienne, Angatar, Fanael und Aesa aus ForochelJe weiter sie nach Südwesten kamen desto wärmer wurde es. Zwar war die Luft noch immer kühl, doch die dicken Pelze, die Anglaer ihnen gegeben hatte, wurden ihnen zu warm als sie die Schneegrenze passierten. Die Landschaft wurde hügeliger und bewaldeter. Sie befanden sich nun im wenig erforschten Gebiet zwischen Arthedain und den Ered Luin, noch weit nördlich von Mithlond oder dem Auenland. Die Bäume, die zumeist hoch aufragende Tannen waren, erinnerten Kerry an den Wald, der rings um den Abendrotsee wuchs, und sie erinnerte sich an den Angriff der Dúnedain auf die verborgene Festung am Nordufer. Damals hatte sie noch keine Familie gehabt. Dankbar schaue sie zu Mathan hinüber, der bei Oronêl stand und die Karte studierte. Sie hatten auf einer kleinen Lichtung angehalten, auf der dichtes Moos auf dem Boden und den Felsen wuchs, die überall verstreut lagen. Kerry fand, dass die Luft würzig und nach Kräutern roch. Sie setzte sich neben Adrienne, deren Laune sich seit der Durchquerung Forochels nur wenig gebessert hatte.
"Möchtest du darüber reden?" fragte sie behutsam.
Doch Adrienne schüttelte nur den Kopf. Kerry klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und ließ die junge Frau wieder in Ruhe.
Inzwischen hatten sich die Elben auf eine Route geeignet. "Sobald wir die Quelle des Lhûn gefunden haben, können wir dem Verlauf des Flusses bis nach Mithlond folgen," sagte Oronêl zuversichtlich. "Zwar ist es noch ein weiter Weg bis dorthin, aber wir hätten immer genug Trinkwasser und würden uns nicht verirren."
"Und vielleicht könnten wir den Fluss später sogar als Transportmittel benutzen, wenn er breit genug geworden ist," überlegte Faelivrin.
"Wir müssten ein Floß bauen, das groß genug für uns alle ist," wendete Mathan ein. "Ich weiß nicht, ob uns die Zeit dafür bleibt."
"Zeit?" wiederholte Finelleth fragend. "Habt ihr es so eilig, nach Mithlond zu kommen?"
"Je eher wir dort sind, desto besser," erklärte Anastorias. "Die Vorhut ist in Sorge um ihre Königin. Wenn sie unruhig werden..."
Faelivrin hob beruhigend die Hände. "Sie haben ihre Anweisungen und werden bei Círdan auf mich warten. Dennoch wäre ich gerne eher früh als spät dort."
"Wir werden sehen, was sich ergibt," beschloss Oronêl. "Zuerst müssen wir den Ursprung des Flusses finden."
Die Suche nach der Quelle des Lhûn dauerte mehrere Stunden. Der Wald war äußerst unwegsam geworden und immer wieder mussten sie Abhänge hinauf- oder hinabklettern, Felsen überwinden und sich ihren Weg durch dichtes Unterholz bahnen. Kerry fühlte sich an den Alten Wald erinnert, auch wenn es dort deutlich wärmer und stickiger gewesen war. Dennoch war die Gruppe großen Anstrengungen ausgesetzt und Kerry musste schließlich die kleine Farelyë an Halarîn weitergeben, da ihre Arme vom ständigen Tragen des Mädchens schwer geworden waren. Auf den Ebenen Angmars und Forochels hatte die kleine Elbin meistens selbstständig laufen können und hatte das Tempo der Gruppe ohne große Probleme mithalten können, doch im schwierigen Gelände des Waldes war sie auf Kerrys Hilfe angewiesen.
Schließlich war es Angatar, einer der Gardisten Faelivrins, der die Quelle entdeckte. Sie war größtenteils unter einer Schicht von Pflanzen verborgen, aber die scharfen Elbenohren fingen schon von Weitem das leise Geräusch des aus dem Felsen hervorsprudelnden Wassers auf und führten die Gruppe in die richtige Richtung. Der kleine Bach, der hier entsprang, war sicherlich nur eine von vielen Zuflüssen, die den Lhûn bildeten und bei Mithlond ins Meer mündeten, doch für ihre Zwecke würde es ausreichen.
"Folgen wir dem Bach," sagte Mathan und ging voraus, vorsichtig den steil abfallenden Abhang hinab steigend. Die Gruppe folgte ihm und Kerry musste sich immer wieder an Ästen und Baumstämmen festhalten, um nicht auf dem feuchten Waldboden auszurutschen. Am Grund des kleinen Tals angekommen war der Bach bereits ein lebhaftes Gewässer geworden, dass glucksend und sprudelnd durch den Waldboden floss und ungefähr einen Meter breit war. Mathan führte sie am Ufer entlang und machte hin und wieder den Weg mit seinen Schwertern frei.
Kerry war auf eine seltsame Art und Weise von dem dichten Wald fasziniert, der sie umgab. Die Geräusche, die die Luft erfüllten, unterschieden sich sehr von der Kulisse, die sich ihnen in der Eiswüste geboten hatte. Ständig waren Vögel zu hören und Kerry sah hin und wieder sogar einige Waldtiere, die die Gruppe neugierig beobachteten. Als sie um eine Biegung des Baches bogen bot sich ihnen ein majestätisches Bild: Weiter unten, wo der Bach eine Lichtung durchströmte, stand ein großer Hirsch am Ufer und blickte sie aufmerksam an. Ehe sie jedoch näher kommen konnten hob das Tier den Kopf und verschwand schnellen Schrittes zwischen den Bäumen.
"Es ist so friedlich hier," sagte Kerry zu Halarîn, die neben ihr herging und Farelyë im Arm trug.
"Ja," bestätigte ihre Mutter. "Auf eine Art und Weise erinnert es mich an die wilden Wälder des Ostens, in denen ich meine Jugend verbrachte."
"Tawaraí," mischte sich Farelyë mit ihrem kindlichen Staunen ein und betrachtete glücklich die Bäume.
"Offenbar fühlt sie sich auch an ihre Heimat erinnert," mutmaßte Halarîn und lächelte.
"Ich kann mir gar nicht richtig vorstellen, wie lange das schon her sein muss. Seitdem ist das Land, in dem Farelyë erwachte, sicherlich ein ganz anderes geworden," sagte Kerry.
Halarîn nickte bestätigend. "Es gibt nur wenige Orte in Mittelerde, die sich seit dem Erwachen der ersten Elben nicht verändert haben."
Schließlich kamen sie an eine Stelle, an der der Bach dem sie folgten mit einem zweiten Bach zusammenfloss und nun bereits drei Meter breit wurde. Die Landschaft flachte zu beiden Seiten etwas ab und die Böschungen an beiden Ufern des kleinen Flusses waren mit jedem Schritt nach Südwesten weniger steil abfallend geworden. Erneut rasteten sie und nahmen ein Mittagessen zu sich, das aus gut haltbaren Vorräten aus Ringechad bestand. Farelyë war entzückt, als Kerry einen Beutel mit ihren geliebten Beeren hervorzog, die sich dank der Kälte in der Eiswüste bisher gut frisch gehalten hatten. Dabei hörte sie, wie Mathan und Faelivrin sich leise unterhielten.
"Spürst du noch, dass unsere Schritte verfolgt werden?" fragte ihre Schwester.
"Nein," gab Mathan zurück. "Ich schätze, wer auch immer uns gefolgt ist, hat entweder unsere Spur im dichten, unwegsamen Wald verloren, oder die Verfolgung abgebrochen.
"Vielleicht waren wir den Aufwand nicht wert," vermutete Oronêl. "Sollten wir uns gekränkt fühlen?" witzelte er dann, was Finelleth zum Lachen brachte.
"Vermutlich schon," sagte Thranduils Tochter, die seit dem Betreten des Waldes stets ein kleines Lächeln im Gesicht getragen hatte. "Vielleicht sollten wir Beschwerde einreichen."
Kerry ging zu ihr hinüber und fragte: "Sieht es im Waldlandreich denn ähnlich wie hier aus?"
Finelleth blickte etwas betreten drein, doch dann sagte sie: "Der Grünwald - so nenne ich ihn, in der Hoffnung, dass der Schatten eines Tages von ihm genommen werden kann - ist sehr abwechslungsreich. Im Waldlandreich gibt es vor allem am nördlichen Rand des Waldes viele Tannen, so wie hier, aber dafür ist es dort nicht so hügelig. Unwegsame Gebiete gibt es eher in der Nähe der Berge des Grünwaldes, wo die Bäume so hoch stehen dass sich manchmal Wolken in ihren Kronen verfangen. Die Berge sind komplett bewachsen und höher, als man es erwartet, wenn man sich darauf zubewegt."
"Du vermisst deine Heimat sehr," stellte Kerry mitfühlend fest.
Finelleth seufzte leise. "Auf eine Art - ja. Aber wenn ich daran denke, wer jetzt dort das Sagen hat... dann möchte ich am liebsten so weit entfernt davon sein wie möglich."
"Saruman ist dort, nicht wahr?" fragte Halarîn.
"Ja," bestätigte Finelleth. "Nach seinem Sieg bei Dol Guldur zogen er und mein Vater mit ihren Heeren ins Waldlandreich."
"Um es zu befreien?" fragte Anastorias neugierig.
"Mein Vater mag dieser Ansicht sein," antwortete Finelleth. "Aber solange er unter Sarumans Einfluss steht wird das Waldlandreich niemals wirklich frei sein."
Oronêl legte ihr tröstlich seine Hand auf die Schulter. "Vergiss nicht, was ich dir in Fornost sagte. Dein Vater ist stark. Und vielleicht wird dich dein Weg eines Tages in die Heimat führen, und du kannst ihn daran erinnern."
"Vielleicht," sagte Finelleth leise.
Am Nachmittag reisten sie weiter. Es war nun einfacher, dem Fluss zu folgen, da sich im Laufe der Jahre an beiden Ufern ein breiter, kiesigen Streifen gebildet hatte, auf dem nichts wuchs und auf dem die Gruppe wieder schneller voran kam als im unwegsamen Unterholz. Mathan schätzte, dass sie Mithlond innerhalb einer Woche erreichen könnten, wenn sie dem Verlauf des Lhûn weiterhin so problemlos folgen konnten.
Kerry war voller Vorfreude auf die Stadt der Hochelben und stellte sich immer wieder vor, wie sie am Ufer des größten Gewässers der Welt stand: dem westlichen Ozean.