Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Mehu-Wüste

<< < (3/4) > >>

Fine:
Noch immer war der Anblick des Meeres etwas Besonderes für Aerien. Es war an genau diesem Strand an der Westküste Harads gewesen, wo die Mehu-Wüste auf die endlose Weite Belegaers traf. Dort hatte Aerien den Ozean zum ersten Mal erblickt. Als sie nun auf einer der Dünen stand, die den Strand von der Wüste trennten, fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt zu jenem ganz besonderen Abend, als sie die rote Sonne dabei beobachtet hatte, wie sie in den Wellen versunken war.
Doch diesmal war es nicht Abend, sondern Vormittag. Músabs Reisegruppe war bereits vor Sonnenaufang aufgebrochen und hatte die Küste erreicht, ehe die Sonne ihren höchsten Stand eingenommen hatte. Die Kermer schienen das Meer nicht für etwas Besonderes zu halten - jedenfalls schenkte keiner von ihnen dem Wasser besondere Aufmerksamkeit. Stattdessen standen sie in kleinen Grüppchen am Rande der Dünen, während sich Músab mit seinem Bruder Alára und seinem Neffen Gatisen beratschlagte.
In der Ferne, im Südwesten, war die schlanke Silhouette der Weißen Insel zu sehen, halb verborgen hinter einer dichten Schicht aus Nebel. Die Spitze des Turmes, den Narissas Ahnherr Ciryatan einst erbaut hatte, ragte aus den Wolken hervor und gab Aerien ein wehmütiges Gefühl, das ihr den Atem raubte. Sie konnte nicht sprechen. Was ist das nur? fragte sie sich. Sie verstand nicht, was da vor sich ging...
Es war Narissa, die das Rätsel löste. "Endlich wieder zuhause," sagte die Weißhaarige und folgte Aeriens Blick in Richtung des Turmes. Und da verstand Aerien. Das Gefühl, das sie verspürte, war eines von Heimat. Sie kehrte heim an einen Ort, an den sie hingehörte. So denke ich also über Tol Thelyn? dachte sie, teils verwundert, teils tief bewegt.
"Ja," hauchte sie, sodass nur Narissa sie hören konnte. "Wir sind daheim."
"Moment mal... weinst du etwa?"
"Nein, ich... hab' nur etwas Sand ins Auge bekommen."
"Ich glaube dir kein Wort, Aerien."
"Sieh nur, da hinten. Sie haben unsere Ankunft bemerkt," sagte Aerien und zeigte nach Süden, den Strand entlang. Am Ende des Sandstrandes stand ein Wäldchen, aus dem der Gruppe nun drei bewaffnete Reiter entgegen kamen. Einen der Drei erkannte Aerien. Es war der Späher namens Langlas, der sie einst bei ihrem ersten Besuch auf Tol Thelyn in seinem Boot übergesetzt hatte. Als Langlas und seine Begleiter nahe genug heran gekommen waren, hoben sie erfreut die Arme und riefen ihnen freudige Begrüßungen zu.
"Narissa! Es ist Narissa, sie ist zurück!"
"Und Aerien ist ebenfalls hier," fügte Langlas mit einem freundlichen Nicken hinzu. Er sprang aus dem Sattel und wurde von Narissa fest umarmt. Auch Aerien ließ sich von ihrer guten Laune mitreißen und umarmte den inzwischen etwas verdutzten Langlas.
Die beiden anderen Späher - ein Mann und eine Frau - waren beritten geblieben. Beide deutete nun in Richtung der östlichen Dünen, wo die fernen Gestalten der Kermer aufgetaucht waren.
"Gehören die zu euch?" fragte Langlas, nun eindeutig vorsichtig geworden.
"Oh nein, das tun sie nicht," sagte Narissa, ehe Aerien die Lage erklären konnte.
"Wartet," sagte sie mit Nachdruck. "Es sind Menschen aus Kerma, angeführt von ihrem König, Músab."
"Sie haben euch bis hierher eskortiert?"
"Vielmehr haben wir sie bis hierher ertragen," warf Narissa ein.
"Wie meint ihr das?" wollte Langlas wissen.
"Es ist etwas kompliziert," sagte Aerien und geriet ein wenig in Verlegenheit. "Meister Edrahil entsandte uns, um ein Bündnis mit Kerma auszuhandeln. Dieses Ziel haben wir sozusagen erreicht, aber..."
"Sozusagen?"
"Ich sagte ja, es ist kompliziert..."
"Für mich ist es ganz eindeutig," stellte Narissa klar. "Die Kermer haben sich mit Sûladan verbündet, und auch wenn der König seine Beweggründe dafür erklärt hat, halte ich es noch immer für einen Fehler."
Langlas riss die Augen auf. "Sûladan!"
"Sie scheinen uns aufmerksam zu beobachten, unternehmen aber keinen Angriffsversuch," sagte die Späherin, die neben Langlas auf einem hellbraunen Pferd saß und die Kermer die ganze Zeit über im Auge behalten hatte.
"Wir müssen es meinem Onkel sagen," sagte Narissa. "Ist er auf der Insel?"
Langlas nickte. "Wir können sofort ablegen."
"Ich denke, es ist besser, wenn wir hier warten," sagte Aerien vorsichtig und warf besorgte Blicke in Richtung der Kermer. "Wir waren ihre Reisegefährten, bis wir hier eintrafen. Wenn wir jetzt gehen, könnte es Gefahr bedeuten." Sie suchte Narissas Blick, der zunächst hart und unnachgiebig war, doch dann etwas sanfter wurde.
"Also gut," seufzte Narissa. "Gebt Thorongil Bescheid und sagt ihm, wir werden hier auf ihn warten, um ihm alles zu erklären."
"Und bringt Edrahil mit," fügte Aerien hinzu, doch Langlas schüttelte den Kopf.
"Meister Edrahil befindet sich auf einer Fahrt in das Land Arzâyan," erwiderte der Dúnadan. "Noch ist er nicht zurückgekehrt."
"Arzâyan?" wunderte sich Narissa.
"Das ist Adûnâisch," erklärte Aerien. "Man könnte es als "Land des Königs" übersetzen. Thorongil sagte, es sei die Heimat von Taraezaphel, die..." Sie hielt inne und blickte zur Insel hinüber. "Ihr solltet gehen," drängte sie Langlas dann.
Der Angesprochene nickte und stieg erneut in den Sattel. Die drei Reiter wirbelten eine Staubwolke auf, als sie in Richtung des Wäldchens davonpreschten, in dem ihr Boot verborgen lag.

Aerien und Narissa vertrieben sich die Wartezeit im weichen, warmen Sand des Meeresufers, doch entspannen konnte Aerien sich nicht. Die Frage, was wohl werden würde, wenn sie in der Gemeinschaft König Músabs, der nun Sûladans Verbündeter war, nach Tol Thelyn kamen, das von Sûladan einst verwüstet worden war, hatte sie bislang vor sich her geschoben. Ehe sie jedoch Narissa auf die Situation ansprechen konnte, sah sie Kani von den Dünen herankommen.
"Der König verlangt zu wissen, was da vor sich geht," sagte das kermische Mädchen aufgeregt und voller Sorge. "Was waren das für Leute, Aerien? Was habt ihr zu ihnen gesagt?"
"Sie gehören zu den Thelynrim, den Bewohnern der Weißen Insel," erklärte Aerien, was ihr einen missbilligenden Blick von Narissa einbrachte. Sie ignorierte die Geste und fragte Kani, was Músab nun zu tun gedachte.
"Ich weiß es nicht," erwiderte Kani. "Eine Unruhe scheint den Qore befallen zu haben. Er geht auf und ab und sein Blick geht immer wieder zu euch beiden hinüber."
"Hat er dich geschickt, um uns auszuhorchen?" wollte Narissa wissen.
"Nein, so ist es nicht gewesen... ich bin nicht seinetwegen hier. Ich mache mir Sorgen, versteht ihr?" Kani legte die Hände im Schoß zusammen. Sie trug nun gewöhnliche haradische Reisekleidung und nicht länger die schwere und viel zu große Rüstung eines Gardisten des Königs. "Ich dachte, auf dieser Reise würde ich mit euch und mit Prinz Gatisen Abenteuer bestehen und geheimnisvolle Länder bereisen. Aber bis auf die Wüste gab es bislang kaum etwas zu sehen, und das einzige Abenteuer, das uns erwartet, ist die Frage, wie es jetzt mit uns weitergeht."
"Aerien und ich kehren heim," stellte Narissa klar. Wohin ihr Kermer gehen werdet, interessiert mich nicht, las Aerien den unausgesprochenen Rest des Satzes an der Miene ihrer Freundin ab.
Kani blickte zurück zu den anderen Kermern. "Prinz Gatisen sagt, dass er nach Gondor gehen wird, und ich soll ihn begleiten."
"Na das klingt doch nach einem Abenteuer," sagte Aerien aufmunternd.
"Findest du wirklich?"
Aerien nickte und lächelte zuversichtlich. "Eines Tages werden auch Narissa und ich nach Gondor gehen. Bestimmt sehen wir uns dann dort wieder."
"Das hoffe ich," antwortete Kani. Sie umarmte Aerien schüchtern, dann kehrte sie in die Dünen zurück.
Narissa begegnete Aeriens Blick, ohne etwas zu sagen. Dann zog sie die linke Augenbraue hoch und grinste flüchtig.

Eine Stunde war seit Langlas' Aufbruch vergangen, als sich aus dem Schatten der Insel die Form eines großen Schiffes schälte. Aerien erkannte es als eines der Schiffe, die im Hafen von Tol Thelyn gelegen hatten. "Das muss Thorongil sein," sagte Narissa zufrieden.
Sie sollte Recht behalten. Das Schiff kam so nahe wie möglich an den Strand heran und setzte drei Beiboote voller Krieger ab. Aerien sah sowohl bewaffnete Thelynrim als auch Krieger des Silbernen Bogens. Angeführt wurden sie von Narissas Onkel persönlich, der ein großes, neues Langschwert auf dem Rücken trug.
"Narissa!" rief er, als er seine Nichte entdeckte. Die Wiedersehensfreude war Thorongil deutlich anzuhören. Er breitete die Arme aus, als er den Strand erreicht hatte, und Narissa sprang ihm entgegen. "Du kehrst also endlich heim. Bist du unverletzt?"
"Ja, Onkel. Und Aerien ist es auch." Rasch setzte sie Thorongil in wenigen, knappen Sätzen über die Lage in Kenntnis.
Thorongil löste sich aus Narissas Umarmung und legte Aerien anerkennend seine große Hand auf die Schulter. "Gut gemacht, ihr beiden." Der Ausdruck in Thorongils Augen war warm, doch dann hob sich sein Blick zu den Dünen hinüber und die Wärme verblasste. Aerien folgte Thorongils Blick und sah die Kermer, angeführt von Músab heran kommen.
"Ihr müsst der Herr von Tol Thelyn sein," sagte Músab, als er nahe genug war, um ihn zu verstehen.
"Mein Name ist Thorongil vom Turm," erwiderte Thorongil reserviert. "Und Ihr seid Músab von Kerma."
Músab neigte den Kopf um eine Winzigkeit. "Der bin ich. Und ich ersuche eine Audienz mit Euch, Thorongil."
"Sie sei Euch gewährt, Majestät." Die Betonung des Wortes zeugte nicht gerade von Respekt, wie Aerien fand. "Unterhalten wir uns. Erklärt mir, weshalb Ihr ein Bündnis mit meinem Volk anstrebt."
"Nun, das war die Idee Eurer Nichte Narissa," entgegnete Músab. "War jenes Bündnis nicht der Grund, weshalb ihr sie und Aerien nach Kerma entsandt habt?"
Thorongil gestattete sich ein subtiles Nicken. "So ist es. Doch damals standen die Dinge noch... anders."
"Ihr spielt wohl auf meine Allianz mit Sûladan an," sagte Músab scharfsinnig.
"Durchaus. Ihr versteht gewiss, weshalb ich dieses Bündnis nicht gutheißen kann. Sûladan hat die Heimat meines Volkes zerstört."
"Ich hörte davon, und nehme Anteil," entgegnete der König von Kerma.
"Tut Ihr das? Ihr habt Euch dem Schlangenfürst freiwillig angeschlossen, Músab."
"Auch mein Volk stand am Rande der Vernichtung. Die Wahl fiel mir leicht."
"Ihr dürft Sûladan nicht trauen. Er steht mit dem Dunklen Herrscher von Mordor im Bunde," rief Thorongil. "Er wird Kerma keine Hilfe schicken, wenn es erneut bedroht wird."
"Ich bedarf keinerlei Ratschläge hinsächlich der Sicherheit meines Volkes," entgegnete Músab scharf, ehe er sich wieder zu sammeln schien und freundlicher fortfuhr. "Ich hatte gehofft, auf Tol Thelyn mit Euch zu sprechen."
Thorongils Gesichtsausdruck blieb abweisend. "Ich gab Euch die Gelegenheit, zu sagen, was Ihr zu sagen habt, König Músab. Doch als zuletzt jemand, der mit Sûladan in Verbindung stand, meine Insel betreten hat, kam großes Leid über meine Familie. Dies werde ich nicht erneut zulassen. Ihr werdet Tol Thelyn nicht betreten."

Melkor.:
Músab betastete mit unterdrücktem Zorn seinen Nasenrücken. Die Begegnung mit Narissas Onkel, dem Herrn der Weißen Insel, hatte er sich anders vorgestellt. Einerseits konnte er natürlich verstehen, dass jemand, dessen Heimat von Suladân zerstört worden war, den Verbündeten des Sultanats von Qafsah zunächst nur wenig Vertrauen entgegen bringen konnte, doch andererseits hatte er gehofft, Thorongil klar machen zu können, dass er von Kerma nichts zu befürchten hatte.
„Ihr versteht nicht,“ sagte er langsam und betont. „Diese Allianz, die ich mit Suladân eingegangen bin, ist nicht mehr als ein zweckmäßiges Bündnis. Ich handelte es aus, weil es die einzige Option war, mein Volk noch zu retten.“
„Er hat recht,“ sagte Aerien, die sich unerwartet einmischte. „Kerma stand am Rande der Vernichtung durch den Tyrann Kashta. Ich war dabei.“
Thorongils harter Blick blieb zwar bestehen, doch Músab glaubte, zumindest den Anflug von Verstehen in den meergrauen Augen des Herrn des Turms zu erkennen. „Und was also verlangt Ihr nun von den Thelynrim, König Músab?“ fragte er.
„Ich verlange nur, dass Ihr mir die Gelegenheit gebt, zu beweisen, dass - trotz meines Bündnisse mit Suladân - Eurer Insel keine Gefahr durch Kerma droht. Ich kam an die Westküste Harads, um neue Verbündete zu finden und reise deshalb nun in das Königreich Ta-Mehu. Von den Thelynrim hatte ich mir Hilfe dabei erhofft, die Spur meines geflohenen Bruders Kashta zu verfolgen. Es liegt auch in Eurem Interesse, wenn seine Machenschaften ein für allemal beendet werden, will ich meinen.“
Thorongil schien zu überlegen. „Ta-Mehu sagt Ihr? Dieses Reich der Nekropolen und Totenkulte ist voller Gefahren, Músab. Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut.“
„Ich tue nur das, was ich für mein Volk als am besten erachte,“ erwiderte Músab. „Werdet Ihr mir also bei der Jagd nach Kashta behilflich sein?“
„Nun, Ihr versteht sicherlich, dass ich dieses Thema nicht zu meiner Priorität machen kann,“ antwortete Thorongil, nun im neutralen Tonfall. „Die liegt - wie bei Euch - auf der Sicherheit meiner eigenen Leute. Jener, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben. Doch als Geste meines guten Willens - und als Dank dafür, dass Ihr dafür gesorgt habt, dass sowohl Narissa als auch Aerien sicher zur Insel zurückgekehrt sind, werde ich meine Späher dazu anhalten, nach diesem Kashta Ausschau zu halten und sich nach Gerüchten über ihn umzuhören. Sollten sie etwas erfahren, werden wir Euch in Kenntnis darüber setzen.“
Músab nickte. Ein Anfang, immerhin. Dass ihm der Zutritt zur Weißen Insel verwehrt worden war, gefiel ihm noch immer nicht und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. Dennoch war er froh, dass das Gespräch nun eine bessere Wendung genommen hatte.

Er tauschte sich noch eine ganze Weile mit dem Herrn der Thelynrim über die aktuelle Lage in Harad aus. Wenngleich Thorongil meist nur wenig preisgab, das Músab nicht bereits wusste, sah der König Kermas den Rest der Unterhaltung gleichwohl als Investition an, um das Vertrauen zwischen ihnen zum Wachsen zu bringen. Von Thorongil erfuhr er, dass der Krieg zwischen Qúsay und Suladân bislang nur wenige Auswirkungen gehabt hatte. Das Königreich im Südwesten Harads hatte ihren Verbündeten, dem Malikat Qúsays, kaum Truppen zur Hilfe geschickt. Auf Tol Thelyn hatte man gehört, dass es in Ta-Mehu interne Konflikte zwischen dem Königshaus und den einflussreichen Priestern des Totenkultes gab, die verhindert hatten, dass die militärische Macht von Ta-Mehu im Krieg eingesetzt wurde.
Als sich das Gespräch dem Ende entgegen neigte, sagte Músab: „Eine letzte Frage hätte ich da noch, Thorongil.“
Der Herr der Insel musterte Músab abwartend.
„Ich beabsichtige, meinen Neffen Prinz Gatisen als Unterhändler nach Gondor zu entsenden und hatte gehofft, auf Tol Thelyn würde sich vielleicht ein Schiff finden, das zu jenen Gestaden unterwegs sei.“
„Nun, Ihr habt Glück,“ erwiderte Thorongil. „Erst gestern kehrte eines unserer Schiffe aus Gondor zurück, und es wird in wenigen Tagen erneut dorthin aufbrechen. Ich kann Euch nicht sagen, was Prinz Gatisen in Gondor erwarten wird, oder ob ihm viel Erfolg bei seinem Auftrag beschieden sein wird, aber... ich denke, es ließe sich ein Platz an Bord des Schiffes für ihn finden... sofern er es unbewaffnet betritt.“
Músab nickte zufrieden. „Ich danke Euch, Thorongil.“ Er gab Gatisen einen Wink, und der junge Prinz legte seine Waffen ab.
Während Thorongil sich leise mit seinen Beratern unterhielt, trat Aerien auf Músab zu. Sie neigte respektvoll das Haupt und sagte: „Dies ist nun unser Abschied, Euer Majestät. Möget Ihr bei Eurer Fahrt Erfolg haben.“
„Hab‘ Dank, Aerien,“ erwiderte Músab freundlich. „Auch Narissa und dir sei Erfolg beschieden. Ich nehme an, ihr werdet euch einige Zeit auf Tol Thelyn erholen?“
Aerien blickte etwas beschämt beiseite. „Nein, wir... werden schon bald wieder aufbrechen.“
„In ein neues Abenteuer,“ rief Narissa, die in einiger Entfernung stand.
„Dann wünsche ich euch all das Glück, das ihr zum Bestehen dieses Abenteuers braucht,“ sagte Músab. „Und vergiss nicht - ihr seid Prinzessinnen Kermas, und in meiner Heimat stets willkommen.“
Aerien schien dieser Titel noch immer etwas peinlich zu sein. Doch sie verbarg es gut, denn es bedurfte Músabs gesamter Erfahrung, die Fassade des Mädchens zu durchschauen. „Ich danke Euch, König Músab. Dann... lebt wohl.“
„Bis zu unserem Wiedersehen,“ antwortete Músab.

Die Thelynrim kehrten mit Aerien, Narissa, Gatisen und Kani auf ihr Schiff zurück, während Músabs Garde das Lager für die Nacht in den windgeschützten Dünen nahe des Strandes aufschlug. Am kommenden Tag würden sie sich nach Süden wenden, und entlang der Küste reiten, bis sie das geheimnisvolle Reich von Ta-Mehu erreichten. Dort, so hoffte Músab, würde er die Verbündeten finden, die er zum Schutze seines Volkes brauchte, um nicht länger auf das Bündnis mit Suladân angewiesen zu sein...


Narissa, Aerien, Thorongil, Kani und Gatisen nach Tol Thelyn

Melkor.:
Die ganze Reise über hatte Músab geschwiegen, eine bedrückte Miene formte sich zunehmend in seinem Gesicht.  Gleichmäßig wippte der Qore im Sattel seines Rappens, Lómarab, auf und ab. Die Sonne hatte bereits weit ihren Zenit überschritten und bald würde die tückische, kalte Nacht der Mehu Wüste einbrechen. Auf seinen Befehl würde das Nachtlager jedoch erst im Bur-Delta aufgeschlagen werden - dem mächtigen Fluss und gleichzeitig Lebensversicherung der Bewohner von Ta-Mehu. Mit jeder voranschreitenden Stunde  kamen sie ihrem ersten Ziel näher. Der beißende Nachgeschmack der glimpflich gelösten Verhandlung mit dem Turmherren, stieß Músab immer noch sauer auf.  Die Thelynrim hatten ihm den Zutritt nach Tol Thelyn verwehrt, dennoch konnte er am Ende sich die Unterstützung bei der Suche seines abtrünnigen Bruders sichern.  Kurz vor der Dämmerung hatte die Gruppe das Delta des rauschenden Flusses erreicht, hier teilte sich der Bur in mehrere kleine Flüsse und Bäche welche schließlich in die Bucht von Belfalas mündeten.
Nachdem die Pferde an die einzeln stehenden Palmen gebunden wurden, hatte man ein kleines Feuer entzündet.  Rundherum hatte sich die Gruppe nun hingesetzt und plante die restliche Reiseroute.  Alára, welcher von seinem Onkel einst als Diplomat nach Ta-Mehu entsandt wurde, kannte sich in diesen Gefilden am besten aus und so schlug er vor die Nordstraße zu nehmen welche später schließlich nach Lah'a'aun führen würde, dem Sitz des Königs und Hauptstadt des Königreichs.  "Die Lage in Ta-Mehu scheint angespannt... Es wird schwer werden Ta-Mehu in diesem Zustand als Verbündeten zu gewinnen." klärte Músab auf. "Wir nehmen die Route welche Alára vorgeschlagen hatte." mit einem Stock zeichnete er eine feine gerade Linie, als würde er eine Karte malen. " Mit genügend Glück werden wir auf dem Weg einige Bewohner des Landes oder Ansiedelungen finden, damit wir uns ein klareres Bild von der aktuellen Situation machen können." Alára nickte.
Wenig später war die Sonne nun vollständig verschwunden, nur die kleine Flamme sorgte für ein klein wenig Licht. Dicke Wolken hatten sich über den Mond gehangen, welche ihn wie eine dicke, schwere Wand hinter sich versteckten. Nur gelegentlich kam ein kleiner schwacher Schein des Vollen Mondes zum Vorschein. Die ersten Gardisten hatten die Nachtwache begonnen und Músab nutze die Chance um einen weiteren Blick in das Tagebuch von Faareha zu werfen...

~~~
Jahr 2061, Zweites Zeitalter
Yôzadar, Enklave der Arûwanâi, Kontinent Hyarnandor, Mittelerde

Ich habe Kush verlassen. Das Land meiner Heimat liegt hinter mir und es kommt mir so vor, als hätte ich eine ganz neue Welt betreten, obwohl noch immer derselbe Staub unter den müden Hufen meines Pferdes aufgewirbelt wird, wie er sich auch in Kush finden lässt. Mein Weg hat mich fort von der Schlucht geführt, in der mein Vater fiel und ich folgte den Spuren meiner geheimnisvollen Retter über viele Wegstunden durch die felsige Wüste im Grenzgebiet des unter dem Schatten liegenden Kush.

Ich bin froh, dass ich die Enklave von Yôzadar betreten durfte, ohne meine Waffen abzugeben. Die Menschen, die hier leben, stehen unter der Herrschaft des Schiffskönigs der See-Menschen. Jene, die über das Meer kamen und große Städte an seinen Ufern gründeten. Jene, die viel Segen zu den Menschen Mittelerdes brachten, wenn die alten Geschichten wahr sind. Heutzutage bin ich mir nicht sicher, ob die Schiffsherren wirklich nur auf das Wohl der Welt aus sind. Ich habe gehört, dass in einigen Häfen nun Tribute und andere Zahlungen von den umliegenden Menschenreichen eingefordert werden. Es soll Krieg im Süden gegeben haben, als sich Widerstand gegen diese Vorgehensweise regte.

Hier, inmitten der steinernen Wüste weit jenseits von Kush, spürt man noch nichts davon. Ich war überrascht, einen Vorposten der See-Menschen so weit entfernt vom Meer zu finden, doch offenbar sind die kleineren ihrer Schiffe so beschaffen, dass sie auch die meisten Flüsse befahren können. Die Enklave von Yôzadar liegt am Oberlauf eines der großen Ströme, die nach Westen zum großen Hafen namens Umbar fließen, dem wichtigsten Stützpunkt der Schiffsherren. Die Enklave wird von einer starken Mauer geschützt und verfügt über mehrere, wundersame Kriegsmaschinen, die stählerne Geschosse gegen jegliche Angreifer schleudern können. Die Wächter, die auf den Mauern patrouillieren, tragen Bögen aus purem Stahl, deren Durchschlagskraft und Reichweite ihresgleichen sucht. Die Menschen, die hier leben, sind allesamt von großer Statur und geben mir das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein.
Umso überraschter bin ich deshalb noch immer davon, dass der Meister der Enklave, ein Mann namens Silmahtar, mir so bereitwillig sein Ohr lieh, als ich ihm von dem Schatten, der über Kush gefallen ist erzählte.

Nachdenklich starre ich auf die Felswüste im Osten hinaus, während ich mich mit den Händen auf den weißen, steinernen Zinnen des Wehrgangs oberhalb des Haupttores der Enklave abstütze. Silmahtar tritt neben mich, und sein meerblauer Umhang bauscht sich hinter ihm auf, gepackt von einer plötzlichen Brise. Sein Haar ist beinahe so lang wie meines, doch es ist deutlich heller. Als er mich ansieht, fallen mir erneut seine jadegrünen Augen auf, die mich zur Faszination bringen.
„Fareeha,“ sagte er, und seine Stimme ist ein Wohlklang für mich. „Ich habe nach dir gesucht.“
„Und nun habt Ihr mich gefunden, Meister,“ antworte ich, wie es sich geziemt.
Silmahtar lächelt. „Ich sagte es dir doch gestern bereits. Nicht so förmlich, wenn ich bitten darf.“ Er reicht mir seine Hand, und ich nehme sie; lasse mich von ihm entlang des Wehrganges führen. Er ragt über mir auf und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um zu seinen Augen aufzublicken. Mit einem Mal weiß ich nicht, was ich sagen soll.
Es scheint ihn nicht weiter zu stören. „Ich habe heute Nachricht von einem der Kapitäne der Erkundungsflotte erhalten,“ sagt er im Plauderton. „Sie sind von einer Expedition in die östlichen Ozeane zurückgekehrt und sind dabei auch an der Küste des Reiches von Kush entlang gekommen.“
Ich horche auf. „Was haben sie gesehen?“ frage ich atemlos.
„Sie wurden angegriffen,“ erwidert Silmahtar ernst. „Jener Schatten, der sich Kushs bemächtigt hat, hat sich offenbar weiter ausgebreitet. Noch wagt er sich nicht auf das Meer, doch unsere Flotte konnte die Küste Kushs nicht länger betreten oder gefahrlos erforschen.“ Mit einem Mal lächelt er und lässt meine Hand los. „Doch für uns sind dies gute Nachrichten, Fareeha.“
„Weshalb?“
„Dass die Expeditionsflotte angegriffen wurde, ist nicht von der Hand zu weisen. Dies kann unser Hochkönig nicht hinnehmen, denn ein Angriff auf die Flotte Númenors ist ein Angriff gegen seine Autorität über die Meere dieser Welt. Tar-Atanamir ist ein stolzer Herrscher und wird seine Ehre verteidigen wollen.“
Ich horche auf. Die See-Menschen werden in den Krieg gegen den Schatten von Kush ziehen? „Was, wenn dies genau in der Absicht des Schattens liegt? Wenn er die Krieger deines Volkes an Land locken will, um sie gefangen zu nehmen und sich ihrer fortschrittlichen Waffen und Schiffe zu bemächtigen, Silmahtar?“ frage ich besorgt.
„Niemand hat es in diesem Zeitalter bislang gewagt, die Macht von Westernis ungestraft herauszufordern,“ sagt Silmahtar entschlossen. Erneut nimmt er meine Hand und umschließt sie mit beiden Händen. „Ich verspreche dir, die Gerechtigkeit wird siegen und der Schatten wird von deiner Heimat genommen werden.“
In seinen Augen leuchtet gerechter Zorn auf, und in meinem Herzen beginne ich vorsichtig, seinen Worten Glauben zu schenken...

Curanthor:
Kurz vor Músabs Abreise

Aglarân blickte noch den beiden jungen Frauen stumm hinterher, als sie zu einem weiteren Abenteuer aufbrachen. Niemand schenkte ihm Beachtung, doch er war es gewohnt. Aerien blickte sich noch nicht einmal um. Aufmerksam blickte er ihr nach, bis er die Segel am Horizont nicht mehr zu erkennen waren. Ihre Worte klangen noch immer in seinen Ohren, die sie für ihn übrig hatte, obwohl er so hart gegen ihren Traum von einem vereinten Volk gesprochen hatte. Tief in seinem inneren hoffte, noch einmal mit ihr sprechen zu können. Nachdenklich scharrte er mit seinem rechten Stiefel im Sand. Seine selbstauferlegte ursprüngliche Aufgabe, Mordor zu schwächen, indem er für dessen Widersacher im Süden kämpfte, hatte sie mit dem Ende der Schlacht um El Kurra erledigt. Niemals würde er wieder auf der Seite Mordors, oder dessen Verbündeten kämpfen. Selbst wenn König Músab noch so beteuerte, dass es zum Schutz seines Volkes sei und er so Mordors Macht von innen heraus schwächen könnte. Aglarân kannte sich im Süden nicht aus und konnte nicht sagen, wie Kerma sich schlagen würde, doch für ihn kam es nicht in Frage, auch nur darüber nachzudenken in diesem Land, das unter Mordors Hand lag, zu verweilen.

Als die Nacht hereinbrach, suchte Aglarân einen flachen Stein und einen Kalkstein. Darauf ritzte er in knappen Worten, dass er niemals wieder mit Mordor in Verbindung stehen würde und noch einigen unerledigten Dingen nachgehen muss. Eine Entschuldigung, dass er sich einfach davon machte, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Er hoffte, König Músab erinnerte sich daran, was er in dem Thronsaal gesagt hatte: „Jedoch biete ich Euch meine Hilfe als Verbündeter an.“ Damit war ihre Allianz an Músab selbst gebunden und nicht Kerma. Solange er jedoch im Bunde mit Mordor stand, konnte er dort jedoch nicht bleiben. Er hoffte, dass der König weise genug war, die Botschaft und seine Beweggründe zu verstehen, denn einen zweiten, einflussreichen Feind in der Welt brauchte er nicht.

Aglarân erhob sich und wandte sich nach Norden. Am Rand des Lagers sprach ihn eine Wache an, wohin er gehen würde. Er zögerte. Früher hätte er den Mann einfach niedergeschlagen und wäre seiner Wege gegangen, doch die Zeit in König Músabs Gefolge hatte seine Sicht auf die Dinge geändert. Er hatte gesehen, dass fast jeder dieser Männer eine Familie hatte, die zu Hause auf sie warteten. Er hatte gesehen, als sie nach der Schlacht um Assuit auf die Schiffe zurückgekehrt waren, was der Krieg mit den Angehörigen macht, die mit leeren Augen vor sich hin starrten und gelegentlich von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Er hatte gesehen, wie die Überlebenden der Gefechte, die keinen gefestigten Geist besaßen mit hohlem Blick vor sich hin starrten und wie betäubt über das Deck gewankt waren. Keiner dieser Menschen würde sich je von den Schrecken erholen, die sie erlebt hatten. Und doch war das alles ein Sandkorn in einer Sanduhr im Vergleich zu dem, was er in Durthang erlebt hatte. Aglarân merkte, wie die Wache unsicher seinen Speer umklammerte, sodass die Knöchel weiß wurden und hob beruhigend eine Hand. „Ich bin im Begriff dieses Land zu verlassen, der König weiß warum und ich denke nicht, dass Ihr mich auf halten könnt oder wollt.“ Die Wache blickte ihn einen Moment an und schluckte unmerklich, nickte aber dann und gab den Weg frei. Aglarân war nicht über die Reaktion verwundert. Bei dem Kampf gegen Balâkan bei EL Kurra hatte er den Krieger im Augenwinkel registriert. Er hatte mehrfach Anstalten gemacht in den Kampf einzugreifen, genau wie vier andere kermische Kämpfer, doch Aglarân hatte sie davon abgehalten. Balâkan ist ein ausgezeichneter Kämpfer, mit nur wenigen Schwachstellen, die er zu gut decken verstand. Ein Krieger, der weiß wo seine Schwächen liegen und wie diese auszugleichen sind, ist einem einfachen Soldaten weit überlegen.
Aglarân nickte knapp zum Abschied und wandte sich ziellos nach Norden.

Curanthor:
Es waren bereits einige Tage vergangen, seitdem Aglarân Músabs Gefolge verlassen hatte, sein Proviant war mehr als zur Hälfte aufgebraucht, doch näherte er sich dem Rand der Wüste. Zumindest ging er davon aus, denn der Horizont flimmerte nicht mehr so extrem vor Hitze und der durchgehende Sand war kleinen Steinchen gewichen, die ein immerwährendes Knirschen von sich gaben, wenn er über sie lief. Ein wenig erinnerte ihn an das Geräusch von feuchten Schnee, der so ähnliche geknirscht hatte, als er im Grauen Gebirge unterwegs war. Fast vermisste er die Kälte, die ihn kaum gestört hatte, denn die Hitze hier machte sich vor allem durch das viele Schwitzen und den enormen Wasserverbrauch bemerkbar. Zum Glück hatte er drei Wasserschläuche von Músabs Dienern vor der Schlacht um El Kurra bekommen. Zwei davon waren bereits leer. Mit besorgenten Blick auf den letzten Trinkschlauch senkte er wieder seinen Arm, den er zum trinken angehoben hatte. Oasen oder Wasserstellen waren schwer zu finden, oder durch sehr viel Glück. Aglarân glaubte nicht an sein Glück, das hatte er noch nie getan. An Zufälle jedoch schon. Meistens waren sie jedoch nicht zu seinem Gunsten gewesen. Zum Beispiel seine Herkunft, die in Durthang ein großes Tabu gewesen war. Die Eisenglieder seiner Panzerhandschuhe knirschten. Mühsam öffnete er seine Hand, die er unbewusst zu Faust geballt hatte. Für einen kurzen Moment blitzte ein Bild aus seiner Vergangenheit vor seinem inneren Auge auf. Das Gesicht seines Ziehvaters. Die sonst so von Hass und Abscheu erfüllten grauen Augen starrten leblos an die Decke. Ein überraschter Gesichtsausdruck war für alle Ewigkeiten in verhassten Züge gebannt. Sein Schritt stoppte. Aglarân ballte beide Hände zur Fauste und genoss das Gefühl von damals, als er endlich seinem verhassten Ziehvater sein zu kleines und stumpfes Schwert in den Bauch rammen konnte. Wie er es mit aller Macht zur Seite gerissen hattem um die Wunde zur vergrößern. Es war ein erfüllendes Gefühl gewesen. Eine der seltensten Emotionen in seinem bisherhigen Leben. Ein wenig Enttäuschung machte sich ihm breit. Jetzt, da er ein erwachsener Mann war, begriff er erst durch was für eine Tortur er gegangen war. Selbst die normale Ausbildung der besten Krieger Durthangs war nicht so brutal gewesen. Er wusste das, immerhin hatte er mehrfach Wache gestanden, als vielversprechender Nachwuchs ausgebildet wurde. Aglarân hätte seinem Ziehvater so viel mehr antun können und müssen.
"Du hattest einen viel zu schnellen Tod, Sakalzîr", murmelte er leise. Es war das erste Mal nach über zwanzig Jahren, dass er diesen Namen in den Mund nahm. Noch immer hinterließ er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Seine Panzerhandschuhe knirschten. "Ich werde mich den Schatten meiner Vergangenheit stellen und das an das Licht bringen, was von mir ferngehalten wurde."
Sein Blick fixierte den Horizon, dort wo Mordor liegen musste. Etwas Weißes erhaschte seine Aufmerksamkeit. Er hob die Hand um seinen Blick gegen die brennenden Sonnenstrahlen abzuschirmen. Hinter drei flachen Hügel, ganz knapp am Horizont erkannte er einen weißen Würfel. Seine langjährige Erfahrung sagte ihm, dass dies ein Zelt sein musste. Dort, wo Menschen in der Wüste sich die Mühe machten ein Zelt zu errichten, musste es etwas Besonderes geben, sonst würde man sich die Kräfte sparen. Nachdenklich schätzte er die Entfernung ein und kam zu dem Schluss, dass es etwa einen halben Tag dauern würde, die Stelle zu erreichen. Die Wüste war trügerisch, was Entfernungen anging und seine Kraftreserven waren auch bald erschöpft. Ging er das Risiko ein, ausgelaugt womöglich in einen Kampf zu geraten, oder darauf zu hoffen so eine Wasserstelle zu finden und dabei zu verdursten, wenn er keine finden sollte?
Entschlossen setzte Aglarân sich in Bewegung. Er war zu weit gekommen, um jetzt in einer staubigen Einöde elend zu verrecken. Wenn er sterben würde, dann... Er grinste in sich hinein und murmelte: "... dann aufrecht stehend, mit einem Schwert in der Hand."

Seine Einschätzung stimmte. Die Dämmerung setzte ein, als er sich dem Zelt näherte. Doch der Zufall war ihm gnädig. Vor ihm lag eine große Oase. Ein paar Palmen drängten sich um den sechs mal acht Schritt großen Tümpel, bis auf das Zelt war keine Spur von Menschen oder anderen Lebewesen zu erkennen. Aglarân ließ misstrauisch sein Schwert aus der Scheide gleiten. Vielleicht war es eine Falle. Sein Blick glitt vom Zelt zu den Palmen und wieder zurück. Beides Orte, an denen man sich auf die Lauer legen konnte. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorn. Seine Intuition schrie ihm zu, dass es ein gefährlicher Ort war. Und sie log nicht. Ein bekanntes Sirren ließ ihn herumfahren. Stahl klirrte auf Stahl. Knurrend erhöhte Aglarân den Druck auf das gegnerische Schwert, das er auf Halshöhe abgefangen hatte. Vor ihm stand ein Krieger, der in eine komplett weiße Lederrüstung trug und in in einen weißen Kapuzenmantel gehüllt war. Selbst das Heft seines Schwertes und das Tuch vor dem Gesicht waren weiß. Die Erscheinung ließ ihn kurz stutzig werden, was der Fremde ausnutzte und seine schlanke Klinge ruckartig zurückzog. Aglarân gelang es nur dank seiner jahrelangen Erfahrung und brutalen Ausbilung gerade noch rechtzeitig den Druck von seinem Schwert zu nehmen, um nicht nach vorn zu taumeln.
"Warum so angespannt?", erklang eine hohe Stimme lässig und der in weiß gehüllte Krieger senkte seine Waffe - in dem Fall eine Kriegerin, denn die Stimme war eindeutig weiblich als sie weitersprach:" Ich wollte nur mal sehen, ob Eure Reflexe genauso gut sind, wie behaupted wird."
Aglarân hob misstrauisch seine Klinge an die Kehle der Fremden. Im Schatten der Kapuze konnte er ein Augenpaar aufblitzen sehen. Etwas schepperte gegen seinen Brustpanzer.
"Ihr seit in keiner Verfassung einen Kampf zu gewinnen, oder überhaupt einen gegen mich zu wagen, wenn ihr diesen billigen Trick nicht habt kommen sehen", sagte die Stimme nun mit deutlich enttäuschtem Unterton.
Er antwortete nicht, sondern blickte zu Boden. In dem Staub der Geröllwüste lag ein fein gebogener, sehr wertvoll aussehender Dolch, der augenscheinlich von der Fremden stammte. Wenn sie wollte, hätte sie ihn damit ernsthaft verwunden können, anstatt ihn nutzlos gegen seinen Brustpanzer zu werfen. Langsam senkte er sein Schwert, ließ jedoch nicht seine Achtsamkeit sinken.
"Ich habe von Euresgleichen gehört. Gerüchte und Geflüster. Verbotenes Getuschel", sagte er leise und legte den Kopf schief, "Wenn Ihr zu jenen Leuten gehört... den Geistern." Aglarân weigerte sich den richtigen Namen auszusprechen. In Mordor war es ein Todesurteil. Selbst ihn zu kennen war Hochverrat. Gleichzeitig stellte er fest, dass er nicht sofort alle Gewohnheiten aus seiner verhassten Heimat ablegen konnte.
Die Fremde schien indessen überrascht. "Ach? Es gibt tatsächlich Gerüchte über uns und mich? Das ist unwöhnlich. Normalerweise treten wir nie in Erscheinung. Das hier ist eine Ausnahme." Sie begann leise mit sich selbst zu reden, was er nicht verstand, ehe sie seufzte und lauter sagte: "Das ist es in der Tat. Eine einmalige Sache. Du gehst wieder in den Osten. Das ist die Botschaft, die ich überbringen soll."
Verwirrt blinzelte Aglarân und fragte stumpf, was er da soll.
"Den Spuren des Mondes folgen. Das waren die Worten. Gehe nach Osten und Folge der Spur des Mondes. Das ist schon mehr als deutlich."
"Warum soll ich einer Botschaft trauen von einer angeblichen Botin eines geisterhaften Geheimbundes, der schon seit Jahrhunderten in Mittelerde sein Unwesen treibt und dessen Existenz gar nicht bewiesen ist."
"Anhand Eurer Reaktion vorhin, scheint der Beweis erbracht zu sein", antwortete die Fremde prompt und wandte sich winkend ab, "Folge den Spuren, bis seinen Wurzeln."
Aglarân ging ihr hinterher und wollte sie packen, doch die Fremde war erstaunlich flink und wich ihm geschickt aus.
"Antworten gibt es dort, wo es Euch gesagt wurde. Das Zelt ist ein Geschenk der Ninquen, darin findet ihr Vorräte für die Reise."
Mit den Worten eilte die Fremde hinaus in die Einöde.
"Wartet!", rief er ihr hinterher, "Seid Ihr wirklich einer von ihnen?!"
"Nehmt Euch in Acht vor den Mórquen!", kam es zur Antwort, ehe ihre Gesalt in der brütenden Hitze verschwamm. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Aufzeichnungen, die er sich heimlich durchgelesen hatte, waren nur sehr sparsam mit den Beschreibungen gewesen, doch die Mórquen konnten sich von der Furcht, die sie verbreiteten mit dem Hexenkönig messen. In der langen Zeitspanne, in der sie inaktiv waren, hatte man ihren Namen vergessen, doch waren sie offensichtlich noch irgendwo da draußen. Nachdenklich blickte Aglarân der Fremden hinterher. Wenn sich ihre Widersacher regten, so war es nur eine Frage der Zeit, bis Sauron ebenfalls sich die Mórquen zu Nutze machte. Dabei kam ihm ein Auszug aus einer der Aufzeichnungen in den Sinn:
Wenn es eine furchteinflößendere Macht als der namenlose Schrecken gab, dann waren es die Mórquen. Niemand weiß, wie sie aussahen, wer sie waren oder ob es überhaupt lebende Wesen waren. Wenn es eine Ausgeburt der Leere und des schwärzesten Abgrunds gab, so waren sie es. Nichts schien sich in ihren Weg stellen zu können. Lanzen splitterten, Schilde barsten und Schwerter verfehlten sie. Wenn sie irgendwo auftauchten, gab es keine Zeugen, die davon berichten konnten. Niemals hat ein lebendes Auge sie zu Gesicht bekommen und konnte davon berichten.

Aglarân straffte sich und verschob das Grübeln. Nur langsam verzog sich die Gänsehaut, die seinen Körper überzogen hatte. Er brauchte eine Mahlzeit und Ruhe, beides fand er in dem Zelt, wie es die Fremde gesagt hatte. Dennoch war es kein erholsamer Schlaf, da er irgendwie Wache halten musste und ständig über die Begegnung nachdachte.

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

[*] Vorherige Sete

Zur normalen Ansicht wechseln