Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Mehu-Wüste

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Eandril:
Narissa und Aerien von Tol Thelyn

Auf dem Festland angekommen verabschiedeten Aerien und Narissa sich von den dortigen Wächtern, und kletterten auf den Rücken ihrer Pferde.
Narissa tätschelte Grauwind den Hals, und sagte: "Endlich mal eine angenehme Reise. Ich bin sicher, es wird beinahe wie Ferien." Trotz des Aufbruchs war sie äußerst gut gelaunt - oder gerade deswegen? Sie fühlte sich auf Tol Thelyn wohl und geborgen, doch der Frieden war trügerisch. Es wurde Zeit, mal wieder etwas zu unternehmen, etwas zu erleben. Obwohl - sie gönnte sich ein verstohlenes anzügliches Grinsen - es mit Aerien natürlich nie wirklich langweilig geworden war.
Diese hatte sich gerade auf Karabs Rücken geschwungen, nachdem sie ihr Gepäck auf dem Rücken des Pferdes verstaut hatte, und meinte: "Ich weiß nicht. Du scheinst Ärger anzuziehen - es ist geradezu magisch."
"Ha", gab Narissa zurück. "Wer ist denn von Karnuzîr entführt worden, und musste gerettet werden?"
"Und wer hat sich von diesem Kopfgeldjäger aus Aín Sefra entführen lassen, und musste von mir gerettet werden, hm?"
"Und wer hätte sich in Qafsah beinahe von einem Nazgûl töten lassen?"
"Und wer hat uns überhaupt erst dahin gebracht?"
Narissa wandte ein klein wenig verlegen den Blick ab. "Hmpf, na schön. Vielleicht ziehe ich tatsächlich Ärger an. Aber du musst zugeben, dass die Reise nach Qafsah auch... angenehme Auswirkungen hatte."
Aerien warf ihr einen Blick zu, den man nicht anders als verliebt bezeichnen konnte, und erwiderte: "Sehr angenehme Auswirkungen."
Narissa unterdrückte ein Kichern, und wandte den Blick wieder nach vorne, auf die Wüste, die vor ihnen lag. "Also - Harad liegt vor uns. Lass uns diesem Land zeigen, wer wir sind."

Sie folgten - zum zweiten Mal in kurzem Abstand - dem Weg nach Osten in Richtung Sarn Amrûn. Die Reise verlief ohne größere Zwischenfälle, wenn man den Abend nicht mitzählte, an dem Aerien darauf bestanden hatte, wenigstens einmal das Kochen zu übernehmen, bis sie Ain Salah erreichten. Da die Stadt nach ihrem letzten Kenntnisstand auf Suladans Seite stand, schlugen Narissa und Aerien einen Bogen nach Süden um sie herum. Sie waren zwar beide nicht unbedingt auffällig, doch man wusste nie, wer einen in einer Stadt alles sah. Und außerdem erinnerte Ain Salah sie an Abel und Karnuzîr, und diese Art von Erinnerungen konnte weder Narissa noch Aerien gebrauchen.
Ain Salah lag ungefähr auf halber Strecke ihrer vorläufigen Reise. Sie hatten beschlossen, nicht direkt nach Kerma zu reisen, sondern zunächst in Tindouf am Unterlauf des Harduin Zwischenstation zu machen. Von dort konnte man per Schiff oder auf dem Landweg nach Kerma reisen, und dort konnten sie vermutlich in Erfahrung bringen, ob König Músab sich noch in Aín Sefra aufhielt, oder ob er in sein Königreich zurückgekehrt war. Hinter Ain Salah wurde das Land grüner und ging in grasbedeckte Savannen mit verstreuten Bäumen über, die dichter wurden je näher sie dem fruchtbaren Tal des Harduin kamen.
Die beinahe zwei Wochen bis sie die Mauern von Tindouf erreichten, zählte Narissa zu den besten zwei Wochen ihres Lebens. Sie war unterwegs, spürte die Freiheit während sie ritten, und sie war mit Aerien zusammen - mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein. Als sie unter dem Stadttor von Tindouf hindurch ritten, war sie also bester Laune, obwohl Aerien gespielt beleidigt schwieg - Narissa hatte sie die letzten Meilen vor der Stadt ausschließlich mit Sternchen angeredet, was sie zumindest äußerlich zur Weißglut brachte. Doch an dem sanften Ausdruck in Aeriens Augen erkannte Narissa eindeutig, dass ihre Freundin den Spitznamen keineswegs so schrecklich fand wie sie behauptete.
"Nun", sagte sie, und lenkte Grauwind ein wenig zur Seite, um den Menschenstrom nicht allzu sehr zu behindern. "Wenn du wieder mit mir redest, Sternchen, sollten wir versuchen, etwas über unseren König in Erfahrung zu bringen."

Narissa und Aerien nach Tindouf

Eandril:
Músab, Aerien, Narissa und Aglâran aus El Kurra

Nur wenige Meilen östlich von El Kurra begann die große südliche Wüste Harads, die vom Königreich Ta-Mehu beherrscht wurde und die Narissa und Aerien inzwischen schon mehrere Male durchquert hatten, da sie sich genau zwischen Kerma, Aín Salah, der Bergfestung Burj al-Nar und Tol Thelyn erstreckte. Die Schlacht von El Kurra war noch vor dem Mittag vorüber gewesen, und so hatte die kleine Reisegruppe noch einige Stunden Weg hinter sich gebracht, bevor Músab kurz vor Sonnenuntergang Halt befohlen hatte. Während der ganzen Strecke hatten Aerien und Narissa sich ganz am Ende der Gruppe gehalten, möglichst weit vom Qore entfernt, und während sie ihre Lager für die Nacht aufschlugen, hielten sie es genauso.
Sie entzündeten ihr eigenes Feuer, einige Meter vom Lager der Kermer entfernt, und Narissa ließ sich demonstrativ mit dem Rücken zu Músab und seinen Leuten entfernt auf ihrer im Staub ausgebreiteten Decke nieder. Aeriens Miene war leicht zu entnehmen, dass sie dieses Verhalten ein wenig kindisch fand, doch sie schwieg und schüttelte lediglich den Kopf, bevor sich neben Narissa in den Sand kniete.
"Lass mich diese Wunde ansehen", sagte sie. "Auf eine Narbe mehr oder weniger kommt es nun zwar auch nicht mehr an, aber sie muss sich ja nicht entzünden." Das war ganz in Narissas Sinne, denn je länger der Ritt gedauert hatte, desto mehr Schmerzen hatte ihr die Wunde bereitet, bis sie äußerst froh gewesen war, Músab den Befehl zum Anhalten geben zu sehen - nicht, dass sie das jemals zugegeben hätte. Ohne zu zögern zog sie das Hemd von ihrer rechten Schulter beiseite, und Aerien löste behutsam den provisorischen, blutigen Verband, bevor sie die Stichwunde mit Kennerblick betrachtete. "Hm. Ein ganz glatter Stich, und wie es aussieht, ist nichts weiter wichtiges verletzt. Kannst du den Arm bewegen?" "Ganz normal", erwiderte Narissa, und bewegte zum Beweis den Arm auf und ab, wobei sie das Gesicht vor Schmerzen verzog. Aerien schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln, sagte aber: "Es hätte mich auch gewundert, wenn es nicht schmerzen würde. Du hast Glück, dass Gift nicht Balâkans Stil ist." Narissa biss die Zähne zusammen, als Aerien die Wunde behutsam mit einer hellen Salbe, die sie von Tol Thelyn mitgebracht hatten, einrieb. "Ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich viel Glück mit den Männern aus deiner Familie habe", meinte sie, und Aerien sah mit einem Lächeln von ihrer Arbeit auf. "Das kann man wirklich nicht behaupten."
"Aber wenigstens..." Narissas linke Hand fand Aeriens Finger und drückte sie sanft. "Wenigstens habe ich mit den Frauen mehr Glück. Und du bist sicher, dass du keine Schwester hast...?" Aerien schnappte in gespielter Empörung nach Luft, versetzte Narissa einen spielerischen Schlag gegen die unverletzte Schulter. "Du bist unmöglich!" Narissa lachte, und spürte, wie die Schmerzen, und die Anspannung der Schlacht allmählich von ihr abfielen. Für einen Augenblick vergaß sie sogar ihren Zorn auf Músab und alle sonstigen kermischen Verräter.

Sand knirschte unter schweren Stiefeln, und Gatisen trat in den kleinen Lichtkreis des Feuers - und wandte sofort wieder den Blick ab, als dieser auf Narissa fiel. Narissa wechselte einen Blick mit Aerien, die auf die Lippe bis um ein Kichern zu unterdrücken, und verdrehte die Augen. "Gatisen, ich bin keineswegs nackt oder unzureichend bekleidet", sagte sie, und fügte hinzu: "Sicherlich hast du in deinem Leben bereits die ein oder andere unbedeckte Schulter gesehen."
"Es ist ein bisschen mehr als nur eine Schulter", gab Músabs Neffe zurück, und Narissa sah prüfend an sich herab, doch alles entscheidende war weiterhin bedeckt.
"Spiel nicht die zimperliche Jungfrau", sagte sie, während Aerien ihr mit geschickten Fingern einen Verband anlegte, der deutlich besser wirkte, als der bisherige. "Erzähl uns lieber, warum du gekommen bist." Gatisen ließ sich ihr gegenüber im Sand nieder, und kreuzte die Beine.
"Was muss geschehen, damit ihr meinem Onkel verzeiht?", fragte er geradeheraus, vermied es dabei aber, ihnen beiden in die Augen zu sehen. Narissa spürte, wie sich ihre Kiefermuskeln verkrampften, als sie an Músabs "Bündnis" mit Suladan dachte. "Ich hätte nicht gedacht, dass dem großen König von Kerma unsere Meinung so wichtig ist."
"Mir ist an der Meinung aller gelegen, die Anteil daran hatten, dass ich das noch bin", ertönte eine tiefe Stimme hinter ihnen, und Gatisen und Aerien sprangen auf die Füße. Narissa blieb sitzen, während Músab neben Gatisen in den Lichtkreis des Feuers trat. Mit einer raschen Geste bedeutete er Aerien und Gatisen, sich zu setzen, und tat es ihnen gleich.
"Also", begann er, während seine Augen Narissa fixierten. "Die Antwort auf Gatisens Frage interessiert mich wirklich." Narissa erwiderte den Blick so herausfordernd, wie sie konnte. "Führt eure Armeen nach Qafsah. Belagert die Stadt, nehmt Suladan gefangen, schlagt ihm den Kopf ab und werft ihn den Geiern zum Fraß vor. Vielleicht dann."
"Du weißt, dass ich das nicht tun kann", erwiderte Músab ruhig, und Narissa zuckte mit den Schultern. "Nun, dann seit ihr vielleicht einfach kein starker König." Neben ihr hätte sich Aerien beinahe vor Schreck verschluckt und in Gatisens Miene stand Unglauben geschrieben, doch in Músabs Gesicht rührte sich kein Muskel. Offenbar prallte die Beleidigung einfach an ihm ab, was Narissa noch wütender machte als zuvor. "Und vielleicht war es ein Fehler, dass ich euer kostbares Königssymbol nicht einfach in die Schlucht geworfen habe."
"Vielleicht", erwiderte Músab, und zu Narissas großer Zufriedenheit hatte seine Stimme sich deutlich abgekühlt. "Vielleicht wärst du ja eine besser Herrscherin als ich, also sag mir - was hättest du anders gemacht?"
"Kein Bündnis mit Suladan geschlossen", antwortete Narissa ohne zu überlegen, und Músab breitete die Arme aus. "Woraufhin Suladan und Kashta gemeinsam deine Armee vernichtet hätten. Ich hätte meinen Thron und womöglich auch mein Leben verloren, und meiner Mutter würde niemals Gerechtigkeit widerfahren", schloss er mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme. Seine Augen funkelten, als er weiter sprach: "Ich bin euch beiden zu großem Dank verpflichtet. Ihr habt wiederholt euer Leben in meinem Auftrag riskiert, ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen und seid beim Kampf um meine Heimat verwundet worden." Bei seinen letzten Worten glitten Músabs Augen kurz zu dem frischen Verband an Narissas rechter Schulter. "Und nur deswegen ist mir daran gelegen, dass ihr versteht, was ich tun musste. Hätte ich dieses Abkommen nicht geschlossen, hätte Kashta nur Leid und Zerstörung über Kerma gebracht, und das konnte ich kein zweites Mal zulassen."
Narissa schüttelte den Kopf. Sie wollte sich ihren Zorn auf einen Mann, der sich mit jenem Monster verbündete, das ihr bislang beinahe alles, was sie liebte, genommen hatte, nicht von Argumenten nehmen lassen. "Und deswegen stellt ihr euch unter Suladans Führung - an die Seite Mordors."
"Nicht unter Suladans Führung", erwiderte Músab scharf. "Und sicher nicht an die Seite Mordors. Es ist wahr, dass mir in gewisser Weise die Hände gebunden sind, und ich nicht direkt gegen Suladan vorgehen kann. Doch ich habe Beziehungen, ich kann andere unterstützen, die gegen den Sultan kämpfen. Und wenn Suladan der Meinung ist, dass ich damit gegen unser Abkommen verstoße, und Kerma angreift... nun, dann werde ich darauf vorbereitet sein, und die Gelegenheit ergreifen."
Neben Narissa nickte Aerien stumm, und Músab fuhr fort: "Ich verstehe deine Situation, Narissa. Wäre Suladan mein Va..."
"Nennt ihn nicht so", unterbrach Narissa ihn heftig, und fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn. Die linke hielt, ohne, dass es ihr bewusst war, Aeriens Hand fest umklammert. "Bitte, ich... ich vermute, dass es euch auch nicht gefällt, als Kashtas Bruder bezeichnet zu werden."
Músab nickte langsam. "Du hast recht, es gefällt mir nicht sonderlich, von ihm als meinem Bruder zu denken. Leider kann sich niemand seine Verwandschaft aussuchen." Sein Blick glitt einen Herzschlag lang von Narissa zu Aerien und zurück, und er lächelte schwach. "Nun, seine leibliche zumindest nicht."
Narissa spürte, wie Aerien ihre Hand einmal kurz drückte, und atmete tief durch. "König Músab, ich...", begann sie ein wenig hölzern. "Ich verstehe, warum ihr tun musstet, was ihr getan habt. Und ich... möchte mich dafür entschuldigen, wenn ich euch darüber beleidigt habe. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass ich nicht noch immer fürchterlich wütend auf euch wäre", fügte sie ein wenig trotzig hinzu, und im Feuerschein leuchteten Músabs Zähne weiß, als er breit lächelte.
"Das ist vermutlich menschlich, und damit kann ich leben. Ich wäre ein seltsamer König, wenn alle immer glücklich darüber wären, was ich tue. Die Hauptsache ist, dass man meine Entscheidungen verstehen kann."
"Und dir niemand deswegen gleich ein Messer in den Rücken stößt, Onkel", meinte Gatisen, und klopfte dem König auf den Rücken. "Aber dazu hast du ja mich." Músab legte seinem Neffen für einen Augenblick die Hand auf die Schulter, und kam dann gewandt auf die Füße. "Nun, da wir diese Angelegenheit geklärt haben, würde ich euch raten, ein wenig Schlaf zu finden. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns."
"Wem sagt er das", murmelte Narissa vor sich hin, als Músab und Gatisen zu ihrem Lager zurückgegangen waren. "Ich wette, wir kennen uns in dieser Gegend um einiges besser aus als er."
Aerien warf ihr einen strafenden Blick zu. "Du bist der unhöflichste, sturste, nachtragendste... unmöglichste Mensch, dem ich je das Pech hatte, zu begegnen, 'Rissa." "Ich weiß", erwiderte Narissa ungerührt, streckte sich auf dem Rücken aus, und blickte in den Sternenhimmel. Aerien legte sich neben ihr auf die Seite, stützte den Kopf auf den Ellbogen und betrachtete ihr Gesicht. "Aber zugleich bist du auch der tapferste, spannendste, beste Mensch, dem ich je das Glück hatte, zu begegnen."
"Ich weiß", entgegnete Narissa wieder. "Du bist nichts davon." Sie blickte Aerien an, musste über ihre gekränkte Miene lachen, und gab ihr einen raschen Kuss. "Du bist ganz einfach nur der wunderbarste Mensch, den es auf dieser Welt gibt. Mehr nicht."

Fine:
Aerien schlief in dieser Nacht außerordentlich gut. Sie wusste nicht, was der Grund dafür war - ob es daran lag, dass Kerma nun hinter ihr lag, oder dass sie zumindest für den Augenblick keiner drohenden Gefahr ausgesetzt war - doch es war ihr egal. Sie hatte sich schon recht bald nach Músabs Besuch an Narissas Feuerstelle in ihre dicke Reisedecke gehüllt und war eingeschlafen, was dafür gesorgt hatte, dass es den ersten Sonnenstrahlen am folgenden Morgen sehr leicht fiel, Aerien zu wecken. Sie gähnte, streckte sich, und kam auf die Beine. Sie fühlte sich erfrischt und abenteuerlustig. Ein rascher Blick nach vorne zeigte ihr, dass sie nicht die Einzige war, die so früh erwacht war. Die breitschultrige Gestalt Gatisens warf lange Schatten gen Osten, als sich der Neffe des Königs bei den Packpferden zu schaffen machte.
Noch während Aerien hinsah, erstarrte Gatisen mitten in der Bewegung, als er an der Wache vorbeikam, die die Packtiere bewacht hatte. Aerien kam neugierig ein paar Schritte näher, wobei ihr auffiel, dass Gatisens Gegenüber ungewöhnlich klein für einen der normalerweise hochgewachsenen königlichen Gardisten Kermas war. Gatisen hatte mittlerweile beide Arme vor der Brust verschränkt und sagte einige Worte in der kermischen Sprache, die nicht sonderlich erfreut klangen. Als er Aerien bemerkte, winkte er sie knapp zu sich herüber.
"Hast du irgendetwas damit zu tun? Die ehrliche Antwort, bitte," sagte der Prinz ohne Begrüßung.
Aerien riss verwundert die Augen auf. "Wovon sprichst du? Ich verstehe nicht..."
Gatisen, dessen Gesichtsausdruck zu einer Miene der Verdrossenheit gewechselt hatte, hob die Hand und schob sie kurzerhand unter die Stoffmaske, die den Großteil der Gesichter der königlichen Gardisten verdeckte. Es sah beinahe so aus, als würde er an dessen Ohr ziehen. Der überraschte Aufschrei einer vertrauten, hellen Stimme, zeigte Aerien, dass der Prinz tatsächlich auch genau das getan hatte.
"Bitte sag mir, dass du nichts davon gewusst hast," sagte Gatisen mit einem tiefen Seufzer. Er zog Helm, Kapuze und Stofftuch herunter und enthüllte das Gesicht einer beschämt lächelnden Kani.
Sogleich verstand Aerien Gatisens Verdruss. Auch sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: "Wenn ich von dieser Torheit gewusst hätte, hätte ich sie verhindert."
"Aerien! Ich dachte, wir wären Freundinnen!" empörte Kani sich.
"Das dachte ich auch," gab Aerien ungerührt zurück. "Was tust du hier, Kani?" Sie fühlte sich unangenehm an Serelloth erinnert, die ebenfalls einen Hang dazu gehabt hatte, in Situationen aufzutauchen, in denen sie nichts zu suchen hatte.
"Ich wollte so gerne mit euch gehen, aber mein Vater und der König wollten es mir nicht erlauben," gestand das Mädchen schuldbewusst.
"Wie bist du an die Rüstung eines Gardisten gekommen?" wollte Gatisen mit einer Mischung aus Verärgerung und amüsiertem Interesse wissen.
"Das war ganz leicht," sagte Kani mit einer Spur von Stolz in der Stimme. "In El Kurra haben sie die Verletzten untergebracht. Darunter waren auch einige Gardisten. Ich habe beobachtet, wo sie ihre Rüstungen verstaut haben, und..."
"Kani," sagte Aerien mit Bedacht. "Wir befinden uns im Feindesgebiet. Diese Lande sind gefährlich und wir könnten jederzeit überfallen werden. Und du hast keinerlei Kampferfahrung. Was hast du dir denn nur dabei geacht?"
"Bitte verratet mich nicht an den Qore," bat Kani. "Sonst wird er mich nach Hause schicken."
"Ich denke nicht, dass er das tun wird," meinte Gatisen. "Es ist viel zu gefährlich, dich auf dich allein gestellt zurück nach Kerma zu schicken." Er seufzte. "Ich verstehe noch immer nicht, wieso du hier bist."
Aerien, der Kanis rote Wangen nicht entgangen waren, hatte inzwischen eine relativ gute Vorstellung davon bekommen, weshalb Kani sich ins Gefolge des Königs geschmuggelt hatte. Sie erinnerte sich daran, dass Gatisen Kani nach ihrer Entführung durch Mustqîm von der Stadt Para zurück in den Palast geleitet hatte, und dass der junge Prinz Kani getröstet hatte, als sie von Kashtas Angriff auf ihre Heimat erfahren hatte. Außerdem musste Aerien zugeben, dass Gatisens Äußere nicht unansprechend wirkte, auch wenn er trotz allem nicht gerade ihr Typ war. Doch sie beschloss, den nun so offensichtlichen Grund für Kanis Anwesenheit für's Erste für sich zu behalten.
Kanis Antwort auf Gatisens Frage bestand aus unverständlichem Gemurmel, was Aeriens Theorie nur noch bestärkte. "Ich glaube, dies ist eine Angelegenheit, die Prinz Gatisen alleine klären kann," sagte sie schmunzelnd und ließ die beiden stehen. Noch während sie sich entfernte, hörte sie, wie Gatisen begann, streng auf Kermisch auf Kani einzureden.

Aerien kehrte zu ihrer Lagerstätte zurück und weckte eine an diesem Tage besonders griesgrämige Narissa, die sich nur widerwillig für den baldigen Aufbruch fertig machte. Aerien lachte in sich hinein, doch inzwischen war Narissa wach genug, dass es ihr nicht entging.
"Hör auf, so gute Laune zu haben," beschwerte sie sich.
"Ich denke nicht daran, 'Rissa," entgegnete Aerien. "Wärst du, so wie ich, mit der Sonne aufgestanden, wärst du bestimmt genauso gut gelaunt."
"Das bezweifle ich. Wer so früh aufsteht wie du, und sich darüber auch noch freut, kann nicht ganz richtig im Kopf sein," gab Narissa gereizt zurück.
Aerien streckte ihrer Freundin die Zunge heraus. "Vielleicht bin ich dann eben nicht ganz richtig im Kopf. Und vielleicht ist das ja auch gut so. Es gibt mir die Kraft, deine Launen zu ertragen."
"Nennst du mich etwa launisch?"
"Meine Liebe, deine Laune kann so schnell umschlagen wie die Winde über den Gipfel des Ephel Dúath," lachte Aerien. "Dich launisch zu nennen wäre eine Untertreibung."
"Pah! Das muss ich mir von dir nicht anhören," sagte Narissa teils beleidigt, teils belustigt und schwang sich auf Grauwinds Rücken. "Da ist mir Grauwind als Stimme der Vernunft hundertmal lieber."
"Du weißt doch genau, dass du trotzdem nicht auf mich verzichten kannst," hielt Aerien mit einem überlegenen Lächeln dagegen, während auch sie in den Sattel stieg.
Narissa gab sich mit einem Seufzen, das ihr Grinsen kaschieren sollte, geschlagen. "Genieße deinen kleinen Sieg. Aber heute Abend, wenn dir schon kurz nach Sonnenuntergang die Augen zufallen und du die beste Zeit zum Sterne beobachten verpasst, werde ich es sein, die zuletzt lacht."
"Wir werden sehen," meinte Aerien und gab Karab zu verstehen, dass er sich in Bewegung setzen sollte, denn weiter vorne war Músabs Tross bereits losgezogen.

Gegen Mittag dieses Tages, als die Sonne ihren Zenit erreicht hatte, ließ Músab eine Rast einlegen. Nahe der Wüstenstraße, der sie folgten, war ein Wasserloch in den Boden gegraben worden, an dem die Pferde getränkt werden konnten. Während Narissa sich darum kümmerte, dass Grauwind und Karab ihren Durst löschten, war Aerien zum König gerufen worden, der sich im Schatten einiger Palmen aufhielt und nachdenklich über die vertrockenete Einöde der Mehu-Wüste nach Süden blickte.
"Ah, Aerien," begrüßte er sie, als sich die Adûnâ neben den Qore gestellt hatte.
"Ihr habt nach mir schicken lassen, Majestät," sagte sie angemessenerweise.
"Ja. Ich habe einige Fragen an dich, wenn du gestattest. Es geht um deine Familie."
Aerien schluckte, doch dann nickte sie rasch. "Selbstverständlich, Euer Gnaden."
"Dein Onkel, Aglazôr, hat mir bereits die groben Verwandschaftsverhältnis se von Haus Balákar erläutert, aus dem er und du stammen," sagte Músab bedächtig. "Doch ich würde gerne mehr darüber erfahren, um eine Theorie meinerseits bestätigen."
"Ich werde alle Eure Fragen beantworten, so gut es mir möglich ist, König Músab," sagte Aerien. "Doch zunächst würde ich gerne wissen, wo sich mein Onkel im Augenblick aufhält, wenn Ihr erlaubt."
Músab neigte den Kopf leicht nach vorne und deutete nach Nordwesten. "Ich entsandte Aglazôr kurz vor dem Beginn der Schlacht bei El Kurra nach Umbar, das meiner Kenntnis nach von den Truppen des Malikats unter Qúsay belagert wird. Ich glaube, ein Paar Augen und Ohren vor Ort zu haben, wird mir von großem Nutzen zu sein, nun, da..."
"Nun da Ihr mit Sûladan verbündet seid und somit ein Interesse am Sieg Umbars über Qúsay habt," ergänzte Aerien.
"Es ist nicht ganz so eindeutig wie du denkst," entgegnete Músab. "Belassen wir es dabei, dass Aglazôr die Lage rings um Umbar für mich im Auge behalten wird und mir Bericht über die dortigen Ereignisse erstatten wird."
"Er steht also weiterhin im Dienste Kermas," schloss Aerien.
"Ich bezahle ihm gutes Geld dafür, dass es auch so bleibt," antwortete Músab. "Doch genug von deinem Onkel." Er wandte sich ihr zu und blickte Aerien direkt an. "Ich kam nicht umhin, während der Schlacht mitanzuhören, welche Worte zwischen dir und dem Mörder meiner Mutter fielen. Er ist dein Bruder, nicht wahr?"
"Ihr habt das Adûnâische verstanden?" stieß Aerien überrascht hervor, denn es war die Sprache von Durthang gewesen, die Balakân auf dem Schlachtfeld verwendet hatte, um sie zu verhöhnen, und Aerien hatte in derselben Zunge geantwortet.
"Dazu komme ich später. Balakân ist dein einziger Bruder?"
"Nein, es gibt noch einen weiteren. Sein Name ist Varazîr. Er ist jünger als ich," antwortete Aerien tonlos.
Músab nickte und schien sich eine geistige Notiz zu machen. "Du verstehst sicher, dass ich deinen Bruder Balakân ohne Gnade dafür jagen und bestrafen werde, für das was er meiner Mutter angetan hat."
Aerien nickte und ihr fiel ein, was Gatisen bei ihrer Rückkehr in die Königsstadt von Kerma beiläufig erwähnt hatte, als sie das Flaggschiff des Köngis von Ferne beobachtet hatten. In ihrem Kopf verbanden sich die Informationen, die sie über Músabs Mutter besaß, langsam zu einem Bild zusammen.
"Eure Mutter, die Kandake, war von meinem Volk, nicht wahr?" wagte sie zu sagen, und Músabs Nicken bestätigte Aeriens Theorie. "Deshalb besitzt ihr ein Schiff, das einen adûnâischen Namen trägt, und deshalb versteht Ihr jene Sprache," fuhr Aerien fort.
"Ihr Name war Belazîl," sagte Músab. "Sie begegnete meinem Vater während eines Abenteuers an der Grenze zwischen Eryan und Khand. Damals war sie auf der Flucht vor ihren Verwandten aus Mordor. Ihre Geschichte scheint Ähnlichkeiten mit deinen eigenen Erlebnissen aufzuweisen, meinst du nicht?"
"Ich erinnere mich an eine Frau namens Belazîl," sagte Aerien. "Sie war ein Bastard, die uneheliche Tochter meines Urgroßvaters Aphanuzîr, die vor vielen Jahren spurlos verschwand."
"Nun, ich denke, wir können davon ausgehen, dass es sich dabei um eben jene Belazîl handelte, die später die Königinmutter von Kerma wurde," befand Músab. "Ich hatte also recht. Zwischen uns besteht eine entfernte Verwandschaft, Aerien."
Aerien wusste nicht recht, wie sie auf diese Neuigkeit reagieren sollte. Sie hatte sich innerlich noch nicht einmal davon erholt, dass ihr eigener Bruder versucht hatte, sie umzubringen. Daher war das Einzige, was sie sagte, ein einfaches "Oh."
Músab entlockte dies ein gutmütiges Lachen. Er klopfte Aerien auf die Schulter und sagte: "Keine Sorge, Aerien. Das, was Narissa und du für mich getan habt, erhebt dich über sämtliches Misstrauen, das ich deiner - unserer Familie entgegenbringe. Dass wir um einige Ecken verwandt sind, ändert nichts zwischen uns. Ich habe auch familiäre Verbindungen zur Stammlinie Sûladans, falls es dich interessiert, was mich auch zu einem Verwandten Narissas macht."
"Lasst sie das besser nicht wissen," sagte Aerien, als sie wieder klar denken konnte. "Sie ist nicht sonderlich gut auf Sûlâdan zu sprechen, wie Ihr gesehen habt."
"Das habe ich in der Tat allzu gut verstanden," sagte Músab. "Ich danke dir dafür, dass du meine Fragen beantwortet hast, Aerien. Doch nun denke ich, ist die Zeit zum erneuten Aufbruch gekommen. Ta-Mehu rückt näher, und ich bin in Eile. Kerma mag zwar vorerst sicher sein, doch der Bund mit Sûladan beruht auf Notwendigkeit, nicht zwangsläufig auf Vertrauen. Ich werde nicht den Fehler machen, der Schlange die Hand zu reichen, und mich beißen zu lassen."
"Sehr weise von Euch, Euer Gnaden," befand Aerien. Dann kehrte sie zu dem Wasserloch zurück, wo Narissa bereits ungeduldig auf sie wartete.

Gegen Abend erreichte die Reisegruppe einen Hügel, der sehr sanft anstieg und kaum mehr als zehn Meter über die Wüstenebene heraus ragte. Aerien zuckte innerlich zusammen, als sie den Ort erkannte, an dem einst Karnuzîr sein Lager aufgeschlagen hatte, als er Aerien in seiner Gewalt gehabt hatte. Doch auch eine gute Erinnerung verband Aerien mit diesem Ort: Hier war sie von Narissa sowohl aus der Gefangenschaft als auch aus dem Käfig der Gedanken befreit worden, den sie sich selbst gefertigt hatte, um der damals so schrecklichen Gegenwart zu entfliehen.
Erneut bestand Narissa darauf, ein eigenes Feuer zu entfachen. Und erneut begab es sich, dass die beiden jungen Frauen dort nur einen Teil des Abends über alleine waren. Diesmal waren es jedoch nicht Gatisen und Músab, die die Zweisamkeit störten, sondern, zu Aeriens Verwunderung, der Gardist Aglâran. Noch immer trug der für gewöhnlich schweigsame Wächter seine Rüstung und seinen Helm mit dem schwarzen, aus Pferdehaar bestehenden Schweif zur Zier darauf, und sein Gesicht lag im Schatten des schmalen, dunklen Visiers des Helmes. Er ließ sich Aerien gegenüber nieder und legte seinen Schild neben sich. Das Schwert hing an seinem Gürtel und er machte keine Anstalten, es zu ziehen.
Narissa warf Aerien einen Blick zu, der nur allzu deutlich Was will der denn hier sagte. Aufgrund der Art und Weise, wie sich Aglarâns Kopf dabei beinahe unmerklich bewegte, war es Aerien klar, dass dem Gardisten die Geste Narissas nicht entgangen war.
"Ich bin gekommen, um zu reden," drang seine tiefe Stimme aus dem Helm hervor. "Mit dir." Seine behandschuhte Hand deutete auf Aerien. "Gewährst du mir diese Bitte, Azruphel?"
"Das ist nicht mehr ihr Name," mischte sich Narissa ungehalten ein. "Sie heißt Aerien, verstanden?"
"Ich hörte diese Bezeichung schon zuvor," sagte Aglarân bedächtig. "Für mich macht es keinen Unterschied. Beides bedeutet dasselbe."
"Es... wäre mir trotzdem lieber, wenn du mich Aerien nennen würdest," sagte Aerien vorsichtig.
"Weshalb? Erkläre es mir," forderte der Gardist.
"Aragorn gab mir diesen Namen," stieß Aerien hervor. "Er erzählte mir einst die Geschichte der letzten Königin von Númenor. Ihr Name war Míriel. Doch dann wurde ihr ihr Name weggenommen und sie musste sich mit der adûnâischen Übersetzung Zimraphel zufrieden geben, ob sie es nun wollte, oder nicht. Du weißt, dass ich versuchen werde, die Spaltung unseres Volkes rückgängig zu machen, sofern dies möglich ist. Deshalb habe ich Míriels Schicksal umgekehrt, als Symbol dafür, woran ich glaube."
"Und was wäre das?"
"Dass nach all den Jahrtausenden der Kriege wieder Frieden möglich ist," sagte Aerien mit fester Stimme.
"Daran glaube ich nicht," erwiderte Aglarân kalt. "Dieser Ort, von dem wir stammen... er muss vom Antlitz der Erde getilgt werden und von Grund auf zerstört werden."
"Ich lasse nicht zu, dass du Aeriens Traum zunichte machts," stellte Narissa klar.
"Bitte, lasst uns nicht streiten," sagte Aerien und machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen. "Das ist nicht das, worüber du sprechen wolltest, Aglarân. Liege ich richtig?"
Mehrere Sekunden des Schweigens verstrichen, ehe der Helm des Gardisten sich langsam zu einem Nicken senkte. "Ich kam, weil es einige Dinge gibt, die ich nicht verstehe," begann Aglâran kurz darauf. Der dunkle Sehschlitz seines Helmes fixierte Aeriens Augen. "Du bist deinem grausamen Zuhause entflohen und hast dich dieser Welt zugewandt. Du hast gelernt, wie man sich in ihr verhält und hast Bekanntschaften gemacht, die über das hinausgehen, was zwischen einem Herrn und einem Diener besteht. Du hast das gefunden, was man vermutlich Freunde nennt, und darüber hinaus, eine... Gefährtin, wie es mir scheint. Du hast gelernt, zu lieben." Er machte eine lange Pause, in der Aerien mehrere rasche Blicke mit Narissa wechselte, doch keine der beiden wusste, was sie sagen sollten. Und schließlich sprach Aglarân weiter. "Seit ich die Dienste deines Vaters am Erebor verließ, befand ich mich auf einer Suche. Auf der Suche danach, welchen Sinn mein Leben hat. Und obwohl ich weit gereist bin und so einige Bekanntschaften gemacht habe, habe ich das Gefühl, noch immer nicht wirklich verstanden zu haben, was es ist, das die Menschen Liebe nennen. Darum hatte ich gehofft, du könntest es mir erklären, Azruphel."
Das war so ziemlich das Letzte, was Aerien erwartet hatte. Ich soll ihm erklären, was Liebe ist? dachte sie verwirrt. Sie selbst hatte seit ihrer Flucht aus Mordor einige Probleme damit gehabt, ihre Gefühle zu verstehen und war sich ziemlich sicher, nicht gerade eine Expertin auf diesem Gebiet zu sein.
"Wieso fragst du gerade mich?" wollte sie vorsichtig wissen.
"Weil du weißt, wie es ist, in Mordor aufzuwachsen und zu leben," entgegnete Aglarân. "Du hast den Ort, von dem wir stammen, mit eigenen Augen gesehen. Ich nahm an, dass du gerade deshalb die richtigen Worte finden würdest."
"Geliebt zu werden bedeutet, einer Person restlos vertrauen zu können, egal unter welchen Umständen," mischte sich Narissa ein. "Es ist das Gefühl, das man verspürt, wenn man am liebsten jede einzelne Sekunde seines Lebens mit einer bestimmten Person verbringen würde, selbst wenn man dadurch in Schwierigkeiten geraten würde." Sie warf Aerien dabei einen eindeutigen Blick zu und lächelte breit.
Aglarân schien die Worte in sich aufzunehmen und sorgfältig zu analysieren, doch sein Blick blieb auf Aerien geheftet. Er wartete geduldig ab, bis sie schließlich bereit war, ihm eine eigene Antwort zu geben.
"Ich weiß noch nicht lange, was es bedeutet, jemanden zu lieben," sagte Aerien langsam. "Ich würde es als eine Art unerschütterliche Gewissheit betrachten, die ganz tief in mir fest verankert ist und die mir sagt, zu wem ich gehöre. Die Gefühle, die Narissa so schön beschrieben hat, die habe ich auch erlebt, und tue es noch. Aber für mich sind sie eher Symptome als dass sie die Ursache der Liebe in mir sind. Ich liebe Narissa, weil sie die fehlende Hälfte von mir ist, ohne die ich nicht leben könnte. Das bedeutet es für mich, sie zu lieben."
Aglarân blieb einen langen Augenblick schweigend sitzen. Dann erhob er sich und klopfte sich den Sand von der Hose und den Stiefeln. "Ich danke dir, Azru... Aerien." Mit wehendem Umhang drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Aerien und Narissa blieben noch mehrere Minuten an Ort und Stelle, ohne ein Wort zu sagen. Über ihnen tauchten einer nach dem anderen die Sterne auf, während ihr Lagerfeuer knisterte, knackte und langsam dahinschwand.
Schließlich war es Narissa, die das Schweigen brach. "Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass wir die Insel verlassen haben." Ihr Blick ging nach Westen und erinnerte Aerien daran, dass sie in einer knappen Woche, wenn alles gut lief, das Ufer des Westmeeres erreichen würden und kurz darauf die Strände Tol Thelyns wiedersehen würden.
"Ich habe es vermisst," stieß sie hervor. "Und ich habe deine Familie vermisst."
"Unsere Familie," stellte Narissa klar. Sie unterdrückte ein Gähnen und Aerien musste grinsen.
"Wird da etwa jemand schon müde?"
Narissa drohte ihr mit dem Finger. "Wehe du sprichst weiter. Dann kitzle ich dich so lange, bis du ohnmächtig wirst."
"Du kannst es gerne versuchen," wagte Aerien zu sagen, ehe sie rasch ihre Decke über sich zog, um Narissas Angriff zu entgehen.

Ihre Verteidigung stellte sich schnell als wirkungslos heraus.

Melkor.:
Nur noch eine Tagesreise würden sie brauchen, um die Westküste Harads zu erreichen. Locker hielt Músab die Zügel seines Pferdes, während jenes langsam durch die Einöde der Mehu-Wüste trabte. Er war wie so oft tief in Gedanken versunken. Nun da sein Anspruch auf den Thron Kermas dank des Königssymbos für alle Zeit rechtens war und nur sein Sohn Tamal der legitime Erbe des Königreichs sein würde, war Kerma in Sicherheit. Doch für wie lange...? Der Preis für die Sicherheit war hoch, sehr hoch: Alte, jedoch vor allem treue Freunde hatten mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen. Dutzende Kinder hatten ihre Eltern verloren, waren nun Kinder der Straße. Das Heer würde komplett reformiert werden müssen, neue Generäle, Hauptmänner und  Stadthalter eingesetzt werden, um die vielen freien Plätze zu besetzen.
Und obwohl das Königreich seinen König nun in der Hauptstadt brauchte, war Músabs Anliegen von höchster Dringlichkeit. Kerma stand nun, abgesehen von Suladan, ohne starke Verbündete da. Das Malikat hatte Kerma verraten und gezwungen mit Suladan zu paktieren und sowhl Kashta als auch Balakân waren Músabs Rache entkommen. Es gab wahrlich viel für ihn zu tun.
Er ging die Einzelheiten seines vor wenigen Stunden aufgesetzten Briefes durch, welche einer der Leibgardisten nun zurück nach Kerma bringen würde.

"Mit diesem Schreiben bestätigt der Qore, dass folgende Befehle seinem eigenem Willen entsprechen.
Famareeq Famareeqid, der momentane Stadthalter Napatas, soll mit sofortiger Wirkung den Titel des Scheichs erhalten. Ihm wird das Lehen El Kurra übergeben, welches seinen Stand wiederspiegeln soll.
Taloraqen, aus dem Haus der Aburniden, wird mit Wohlwollen zum neuen Stadtverwalter der Hafenstadt Napata gekürt. Somit steht ihm auch ein Platz im königlichen Rat zu.
Die Insel Assuit wird wieder in das Königreich von Kerma eingegliedert und wird unter direkte königliche Verwaltung gestellt. Das Haus Assuit stellt jedoch nach dem Ableben des Königs Abdul die Erben der Insel. Khasim bin Abdul und Alyána bint Músab wird weiterhin die Prinzenwürde eingeräumt.

Gez.
Qore Músab bin Kernabes
"Was erhoffst du dir auf Tol Thelyn? Wieso überhaupt diesen Umweg machen, wenn du doch eigentlich nach Ta-Mehu willst?" fragte ihn sein Neffe Gatisen, der Músab aus den Gedanken riss.
"Verständnis, Gatisen. Wir müssen den Thelynrim zeigen, dass wir uns trotz allem an unser Bündnis halten. Ich vertraue Narissa, doch sie mir nicht, zu recht." beantwortete er die Frage, schwieg dann jedoch wieder. Ein langer Moment verstrich, ehe Músab weitersprach. "Du solltest dich jedoch nicht damit befassen. Während dein Vater und ich nach unserem Besuch auf Tol Thelyn weiter nach Ta-Mehu reisen werden, wirst du nach Gondor gehen und mit dem Truchsess verhandeln."
Während Gatisen diese Neuigkeiten verdaute, musterte Músab nachdenklich seine gepanzerte Garde, die ihn wie stets umgab. Dabei fiel ihm ein besonders kleiner Gardist auf, der mehr schlecht als recht versuchte, sich im Sattel zu halten. Es dauerte nicht lange, bis Músab auf die Lösung dieses Rätsels gekommen war.
"Wieso ist das Mädchen dabei?" fragte er schließlich frei heraus.
Gatisen schluckte. " Das ist schwer zu erklären..." Er errötete.
Músab schmunzelte. Er hatte verstanden. "Nun gut. Ta-Mehu ist jedoch zu gefährlich. Sie wird dich nach Gondor begleiten," eröffnete er seinem verdutzten Neffen.

Melkor.:
Nach dem Gespräch mit Gatisen nahm sich Músab die Zeit, um für ein paar wenige, wertvolle Augenblicke auf andere Gedanken zu kommen. Er hatte aus Kerma einige alte Schriftstücke mitgebracht, die aus der Frühzeit des Reiches von Kush stammten. Eines davon schien eine Art Tagebucheintrag zu sein. Interessiert blätterte Músab in dem alten Manuskript und seine Gedanken wanderten an einen fernen Ort, viele, viele Jahrhunderte vor seiner Zeit...

~~~
Jahr 2060, Zweites Zeitalter
Königreich Kush, Ostküste von Harad

Gestern Abend kehrte der einzige überlebende Kundschafter zurück. Er war schwer verletzt und konnte seine Botschaft kaum aussprechen. Doch nun haben wir Gewissheit. Der Schatten hat uns nach langer Jagd gefunden.

Heute werden wir uns ihm stellen müssen.

Die Schlucht, in der sich der Widerstand versteckt hat, besitzt nur zwei Ausgänge. Beide sind von unseren Feinden, den Dienern des Schattens von Kush, besetzt. Der falsche König hält das Reich noch immer in seinem stählernen Griff, selbst nachdem mehrere Jahrhunderte vergangen sind und er längst dahingeschieden sein sollte. Diejenigen, die ihm nahe genug gekommen sind, um einen Blick auf seine schwarzen Roben zu werfen, sprechen von einem namenlosen Schrecken, der sie dabei ergriffen hat. Der Mensch, der einst König von Kush war, ist zu einem Schatten des Schreckens geworden, der mit der ebenso finsteren Macht im Bunde steht, die ganz Harad schon seit viel zu langer Zeit im Griff hat: Mordor.
Wir sind die Letzten, die vom Widerstand noch übrig sind. Ein Versteck nach dem anderen ist augespürt worden und eine Bastion nach der anderen erstürmt worden. Unsere Hoffnungen auf einen Sieg sind schon lange dahin. Wir können nun nur noch darauf hoffen, unsere Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Für eine Flucht ist es zu spät.

Die Nacht ist ruhig gewesen. Ich war zur letzten Schicht der Nachtwache eingeteilt worden und hatte dem Aufgang der Sonne über der Meeresenge im Osten zugesehen, während ich mein Schwert schliff. Jetzt steht die Sonne schon hoch am Himmel, doch noch immer regt sich bei unseren Feinden nichts. Es wird wärmer, und meine Anspannung steigt. Ich hasse es, auf eine Schlacht zu warten, der man nicht entgehen kann.
Am anderen Ende des Lagers sehe ich meinen Vater ruhelos auf- und abgehen. Er ist ebenso angespannt wie ich, das weiß ich. Der Speer in seiner Hand wippt nervös auf und ab. Ich mache mir nicht viel aus Speeren. Die Waffen meiner Wahl sind Schwerter und Bögen. Hier in Harad ist das Schwert eine seltene Wahl, da für seine Herstellung mehr Metall benötigt wird, als für einen Speer oder eine Keule. Doch dieses Schwert ist etwas Besonders für mich. Es stammt von einem meiner Vorfahren.
Mein Vater entdeckt mich und kommt zu mir herüber. "Fareeha," sagt er, mit einem rauen Klang in seiner Stimme. "Was soll nur diese Warterei? Warum greifen sie uns nicht an?"
Ich hebe die Schultern. "Ich weiß es nicht, Vater," antworte ich ihm. Ich frage mich, ob er sich dafür Vorwürfe macht, dass ich hier bin - gemeinsam mit ihm in der Todesfalle. Ob er seine einzige Tochter nicht lieber weit weg von hier wüsste. Er hat mir den Weg, den ich gewählt habe, niemals auszureden versucht, im Gegenzug zu meiner Mutter. Sie war von Anfang an dagegen, dass ich Kriegerin wurde. Doch mein Vater war stolz auf meine Entscheidung gewesen.
"Diese Warterei bringt mich noch um," murmelt mein Vater. Dann trottet er langsam davon, vermutlich auf der Suche nach etwas Wasser.

Ich döse ein wenig, mit dem Rücken an das sich erwärmende Gestein der Felswand hinter mir gelehnt. Kaum eine Minute ist vergangen seit ich die Augen geschlossen habe, als mich ein Warnruf weckt.
"Sie kommen!"
Der Wachposten hat nicht einmal genug Zeit, um einen erneuten Schrei auszustoßen. Schon trifft ihn ein Pfeil in den Hals und er stürzt tot zu Boden. Gestalten tauchen an beiden Ausgängen der Schlucht auf. Es sind Krieger von Kush, auf deren runden Schilden das Rote Auge gemalt worden ist. Sie kommen, um den Willen ihres Meisters auszuführen: Die Vernichtung des Widerstandes. Sie kommen schnell näher, die Waffen gezogen und Mordlust in den Augen.
Mein Schwert fühlt sich schwer in meiner Hand an. Mir fällt auf, dass meine Hand sich um den Griff herum verkrampft hat. Da spüre ich eine sanfte Berührung an meiner Schulter. Es ist mein Vater.
"Ganz ruhig, Fareeha," raunt er mir zu. "Was auch passiert... denk immer daran, dass ich dich liebe, mein Kind." Er streicht mir ein letztes Mal über das lange, schwarze Haar, das mir über den Rücken fällt, dann setzt er seinen Kriegshelm auf und reckt seinen Speer in die Höhe. Mit einem lauten Schlachtruf stürzt er sich in das rings um uns herum ausbrechende Gefecht.
Ein feindlicher Krieger durchbricht die dünne Verteidigungslinie des Widerstandes und kommt auf mich zu. Mit einem überlegenen Grinsen holt er zum tödlichen Schlag aus. Erst jetzt reagiert mein Körper und die Erfahrung, die ich mir in den vergangenen Jahren durch hartes Training und durch die vielen Kämpfe gegen die Loyalisten angeeignet habe, übernimmt meine Bewegungen. Ich lasse den Schlag mit einer raschen Drehung ins Leere laufen. Mein Schwert blitzt in der hellen Sonne auf und durchbohrt den Oberkörper des Kushiten. Blut spritzt auf den Brustschutz aus Leder, den ich trage, als ich die Klinge aus der Leiche ziehe.

Die Schlacht verschwimmt zu einem Meer aus Geschrei, Chaos, Schmerz und Tod. Ich habe kaum Zeit, darüber nachzudenken. Meine Klinge pariert, sticht zu, trennt Gliedmaßen ab und beendet Menschenleben. Meine Rüstung bewahrt mich vor den meisten Treffern, dennoch blute ich schon bald aus mehreren Wunden. Rings um mich herum vergeht der Widerstand mit jedem Rebellenkrieger, der fällt. Wir werden von beiden Seiten bedrängt und können nicht hinaus. Diese Schlucht wird unser Grab werden.
Für einige Minuten wendet sich das Blatt. Meinem Vater gelingt es, eine Schneise in die Reihen unserer Feinde zu schlagen. Ein Durchbruch scheint möglich zu werden. Ich verdopple meine Anstrengungen und verbreitere die Lücke, die entstanden ist. Einen Fuß vor den anderen setzend arbeite ich mich mühsam vorwärts. Doch dann versperrt mir etwas den Weg. Eine hochgewachsene Gestalt, gehüllt in tiefschwarze Roben aus Schatten. Eine Kapuze bedeckt das Gesicht des falschen Königs. In seiner gepanzerten Hand hält er ein grausames Schwert. Seine Stimme ist nicht mehr als ein unheilvolles Flüstern, das dem Widerstand den Tod verspricht. Und er ist umgeben von einer Aura des Schreckens.
Niemand wagt es, sich ihm zu stellen. Wohin er auch kommt folgt ihm die Vernichtung seiner Gegner auf dem Fuß. Nahezu mühelos schlachtet er jeden ab, den er zu fassen bekommt. Gepackt von einem namenlosen Entsetzen weiche ich vor ihm zurück, bis ich nicht mehr weiter kann. Mein Rücken stößt an die Felswand hinter mir.
Drei seiner loyalsten Krieger flankieren den Schattenkönig, als er sich mir nähert. Doch da stellt sich jemand schützend vor mich. Es ist mein Vater, Speer und Schild unbeugsam gegen seinen Feind gerichtet.
"Geh, Fareeha!" ruft er mir zu. Und in diesem Moment fällt neben mir ein Seil herab. Ein Blick die Felswand hinauf zeigt mir mehrere Gestalten, die von dort oben herabschauen und mir hastig zuwinken. Doch ich kann nicht gehen. Ich kann ihn nicht zurücklassen.
"Geh!" drängt er mich erneut, während er sich gegen die Angriffe seiner Feinde wehrt. Noch ist es ihnen nicht gelungen, meinen Vater zu überwinden. Zwei der Kushiten sind seinem Speer bereits zum Opfer gefallen.
"Fareeha!" Die Verzweiflung und Entschlossenheit, mit der er meinen Namen ruft, bringen mich schließlich dazu, das Schwert an meinen Gürtel zu stecken und das Seil hinauf zu klettern. Pfeile prallen rings um mich herum an der Felswand ab, während ich mich mühsam Stück für Stück hinauf arbeite. Ich wage es nicht, nach unten zu blicken. Tränen füllen mein Sichtfeld, als die Kampfgeräusche in der Schlucht langsam verklingen. Der Widerstand ist vernichtet und mein Vater ist gefallen. Ich frage mich, ob es der falsche König selbst war, der ihm den Todesstoß versetzte, und ob es ihm bewusst war, dass er damit den Letzten seiner Nachfahren getötet hatte.

Nein. Nicht den Letzten. Ich lebe noch. Ich erreiche die Felskante am oberen Ende der Schlucht und stemme mich hoch. Das Seil unter mir erzittert und mir wird bewusst, dass meine Feinde dabei sind, mir hinauf zu folgen. Rasch schneide ich es mit meiner Klinge durch und höre die Todesschreie der Unglücklichen, die sich daran festgehalten hatten.
Ich weiß nicht, wer mich gerettet hat. Die Gestalten, die mir das Seil zugeworfen haben, sind verschwunden. In wenigen Metern Entfernung steht ein einsames Pferd und daneben sind die Spuren weiterer Reittiere zu sehen, die fort von der Schlucht führen. Der Wind ist bereits dabei, sie zu verwischen.
Ich fasse den Entschluss, nicht aufzugeben. Ich werde meinen Vater rächen. Im Westen soll es noch Menschen geben, die sich der Herrschaft Mordors und Kushs widersetzen. Vielleicht werde ich mich ihnen anschließen können, wenn sie den Krieg zum Dunklen Herrscher tragen.

~~~
Músab unterbrach seine Lektüre, als einer der Gardisten zu ihm kam, um über den Verlauf der morgigen Reiseroute zu sprechen. Er beschloss, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit weiter in dem uralten Tagebuch zu lesen und fragte sich, wie die Geschichte damals wohl weitergegangen war...

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