Narissa und Valion von Tol ThelynSie waren seit ihrem Aufbruch von Tol Thelyn mit nur wenigen Pausen geritten, in der Hoffnung, Ain Salah noch vor der Streitmacht Qúsays zu erreichen. Und am Ende des zweiten Tags ihrer Reise durch die karge, braune Landschaft der Mehu-Wüste entdeckten Narissa und Valion vor sich tatsächlich den erhofften Anblick: Eine große, aufgewirbelte Staubwolke, wie sie von marschierenden Heeren verursacht wurde.
Beide waren sie vom eiligen Ritt erschöpft und hatten unterwegs nur sehr wenig gesprochen. Valion war angespannt, wie er feststellen musste. Seine letzte Reise nach Harad hatte ihm so manches Abenteuer und am Ende eine geheimnisvolle Verlobte beschert, doch damals hatte er sich nahezu immer auf Edrahils Rat und die Pläne des Alten verlassen können. Außerdem hatte sich sein Aktionsradius auf Umbar beschränkt und er hatte ein klares Ziel gehabt: Lothíriel zu retten und sicher nach Hause zu bringen.
Diesmal sahen die Dinge anders aus. Valions Mission bestand darin, Narissa zu unterstützen, doch... Narissa plante, Sûladan zu töten, den vermutlich am besten geschützten Mann in ganz Harad. Sein Tod würde den Krieg im Süden vermutlich sehr schnell beenden, das war Valion klar, doch wie man an Sûladan herankommen sollte, war Valion noch lange nicht klar. Narissa hatte durchblicken lassen, dass sie plante, sich auf ihre Verstohlenheit zu verlassen, doch einen genauen Plan schien sie nicht zu haben.
Umso erleichterter war Valion, als sich aus der Staubwolke vor ihnen eine kleine Gruppe berittener Gestalten herausschälte, von denen ihm drei sehr bekannt vorkamen.
"Schwesterchen!" rief Valion und sprang vom Pferd, als er sah, wie Valirë es ihm gleichtat. Sie umarmten einander eng. "Was verschlägt dich in diese unsägliche Ödnis? Ist es dir in Umbar zu langweilig geworden?" fragte er scherzhaft, obwohl sich den Grund bereits denken konnte.
"Du hast doch nicht wirklich geglaubt, ich lasse mir die kommenden Schlachten entgehen, kleiner Bruder," erwiderte Valirë grinsend. "Es geht ans Eingemachte. Eine Stadt steht den freien Haradrim noch im Weg, bevor sie Sûladans Machtsitz stürmen können."
Edrahil war auf seinem Ross sitzengeblieben. Er hatte für Valion nur ein knappes Nicken übrig, dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Narissa. "Dass du hier bist, kann nur zwei Dinge bedeuten. Entweder du hast Aerien unterwegs verloren und die Mission abgebrochen, oder..."
"Du bist ein verdammter Schwarzseher, Edrahil," sagte Narissa und lachte. "Hast du so wenig Vertrauen in den Plan gesetzt, den du selbst mit ausgeheckt hast? Natürlich waren wir erfolgreich. Gondor hat seinen König wieder."
Erchirion horchte auf, und auch Valirë blickte interessiert drein, doch ehe Fragen gestellt werden konnten, unterband Edrahil sämtliche weiteren Verzögerungen. "Falls ihr es nicht bemerkt habt befinden wir uns im Krieg, und dieses Heer dort wird nicht auf uns warten. Ich schlage also vor, wir heben uns die Gespräche für das Nachtlager auf - lange kann es nicht mehr dauern, bis Qúsay den Halt befehlen wird, immerhin ist die Sonne schon beinahe untergegangen. Und dann, Narissa, erwarte ich einen
vollständigen Bericht."
Ein genervtes Seufzen von der Angesprochenen ließ Valion erahnen, dass auch Narissa ziemlich gut zu wissen schien, wie ausführlich Edrahil seine Informationen dargelegt bekommen wollte, und er musste grinsen.
Zwei Stunden später kam die Streitmacht der freien Haradrim tatsächlich zum Stillstand, und schlug ein Lager auf. Valion gesellte sich zu Edrahil, Narissa und seiner Schwester samt ihrem Verlobten an eines der vielen Lagerfeuer, und sie hatten Zeit, ihre Erlebnisse auszutauschen. Narissa stellte sich Edrahils Fragen, aber Valion fiel auf, dass sie ihm eine etwas knappere Version der Reisegeschichte erzählte, als es Gandalf, Gimli und Aerien in Dol Amroth getan hatten. So ging sie nur wenig auf die Geschehnisse in Mordor selbst ein und konzentrierte sich mehr darauf, wie sie den verborgenen Weg in Harondor gefunden hatten, sowie auf die Rückkehr des Königs in Gondor - ein Thema, das Edrahil ohnehin am meisten zu interessieren schien.
"Hat er nach der Krönung die bestehenden Machtstrukturen geändert?" wollte Edrahil wissen und blickte dabei auch Valion an.
"Nein," antwortete dieser. "Imrahil hält noch immer das Amt des Truchessen inne."
"Gut... das ist gut. Ich hätte ihm das auch geraten... Gondor hat genügend Umstürze erlebt in den letzten Jahren. Ich hoffe, er..."
Edrahil brach seinen Satz ab, was untypisch für ihn war. Doch noch während er gesprochen hatte, war ein gondorischer Soldat zu ihm getreten und hatte ihm eine kleine Schriftrolle überreicht. "Aus Dol Amroth, soeben per Botenvogel eingetroffen, Meister Edrahil."
"Ist das so?" sagte Edrahil und überflog die Zeilen. Seine Brauen hoben sich um eine Winzigkeit, dann blickte er in die Runde. "Hmm. Das sind...
Neuigkeiten," sagte er nachdenklich, und steckte die Rolle sorgfältig zusammengefaltet ein. Dann schwieg er und blickte in die Glut des Lagerfeuers.
Narissa war die Erste, die die Stille auflöste. "Und? Willst du uns vielleicht einweihen?" fragte sie ungeduldig.
"Das wäre schön, ja," stimmte Valirë in einem ganz ähnlichem Tonfall zu.
"Wie?" Edrahil sah auf, als wäre er gerade tief in Gedanken versunken gewesen. "Oh. Nun, vielleicht sollte ich das. Erchirion, mein Junge, du hast der Flotte noch keinen Befehl zum Ausrücken gegeben, oder?"
Erchirion schüttelte den Kopf. "Ich dachte eigentlich, dass Valirë..."
Seine Verlobte schnitt ihm promt das Wort ab. "Da hast du falsch gedacht."
Der Prinz hob lächelnd die Schultern. "Und so ist die Flotte geblieben wo sie ist, die Schiffe kreuzen in der Bucht von Umbar."
"Gut, denn so will es unser König," sagte Edrahil. "Er möchte weiterhin ein Auge auf Umbar haben." Edrahil senkte die Stimme, so dass nur die Gefährten rings um das Feuer ihn hören konnten, und selbst diese mussten die Ohren spitzen, um den Alten wirklich zu verstehen. "König Elessar betrachtet Umbar als Eigentum Gondors. Er hat vor, deinen Onkel, Narissa, zum Fürsten zu erheben und ihm die Stadt und deren Umland zu unterstellen. Das wird Qúsay gar nicht gefallen."
"Und meinem Onkel ebenfalls nicht," sagte Narissa. "Ich denke nicht, dass er sich so einfach zu einem Lehnsfürsten Gondors machen ließe. Die Turmherren waren immer nur sich selbst verpflichtet, auch wenn unsere Beziehungen zu Gondor oft gut waren, waren wir doch nie die Untertanen des Südreiches."
"Vielleicht hat der König geglaubt, dass der Fürstentitel Umbars ein ausreichender Preis wäre, um Thorongil zu überzeugen," überlegte Valion.
"Wir werden es sehen. Das sind alles nur Gedankenspiele," sagte Edrahil. "Solange der Krieg nicht vorbei ist, wird niemand Umbar wirklich kontrollieren können, fürchte ich."
"Steht noch etwas in der Nachricht?" wollte Valirë wissen.
"Ach, nichts was weiter von Belang ist," sagte Edrahil. "Der König wünscht, dass ich nach Dol Amroth zurückkehre."
Eine Pause trat ein, und schließlich war es Erchirion, der sagte: "Und... Ihr habt nicht die Absicht, diesem Befehl zu gehorchen."
"Nicht im Geringsten," bestätigte Edrahil. "Meine Arbeit hier ist noch nicht getan. Der Tag an dem ich nach Dol Amroth zurückkehre, wird der Tag sein, an dem von Harad keinerlei Gefahr mehr für uns ausgeht."
Sie sprachen an jenem Abend noch bis spät in die Nacht über die Geschehnisse in Gondor und Harad, bis alle über die jeweiligen Abenteuer der anderen Bescheid wussten. Und obwohl die Nacht kurz war, fühlte sich Valion am folgenden Morgen erfrischt und abenteuerlustig. Das Heerlager befand sich bereits im Abbruch, und er war gerade auf der Suche nach Narissa, die eigentlich nur nach den Pferden hatte sehen wollen, dabei aber verschwunden war, als ihm inmitten des allgegenwärtigen Trubels ein Mann über den Weg lief, der sich auf den ersten Blick nicht von der Vielzahl von unterschiedlich bewaffnet und gerüsteten Kriegern im Heer der freien Haradrim unterschied. Doch als Valion ihn sich näher ansah, fiel ihm unter dem Staub und dem Bart auf, dass er den Krieger kannte.
"...Onkel Tórdur?" fragte er erstaunt.
Der Mann hatte gerade wieder seiner Wege gehen wollen, als er Valion genauer anblickte. Seine Miene hellte sich auf. "Wenn das nicht mein Lieblingsneffe ist! Was verschlägt dich denn hierher? Ich wette, deine Schwester ist auch nicht weit?"
"Dasselbe könnte ich dich fragen, Onkel, und du weißt genau, dass ich dein
einziger Neffe bin," sagte Valion, dann umarmte er Tórdur. "Mutter hätte die Suche nach dir beinahe aufgegeben."
"So so, hätte sie das? Ha! Ich glaube, bis vor einigen Wochen hätte sie lange suchen müssen. Ich bin in Harad unter einem anderen Namen bekannt... man nennt mich Abrazîr. Sag... bist du mal in der Heimat gewesen? Wie geht es dem Alten Luchs?"
Valion seufzte niedergeschlagen. "Er ist tot, Tórdur. Aber ich hab' seinen Mörder der gerechten Strafe zugeführt."
"Tot? Wirklich!" Die Nachricht schien Valions Onkel härter zu treffen, als er es selbst von sich erwartet hatte. "Dann fällt das Erbe an Beretar... aber wie ich ihn kenne, wird daraus wohl nichts. Oder hat sich etwas geändert?"
"Nein," sagte Valion. "Er hat sich der Stadtwache verschrieben. Mutter führt die Menschen von Nan Faerrim nun. Aber... "
"Ist ja gut, ich weiß was du sagen willst," knurrte Tórdur. "Also gut. Ich hab' mich lange genug davor versteckt. Wenn Qafsah gefallen ist, kehre ich heim und bringe die Dinge in Ordnung."
"Was machst du überhaupt hier im Heer des Malikats? Bist du ein Söldner?"
"Das zu erklären würde zu lange brauchen. Am besten fragst du deinen Freund Edrahil... ich weiß, dass er sich mit seinen Gondorern hier irgendwo in der Streitmacht herumtreibt. Eigentlich wollte ich mit ihm sprechen, aber... solange die Silbernen in seiner Nähe sind, wäre ich schlecht beraten das zu tun. Aber du... du mein Junge, du kannst ihm eine Nachricht überbringen, wie wäre das?"
"Nun... wenn du mich darum bittest, werde ich das gerne tun."
"Sag ihm nur dies: Die Löwenmaid ist wieder aufgetaucht. Sie ist in Qafsah, aber nicht um Sûladan zu unterstützen. Sie will ... seine Nachfolgerin werden."
Narissa, Valion, Edrahil, Qúsay, Valire, Erchirion, Dírar und Beregond mit dem Heer der freien Haradrim weiter in Richtung Ain Salah