Aerien und Serelloth vom Markt vor der StadtTrotz der kalten Jahreszeit stand ein Fenster in den Gemach offen, in dem Aerien lag und daran scheiterte, sich dem Schlaf hinzugeben. Der Wind wisperte leise herein und bewegte die tiefblauen Vorhänge, während von tief unten am Grund der gewaltigen Klippen auf denen die Stadt stand, das endlose Rauschen der Wellen heraufdrang. Aerien stellte sich vor, dass diese Laute für Narissa sehr beruhigend klingen mussten. Denn genau wie Dol Amroth lag auch der weiße Turm von Tol Thelyn hoch oben über der Küste und Wind und Wellen waren dort ständige Begleiter. Doch anstelle von Narissa lag Serelloth in dem Bett neben ihr und schnarchte leise vor sich hin. Das Mädchen schien Aeriens Einschlafprobleme nicht zu teilen und war innerhalb von Sekunden ins Reich der Träume geglitten, nachdem sie das Kerzenlicht im Zimmer gelöscht hatten.
Aerien und Serelloth waren erst spät abends in den Palast zurückgekehrt, nachdem sie die meiste Zeit des vergangenen Tages vor den Toren der Stadt und in Gesellschaft des Nordmann Mákon in der kleinen Schänke auf den Feldern verbracht hatten. Dennoch hatten sie sich nicht unbemerkt in ihre Unterkunft schleichen können. Die Residenz des Fürsten von Dol Amroth, die im Augenblick sowohl Machtsitz des Königs von Gondor als auch Palast seines Statthalters war, schlief nie, selbst wenn König und Fürst sich zurückgezogen hatten. Zu jeder Tageszeit waren Bedienstete unterwegs und erfüllten die Aufträge ihrer Herren oder gingen ihren regelmäßigen Aufgaben nach. Wachposten sorgten für die Sicherheit der hohen Persönlichkeiten und Boten eilten durch die Korridore des Palastes, denn manche Nachrichten ließen sich bei Nacht ungestörter überbringen als im Gedränge des Tages. So war es nicht verwunderlich, dass Soldaten Aerien und Serelloth zu ihrem Zimmer eskortierten und ihnen dort zwei Zofen aufwarteten. Serelloth schickte die Frauen mit freundlichen Worten fort; an diesem Abend würden sie keinerlei Dienste mehr benötigen. Aerien war froh darüber, denn im ersten Augenblick hatte sie sich unwohl gefühlt. Bedienstete zu haben, die für ihre Bedürfnisse sorgten, erinnerte sie auf unangenehme Art und Weise an ihr früheres Leben, als sie noch Azrûphel von Durthang, Tochter des Bâr n'Âdûnai gewesen war. Damals hatte man ihr, soweit möglich, jeglichen Wunsch erfüllt. Doch Aerien, die sie nun war, wäre hätte stattdessen jenem Abend am Liebsten mit Serelloth draußen in irgend einem Wäldchen übernachtet, und fühlte sich schuldig. Sie hatte nur einen Wunsch, und den konnte ihr niemand erfüllen, nicht einmal sie selbst.
Erneut ertappte sie sich dabei, wie sie Serelloths schmalen Rücken anstarrte und sich vorstellte, es handelte sich dabei um Narissa. Seufzend gab sie den Versuch auf, einzuschlafen und stand vom Bett auf. Das Fenster übte eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus, und als sie heran trat, fühlte sie sich mit einem Mal wie in der Zeit zurückversetzt. Während ihr der Wind das nachtschwarze Haar verwirbelte und ihr der markante Geruch von Salz und Wellen in die Nase stieg, war Aerien wieder im obersten Raum des alten Leuchtturms von Tol Thelyn, in den Narissa sie geführt hatte und ihr einen Abend geschenkt hatte, der alles verändert hatte. Auch damals waren die Wellen gegen das Gestein unter ihren Füßen gerauscht, wenngleich sie sich hier in Dol Amroth auch unwahrscheinlich viel weiter oben befand. Auch damals hatte der Wind sie gestreichelt, doch eines war anders: die Geborgenheit und der Friede, den Aerien dort auf Tol Thelyn verspürt hatte, war verloren gegangen. Serelloths Anwesenheit half gegen die Einsamkeit, doch die wachsende Verzweiflung in Aeriens Innerem ließ sich von der guten Laune, die Damrods Tochter stets ausstrahlte, nicht gänzlich vertreiben.
Aerien wusste nicht, wie lange sie dort stehen geblieben war - es mochten Minuten oder Stunden vergangen sein; für sie machte es keinen Unterschied. Als sie sich endlich vom Fenster abwandte, hatte sich Serelloth im Schlaf auf die andere Seite gewälzt und ihr Schnarchen war versiegt. Aerien ergriff den von der Bettkante herunterhängenden Zipfel der dünnen Decke, in die Serelloth sich gekuschelt hatte, und zog ihn bis an die Schulter ihrer Freundin herauf, von wo er im Laufe der Nacht herunter gerutscht sein musste. Dann warf sie sich einen pelzbesetzten Umhang um, schlüpfte in ein Paar leichter Schuhe, und verließ das Gemach. Sie war einigermaßen überrascht, im Gang auf einen dort wachenden Soldaten zu treffen. Als Aerien und Serelloth hier angekommen waren, hatte noch keine Wache vor ihrer Tür gestanden. Der Mann musterte sie kurz, sprach jedoch kein Wort und hielt Aerien auch nicht auf. Als sie den Korridor hinab ging, ohne ein wirkliches Ziel zu haben, nahm der Wächter seine Position wieder ein und hüllte sich in Schweigen.
Aerien fand sich einige Zeit später in der großen Halle Fürst Imrahils wieder, die übergangsweise als Thronsaal König Elessars diente. Im Gegenzug zum Rest des Palastes wirkte die riesige Halle totenstill und vollkommen verlassen. Es war dunkel, denn die Fenster auf der Rückseite, hinter dem Thron, waren verschlossen und von langen Bannern verhangen, die die Insigien Gondors und Dol Amroths zeigten.
"Wie fühlt es sich an, dafür verantwortlich zu sein?"
Die Stimme war aus den Schatten zu ihrer Linken gekommen, und Aerien fuhr zu Tode erschrocken herum. Aus der Finsternis schälte sich eine schlanke Gestalt, die in ein tiefschwarzes Kleid und einen Kapuzenumhang gehüllt war. Als die Frau ihre Kapuze absetzte, glaubte Aerien im ersten Moment, Minûlîth vor sich zu haben. Doch die Gesichtszüge waren etwas schärfer geschnitten, die Wangenknochen stachen etwas deutlicher hervor und das dunkle Haar war eine Spur länger.
"Verantwortlich für... was?" fragte Aerien vorsichtig.
Die geheimnisvolle Frau deutete auf den leeren Thron. "Für die Rückkehr des Königs von Gondor. Meine Schwester Minûlîth hält große Stücke auf dich, meine Liebe. Als sie mir in einem Brief berichtete, dass du mit dem wilden Mädchen vom Turm nach Mordor gingest, war ich mir sicher, dass euer Auftrag scheitern und ihr den Tod finden würdet. Doch du hast bewiesen, dass das Vertrauen meiner Schwester in dich gerechtfertigt war."
Aerien wusste nicht recht, was sie von dieser Sorte von Lob halten sollte. Höflich nickte sie und blickte ihrem Gegenüber in die dunklen Augen. "Vielen Dank," sagte sie schlicht. "Minûlîth ist Eure Schwester?" fügte sie dann eine kurze Frage hinzu.
"Ooh. Sie hat dir nicht von mir erzählt, obwohl sie doch so sehr in dich vernarrt ist und dich am liebsten adoptieren würde?" Minûlîths Schwester gab ein leises, beinahe spöttisches Lachen von sich. Dann fiel die humorvolle Aura wie ein Schleier von ihr ab, und Stahl trat in ihre Stimme. "Ich bin Lóminîth von Haus Minluzîr, Herrin des Ethir Anduin und Gebieterin der Schwarzsegel." Ihre Präsenz wirkte so respekteinflößend, dass Aerien beinahe instinktiv auf die Knie gegangen war, als ein lange unterdrückter Reflex aus ihrer Kindheit an die Oberfläche ihres Bewusstseins drang. Doch so rasch wie die dominierende Aura Lóminîths gekommen war, so schnell verblasste sie erneut, und die Schatten im Thronsaal Imrahils schienen wieder ruhig zu schlafen.
Aerien, der es gelang, den gehörigen Schreck zu verbergen, den Lóminîth ihr eingejagt hatte, nickte langsam. "Sprecht Ihr von den schwarzen Segeln Umbars, Herrin?" hakte sie nach, um Interesse zu zeigen.
Lóminîth schüttelte den Kopf. "Die Korsaren sind besiegt und zerschlagen. Die meisten von ihnen waren ohnehin kaum mehr als Wilde - mein eigener Vater mit eingeschlossen. Das schwarze Segel war bereits lange vor den ersten Raubzügen der vertriebenen Thronräuber Gondors das Emblem meines Hauses, und ich sorge nun dafür, dass die Menschen von Dol Amroth es nicht mehr mit Schrecken verbinden, sondern mit Mitgefühl."
"Wie das?"
"Wenn du darüber mehr erfahren möchtest, besuche mich in meinem Haus, meine Liebe," sagte Lóminîth geheimnisvoll. "Sobald du etwas Zeit findest, versteht sich. Eine so enge Vertraue des großen Königs ist gewiss eine vielbeschäftigte Frau." Sie lächelte, doch Aerien vermutete, dass Lóminîth sie erneut - zumindest teilweise - spöttisch behandelt hatte. "Es liegt nahe der großen Gärten des Fürsten; du erkennst es an meinem Banner, das über dem Hauptdach flattert; ein schwarzes Schiff auf rotem Feld. Du wirst es nicht bereuen."
Damit wandte Lóminîth sich von Aerien ab und schritt anmutig durch die Halle, bis die Schatten sie verschluckten und Aerien nur noch ihre leisen Schritte vernahm, bis auch diese Laute verklangen.
Aerien blieb noch eine ganze Weile allein in der großen Halle stehen und dachte über ihre merkwürdige Begegnung mit Lóminîth nach. Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie herausfand, was sie unterschwellig an der Frau geärgert hatte. Lóminîth hatte abfällig über Narissa gesprochen, und das brachte Aerien gegen sie auf. Dennoch beschloss sie, zum Haus der Schwarzsegel zu gehen, sobald sie etwas Zeit fand. Sie würde Serelloth mitnehmen, entschied sie. Doch das Treffen mit dem Nordlänger Hákon am kommenden Tag war zunächst wichtiger. Aerien fragte sich, was der Jäger ihnen wohl über seine geheimnisvolle Beute preisgeben würde, wenn sie sich mit ihm am Platz der tausend Schwanenfedern trafen, sobald die Mittagssonne ihren höchsten Stand erreicht hatte.
Mit diesem Gedanken im Kopf machte sie sich schließlich auf den Rückweg zu ihrer Unterkunft. Endlich verspürte Aerien die Müdigkeit in ihren Gliedmaßen und hoffte, nun etwas Schlaf zu finden. Als sie in den Gang einbog, in dem ihr Gemach lag, war sie sogar bereits so müde, dass sie erst nach einigen Schritten wahrnahm, dass der Boden unter ihren Füßen nass zu sein schien. Als sie herab blickte, schimmerte der weiße Marmor tiefrot im Licht der kleinen Lampe, die den Gang beleuchtete. Aeriens Augen weiteten sich, als ihr der stechende Geruch von Blut in die Nase stieg. Drei Schritte weiter lag der Wachmann in sich zusammengesunken an der Wand, und von ihm ging die Lache aus, die den Fußboden bedeckte.
Serelloth! schoss es Aerien durch den Kopf, und sie vergaß ihre Schreckstarre. Schon war sie an ihrer Zimmertür und riss sie hastig auf. Lautes Schnarchen schlug ihr entgegen. Serelloth lag dort, wo Aerien sie zurückgelassen hatte, mittlerweile auf dem Rücken, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Aerien war erleichtert, doch ihre Angst blieb. Sie warf hastige Blicke durch den Raum, der leer zu sein schien. Gerade als sie darüber nachdachte, ob sie ihre Freundin wecken sollte, drang aus dem Nebenraum ein gewaltiges Krachen hervor, als hätte jemand eine riesige Glasscheibe eingeschlagen. Auf dem Gang vor dem Zimmer wurden Rufe laut, und Aerien vernahm die schweren Schritte heraneilender Soldaten. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ihr einfiel, wessen Schlafraum nebenan lag. Also ließ sie Serelloth - der es beeindruckenderweise gelungen war, friedlich weiterzuschlafen - liegen und eilte hinaus, bog nach rechts ab und erreichte die Tür des Zimmers, in dem Minûlîth nächtigte. Hier stieß sie an der offen stehenden Tür auf einen weiteren Toten, ebenfalls ein Wachmann. Seine blutbespritzte Rüstung wies ihn als Krieger von der Weißen Insel aus.
Der Raum wurde von einer breiten Fensterfront dominiert, die tagsüber einen atemberaubenden Ausblick über das Meer bot. Zwei der Fenster waren eingeschlagen worden, und in dem Bett, dass davor stand, lang eine regungslose Gestalt mit schwarzem Haar, deren Körper so blutüberströmt war, dass sie tödliche Verletzungen am gesamten Leib haben musste. Aerien kannte das grüne Kleid, das hier und da noch zu erkennen war; Minûlîth hatte es oft getragen, sowohl in Dol Amroth als auch auf Tol Thelyn.
Aeriens Herz schien zu versagen.