Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

In den Straßen von Gorak

(1/2) > >>

Rohirrim:
Zarifa und Tekin aus dem Anwesen des Fürsten von Gorak

„Es tut mir wirklich unendlich leid“, erklärte Tekin zum wiederholten Mal. Sie saßen in einer Kneipe am Stadtrand. Sie wollten möglichst außerhalb der unmittelbaren Reichweite von Kazimir sein, wenn dieser merkte, das Zarifa geflohen war. Dabei wurde schnell deutlich, dass die Leute immer ärmer wurden, je weiter sie sich vom Anwesen des Fürsten entfernten. Ähnlich war es in Umbar auch gewesen. Die Kneipe, in der sie sich nun befanden, war sehr heruntergekommen und schmutzig. Einerseits behagte es Zarifa hier nicht, aber andererseits war dies für ihre Zwecke kurzfristig perfekt, denn hier fielen sie zwischen den anderen ärmlich aussehenden Gestalten gar nicht weiter auffallen. Sie waren zwar etwas jünger als die meisten anderen Leute hier, doch ansonsten sahen sie aus, wie die anderen Gäste auch: ungepflegt, unterernährt und schmutzig.
„Du hättest mir ja zumindest irgendeinen Hinweis geben können. Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich wieder zu mir gekommen bin? Ich glaubte, der einzige Mensch den ich je... äh ich meine dem ich noch vertrauen konnte, hätte mich verraten und ich befände mich in der Gewalt eines Irren, der anscheinend Freude an Grausamkeit hat. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das für mich war?“ Die Wut, die Zarifa auf dem Weg hierher noch einigermaßen zurückgehalten hatte, brach nun aus hier heraus. Sie war zwar einerseits immer noch erleichtert, dass Tekin sie nicht verraten hatte, doch sie konnte einfach nicht verstehen, wie Tekin sie einer solchen Situation hatte aussetzen können. „Und außerdem war es viel riskant. Was wenn ich nicht bemerkt hätte, dass die Fesseln locker saßen? Was wenn ich gar nicht erst rechtzeitig zu mir gekommen wären? Was wenn sie dich beim Legen des Feuers erwischt hätten? Wir hatten gemeinsam einen guten Plan ausgearbeitet. Warum hast du mich nicht auf die Änderung im Plan hingewiesen?“ Beim Sprechen wurde Zarifa nun immer lauter und Tekin wirkte verunsichert. Eine Träne kullerte seine Wange herunter.
„Nun, das konnte ich doch nicht“, begann er mit brüchiger Stimme. „Kazimir hat davon Wind bekommen, dass wir etwas planten. Er hat mich beiseite gezogen und mir dieses Angebot gemacht. Er drohte mir mit dem Tod, wenn ich ihn hintergehen würde. Er würde mich genau beobachten. Ich konnte mich nicht länger mit dir unterhalten. Das wäre doch verdächtig gewesen. Ich stand total im Stress. Unser beider Leben stand auf dem Spiel und ich musste irgendwie einen neuen Plan zurechtlegen. Ich hoffte, du würdest meine Andeutungen verstehen, wenn du wieder zu dir kommst.“ „Andeutungen? 'Bitte vertrau mir' ist doch keine Andeutung. Das ist so nichtssagend, da hättest du auch gleich 'Wir schaffen das' sagen können.“ Zarifa wurde jetzt richtig laut. Einige umstehende sahen sie bereits verärgert an. Natürlich konnten sie nicht verstehen, was sie sagte, doch ihr Tonfall war unmissverständlich. „Und außerdem, warum hast du mich nicht einfach in Kazimirs Büro eingeweiht. Da waren wir alleine und ungestört. Da wären doch wohl zwei bis drei erklärende Sätze drin gewesen, bevor du mich mit der Glasflasche niederstreckst, oder?“
„Ähm...“
„Was 'ähm'?“
„Ähm... daran habe ich irgendwie gar nicht gedacht“, meinte Tekin verlegen.
„Was? Ist das dein Ernst?“
„Ja. Ich war so darauf fixiert, den Plan durchzuziehen, dass mir gar nicht mehr aufgefallen ist, dass das ja der perfekte Moment gewesen wäre, dich einzuweihen. Du musst verstehen...“
„Verstehen? Was muss ich verstehen?“
„Hör mal, ich weiß, dass du extrem wütend auf mich bist und das zurecht. Aber bitte hör mir zu. Du musst verstehen, dass ich extrem unter Stress stand. Ich musste mir innerhalb eines Tages einen neuen Plan ausdenken, bei dem es so aussah, als würde ich mein Wort gegenüber Kazimir halten. Gleichzeitig musste ich aber auch einen Weg finden, dich zu befreien. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel war, es so aussehen zu lassen, als würdest du dich selber befreien. Und da Kazimir mich beobachtete, konnte ich dich nicht einweihen. Also schuf ich den Plan, dich wirklich niederzuschlagen, dich aber nur lasch zu fesseln, dir einen Weg durch das Fenster zu ermöglichen und Kazimir mit einem Brand abzulenken. Es schien mir der einzig möglich weg. Und als wir dann zusammen in Kazimirs Büro waren, konnte ich gar nicht mehr klar denken. Ich wusste, ich würde dir weh tun müssen, und das war eigentlich das letzte was ich tun wollte. Ich musste all meine Konzentration und Willenskraft dafür aufbringen, mich selber zu überwinden und meinen Plan durchzuziehen. Jetzt wo du es so sagst, würde ich mich am liebsten selber ohrfeigen.“
„Ach, es hat dich also ganz viel Überwindung gekostet, mich niederzuschlagen. Und wie viel Überwindung hat es dich dann gekostet, meine Kleidung zu zerreißen? Oder war dir der Teil des Plans eigentlich ganz recht? Hattest du vielleicht sogar Spaß dabei?“
„Was? Nein! Bitte, das musst du mir glauben. Es war eine explizite Anweisung Kazimirs, dich ohne Klamotten zu fesseln. Ich hätte das niemals freiwillig tun können. Ich bin dann auch gleich los und hab was Neues für dich gekauft. Unmittelbar nachdem ich den Brand gelegt hatte. Bitte... bitte glaub mir.“
Tekins Gesicht war nun voller Tränen. Zarifa sah ihn an. Konnte sie ihm vertrauen? Seine Erklärung klang glaubwürdig. Dennoch hatte er sie in eine extrem unangenehme Situation gebracht, die bei ihr sofort wieder die schlimmen Erinnerungen geweckt hatten. Erinnerungen an Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. An ein lautes, fast hysterische Lachen. An das Gefühl, vollkommen wehrlos zu sein. An ein zahnloses Grinsen eines Mannes, der ihre Zelltür aufschob. Konnte sie das einfach vergessen?
Erneut blickte die junge Haradan ihrer ersten großen Liebe in die Augen, die immer noch voller Tränen waren und der nun einen großen Schluck aus seinem Bier trank. Das erinnerte sie an das letzte Mal, als die beiden gemeinsam Alkohol getrunken hatten. Wie sie versucht hatte Tekin zu erklären, dass Zelte aus den Kleidern von Adeligen die Welt retten würde. Wie Tekin sie versehentlich mit Wein bekleckerte. Wie die Bank zu Boden fiel. Wie die beiden sich auf dem Boden liegend ansahen und küssten. Zarifa konnte einfach nicht anders, als unwillkürlich zu lächeln. Tekin blickte auf.
„Und? Was ist jetzt?“, fragte er schluchzend doch auch ein wenig hoffnungsvoll?
*KLATSCH!*
Ehe er sich versah, bekam Tekin erneut eine saftige Ohrfeige von Zarifa zu spüren.
„So, das musste sein. Jetzt können wir darüber nachdenken, wie es weitergeht“, sagte Zarifa lächelnd. Tekin war erleichtert und rieb sich die Wange. „Musstest du denn unbedingt so fest zuhauen?“, fragte er grinsend. „Du hast mich aus Dummheit niedergeschlagen, ausgezogen, gefesselt und anschließend allein gelassen, anstatt mich einfach in deinen verdammten Plan einzuweihen. Sei froh, dass ich nicht noch viel häufiger zuschlage“, entgegnete Zarifa, doch auch sie lächelte. Nun, da sie sich einmal ihre Wut von der Seele geredet hatte, ging es ihr deutlich besser. Sie konnte Tekin einfach nicht mehr böse sein. Schließlich stand nunmal der unwiderlegbare Fakt, dass sie nur seinetwegen wieder eine freie Frau war. Und ihre Freiheit, war das wichtigste Gut für die junge Haradan.
„Okay, wenn man es so betrachtet, hatte ich das tatsächlich verdient. Aber wie machen wir jetzt weiter? Wir sind zwei entlaufene Sklaven mit dem bisschen Geld, was Kazimir mir mitgegeben hat. Wenn wir Glück haben, glaubt Kazimir immer noch, ich hätte mein Wort gehalten, doch nach dir wird er mit ziemlicher Sicherheit suchen lassen. Und viel Geld ist auch nicht mehr übrig, da ich bereits dein neues Kleid und zwei Bier davon gekauft habe. Es reicht vielleicht noch für zwei Mahlzeiten und ein Zimmer.“
„Das klingt doch schonmal nach 'nem guten Anfang. Bestellst du uns was zu essen und fragst, ob der Wirt noch ein Zimmer hat?“
„Ein Zimmer in einem Gasthof? Ist das nicht zu riskant? Kazimirs Leute werden doch mit Sicherheit die Gasthöfe absuchen.“
„Hmm das stimmt. Aber irgendwo müssen wir schlafen und mir wäre es lieber, wenn das nicht draußen wäre. Wir können ja abwechselnd Nachtwache halten, während der jeweils andere schläft. Falls jemand kommt und nach uns fragt können wir ja schnell abhauen. Wir haben ja eh nichts bei uns.“
„Die Frage ist nur, ob wir aus dem Zimmer überhaupt so schnell abhauen können.“
„Naja, frag doch erstmal, ob er überhaupt noch ein Zimmer freihat. Falls nicht, ist diese Diskussion eh überflüssig und falls doch, können wir uns das Zimmer ja erst-mal anschauen.“
„Hast recht. Ich bestelle uns was zu essen und frage nach.“

Zwei Minuten später kehrte Tekin mit düsterer Miene an den Tisch zurück.
„Was ist los?“, fragte Zarifa.
„Der Wirt meinte, er vermietet kein Zimmer an uns. Wir seien zu 'dunkel'?“
„Was? Was soll das denn heißen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht habe ich ihn auch falsch verstanden. Mein Westron ist nicht allzu gut und seins vermutlich auch nicht. Jedenfalls will er uns hier nicht übernachten lassen. Wir können allerdings etwas zu Essen bekommen.“
„Ne, das hätte der wohl gerne. Der bekommt von uns kein Geld mehr, wenn er uns hier nicht übernachten lassen will. Wir trinken nur noch unser Bier aus und dann verschwinden wir. Was zu Essen bekommen wir auch woanders. Und eine Übernachtungsmöglichkeit finden wir schon auch irgendwo.“
„Wo nimmst du denn auf einmal diesen Optimismus her?“
„Ich habe neunzehn Jahre lang in Umbar auf der Straße gelebt. Wäre doch gelacht, wenn ich es hier nicht einmal einen Tag schaffe.“
„Okay, also dann würde ich sagen: Prost!“
„Prost!“

Als die beiden ihr Bier ausgetrunken hatten, lächelten sie sich an und Zarifa ergriff das Wort:
„Sag mal, weißt du noch was passiert ist, als wir das letzte Mal zusammen Alkohol getrunken haben?“
„Du meinst, dass wir nebeneinander in unserer eigenen Kotze aufgewacht sind?“
„Ägh, nein. Ich meine den weniger peinlichen Teil.“
„Weniger peinlich? Also mir ist der ganze Abend bis heute peinlich. Aber nur, weil wir eine bestimmte Sache noch nicht wiederholt haben.“
„Jetzt sprechen wir eine Sprache.“

Zarifa sah Tekin tief in die Augen. Diese wunderschönen braunen Augen, die ihr Herz immer wieder aufs neue dahinschmelzen ließen. Und dann küsste sie ihn. Und er küsste sie. Diesmal gab es keinen Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Kusses (auch wenn technisch gesehen wieder Alkohol im Spiel war). In diesem Augenblick war Zarifas Glück perfekt und sie wollte, dass er nie endete. All die Sorgen, all die Wut und all das Leid der letzten vierundzwanzig Stunden waren vergessen.
Als die beiden sich wieder voneinander lösten, sahen sie sich noch eine ganze Zeit lang einfach nur an. Beiden Haradrim stand das Glück ins Gesicht geschrieben. Schließlich war es Zarifa, die das Wort ergriff:

„Ich habe eine Idee: Die Stadt liegt doch direkt an einem Gebirge. Dort gibt es doch sicherlich Höhlen. Da können wir uns doch bestimmt ganz gut verstecken und sind gleichzeitig vor Wind geschützt. Wir besorgen uns nur noch eben was zu Essen und dann verlassen wir die Stadt.“
„Gute Idee, aber kommen wir denn einfach so aus der Stadt raus? Die Tore werden doch sicher bewacht und wenn die Bescheid wissen, dass du geflohen bist, werden sie dich sofort erkennen und verhaften. Das Risiko ist zu groß.“
„Hmm, das stimmt. Wie wärs damit: Wir verstecken uns in dem Wagen einer Kutsche, die die Tore passieren will.“
„Was ist das denn für eine bescheuerte Idee? Erstens ist es schon spät und es sind kaum noch Kutschen unterwegs. Zweitens, woran erkennst du denn bitte, ob eine Kutsche aus der Stadt raus will? Und drittens, wie willst du unbemerkt in die Kutsche gelangen und anschließend wieder rauskommen? Wie kommst du nur auf sowas?“
„Hmm, keine Ahnung. Ich hatte schon früher mal den Plan, mit einer Kutsche aus Umbar zu fliehen, aber dazu ist es nie gekommen. Daher kam es mir wohl einfach in den Sinn. Aber du hast recht, so auf die Schnelle wird das jetzt auch nichts. Dann bleibt wohl nur noch eins: Klettern“
„Bist du verrückt? Ich kann nicht klettern. Und außerdem ist die Mauer viel zu hoch.“
„So hoch ist sie auch wieder nicht und es gibt immer einen weg. Keine Angst, ich werde dir helfen.“
„Die Freiheit scheint dich ja echt optimistisch gemacht zu haben. Ich hoffe nur, du wirst jetzt nicht leichtsinnig.“
„Ach quatsch. Vertrau mir.“

Zarifa und Tekin in die umliegenden Berge von Gorak

Rohirrim:
Zarifa und Tekin aus den umliegenden Bergen von Gorak

„Puh, das hat schonmal funktioniert. Deine Tarnung scheint gut zu sein“, stellte Tekin nüchtern fest. „Das hoffe ich. Immerhin sehe ich aus wie ein Kanarienvogel, den man so stark gemästet hat, dass er nun nicht mehr in der Lage ist zu fliegen.“
„Ach quatsch, du siehst toll aus“, meinte Tekin und grinste.
„Mein Kleid wiegt mehr als ich“, entgegnete Zarifa spöttisch. „Als Sklave in Radomirs Anwesen musste ich weniger Lasten tragen als jetzt.“
„Nunja, die Hauptsache ist, dass wir in der Stadt sind. Ich bin auch nicht gerade glücklich mit meinem Aussehen, aber wir dürfen nunmal nicht erkannt werden.“
„Du hast leicht reden. Du trägst ja auch normale Klamotten und nicht so ein 50 Kilo schweres, mit Steinen besetztes Stück Stoff.“
„Du hast die Sachen geklaut, erinnerst du dich? Warum hast du dir denn nichts Einfacheres genommen?“
„Das habe ich doch. Das was du gerade trägst, war für mich gedacht.“
„Aber das ist für Männer?!“
„Na und? Das hier ist für fette Schweine und ich bin auch kein fettes Schwein, oder?“
„Heißt das, du hast für dich Herrenklamotten gestohlen und für mich die Klamotten für ein fettes Schwein?“
„Äh.. ah guck mal. Wir sind da.“
Zarifa und Tekin standen vor der Kneipe, die sie schon in der Nacht ihrer Flucht besucht hatten. Zwar widerstrebte es ihnen das Geld, das Zarifa auf dem Weg hierher gestohlen hatte, ausgerechnet hier auszugeben, wo ihnen der Wirt doch ein Zimmer für die Nacht verweigert hatte, doch es schien ihnen hier draußen in der ärmlichen Gegend am sichersten. Hier würden wohl kaum zufällig irgendwelche Leute des Fürsten absteigen und sie wiedererkennen.

Die Tage zuvor hatten Zarifa und Tekin damit verbracht, einen Plan für die Ermordung von Kazimir  zu entwickeln. Tekin konnte Zarifas Lage nachvollziehen und befand ebenfalls, dass ein solch kaltblütiger und grausamer Mörder den Tod verdient hatte. Doch wie sollten sie an ihn herankommen? Das Anwesen war zu gut bewacht, um sich einfach reinzuschleichen. Zwar war Kazimir bisweilen nachlässig, wenn es um Dienstpläne für Wachen ging, doch das konnten sie wohl kaum planen. Sie brauchten mehr Informationen. Vielleicht verließ Kazimir das Anwesen ja ab und zu mal. Oder vielleicht gab es irgendeinen einfachen Weg ins Anwesen hinein.
Um diese Informationen einzuholen, mussten die beiden Haradrim jedoch wohl oder übel erst einmal wieder in die Stadt. Sie hatten ein wenig darauf gehofft, dass Kazimir die Suche nach ihnen inzwischen eingestellt hätte, doch zur Sicherheit hatten die Beiden sich zusätzlich getarnt. Zarifa trug nun das erste Mal in ihrem Leben hochgesteckte Haare und ein langes, rotes, mit bunten Steinen verziertes Kleid. Es ähnelte sehr stark dem Kleid, das Zarifa einst in dem Haus einer reichen Kaufmannsfamilie gefunden und anprobiert hatte. Sie musste unweigerlich grinsen, als die daran zurückdachte, wie sie sich mit Ziad über derartige Kleidung lustig gemacht hatte. Bei dem Gedanken an Ziad überkamen sie jedoch augenblicklich auch wieder Gedanken an dessen Tod. Doch darüber durfte sie jetzt nicht nachgrübeln. Sie musste sich konzentrieren.

„Also, dann los“, meinte Tekin und die beiden betraten die Kneipe. Es war wieder mal sehr voll hier. Und unmittelbar nachdem sie die den Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, fiel Zarifa die Schwäche in ihrem Plan wie Schuppen von den Augen. Ihre Tarnung war zwar perfekt gewesen, um nicht wie eine entflohene Sklavin auszusehen, doch hier in der ärmlichen Gegend der Stadt fiel sie in ihrem extravaganten Kleid natürlich sofort auf. In dem schwachen Licht der Abendsonne, das noch durch die offene Tür fiel, schien sie regelrecht zu leuchten. Viele Leute drehten sich um, starrten die junge Haradan an und begannen Worte zu flüstern, die Zarifa nicht verstand. Doch der Tonflall gefiel ihr überhaupt nicht. 
„Sollen wir lieber wieder gehen?“, fragte Tekin.
„Nein. Sollen uns die Leute doch anstarren. Hier sind wir vor Wachen sicher.“
„Ja, aber dass es hier keine Wachen gibt, bedeutet auch, dass die Leute dir etwas antun könnten. Allein die Steine auf deinem Kleid sind bestimmt mehr Wert als der Besitz vieler Leute. Da kommt man schonmal in Versuchung.“
„Scheiße, du hast recht.“
Die beiden wollten gerade umdrehen, als sie plötzlich jemanden sehr laut sprechen hörten. Und noch ungewöhnlicher war, dass er Westron sprach, sodass Zarifa ihn verstehen konnte:
„Den ganzen verdammten Tag nur auf der Suche. Dafür hab ich mich nicht einstellen lassen, verdammt.“
Die beiden sahen sich um. Gesprochen hatte ein Mann, der alleine am Tresen saß. Zarifa wollte sich schon wieder gelangweilt abwenden, als ihr plötzlich etwas auffiel und sie innerlich zu Eis erstarrte. Der Mann trug die Uniform von Radomirs Wachen.

Rohirrim:
„Die Gelegenheit ist zu gut, um es nicht zu riskieren“, meinte Tekin.
„Aber was, wenn er uns erkennt und sofort festnimmt?“, erwiderte Zarifa.
Die Beiden standen nun schon seit einigen Augenblicken unentschlossen auf der Türschwelle. Sollten sie es wagen, der augenscheinlich bereits sehr betrunkenen Wache von Radomirs Anwesen einige Informationen zu entlocken? Oder sollten sie lieber sofort kehrt machen? Zarifa wurde immer noch von fast allen anderen Besuchern aufgrund ihrer extravaganten Kleidung angestarrt.
„Selbst wenn er in diesem Zustand noch in der Lage ist uns trotz Tarnung zu erkennen, so ist er definitiv nicht mehr in der Lage uns festzunehmen. Er ist ganz allein.“
„Na schön, wie du meinst. Ich hoffe nur, dass die restlichen Besucher uns in Frieden lassen.“
„Ich hoffe darauf, dass sie sich nicht trauen, vor einer Wache Radomirs ein Verbrechen zu begehen. Aber wenn du möchtest, kann ich die Befragung des Mannes auch alleine übernehmen und du kannst in der Zwischenzeit was Anderes erledigen.“
„Nein!“, meinte Zarifa entschieden. „Ich komme mit.“ Es behagte ihr zwar überhaupt nicht, von so vielen Leuten angestarrt zu werden, doch noch weniger wollte sie von Tekin getrennt werden. Er war ihr einziger Verbündeter in dieser Stadt. Der Einzige, dem sie trauen konnte. Außerdem war sie viel zu gespannt, ob die Wache ihnen möglicherweise wichtige Hinweise geben konnte.
„Also dann“, meinte Tekin und setzte sich neben den Mann an den Tresen. Zarifa folgte ihm.
„Guten Abend“, sprach Tekin den Mann auf Westron an. „Dürfen wir uns zu ihnen setzen?“
„Gerne doch. Ich bin froh über ein wenig Gesellschaft“, antwortete der Mann mit einem unüberhörbaren Lallen in der Stimme. Zarifa hatte Mühe ihn zu verstehen. Sie beschloss, sich aus der Unterhaltung eher rauszuhalten. Sie wollte lieber nur zuhören.
Tekin bestellte drei Bier und fing an, unverbindlich mit dem Mann zu plaudern. Sie hatten Glück. Er schien sie nicht zu erkennen. Schon bald hatten sie erfahren, dass der Mann Alvar hieß und ursprünglich aus Gortharia stammte. Tekin hörte ihm interessiert zu und stellte stets sicher, dass der Mann auch genug Bier zu trinken bekam. Er war aus „persönlichen Gründen“ erst vor kurzem nach Gorak geflohen und hatte sogleich eine Anstellung als Wache bei Kazimir gefunden. Er war natürlich sehr begeistert davon gewesen, so schnell eine neue Arbeit zu finden. Doch schon bald begannen seine Zweifel.
„Ihr dürft aber niemandem davon erzählen.“
„Keine Sorge. Dein Geheimnis ist bei uns sicher“, meinte Zarifa, die sich nun erstmals in das Gespräch einmischte. Sie hatte die ganze Zeit schweigsam dagesessen, doch jetzt hatte sie ihre Neugier gepackt. Alvar zweifelte an Kazimir? Woran genau? Und warum? Alvar blickte sie kurz verwirrt an, als hätte er sie eben zum ersten Mal gesehen. Zarifa hatte Angst, er würde sie nun doch erkennen. Doch Alvar schüttelte sich nur kurz und begann dann zu sprechen:
„Also schön. Kazimir ist besessen davon, eine entflohene Sklavin wiederzufinden. Er stellt laufend neue Leute ein, nur um sie zu suchen. Er ist wie im Wahn.“
Zarifa erschrak und Tekin reagierte instinktiv: „Bitte dreimal das Stärkste, was sie haben.“
„Oh nein, vielen Dank. Ich habe wirklich schon genug getrunken. Und warum *hicks* spendieren sie mir überhaupt so viel?“ Plötzlich blickte Alvar misstrauisch.
„Ach, das ist doch nichts“, erwiderte Tekin und hatte dabei Mühe, seine Panik in der Stimme zu verstecken.
„Wir finden einfach, dass die Leute, unseren Fürst beschützen hin und wieder ein kleines Dankeschön verdient haben“, griff Zarifa beschwichtigend ein. Das schien Alvar auch erst einmal zu beruhigen. Zarifa roch an dem Schnaps, den sie soeben gereicht bekommen hatte und musste sich fast übergeben. War das wirklich ein Getränk oder nicht doch eher pures Gift? In weiser Voraussicht beschloss sie, nur so zu tun, als würde sie trinken. Sie brauchte einen klaren Kopf. Tekin dagegen trank gemeinsam mit Alvar den Schnaps. Und obwohl er schon deutlich mehr Erfahrung mit Alkohol hatte als Zarifa, schien er es zu bereuen. Das bestärkte Zarifa in ihrer Entscheidung. Sie ließ das Glas vor sich stehen und umschloss es mit ihrer Hand, um zu verdecken, dass es noch voll war.
„*Hicks*... vielen Dank. Also, wo war ich?“, fragte Alvar ein wenig zerstreut.
„Kazimir ist davon besessen, eine entlaufene Sklavin wiederzufinden...“
„Achja richtig. Also, Kazimir sieht ihre Flucht anscheinend als persönliche Beleidigung. Er tut alles dafür, um sie wiederzufinden. Nur darum bekam ich so schnell eine Stelle bei ihm. Er ist wie im Wahn. Und jetzt darf ich den ganzen Tag damit verbringen, nach einer Sklavin Ausschau zu halten, von der ich nur eine Zeichnung habe. Und wenn ich Feierabend habe, darf ich mich etwa zehn Minuten lang ununterbrochen anschreien lassen, wieso ich denn so unfähig bin. Dabei lässt er auch überhaupt nicht vernünftig mit sich reden. Wir alle wissen im Grunde, dass sie die Stadt längst verlassen haben muss. Zum einen, weil wir sie nun schon seit Tagen suchen und zum anderen, weil sie ja wohl auch keinen guten Grund hat hierzubleiben. Doch Kazimir meint, es ist unmöglich die Stadt einfach so zu verlassen. Er hat irgendwie das Gefühl, alles er habe alles in dieser Stadt unter Kontrolle. Er leidet komplett unter Realitätsverlust, wenn ihr mich fragt. Er hat doch nichtmal die Kontrolle über sein eigenes Anwesen. Und dann ist da noch dieser andere Sklave, von dem er nicht genau weiß, ob er ihn betrogen hat oder nicht. Und wie er aussieht, weiß er auch nicht so genau. Der Typ ist einfach unfähig. Und trotzdem muss ich ihm gehorchen. Und wenn der Fürst wiederkommt, bin ich vermutlich meinen Job los.“
Nachdem er einmal angefangen hatte, war Alvar kaum noch zu bremsen. Trotz offensichtlicher Trunkenheit, sprudelten diese Worte extrem schnell und ohne große Fehler aus ihm heraus. Zarifa hatte Mühe, dem ganzen zu folgen und die wichtigen Informationen herauszufiltern. Kazimir war also unfähig. Nun, das hatten sie auch vorher schon gewusst. Doch hier hatten sie eine neu eingestellte Wache, die ihm gegenüber eine offene Abneigung hegte. Und Kazimir war sich nicht sicher, ob Tekin ihn verraten hatte, oder ob Zarifa es alleine geschafft hatte zu fliehen. Und dann war doch noch etwas.
„Was meinst du damit, dass Kazimir nicht einmal die Kontrolle über sein eigenes Anwesen hat?“
„Naja, nachdem ich und die anderen neuen Wachen sie am ersten Tag nicht gefunden hatten, fing Kazimir an, noch mehr Wachen aus dem Anwesen zu entsenden. Einige suchen wohl auch in den umliegenden Bergen. Im Anwesen selbst sind nur noch sehr wenige Wachen stationiert. Ich frage mich, ob irgendjemand das mal ausnutzt.“
Ja, gute Frage, dachte Zaifa. Inzwischen hatte sie eine ziemlich gute Idee, wie sie an Kazimir ran kommen konnte. Er hatte schließlich schon einmal nicht bemerkt, dass Tekin ihm die Hände nicht wirklich zusammengebunden hatte. Im Grunde konnten sie gehen. Sie wussten nun alles, was sie wissen wollten. Doch eine Sache interessierte die junge Frau dann doch noch:
„Was genau ist denn eigentlich der Befehl, wenn ihr die Sklavin findet? Sollt ihr sie augenblicklich töten?“
„Oh nein, auf gar keinen Fall. Kazimir will sie lebend. Wenn wir sie töten, wird er uns wahrscheinlich auch umbringen. Er will sie bestrafen, denke ich. Und er hat demjenigen, der sie findet eine 'besondere Belohnung' im Bezug auf sie versprochen. Das ist auch der einzige Grund, wieso ich überhaupt noch ernsthaft nach ihr suche. Denn zumindest auf dem Bild, das sie von ihr gemalt haben, sieht die Kleine schon sehr süß aus. Wenn ihr versteht was ich meine“, sagte er zwinkernd. Zarifa hätte sich am liebsten auf der Stelle übergeben. Das war es also, was ihn antrieb. War das eigentlich der einzige Grund, aus dem Männer sich für sie interessierten? Yasin hatte sie aus genau dem gleichen Grund verraten. Und sofort schossen wieder Bilder in ihren Kopf. Bilder von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Bilder von...Nein, nicht jetzt, dachte Zarifa verzweifelt. Sie blickte auf das immer noch volle Schnapsglas in ihrer Hand und trank. Es war das widerlichste, was sie je in ihrem Leben getrunken hatte und bevor sie genau wusste, wie ihr geschah, musste sie sich übergeben. Das verzierte Kleid hatte nun eine weitere Verzierung bekommen. Tekin, der das ganze mit ansah, reagierte blitzschnell. „Ja gut, wir müssen dann auch los. Wie viel?“, fragte er an den Barmann gewandt und legte die genannte Summe auf den Tisch. Zarifa hatte mehr als genug Geld gestohlen. Doch mit Geld konnte man zwar die Rechnung bezahlen, sich jedoch nicht aus seinem eigenen Erbrochenen befreien.
„Ich muss sofort aus diesem Kleid raus“, meinte sie angewidert und begann es vorsichtig abzulegen. Zum Glück hatte sie darunter nur für den Fall noch ihr normales, kurzes, weißes Kleid angezogen, das von dem Vorfall verschont geblieben war. Die gesamte Bar starrte sie nun an.
„Nein warte, wir müssen hier zuerst raus. Was wenn dich jemand erkennt?“, zischte Tekin.
Doch zu spät. Zarifa stand nun wieder in ihrem üblichen Aufzug da. Nur die hochgesteckten haare unterschieden sie noch von ihrer üblichen Erscheinung. Der Wirt hatte bereits genervt angefangen, mit einem Lappen das Erbrochene aufzuwischen. Alvar schielte Zarifa nun mit merkwürdigen Augen an. Er schien das Ganze nicht zu begreifen. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und zeigte mit der Hand auf sie.
„Also, tschüss dann“, meinte Tekin und die beiden verließen so schnell sie konnten die Kneipe.

„Puh, das war knapp. Meinst du, er hat mich erkannt?“
„Hoffen wir einfach, dass er sich morgen nicht mehr an alles erinnern kann. Ich bezweifle, dass er sich seiner Sache wirklich sicher sein kann. Aber wie kommen wir jetzt durch das Tor?“
„Ich muss wohl wieder klettern. Hat ja schonmal geklappt. Du kannst durch das Tor gehen und wir treffen uns in der Höhle.“
„Okay, aber pass auf dich auf... Warum musstest du denn auch ausgerechnet in dem Moment den Schnaps trinken? Es wäre alles perfekt gelaufen. Und kannst du in deinem Zustand überhaupt noch klettern?“
„Ich hatte meine Gründe“, meinte Zarifa etwas unwirsch. „Wieso hast du ihn überhaupt für mich bestellt. Sei mal lieber froh, dass ich schlau genug war nicht sofort zu trinken. Sonst wüssten wir jetzt immer noch gar nichts. Und natürlich kann ich noch klettern. Der Schnaps kam ja sofort wieder raus.“
„Also gut, wie du meinst.“

Zarifa und Tekin in das Anwesen des Fürsten von Gorak

Fine:
Cyneric, Salia und Ryltha aus Gortharia


Sie waren zwei Tage im Eiltempo zunächst direkt nach Osten über die flachen Ebenen jenseits der roten Mauern Gortharias geprescht, ehe sie sich am dritten Tag nach Nordosten gewendet hatten, auf die am Horizont aufragenden Berge von Gorak zu. Cyneric erinnerte sich bei diesem Anblick an seine Ankunft in Rhûn, als er Ryltha zum ersten Mal getroffen hatte. Damals hatte er sie noch für eine einfache Soldatin gehalten. Nach zwei Monaten Aufenthalt in der Hauptstadt des mächtigen Reiches der Ostlinge und in der Gesellschaft der Schattenläufer wusste er, dass viel mehr dahintersteckte.
Schon bald war das Gelände unwegsamer und unebener geworden, und nachdem die drei Reiter die Grenze zum Fürstentum Radomirs überquert hatten, hatten sich schon bald zu beiden Seiten der kleinen Straße, der sie folgten, hohe Felswände aufgetürmt. In schier endlosen Serpentinen hatte sich der Weg durch die steinige Landschaft Goraks geschlängelt und war dabei stetig angestiegen. Cyneric war froh gewesen, dass sie auf ausdauernden und kräftigen Pferden geritten waren und nicht zu Fuß hatten gehen müssen.
Fünf Tage nach ihrem Aufbruch aus Gortharia kamen Cyneric und die beiden Schattenläufer in der Hauptstadt des Fürstentums an, die inmitten kahler Berggipfel versteckt lag. Am Stadttor wurden sie einigermaßen misstrauisch empfangen, doch da sie einen offiziellen Auftrag des Königs nachweisen konnten, ließ man sie schließlich durch. Cyneric fiel auf, dass die Wachen keine gewöhnlichen Soldaten Rhûns waren, sondern offenbar aus vom Fürsten direkt angeheurten Söldnern und freigelassenen Sklaven bestanden. Ihre Loyalität galt in diesem Fall wahrscheinlich nur Radomir selbst - und nicht der Krone. Auch wenn die Schattenläufer letzten Endes den König stürzen wollten, tarnten sie sich im Augenblick dennoch als Soldaten der königlichen Armee. Für den Moment schien diese Tarnung auszureichen, doch Cyneric wusste nicht, ob das auch so bleiben würde.
Salia schien einen ähnlichen Gedanken gehabt zu haben. Während sie ihre Pferde am Zügel durch die belebten Straßen Goraks führten, sagte sie nachdenklich: "Ich frage mich, ob Radomir jetzt vollständig das Vertrauen in den König verloren hat, und vielleicht sogar mit dem Gedanken spielt, sich unabhängig von Gortharia zu machen."
"Das würde er nicht wagen. Er ist kein Idiot," widersprach Ryltha. "Radomir verdankt König Goran seinen Rang und seine Macht, und er weiß, dass all seine Söldner niemals gegen die geballte Schlagkraft der Armee von Rhûn bestehen können. Gorak mag ein unzugänglicher und gut zu verteidigender Ort sein, aber ich denke nicht, dass es Radomir wagen würde, offen gegen Goran zu rebellieren. Nein, die Wachen die ihr gesehen habt, sind aus einem anderen Zweck hier. Viele von ihnen sind ehemalige Sklaven, die Radomir mit der Freiheit belohnt hat, weil sie sich als treu und vertrauenswürdig erwiesen haben. Das gibt jenen, die noch in Ketten gelegt sind, einen Ausweg vor Augen, auf den sie hinarbeiten können. Ich habe gehört, dass es für die Sklaven Radomirs ein ausgeklügeltes Belohungs- und Bestrafungssystem gibt, und dass ein Sklave es bei ihm weit bringen kann, wenn er sich als nützlich und treu erweist."
"Und wenn das Gegenteil der Fall ist?" fragte Salia.
"Nun, ich schätze, an Sklaven gibt es keinen Mangel," antwortete Ryltha ungerührt. "Radomir kann es sich leisten, sich jener zu entledigen, die nutzlos für ihn sind."
Cyneric blickte die blonde Schattenläuferin mit Unverständnis an. Wieder einmal wunderte er sich darüber, wie Ryltha so kalt sein konnte. Er stellte sich vor, wie es sein musste, ein Sklave zu sein und keine freien Entscheidungen mehr treffen zu können. In Gortharia hatte er viele Sklaven gesehen, doch in der Hauptstadt schien es ihnen zumindest etwas besser zu gehen als in Gorak, unter Radomirs Joch.

Ryltha, die inzwischen weiter vorausgelaufen war, blieb vor einem großen Gasthaus stehen. "Das Berghorn" hieß es, was an dem großen Schild über dem Haupteingang gut zu erkennen war. Ryltha winkte einen der Stallburschen herbei und trug ihm auf, sich um die Pferde zu kümmern. Kurze Zeit später hatte sie ein Zimmer für zwei Wochen bezahlt und die drei Gefährten trafen sich dort, um über ihre nächsten Schritte zu beraten. Das Zimmer besaß ein einziges, rechteckiges Fenster, das an der Nordseite des Gasthauses lag, und war mit vier Betten bestückt. Es lag im obersten Stockwerk des Gebäudes.
"Dass Radomir bereits wieder in der Stadt ist, wissen wir bereits," begann Ryltha die Informationen zusammenzufassen, die sie auf dem Weg vom Stadttor bis zum Berghorn aus den Gesprächen der Stadtbewohnern herausgehört hatten. "Und auch, dass es vor einigen Tagen ein Feuer in seinem Anwesen gab," ergänzte Salia. "Offenbar sind Radomirs Sklaven in letzter Zeit nicht sonderlich folgsam."
"Ich habe die Wachen sagen hören, dass der Fürst vor Kurzem einen wichtigen Fang gemacht hat. Wahrscheinlich hat er die Unruhestifter gefasst und bestraft. Zu schade - das Chaos hätte uns zum Vorteil gereichen können."
"Die Wachen scheinen nicht allzu gut ausgebildet zu sein," meinte Cyneric nachdenklich. Ihm war aufgefallen, dass die Wächter an den Toren keine aufmerksame Haltung besessen hatten, sondern gelangweilt und verärgert gewirkt hatten. Das waren keine besonders guten Voraussetzungen für einen effektiven Wachdienst, wie Cyneric aus langjähriger Erfahrung wusste. "Wenn wir Glück haben, sieht es am Anwesen Radomirs ähnlich aus."
"Dass seine Wachen nicht sonderlich viel taugen, lässt sich für Radomir leicht ausgleichen, indem er einfach ihre Anzahl erhöht," sagte Salia. "Er hat in Gortharia viele gute Leute verloren und wird sicherlich schon für Ersatz gesorgt haben."
Ryltha stand von der Bettkante auf, auf der sie gesessen hatte und trat ans Fenster. "Das Anwesen sollte unser erstes Ziel sein. Wir müssen es gründlich auskundschaften und uns einen Überblick über die Lage dort verschaffen. Radomir wird sicherlich klug genug sein, Vorkehrungen zu treffen. Er weiß, dass wir kommen. Aber er weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Die Schatten sind für die meisten Ostlinge nur ein Mysterium. Und so sollte es auch bleiben."
"Dann sollten wir keine Zeit verlieren," sagt Cyneric. Er war begierig darauf, diesen Auftrag so rasch wie möglich abzuschließen und nach Gortharia zurückzukehren. Denn dort wartete der geheimnisvolle Brunnen auf ihn, in dessen Tiefen sich womöglich der entscheidende Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner verlorenen Tochter verbarg.
"Geduld, Cyneric. Wir können nicht einfach am hellichten Tage in Radomirs Anwesen spazieren und uns höflich nach den Sicherheitsvorkehrungen erkundigen," meinte Ryltha mit einem verschmitzen Lächeln. "Nein, wir müssen es uns nachs ansehen, am besten kurz vor Schichtwechsel der Wachposten. Außerdem werden wir einen Informanten brauchen, der sich vor Ort auskennt. Ideal wäre eine der Wachen. Erst wenn wir alle Teile beisammen haben, können wir unser Vorgehen gegen Radomir planen."
"Außerdem sind wir im Augenblick viel zu auffällig," ergänzte Salia. Die goldenen Rüstungen der Rhûn-Soldaten waren in der Masse der Stadtbewohner nur allzu deutlich herausgestochen. Sie streifte ihren langen, roten Umhang ab, und Ryltha tat dasselbe. Alle drei hatten sie einfachere Kleidung mitgebracht, die in den Satteltaschen ihrer Pferde verstaut gewesen waren.
"Wenn du dich bitte umdrehen würdest, Cyneric?" Rylthas Lächeln war inzwischen zu einem Grinsen geworden.

Wenige Minuten später kehrten sie auf die Straßen Goraks zurück. In gewöhnliche Reisekleidung gehüllt waren sie nun deutlich besser an die Menschenmenge angepasst und niemand schenkte ihnen mehr besondere Aufmerksamkeit. Cyneric trug nun ein Oberteil aus festem Leder und Schulter- und Armschützer aus demselben Material. Ein grauer Umhang und einfache Hosen und Stiefel vervollständigten sein Aussehen. Bewaffnet war er weiterhin mit Schwert und Schild. Salia trug eine enge schwarze Hose und ein blassrotes Oberteil aus Stoff, und darüber ein großes, weißes Halstuch, das den Großteil ihres Oberkörpers bedeckte. Ihre Ärmel waren lang und weit, um ihre Dolche zu verbergen. Ryltha hingegen hatte ein schwarzes Kleid gewählt, das sie mit einem ähnlichen Umhang kombinierte, wie ihn auch Cyneric trug. Unter ihrer Kapuze lugten mehrere blonde Strähnen hervor. Ihren Bogen trug die Schattenläuferin auf dem Rücken.
"Prägt euch die Straßen der Stadt gut ein, damit ihr euch rasch orientieren könnt," sagte Ryltha. "Wir wissen nicht, wie schnell wir von hier verschwinden müssen, wenn die Tat getan ist."
Sie suchten sich ihren Weg durch das Stadtzentrum Goraks, vermieden es jedoch, offen nach der Lage von Radomirs Anwesen zu fragen. Es war wichtig, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Fürst Radomir mit Verfolgern aus Gortharia rechnete, würde er sicherlich seinen Wachen auftragen, die Augen und Ohren nach allem Verdächtigem offen zu halten. Und Leute, die sich nach dem Sitz des Fürsten erkundigten, würden sicherlich dazu zählen.
Sie beschränkten sich zunächst darauf, das große Anwesen Radomirs nur aus einiger Entfernung zu betrachten und sich seine Position innerhalb der Stadt zu merken. Schon von Weitem war deutlich zu sehen, dass der Gebäudekomplex scharf bewacht war.
Ryltha zog Salia und Cyneric in eine Seitengasse und begann, ihnen im leisen Ton ihre Anweisungen zu geben. "Téressa, du wirst hier bleiben und aus den Schatten heraus die Wachabläufe beobachten. Wir müssen wissen, in welchen Abständen die Wachposten ausgetauscht werden und wie lange die einzelnen Wachschichten dauern." Salia nickte und trat an eine der beiden Hauswände heran, zwischen denen sie gestanden hatte. Rasch begann sie, daran hinaufzuklettern, um auf dem Dach Stellung zu beziehen.
"Cyneric, deine Aufgabe wird es sein, dich in einer der Kneipen in der Nähe des Anwesens umzuhören. Vielleicht findest du ja eine redselige Wache oder kannst auf anderem Wege Informationen darüber beschaffen, wie es im Inneren des Anwesens aussieht. Ich will wissen, wo Radomir sich aufhält, und wie es um seine Sklaven steht. Womöglich können wir einen Aufstand entstehen lassen, der uns als Ablenkung dient, wenn wir in Radomirs Zuflucht eindringen."
"Also gut," bestätigte Cyneric. "Und was wirst du tun?"
Ryltha setzte ihre Kapuze mit einem bösen Lächeln ab. "Ich finde heraus, ob der gute Fürst eine... Schwäche für das weibliche Geschlecht hat."

Fine:
Einige Stunden später betrat Cyneric die dritte Taverne - die letzte, die er in der nahen Umgebung des Fürstenanwesens gefunden hatte. In den ersten beiden Kneipen waren zwar durchaus Wachen gewesen, die gerade Freigang hatten, doch sie waren entweder zu betrunken gewesen, um ihnen Informationen zu entlocken, oder hatten Cynerics Gesprächseinladung misstrauisch, mürrisch oder feindselig abgewiesen. Daher hatte er nun nur wenig Hoffnung, in der dritten Schänke tatsächlich Glück zu haben, doch er würde es dennoch versuchen. Zuviel stand auf dem Spiel, um jetzt einfach aufzugeben.
Er blickte sich im Inneren der Taverne um. Auf den ersten Blick erschien es ihm, als würde sie sich nicht sonderlich von den beiden anderen Kneipen unterscheiden, die er zuvor besucht hatte. Ähnliche Gestalten lungerten am Tresen oder an den langen Tischen, die aneinander gereiht standen. Niemand schenkte Cyneric besondere Aufmerksamkeit, wofür er dankbar war. In einer der Ecken entdeckte er einen von Radomirs Gardisten - erkennbar an der Uniform, die das Siegel des Fürsten von Gorak trug - und gesellte sich auf gut Glück zu dem Mann.
"Hätte nicht gedacht, dass um diese Zeit schon Schichtwechsel ist," sagte Cyneric und ließ seine Stimme etwas rauher als gewöhnlich klingen.
Glücklicherweise verstand der Gardist Westron und er schien auch noch nicht allzu sehr betrunken zu sein. Vor ihm stand ein nicht einmal halbleeres Trinkhorn. Der Mann wandte sich Cyneric zu und grinste. "Hier in Gorak gelten andere Regeln, Freund," antwortete er. "Auf der Suche nach Arbeit? Ich erkenn' einen ehemaligen Gardisten, wenn ich einen sehe."
Cyneric gab ein bestätigendes Grunzen von sich. "Hab' gehört, Fürst Radomir hat ein paar offene Stellen in seinem Anwesen, und er soll ganz gut zahlen."
"Ha! Wer auch immer dir das mit der Bezahlung erzählt hat, er hat gelogen. Die ist kaum einen Deut besser als der Sold, den sie den verdammten Goldröcken in der Hauptstadt hinterherschmeißen."
"Verdammte Goldröcke," wiederholte Cyneric und war froh, dass er tatsächlich wusste, wovon er sprach. "Es gibt einfach zuviele von diesen Bastarden."
Der Mann sah ihm direkt in die Augen und legte leicht den Kopf schief. "Bist wohl auch mit ihnen aneinandergeraten, was? Und hast dich nach Gorak geflüchtet, damit dich die Berge vor ihnen verstecken, stimmt's?"
Cyneric hob schuldbewusst die Arme. "Erwischt."
Der Gardist lachte und winkte eine der Bedienungen herbei. "Ein Bier für einen arg gebeutelten Kollegen! Geht auf mich, alter Knabe." Er reichte Cyneric die Hand. "Alvar."
"...Cyneric," erwiderte Cyneric und ergriff die angebotene Hand. Die Vorstellung war zu schnell gekommen; er hatte keine Zeit mehr gehabt, sich einen falschen Namen auszudenken. Innerlich verfluchte er sich dafür und hoffte, dass Alvar nichts mit dem Namen anfangen konnte. Doch dieser nickte nur und nahm einen langen Schluck von seinem Bier.
"Ein erfahrener Bursche wie du ist genau das, was der Fürst jetzt braucht. Der Haufen, der derzeit sein Anwesen bewacht, ist noch grün hinter den Ohren; nichts als Anfänger, das kannst du mir glauben."
"Was kannst du mir über die Wachschichten erzählen? Und, was noch wichtiger ist: Wie ist die Verpflegung?"
"Für Essen und Trinken sorgen die Sklaven," erklärte Alvar. Er verzog ein klein wenig das Gesicht, ehe er fortfuhr. "Die Schichten dauern je acht Stunden und decken drei Tagesabschnitte ab. Wechsel ist für gewöhnlich um Mitternacht und acht Stunden davor und danach."
"Sklaven?" wiederholte Cyneric interessiert.
"Das ganze Anwesen ist verdammt nochmal voll von ihnen," sagte Alvar, dem diese Tatsache nicht zu gefallen schien. "Wenn du aus der Hauptstadt kommst, bist du es vielleicht gewohnt, dass ein Fürst oder ein Adeliger zwei, drei oder maximal ein Dutzend Sklaven hat. Radomir übertrifft sie alle. Es müssen hunderte sein, die er in seinem Anwesen zusammengepfercht hat. Manche sind einfach nur dort, damit er seine grausamen Spielchen mit ihnen treiben kann. Und glaub mir, du willst ihn nicht wütend machen. Er hat ein ausgeklügeltes System von Strafen und Belohnungen, bei dem es mir jedes Mal aufs Neue den Rücken hinunterläuft. Erst vorgestern hat er diese hübsche Kleine mit in seine Folterkammer genommen und..." Er brach ab und blickte betreten beiseite.
"Nun, zum Glück habe ich nicht vor, den Fürsten zu verraten," versuchte Cyneric, das Gespräch wieder in eine angenehmere Bahn zu lenken. "Wieviele Wachen gibt es denn im Anwesen, Alvar?"
Doch Alvars Laune schien nun umgeschlagen zu sein. "Wieso willst du das wissen?" wisperte er. "Ich dachte, du suchst nur Arbeit. Planst du etwa... einen Angriff auf das Anwesen des Fürsten?"
Cyneric legte sich rasch seine Worte zurecht, doch ehe er auf Alvars Frage antworten konnte, fuhr der Gardist schon fort: "Ich... würde dir dabei gewiss nicht im Weg stehen." Seine Stimme war nun zu einem kaum hörbaren Flüstern herabgesunken. "Weißt du, wenn ich ehrlich bin... Radomir ist ein Monster. Ich bin noch nicht lange bei ihm, aber ich habe es deutlich genug gesehen. Ich sollte etwas tun und ein einziges Mal in meinem Leben Mut beweisen. Ich sollte..."
"Du hast von einer Sklavin gesprochen, die in Radomirs Folterkammer gefangen gehalten wird," sagte Cyneric ebenso leise. "Wenn dir etwas an ihr liegt, dann geh und befreie sie. Und halte dich in den nächsten Tagen vom Anwesen fern."
Alvar musterte ihn einen langen Augenblick aus weit aufgerissenen Augen. Dann nickte er langsam. "Ich... ich werde sehen, was ich tun kann." Er erhob sich taumelnd, doch dann wurde sein Blick klar und er eilte mit festen Schritten hinaus und rannte dabei beinahe Ryltha um, die gerade herein kam. Rasch kam die Schattenläuferin an Cynerics Tisch und sank neben ihm auf die Bank.
"Was hast du herausgefunden, Cyneric?"
Rasch fasste Cyneric die Informationen zusammen, die er von Alvar erhalten hatte. Doch er ließ dabei aus, dass er dem Gardisten einen eindeutigen Hinweis gegeben hatte, dass es schon bald womöglich einen Angriff auf das Anwesen Radomirs geben würde. Bei der Erwähnung der Sklaven nickte Ryltha zufrieden.
"Das werden wir uns zunutze machen. Ich habe etwas ganz Ähnliches beobachten können, als ich versuchte, auf... anderem Wege an Informationen über Radomirs Anwesen zu gelangen. Der Fürst scheint sich nicht sonderlich für Frauen zu interessieren, sondern verbringt seine Freizeit viel lieber mit seinen Sklaven, mit denen er seine Spielchen treibt und sie sowohl seelisch als auch körperlich foltert. Ich kann es kaum erwarten, ihm einen Pfeil zwischen die Augen zu schießen."
Sie stand so rasch auf, wie sie sich wenige Minuten zuvor hingesetzt hatte und zog Cyneric mit sich. "Los. Suchen wir Téressa und bringen wir die Sache ins Rollen."


Ryltha, Salia und Cyneric zu Radomirs Anwesen

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

Zur normalen Ansicht wechseln