Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun
In den Straßen von Gorak
Fine:
Cyneric, Zarifa und Salia vom Anwesen des Fürsten von Gorak
Während sie sich durch die engen Gassen der Stadt drängten, sprachen sie nur wenig. Zwar war es nicht sonderlich weit zu dem Gasthaus, in dem Cyneric und die Schattenläufer ein Zimmer genommen hatten, doch das Chaos in und um Radomirs Anwesen herum sorgte noch immer dafür, dass die Straßen voller als üblich waren. Viele Menschen schienen die Stadt verlassen zu wollen. Cyneric fragte sich, ob sie vielleicht Vergeltung vonseiten des Königs von Rhûn fürchteten und stellte fest, dass es sogar ziemlich wahrscheinlich sein würde, dass König Goran Truppen in das Fürstentum Radomirs entsenden würde, um einerseits seine Macht zu demonstrieren und andererseits den Frieden zu wahren.
Ein Gespräch zwischen Ryltha und Salia vor ihrem Aufbruch nach Gorak fiel ihm ein. Darin war es unter Anderem um Radomirs Nachfolgerin gegangen, seine Schwester Rhiannon. Diese war beim Volk von Gorak deutlich beliebter als ihr tyrannischer Bruder, doch im Augenblick hielt sie sich noch in der Hauptstadt der Ostlinge auf. Cyneric hoffte, dass Herrin Rhiannon schon bald nach Gorak zurückkehren würde und die Wogen rasch glätten würde.
Als sie das “Berghorn” endlich erreicht hatten, stellte Cyneric erfreut fest, dass sich im Inneren nur wenige Gäste aufhielten. Er wechselte einen raschen Blick mit Salia, die ungewöhnlich guter Laune war. Auch Cyneric war froh, dass die gefährliche Mission der Schattenläufer zu einem erfolgreichen Ende gekommen war. Sobald sie nach Gortharia zurückgekehrt waren, würde er seine Belohnung erhalten: Einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen namens Anntírad, und darin hoffentlich ein genauerer Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Tochter Déorwyn.
Salia ging und bestellte großzügig Essen und Bier für drei Personen, das sie sich auf ihr Zimmer bringen ließen. Dort gab es einen kleinen Tisch, an dem sie zu dritt genug Platz hatten. Da Ryltha bereits abgereist war, war ein Stuhl für Zarifa frei, die sich bislang schweigsam im Hintergrund gehalten hatte. Als sie den reich gedeckten Tisch sah, schien die junge Frau wie aus einem Traum zu erwachen und ein Ausdruck großer Verwunderung zog über ihr Gesicht.
“Wir müssen unseren Erfolg natürlich feiern,” kommentierte Salia geradezu fröhlich. “Und da du Radomir getötet hast, bist du eingeladen, Zarifa.”
Zarifa nahm vorsichtig Platz, doch das Essen rührte sie nicht gleich an. Sie schien sich noch nicht ganz sicher zu sein, was sie von all dem halten sollte.
“Nur zu,” ermutigte Cyneric die junge Frau. “Du musst hungrig sein. Keine Sorge, es ist genug für alle da.” Er füllte drei Krüge mit Bier und reichte Salia und Zarifa jeweils einen, ehe er selbst einen großen Schluck nahm. Die kühle Flüssigkeit fühlte sich in seiner Kehle in jenem Moment unglaublich gut an.
Salia tat es ihm gleich und machte ein wohliges Geräusch, nachdem sie ihren Krug wieder abgesetzt hatte. “Ist zwar nicht vergleichbar mit dem, was es in Th... im Norden zu trinken gibt, aber es nicht nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.”
Zarifa hingegen schien sich zunächst mehr für das Essen zu interessieren und begann, sich reichlich an dem Angebotenen zu bedienen. Cyneric vermutete, dass sie schon längere Zeit nicht mehr die Gelegenheit gehabt hatte, sich richtig satt zu essen, denn sie sah sehr abgemagert und furchtbar dünn aus. Er freute sich darüber, ihr dies nun zu ermöglichen und lächelte. Dann nahm er sich ebenfalls mehrere Scheiben Brot und begann zu essen.
Das Bier reichte genau für zwei Krüge pro Person, was Cyneric ein klein wenig bedauerte. Doch ein Teil von ihm war auch froh darüber, denn er erinnerte sich noch allzu gut daran, was mit Milva geschehen war; an jenem Abend in Gortharia, an dem sie zu viel getrunken hatte. Cyneric war sich nicht sicher, ob er mit zwei angetrunkenen jungen Frauen zurecht gekommen wäre. Salia und Zarifa hatten zwar beide etwas Röte auf Wangen und Nase bekommen, doch sie verhielten sich abgesehen davon normal.
“Ich möchte wirklich deinen Erfolg nicht schmälern, Zarifa,” sagte Salia, nachdem sie ihren Teller geleert hatte. “Aber dennoch hätte ich wirklich nichts dagegen gehabt, diejenige gewesen zu sein, die Radomir ein Messer zwischen die Rippen rammt.”
“Da hättest du wohl etwas schneller sein müssen,” erwiderte Zarifa, die inzwischen etwas aufgetaut war. “Weshalb wart ihr eigentlich hinter diesem Abschaum Radomir her?”
“Das ist eine etwas längere Geschichte,” meinte Salia ausweichend.
“Nun, ich denke, wir haben Zeit dafür,” mischte Cyneric sich ein. “Vor morgen früh werden wir Gorak nicht verlassen.”
“Ich denke nicht, dass wir einfach so alle unsere Geheimnisse preisgeben sollten,” wisperte Salia ihm zu, doch Cyneric war sich beinahe sicher, dass Zarifa die Worte nicht entgangen waren. Deswegen sah er es auch nicht ein, vor ihrem Gast zu flüstern.
“Zarifa hat uns geholfen, und ich vertraue ihr.”
“Wir kennen sie gar nicht richtig.”
“Ich kann euch hören,” sagte Zarifa mit Nachdruck und machte ein verstimmtes Gesicht.
Salia schwieg. Sie schien nicht recht zu wissen, was nun zu tun war. Ohne ständige Anweisungen von Ryltha oder Morrandir war sie dazu gezwungen, wieder eigene Entscheidungen zu treffen, woran sie ganz offensichtlich nicht mehr ganz gewöhnt war.
Cyneric nahm ihr Schweigen als Zustimmung auf und begann. “Radomir ist einer der Fünf Fürsten von Rhûn, die die fünf Fürstentümer regieren, auf die König Gorans Macht gestützt ist. Salia und ich gehören einer Gruppe an, die dafür kämpft, diese Macht zu brechen, denn der König ist grausam und wahnsinnig. Mit dem Tod Radomirs ist der erste Schritt getan. Jetzt wird Radomirs Schwester Rhiannon seinen Platz einnehmen. Sie hegt eine Abneigung gegen Sklaverei und ist beim Volk sehr beliebt.”
“Quasi das genaue Gegenteil ihres Bruders,” ergänzte Salia, die Cyneric genau beobachtete. Offenbar war sie bereit, einzuschreiten, wenn er versuchte, die Geheimnisse der Schattenläufer zu verraten.
“Und sie unterstützt den König nur unter Vorbehalten. Wenn die übrigen Fürsten stürzen, wird sie ihn fallen lassen.”
Zarifa dachte einen Augenblick über diese Enthüllungen nach. Von ihrem Gesichtsausdruck war nicht abzulesen, was sie davon hielt. Schließlich sagte sie: “Das klingt doch ganz gut.”
Cyneric fuhr fort: “Ich selbst stamme nicht aus Rhûn. Sondern aus Rohan. Und Sa...” Ein rascher Blick zu Salia, die heftig den Kopf schüttelte, ließ ihn den Satz abbrechen. Ganz eindeutig hatte die Schattenläuferin etwas dagegen, dass er Zarifa verriet, dass sie eigentlich aus Thal stammte. “Nun, jedenfalls bin ich auf der Suche nach meiner Tochter. Sie ging beim Ausbruch des Krieges verloren. Und Salias... Freunde besitzen Informationen, die mir helfen werden, sie zu finden. Deswegen helfe ich ihnen. Und jetzt, wo Radomir tot ist, werde ich einen weiteren Hinweis erhalten und kann mich hoffentlich schon bald auf den Weg machen.”
Salia mischte sich ein. “Dann kannst du es sicherlich kaum erwarten, nach Gortharia zurückzukehren. Ich für meinen Teil bin allerdings ganz froh, diese Nacht in einem echten Bett zu verbringen anstatt in einem Lager unter freiem Himmel an der Straße nach Gortharia. Heute war ein langer Tag. Oh! Wir sollten nach deiner Verletzung sehen, Cyneric. Komm, zeig’ mal, wo sie dich erwischt haben.” Sie sprang von ihrem Stuhl auf, umrundete den Tisch und schob Cynerics linken Ärmel hoch. Er hatte seine Schulterschützer bereits abgelegt, doch das reichte noch nicht aus, damit Salia die Wunde untersuchen konnte. Sie wedelte mit der Hand und bedeutete ihm, das Hemd abzulegen, das er trug. Mit etwas Widerwillen kam er der Bitte nach. Er fühlte sich nicht zu Zarifa oder Salia hingezogen - dafür waren sie zu jung, und erinnerten ihn zu sehr an seine Tochter - aber dennoch fühlte er sich seltsam, als er ihre Blicke auf seinem Oberkörper spürte.
Ein scharfer Schmerz stach in seine Schulter, als Salias Finger über den Rand der Wunde strich, die Cyneric während des Gefechts mit Radomirs Wachen erlitten hatte. Er zuckte zusammen, und Salia beschwerte sich, dass er nicht still hielt. Die Wunde blutete zwar nicht mehr, doch der Schmerz blieb. Salia strich etwas Salbe darauf und legte einen dicken Verband darum, ehe sie ihr Werk mit kritischem, aber zufriedenen Blick begutachtete.
“Jetzt kann ich wieder beruhigt schlafen, ohne mir Sorgen zu machen, dass du über Nacht verblutest,” kommentierte sie.
Zarifa hatte die Behandlung schweigend beobachtet, doch nun sagte sie mit einem Grinsen: “Ja, wenn er verbluten würde - wer würde uns dann frisches Bier besorgen?”
Salia lachte, und auch Cyneric musste schmunzeln. “Sag, Zarifa, was hat dich dazu gebracht, Radomir zu ermorden? Ich bin mir sicher, du hast einen guten Grund dafür gehabt,” wollte er wissen.
Offenbar hatte er genau das Falsche gesagt, denn Zarifas gute Laune verschwand so schnell wie sie gekommen war. “Ich will nicht darüber sprechen,” sagte sie leise und Zorn blitzte in ihren dunklen Augen auf. “Es ist gut, dass der Bastard tot ist. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.”
Cyneric wollte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter legen, doch die junge Frau wich vor ihm zurück. “Ist schon gut,” meinte er. “Du musst es uns nicht erzählen. Am besten ruhen wir uns jetzt aus und versuchen zu schlafen; es ist spät geworden. Wir haben morgen einen langen Ritt vor uns.”
“Sie wird uns begleiten?” fragte Salia.
“Wenn sie das möchte,” antwortete Cyneric. “Wir kehren nach Gortharia zurück, der Hauptstadt von Rhûn. Wir geben uns als Soldaten aus, weshalb uns niemand aufhalten oder behelligen wird. Du kannst mit uns gehen, Zarifa.”
“Ich weiß nicht recht,” erwiderte sie. “Ich... ich habe hier niemanden mehr, doch ich kenne auch in Gortharia niemanden.”
“Wenn wir in der Hauptstadt angekommen sind, kann ich dir weiter helfen und dir vielleicht eine Unterkunft besorgen,” fuhr Cyneric fort. “Bleibst du in Gorak, bist du außerhalb meiner Reichweite und auf dich alleine gestellt.” Er machte eine Pause und stand auf. Draußen war die schmale Sichel des Neumondes zu sehen, die sich über den umliegenden Bergen von Gorak erhob. “Natürlich werde ich dich zu nichts zwingen. Am besten schläfst du eine Nacht darüber, und triffst morgen deine Entscheidung. Unser Zimmer hat drei Betten - du kannst dir eines aussuchen.”
Zarifa nickte langsam, sagte jedoch nichts.
Sie entschied sich für das Bett direkt unterhalb des Fensters. Salia löschte das Licht der kleinen Öllampe, die über dem Tisch hing, und alle drei legten sich schlafen. Am folgenden Tag würde sich zeigen, wie Zarifas Entscheidung aussehen würde...
Rohirrim:
Zarifa legte sich in das Bett direkt neben dem Fenster. Sie überlegte, dass sie lange nicht mehr so bequem gelegen hatte. Es war zwar ein komplett gewöhnliches und an allen gängigen Standards gemessen vermutlich eher unterdurchschnittliches Bettgestell, doch im Vergleich zu dem Boden einer Höhle oder den fast nur aus Holz bestehenden Betten in Radomirs Anwesen, war dies ein wahrer Traum. Und doch konnte die junge Frau nicht einfach ruhig und entspannt liegen. Die Ereignisse der letzten 24 Stunden brannten wie Narben in ihrem Gedächtnis. Wie konnte so viel überhaupt in nur so kurzer Zeit passieren? Die Ereignisse liefen vor ihrem geistigen Auge ab, ohne dass Zarifa es stoppen konnte:
Alvar, der sie zunächst aus der Zelle in Radomirs Anwesen befreite und anschließend in den Bergen seinen „verdienten Lohn“ einforderte. Zarifa erinnerte sich, wie sie um Hilfe geschrien und Alvar angefleht hatte, sie endlich gehen zu lassen. Doch Alvar hatte nur wie im Wahn gelacht und sie schließlich halb bewusstlos in den Bergen zurückgelassen. Zarifa erinnerte sich zurück an das Gefühl der Leere und der Hoffnungslosigkeit, dass sie ergriffen hatte. Es schien keinen Ausweg aus dem Elend zu geben – bis auf den Tod. Zarifa dachte an ihre Wanderung durch das Gebirge zurück. Wie sich in ihrem Kopf mehr und mehr der Entschluss festigte, sich von einem Abhang zu stürzen, nur um die nicht enden wollende Flut an schmerzlichen Erinnerungen irgendwie zu stoppen. Wie sie dann jedoch kurz vor dem Absprung den Entschluss fasste, lieber Radomir statt sich selber zu töten. Und wie durch ein Wunder, war es ihr tatsächlich gelungen. Sie hatte Radomir einen Dolch mitten ins Herz gerammt. Doch nur eine Sekunde später musste sie Alvar wieder in die Augen sehen. Und sie hatte feststellen müssen, dass auch Radomirs Tod nicht das Ende des Leids gewesen war. In Panik war sie aus Radomirs Zimmer geflohen und direkt in eine Falle gelaufen. Zarifa erinnerte sich, wie sie den unausweichlichen Tod akzeptiert und sogar willkommen geheißen hatte. Denn wenn sie tot gewesen wäre, hätte sie Alvar nie wieder sehen müssen.
Doch dann war Cyneric aufgetaucht und hatte sie gerettet. Einfach so? Hatte er ihr damit überhaupt einen Gefallen getan? Zarifa hatte Radomir getötet und damit Ziads und Tekins Tod gerächt. Was gab es für sie auf dieser Welt denn noch zu tun? Wofür lohnte es sich noch zu leben? Es gab niemanden mehr, dem Zarifa nahestand. Niemanden mehr, dem sie Vertrauen konnte. Es gab... Cyneric?
Zarifa dachte weiter nach. Was genau machte sie hier eigentlich? Wieso war sie hier? Weil Cyneric es so wollte? Weil sie keine andere Wahl hatte? Oder hatte sie die etwa doch? Radomir war Tod, oder etwa nicht? Was genau sollte Zarifa also davon abhalten, dahin zu gehen, wo sie hingehen wollte? Oder wollte sie etwa genau hier sein? Immerhin hatte Cyneric sie wirklich gerettet. Und bisher hatte er sich ihr gegenüber durch und durch freundlich verhalten. Er hatte ihr zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder eine vernünftige Mahlzeit ermöglicht. Und doch kannte sie ihn eigentlich gar nicht. Warum sollte sie mit ihm mitgehen? War sie alleine nicht besser dran? War sie nicht ihr ganzes Leben lang besser dran gewesen, wenn sie auf sich allein gestellt war? Hatte all das Elend nicht eigentlich nur damit angefangen, dass sie begonnen hatte, sich für andere Menschen einzusetzen?
Zarifa blickte auf das einzige Fenster in diesem Zimmer. Es war so nahe. Sie könnte einfach rausklettern und verschwinden, bevor sie jemand aufhalten konnte. Cyneric und Salia schliefen mit Sicherheit schon. Sie könnte einfach verschwinden und sich hier in Gorak ein neues Leben aufbauen, genau wie sie es in Umbar getan hatte. Radomir und Kazimir sowie der Großteil der Wachen und Bediensteten waren Tod. Man würde gewiss nicht nach ihr suchen. Sie konnte sich einfach irgendwo in der Stadt ein Zelt aufbauen, sich eine Mahlzeit stehlen und diese in aller Ruhe genießen. Bis auf das schlechte Wetter gäbe es keinen Unterschied zu Umbar. Doch auch das ließe sich irgendwie ertragen. Wäre das nicht herrlich? Einfach nur frei sein, eine vernünftige Mahlzeit im Bauch haben und den Rest des Tages faulenzen. Viel mehr wollte Zarifa doch gar nicht. Und es war niemand mehr in der Stadt, der sie daran hindern würde... oder?
Wie ein Blitz durchfuhr Zarifa erneut der Gedanke an Alvar und mit ihm auch die Bilder des Missbrauchs und des Verrats. Sie presste ihre Hände auf die Augen. Sie wollte diese Bilder nicht mehr sehen. Doch je angestrengter sie versuchte, an etwas anderes zu denken, desto deutlicher wurden die Bilder, die in ihr Abscheu, Verachtung und Trauer auslösten. Alvar war noch am Leben. Und er war irgendwo in der Stadt. Oder war er vielleicht doch in dem brennenden Anwesen umgekommen? Irgendwie konnte Zarifa das nicht so recht glauben. Es schien fast, als könnte sie spüren, dass Alvar noch am Leben war. Konnte sie wirklich frei und unbeschwert in der Stadt leben, in der ihr Vergewaltiger frei herumlief? Selbst wenn Alvar sie vielleicht nicht explizit suchen würde, so konnte sie sich wohl kaum wohlfühlen, solange sie wusste, dass er in der Nähe war. Wie sollte sie vergessen, was geschehen war, wenn sie so nahe am Tatort und noch viel näher am Täter war? Sie würde nicht ruhig schlafen können. Sie würde keine Sekunde genießen können, weil die Bilder und Gedanken sie weiter verfolgen würden. Die Bilder von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Die Gedanken an Hilfeschreie, die von niemanden gehört wurden. Der Gedanke, dass der Tod besser war als das hier.
Ein zahnloses Grinsen tauchte vor Zarifas geistigem Auge auf. Tränen schossen ihr ins Gesicht. Sie wollte doch einfach nur ein ganz normales Leben führen. Wieso gelang ihr das nicht? Wieso wurde ausgerechnet sie immer wieder Opfer von Missbrauch, Vergewaltigung und Verrat? Oder war es in Wahrheit nicht nur sie? Waren es in Wahrheit viel mehr Menschen, die nur nicht gehört wurden, weil die Mächtigen sie rechtzeitig zum Schweigen brachten?
Zarifa schob den Gedanken beiseite. Wen kümmerte das im Augenblick? Es ging hier darum, wie sie es schaffen konnte, sich trotz allem was ihr widerfahren war, wieder ein normales Leben aufzubauen. Oder zumindest das, was Zarifa sich als ein normales Leben vorstellte. Vielleicht konnte sie dahin zurückkehren, wo für sie alles angefangen hatte? Zurück nach Umbar? Es gab doch bestimmt Wege, wie man unkompliziert nach Umbar gelangen konnte. Man brauchte nur genug Geld und das ließe sich leicht auftreiben. In Umbar hatte sie die mit Abstand längste Zeit ihres Lebens größtenteils unbeschwert vollbracht. Und außerdem war das Wetter dort eh viel besser als hier. Warum also nicht einfach zurückkehren?
Zarifa erinnerte sich zurück, wieso sie damals die Stadt verlassen hatte. Sie war als Sklavin von Fürst Hasael von Umbar an Fürst Radomir von Gorak verkauft worden. Doch wie hatte Hasael sie eigentlich verkaufen können? Abermals schoss ein Name wie ein Blitz in Zarifas Gedächtnis: Yasin. Auch Yasin war noch am Leben. Derjenige, dessen Verrat alle weiteren Ereignisse ausgelöst hatte. Yasin hatte Zarifas Vertrauen gewonnen und sie anschließend an Hasael verraten. Alles was er dafür von Hasael verlangt hatte war...
Erneut tauchten schreckliche Bilder vor Zarifas innerem Auge auf. Bilder von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Gedanken an Hilfeschreie, die von niemanden gehört wurden. Der Gedanke, dass der Tod besser war als das hier. Auch Yasin war noch am Leben. Genau wie bei Alvar, spürte die junge Frau das irgendwie. Wie sollte sie jemals wieder ein unbeschwertes Leben führen, wenn diese Leute noch am Leben waren? Erneut schossen Tränen in die Augen der jungen Frau. Egal in welche Richtung sie dachte, ihre Gedanken endeten unweigerlich am gleichen Punkt...
Ein zahnloses Grinsen tauchte vor Zarifas geistigem Auge auf. Sie erinnerte sich zurück an die Nacht, in der sie zum ersten Mal erfahren hatte, dass seelischer Schmerz viel schlimmer war als körperlicher Schmerz. Sie war gerade mal 12 Jahre alt gewesen und hatte es im Laufe der Zeit beinahe verdrängen können. Doch in letzter Zeit erinnerte sie sich immer wieder an diese Nacht zurück. Als sie wegen Diebstahls in einer Zelle hockte und dann mitten in der Nacht von den Wachen...
Zarifa verpasste sich nun selber eine Ohrfeige. Sie wollte nicht daran zurückdenken. Sie wollte nicht an Ziad denken. Sie wollte nicht an Tekin denken. Sie wollte nicht hier herumliegen und nur ihrer eigenen Verzweiflung nachhängen. Doch was sie auch versuchte, es hörte nicht auf. Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Hilfeschreie, die niemand hörte. Blutspritzer auf ihrer Kleidung. Ziads Leiche. Der Geschmack von Blut in ihrem Mund. Tekins abgetrennter Kopf vor ihrem Gesicht. Ein zahnloses Grinsen. Eine Hand, die langsam ihr Kleid hochzog. Peitschenhiebe, die sie nicht verdient hatte. Schallendes Gelächter im Hintergrund.
Was tat sie hier eigentlich? Sie befand sich in einem Zimmer zusammen mit einem älteren Mann, der eine Art Soldat oder Wachmann zu sein schien, und einer Frau, die Zarifa nicht erzählen wollte, warum sie hinter Radomir her war. Wieso war sie hier? Sie war aus der simplen Notsituation und aus Mangel an Alternativen mit Cyneric mitgegangen, doch jetzt hier im Bett liegend, fiel ihr auf wie bescheuert das Ganze war. Sie kannte diesen Mann nicht. Sie wusste nichts über ihn. Er war zwar bisher sehr freundlich gewesen, doch Yasin hatte bewiesen, dass das überhaupt nichts heißen musste. Er hatte sich damals ihr Vertrauen erschlichen, um einen Sklavenhandel einzufädeln. Hatte Cyneric ähnliches vor? Er wollte sie mit nach Gortharia nehmen. Wieso? Um sie zu verkaufen? Welchen Grund hätte er sonst? Vielleicht spielte er ihr den freundlichen alten Mann nur vor. Er hatte sie bereits betrunken gemacht. Er selbst hatte extra nichts getrunken, damit Zarifa etwas bekam. Sie musste hier weg, bevor es noch schlimmer wurde. Sie musste irgendwo an einen stillen Ort und über alles in Ruhe nachdenken. Weg von den Fremden. Weg von alten Männern, die sie nur missbrauchen wollten. Sie musste sofort raus aus diesem Zimmer.
Zarifa blickte erneut zu dem einzigen Fenster in diesem Raum. Es war groß genug, dass sie locker hindurchpassen würde. Jetzt oder nie! Zarifa stand auf. Dass Bett knarzte leicht, doch das viel der jungen Frau gar nicht auf. Sie war schon halb auf den Fenstersims geklettert, als plötzlich eine Stimme hinter ihr ertönte:
„Du hast dich also entschlossen zu gehen?“
Fine:
Cyneric schlug die Augen auf. Für einen Augenblick fühlte er sich orientierunglos, wusste nicht wo er war. Dann hörte er Salias leichten, regelmäßigen Atem im Bett zu seiner Rechten und seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die in dem kleinen Raum herrschte, in dem sie übernachteten. Er blieb liegen und warf so leise es ging einen Blick in Richtung des Fensters, wo das Mädchen schlief, das er in Radomirs Palast getroffen hatte. Zarifa. Gegen das Licht des Mondes sah er ihre schmale Gestalt, die sich unruhig bewegte. Sie musste noch wach sein. Und tatsächlich stand sie wenige Momente später aus dem Bett auf, beinahe geräuschlos, bis auf ein leichtes Knarzen des Holzes. Zarifa öffnete das Fenster und war schon halb hindurch, als sich Cyneric durchgerungen hatte, etwas zu sagen.
"Du hast dich also entschlossen, zu gehen?"
Die Frage stand im Raum. Zarifa war genau in der Position erstarrt, die sie eingenommen hatte, als Cyneric gesprochen hatte. Er hatte die Frage vorsichtig und ohne negativen Klang gestellt. Innerlich drängte ihn sein Instinkt dazu, aufzuspringen und die junge Frau zurück ins Zimmer zu ziehen, doch etwas hielt ihn davon ab. Etwas sagte ihm, dass er in jenem Augenblick nichts Falscheres tun konnte. Also tat er nichts weiter, als sich langsam im Bett aufzusetzen und die Füße über die Kante baumeln zu lassen. Es war kühl geworden, da das Fenster noch immer offen war. Cyneric legte seine Decke über seine Beine und wartete auf eine Antwort.
Zarifa hatte bislang keine Reaktion gezeigt. Doch nach einer längeren Zeit des Schweigens hörte Cyneric schließlich, wie sie einen tiefen Seufzer von sich gab und er konnte sehen, wie sich die Schultern des Mädchens senkten. Sie ließ das Fenster los, das sie mit dem linken Arm offen gehalten hatte.
"Ja. Ich werde jetzt gehen," antwortete sie leise.
"Wenn du gehen möchtest, werde ich dich nicht aufhalten," wiederholte Cyneric das, was er ihr bereits am Tag zuvor gesagt hatte. Ihm fiel etwas ein und sogleich sprach er den Gedanken aus: "Ich habe gesehen, wie du auf Alvar reagiert hast. Etwas ist zwischen euch beiden vorgefallen, und du hast Angst, dass ich dir dasselbe antun würde. Ist es nicht so?"
Zarifa warf ihm einen Blick zu, der beinahe nach Schuldbewusstsein wirkte. Ihre Augen huschten zwischen dem Fenster und dem Boden vor Cynerics Füßen hin und her. Es war offensichtlich, dass sie gerade einen inneren Widerstreit mit sich selbst austrug. Schließlich ballte sie die rechte Hand zur Faust und ihr Blick füllte sich mit unterdrückter Wut. "Ich... glaubte nicht, dass du anders als er sein könntest. Du bist freundlich, aber das waren andere auch. Ich kann das nicht mehr." Sie hatte hastig und mit Nachdruck gesprochen. Als wollte sie die Worte so rasch wie möglich loswerden. "Ich werde gehen. Jetzt."
"Zarifa. Es steht dir frei zu gehen," sagte Cyneric. Die junge Frau hatte sich noch immer nicht weiter aus dem Fenster bewegt. Irgend etwas schien sie dazu zu bringen, ihm trotz ihres großen Misstrauens zuzuhören. "Lass mich dir nur eines sagen: Ich habe dir nicht geholfen, weil ich etwas von dir will, oder eine Gegenleistung erwarte. Ich glaube dir, dass du viel Schlimmes von Männern erlebt hast. Und im Gegenzug möchte ich, dass du mir glaubst, dass ich keiner von ihnen bin. Ich könnte jemandem wie dir niemals etwas antun. Genausowenig wie ich Salia hier etwas antun könnte. Ihr beiden seid wie meine Tochter, nach der ich schon so lange suche." Er machte eine Pause und fragte sich, ob Zarifa ihm noch zuhörte oder schon ihren Abstieg über die äußere Wand des Hauses plante. Also fügte er nur noch einen Satz hinzu: "Geh nur, wenn du gehen musst. Ich nehme es dir nicht übel. Doch wenn du bleibst, kann ich dir vielleicht helfen, nicht mehr in Situationen zu geraten, wo du Männern wie Alvar ausgeliefert bist."
Zarifa überraschte ihn damit, dass sie rasch ihr Bein durch das Fenster zog, es hinter sich schloss und mehrere Schritte auf ihn zu kam. "Sprich nicht von diesem... Vergewaltiger. Ich will seinen Namen nie mehr hören. Ich weiß, dass er noch am Leben ist. Und ich wünschte mir, er wäre es nicht."
Cyneric wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Dass Alvar Zarifa vergewaltigt hatte, war ihm spätestens jetzt klar. Er ärgerte sich darüber, den Mann so falsch eingeschätzt zu haben, denn als Cyneric Alvar kennengelernt hatte, hatte er ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten. Ehe er noch recht verstand, was er da sagte, antwortete er: "Wenn ich ihn wiedersehe, werde ich ihn dafür umbringen, was er dir angetan hat."
Zarifa schien diese Aussage beinahe ebensosehr zu schockieren, wie sie Cyneric schockierte. Hier saß er und versprach einem jungen Mädchen, einen anderen Menschen kaltblütig umzubringen. Und er stellte fest, dass er es tatsächlich ernst meinte.
"Das würdest du tun?" stammelte Zarifa. "Aber... das würde nicht endgültig helfen. Da sind so viele mehr, die wie er sind. Es wird immer neue geben. So wie Yasin. Auch er ist noch am Leben."
"Wer ist er? Hat er... dasselbe getan wie Alvar?"
Zarifa setzte sich auf den Boden, Cyneric gegenüber. Als er sah, dass sie zitterte, legte er vorsichtig seine Decke um ihre Schultern. Er gab dabei acht, der jungen Frau nicht zu nahe zu kommen. Sie schniefte und nickte.
"Er ist ein reicher Mann aus Umbar, der mich an Radomir verkauft hat. Und er..."
"Ist schon gut. Du musst es nicht sagen. Es ist schrecklich genug, was dir passiert ist, Zarifa. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen." Er saß auf seiner Bettkante, ihr gegenüber, die Hände auf die Knie abgestützt. Und als er sie dort sitzen sah, gehüllt in die dünne Decke, konnte er nicht anders, als seine Tochter vor sich zu sehen. Zarifas schmales Gesicht verschwamm und an seiner Stelle erschien das Gesicht Déorwyns, deren blonde Haare ihr wie ein Wasserfall über die Schultern fielen. Komm und finde mich, schienen ihre Lippen zu formen. Cyneric blinzelte und sah wieder Zarifa vor sich, die einen weichen Ausdruck in den Augen hatte. Ein verdächtiges Glitzern war dort zu sehen, doch noch flossen keine Tränen.
"Du kommst also aus Umbar, nicht wahr?" fragte Cyneric. "Wie ist es dort? Ich bin nie so weit in den Süden gekommen."
"Es ist... nichts besonderes. Eine Stadt voller Reicher, die sich an den Armen noch mehr bereichern. Genau wie hier auch. Nur ist es etwas wärmer und die Menschen sprechen eine andere Sprache. Aber sie sind trotzdem genauso grausam wie hier." Sie fing an, von ihrem Leben vor Radomir zu erzählen. Erst langsam und zögerlich, dann immer befreiter. Cyneric erfuhr von Zarifas Leben auf den Straßen von Umbar und wie sie jeden Tag neu darum hatte kämpfen müssen, genug zu Essen zu haben. Er hörte von Ziad, dem einzigen Mann in ihrem Leben, dem sie vertraut hatte und von der Zeit, als es ihr vergleichsweise gut gegangen war. Und Zarifa sprach schließlich auch davon, wie es sie bis nach Gorak verschlagen hatte und wie sie von Radomir und einem Mann namens Kazimir misshandelt worden war. Sie wiederholte immer wieder, dass sie Albträume von Fingern hatte, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Und Cyneric war froh, dass er sich bislang von ihr fern gehalten hatte.
Eine Pause trat ein, nachdem Zarifa geendet hatte. Nur das leise Schnarchen Salias war zu hören. Schließlich sagte Cyneric: "Dir ist großes Unrecht widerfahren, meine liebe Zarifa. Ich weiß nicht, wie sich das wieder gut machen lässt - ob das überhaupt möglich ist. Doch es gibt einige Dinge, die ich tun kann, um dir das Leben, was vor dir liegt, etwas einfacher zu machen, wenn du mich lässt. Ich verstehe, dass du Männern misstraust. Dennoch hoffe ich, dass es mir gelingt, dich davon zu überzeugen, dass ich dir nichts Böses will. Ich kann dir helfen, in Gortharia noch einmal ganz neu anzufangen, und kann dir zeigen, wie du dich vor Männern schützen kannt, die dich berühren wollen, gegen deinen Willen. Doch ich werde dich auch nicht dafür verurteilen, wenn du jetzt gehst. Ich bin dir dankbar, dass du mir erzählt hast, was dir zugestoßen ist, und dass du mir bis jetzt zugehört hast."
Zarifa gab ihm zunächst keine Antwort darauf. Noch immer saß sie im Schneidersitz auf dem Teppich, der den Boden des Schlafraumes bedeckte. Sie schien angestrengt über alles nachzudenken, worüber sie gesprochen hatten.
"Du hast von einer Tochter gesprochen. Mehr als einmal. Wer ist sie?" fragte die junge Frau schließlich.
"Ihr Name war Déorwyn," antwortete Cyneric. "Sie war sechzehn, als ich sie zuletzt gesehen habe. Ehe ich in den Krieg ritt. Denn als ich wieder heimkehrte, war sie fort, und bis vor wenigen Monaten hielt ich sie für tot. Doch jetzt weiß ich, dass sie dort draußen ist, und nur darauf wartet, dass ich sie finde. Und deswegen bin ich hier. Deswegen habe ich dabei geholfen, Radomir zu töten. Weil ich zur Belohnung für meine Hilfe einen Hinweis erhalten werde, wo sich meine Tochter aufhält."
"Und weshalb hilfst du dann mir? Ich kann dir keinen solchen Hinweis geben."
"Weil... weil ich mir vorstelle, dass du sie sein könntest. Ich kann nicht anders. Wenn ich dich sehe, oder jemand, der ihr so ähnlich ist wie du, dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn sie in deiner Lage wäre, und jemanden wie mich trifft, der ihr helfen kann, aber es nicht tut. Wie kann ich da einfach nur zusehen und nichts tun? Du bist ebenfalls jemandes Tochter, Zarifa. Und ich bin mir sicher, dein Vater wäre mir dankbar dafür, dass ich dir meine Hilfe anbiete. Und gleichzeitig hoffe ich, dass meine Tochter ebenso Menschen wie mich trifft, die ihr helfen. Verstehst du, was ich damit sagen will?"
"Ich... ich glaube schon," antwortete Zarifa langsam. "Aber... wieso willst du, dass ich mit dir nach Gor..tharia gehe? Wenn du doch in Wahrheit nach deiner Tochter suchen willst?"
"Nun, die Anworten, die ich suche, sind dort, in Gortharia. Und wenn wir dorthin kommen, kann ich dir helfen, eine Unterkunft zu finden und dir vielleicht ein paar Leute vorstellen, die dir ebenso helfen können wie ich. Selbst wenn ich die Stadt vielleicht bald verlasse. Es ist wichtig, Freunde zu haben, Zarifa. Wir können im Leben nicht alles alleine schaffen."
"Wäre es nur so," erwiderte Zarifa. "Ich will auf niemanden angewiesen sein."
"Du kannst nicht allen misstrauen. Nicht alle Menschen sind schlecht. Ich hoffe, dass du mir das eines Tages glauben kannst."
"Vielleicht eines Tages."
Zarifa war schließlich aufgestanden, die Decke noch immer um ihre Schultern gehüllt. Cyneric beobachtete sie dabei, wie sie im Zimmer auf und ab ging und nachdachte. Er wusste, dass sie ihm noch nicht vollständig vertraute. Also wartete er ab und übte sich in Geduld. Ihm fiel auf, dass diese Nacht wahrscheinlich die erste war, in der Zarifa genug Zeit hatte, um über ihre nächsten Schritte in Ruhe nachzudenken. Bislang war ihr Leben von Schmerz und Rache geprägt gewesen, doch jetzt konnte sie sich frei darüber entscheiden, wie es weitergehen sollte.
"Ich denke... ich denke, ich werde vorerst mitkommen. Nach Gortharia. Hier in Gorak will ich nicht länger bleiben."
Cyneric atmete auf. Darauf hatte er gehofft. "Ich danke dir für dein Vertrauen, Zarifa."
"Das heißt nicht, dass ich dir restlos vertraue."
"Ich verstehe."
"Gut." Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn herausfordernd an.
"Einen letzten Rat habe ich noch für dich," sagte er und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
"So?"
"Um diese Uhrzeit sollten junge Frauen in deinem Alter längst tief und fest schlafen. So wie es Salia hier vorbildlich tut."
"Du bist nicht mein Vater," antwortete sie, doch er sah, dass sich ihre Mundwinkel verdächtig angehoben hatte. Genau das hatte er beabsichtigt.
"Ich weiß. Doch wenn ich es wäre, würde ich sagen: Ab ins Bett mit dir."
"Vermutlich ist das eine gute Idee," gab sie zurück. Die Decke nahm sie mit.
Am folgenden Tag brachen sie frühmorgens auf und machten sich auf den Weg nach Gortharia.
Cyneric, Zarifa und Salia auf die Ebene westlich des Meeres von Rhûn
Rohirrim:
Ceyda aus den umliegenden Bergen von Gorak
Ceyda konnte in der Nacht nicht wirklich schlafen. Das lag vermutlich daran, dass es sich so anhörte, als würde draußen ein Krieg toben. Sie und die Wachen von Rhiannon, welche sie auf dieser Reise begleiteten, waren gerade dabei gewesen, zwei Zimmer im Berghorn zu beziehen, als Kampfgeräusche an ihre Ohren gedrungen waren. Diese schienen vom Palast zu kommen und Ceyda hatte sich erinnert, das kurz zuvor alle Wachen Goraks zum Fürsten gerufen worden waren. Daraufhin hatten Rhiannons Wachen darauf bestanden, dass Ceyda sich in ihr Zimmer zurückzog, während sie der Sache auf den Grund gingen.Nur Teijo, der jüngste von Ceydas Begleitern, wurde zu ihrem Schutz zurückgelassen und bewachte nun die Tür.
Ceyda hatte es inzwischen aufgegeben, zu schlafen und stattdessen angefangen, sich aus Langeweile in dem Zimmer umzusehen. Es gefiel ihr nicht, alleine hier zurückgelassen worden zu sein, ohne zu wissen, was da draußen vor sich ging. Doch andererseits, war es hier drin vermutlich wesentlich sicherer als draußen auf den Straßen. Und kämpfen konnte sie ohnehin nicht. Von daher war es wohl das beste, dass sie sich jetzt hier in diesem Zimmer langweilte.
Sie zündete eine Kerze an, um besser sehen zu können. Dabei fielen ihre Augen auf etwas in der Wand, was ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Ein Vandale hatte dort ein paar Worte eingeritzt. Da sie ohnehin nichts besseres zu tun hatte, ging näher ran und versuchte die Worte zu entziffern.
„Die Mutter ist 21 Jahre älter als ihr Kind. In 6 Jahren wird das Kind 5mal jünger sein als die Mutter.
Frage: Wo ist der Vater“
Was zur Hölle? Ceyda dachte angestrengt nach. Sollte das bloß ein Scherz sein, oder verbarg sich dahinter tatsächlich ein Rätsel? „Die Mutter muss aktuell 21 Jähre älter als ihre Kind sein und in fünf Jahren dann fünf mal so alt wie ihr Kind, Das bedeutet auf jeden Fall, dass die Mutter eher jung sein muss, weil der aktuelle Altersunterschied ansonsten höher ausfallen müsste. Aber...“
Es klopfte laut an der Tür.
„HERRIN KONTIO! DAS ANWESEN DES FÜRSTEN WURDE NIEDERGEBRANNT. ES HEIßT, RADOMIR SEI TOT!“
„WOHER SOLL ICH DENN WISSEN, WO DER VERDAMMTE VATER IST?“
„WAS?“
„WAS?“
Ceyda schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr klar, was sie gerade gehört hatte. Sie warf sich schnell ihren Morgenmantel über und öffnete die Tür.
„Was erzählst du da?“, fragte sie so ruhig, wie sie es in diesem Moment nur konnte.
„Die anderen sind eben zurückgekehrt“, begann Teijo. „Sie haben es gesehen. Eine riesige Meute hatte sich vor Radomirs Anwesen versammelt und ihm die Hölle heiß gemacht. Dann fingen auch die Sklaven an zu rebellieren und noch ehe die Anderen genau wussten, was passiert war, brannte das Anwesen bereits und ein Kampf war ausgebrochen. Auf einmal war es, als wäre die ganze Stadt durchgedreht.“
„Und Radomir ist tatsächlich tot?“
„Das wissen wir nicht sicher. Aber das Anwesen ist komplett in sich zusammengestürzt und die ganze Stadt wollte ihn tot sehen. Wenn er in dem Anwesen war, dann lebt er jetzt nicht mehr.“
„Die ganze Stadt wollte ihn tot sehen? Was hat Rhiannons Bruder hier nur gemacht, um etwas Derartiges auszulösen?“
„Das würde ich auch gerne Wissen.“
„Wie spät ist es jetzt?“
„Fast vier Uhr.“
„Okay! Dann würde ich sagen, wir versuchen jetzt alle noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Morgen früh machen wir uns dann gemeinsam auf zum Anwesen. Ich will sehen, ob wir irgenetwas tun können. Und ich muss wissen, ob Radomir wirklich tot ist“, erklärte Ceyda.
„Alles klar. Ich wünsche ihnen eine Gute Nacht, Herrin Kontio“, gab Teijo zurück.
Ceyda wachte schon früh am Morgen auf. Ihr Blick fiel dabei sofort auf das seltsame Rätsel an der Wand. „Bestimmt nur ein dummer Scherz“, dachte sie, während sie aufstand und begann, sich anzuziehen. Sie hörte bereits, wie zwei von Rhiannons Leuten sich vor ihrer Tür unterhielten. Vermutlich hatten sie es nicht lassen können und die ganze Nacht über ihr Zimmer bewacht. Einerseits war sie dankbar dafür, dass diese Männer so gut auf sie aufpassten, doch andererseits fühlte sie sich ein wenig unwohl bei dem Gedanken, 'Untergebene' zu haben. Sie selbst war einst nur die Tochter eines Bauern gewesen und wusste, wie es sich anfühlte, wenn Höhergestellte auf einen hinabsahen. Und jetzt war sie selbst eine solche Höhergestellte.
„Aber ich bin anders!, sagte Ceyda zu sich selbst. „Ich werde niemals auf Leute hinabsehen, nur weil sie dem Rang nach unter mir stehen. Außer vielleicht auf Zwerge. Aber das hat dann mehr etwas mit der Körpergröße zu tun.“.
Ceyda gluckste über ihren eigenen Scherz. Und gleichzeitig nahm sie sich vor, den Wachen von Rhiannon deren formelle Ausdrucksweise ihr Gegenüber auszutreiben. Sie mochte es nicht, mit „Herrin Kontio“ angesprochen zu werden. Zumal sie bei dem Klang ihres Nachnamens immer an Jari denken musste. Und dabei war sie doch gerade nach Gorak gefahren, um sich ein wenig abzulenken.
Ein paar Minuten später hatte Ceyda sich fertig gemacht und begab sich nach draußen, wo Rhiannons Wachen bereits auf sie warteten. Gemeinsam gingen sie nach unten in das Lokal, wo zwei junge Frauen und ein mittelalter Mann gemeinsam frühstückten. Ceyda glaubte, die jüngere Frau an dem Tisch schon einmal gesehen zu haben, konnte sie im Moment jedoch nicht einordnen. Und noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatten sie das Lokal schon verlassen.
Die Straßen sahen so aus, als hätte ein heftiger Sturm die Stadt heimgesucht. Fenster waren zersplittert, Gegenstände lagen wild verstreut auf dem Boden und an vielen Stellen hatten sich Wassermengen gebildet. Letzteres diente wohl dem Löschen von Bränden, überlegte Ceyda, die in der Ferne immer noch Rauch aufsteigen sah. Es schien, als hätte sich die Situation immer noch nicht komplett beruhigt, auch wenn die meisten Stadtbewohner im Moment wohl Schutz in ihren Häusern suchten oder noch schliefen. Jedenfalls war es um sie herum einigermaßen ruhig. Und die paar Menschen, die ihnen begegneten, schienen sich nicht großartig um sie zu scheren. Ceyda hatte Rhiannons Wachen angewiesen, sich unauffällig zu kleiden und nur kleine Waffen mitzunehmen, die sie verbergen konnten. Sie befürchtete, dass Männer in Wachmontur in Gorak zurzeit nicht allzu gut ankamen.
Ein paar Minuten später erreichte die Gruppe das niedergebrannte Anwesen von Fürst Radomir. Und es dauerte nicht lange, bis Ceyda fand, wonach sie gesucht hatte. Er befand sich vor dem Eingangstor... Ausgezogen und an eine Holzkonstruktion gefesselt blickte die Leiche des ehemaligen Fürsten von Radomir auf Ceyda hinab. Sie konnte nicht hinsehen. Egal wie schrecklich dieser Mann zu Lebzeiten gewesen war... So etwas hatte im Tod niemand verdient. Ceyda wusste nicht recht, was sie denken sollte. Nach allem was sie gesehen und gehört hatte, war dieser Mann die Schlimmste Sorte Herrscher gewesen, die sie sich vorstellen konnte. Aber war dieses Chaos wirklich die bessere Alternative? Sie blickte auf das zusammengestürzte Anwesen und die unzähligen Leichen, die sich drumherum und vermutlich auch drinnen befanden. War es das wirklich wert? Gab es keinen besseren Weg, einen Tyrann abzusetzen?
Ceyda ins Anwesen der Kontios in Gortharia
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