Zarifa erwachte. So gut hatte sie seit langem nicht mehr geschlafen. Kazimir war Tod und sie lag hier Arm in Arm mit ihrer großen Liebe. Konnte ein Morgen überhaupt schöner beginnen?
Auch Tekin erwachte nun und blickte Zarifa in die Augen. Sofort begann er zu lächeln.
„Na, gut geschlafen?“, fragte Zarifa grinsend.
„Bestens. Wie könnte es auch anders sein, wo ich doch die schönste Frau der Welt neben mir liegen hab?“
„Schleimer!“
„Ich sage nur die Wahrheit.“
„Nun, wenn das so ist, sollten wir vielleicht da weitermachen, wo wir gestern Abend aufgehört haben“, meinte Zarifa mit einem Grinsen im Gesicht.
„Da habe ich nichts dagegen“, entgegnete Tekin lächelnd und bewegte seinen Kopf langsam in Richtung der jungen Frau. Erneut küssten die beiden sich und erneut fühlte Zarifa sich wie im siebten Himmel. Für diese Momente lohnte es sich zu leben. Sie wünschte, es würde niemals enden.
Tekins Hand fuhr langsam in Richtung von Zarifas Brust...
„So, nun aber genug davon. Wir müssen langsam mal sehen, dass wir von hier wegkommen“, meinte Zarifa. Sie fühlte sich erschöpft, doch gleichzeitig auch voller Energie. Sie wusste auch nicht genau, wie das möglich war. Es war ein wunderbares Gefühl.
„Stimmt. Man wird sicherlich bereits nach uns suchen und früher oder später wird auch diese Höhle nicht mehr sicher sein. Hast du denn eine Idee, wie wir hier wegkommen?“
„Nicht wirklich. Zu Fuß brauchen wir ewig, um die nächste Ansiedlung zu erreichen und wir sind nicht gerade gut ausgerüstet. Ich könnte zwar versuchen ein paar Sachen zu stehlen, aber es wäre riskant, mich zu nahe an die Stadt zu begeben.“
„Warte mal... gibt es nicht auch irgendwelche Kutschen, die einen gegen Geld mitnehmen? Dann müssten wir nur etwas Geld auftreiben. Das wäre deutlich einfacher.“
„Mit 'WIR müssen Geld auftreiben', meinst du, ICH muss Geld stehlen, richtig?“
„Exakt!“
„Nun, das kriege ich hin. Die Frage ist nur, wie wir so eine Mitfahrgelegenheit ausfindig machen können, ohne dass uns jemand von den Wachen bemerkt.“
„Da brauchen wir wohl etwas. Im schlimmsten Fall müssen wir uns halt fürs Erste etwas weiter ins Gebirge zurückziehen.“
„Im Gebirge kann ich uns aber weder Essen stehlen, noch Geld stehlen, um uns Essen zu kaufen.“
„Das ist richtig. Eine Ansiedlung wäre deutlich einfacher. Vielleicht finden wir ja auch einfach eine Reisegruppe, der wir uns anschließen können?“
„Hmm, mir gefällt das alles nicht. Zu viel hängt vom Zufall ab. Wollen wir nicht doch lieber hier bleiben? Man hat uns bisher doch auch nicht gefunden.“
„Das wäre sehr riskant. Ich bin mir sicher, dass wer auch immer jetzt das Sagen hat, auch die umliegenden Berge durchsuchen lassen wird. Kazimir war in dieser Hinsicht ja einfach extrem dämlich. Und vergiss nicht, dass auch der Fürst irgendwann zurückkommen wird. Spätestens dann sollten wir uns nicht mehr hier aufhalten!“
„Wieso nicht?“
„Nun, wir haben doch seinen obersten Vertreter ermordet oder nicht? Und Radomir ist nicht gerade als jemand bekannt, der Gnade mit seinen Feinden zeigt.“
„Aber auch Radomir müsste uns erst einmal finden.“
„Das stimmt, aber meinst du nicht, dass auch diese Höhle früher oder später entdeckt wird? Sie ist zu nahe bei der Stadt, um nicht irgendwann gefunden zu werden.“
„Auch wieder war. Nun, ich denke wir müssen heute einfach nach einer Fluchtmöglichkeit suchen. Wir können uns ja zumindest noch ein wenig verkleiden. Ich habe uns ja inzwischen ein paar verschiedene Kleidungsstücke gestohlen. Da kriegen wir bestimmt etwas hin, was nicht allzu auffällig ist. Und falls sich bis zum Sonnenuntergang keine Möglichkeit zur Flucht ergeben hat, bleiben wir doch erst einmal hier. Wir müssen halt noch ein wenig vorsichtiger... Moment, was war das?“
Ein Rascheln war zu hören. Schritten schienen sich zu nähern. Zarifa und Tekin blickten sich erschrocken an. Waren das Wachen, die nach ihnen suchten? Oder doch nur einfache Zivilisten, die einen Spaziergang im Gebirge machten? Und wenn es wirklich Wachen waren? Was sollten sie dann tun? Sie saßen hier in der Falle. Sie konnten nur hoffen, dass die Höhle nicht entdeckt wurde.
Zarifa wagte kaum zu atmen, geschweige denn ein Wort zu sagen. Unwillkürlich berührte sie Tekins Hand und der hielt sie fest. So als wollte er ihr das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Doch es funktionierte nicht. Die Schritte kamen näher und jetzt hörten sie Stimmen
„Ich könnte schwören, dass sie hier irgendwo war.“
Zarifa erschrak. Sie kannte diese Stimme. Und auch wenn sie sie erst einmal in ihrem Leben gehört hatte, kam ihr sofort das dazugehörige Gesicht in den Sinn. Fünf Sekunden später sah sie es mit eigenen Augen: das Gesicht von Fürst Radomir. Er war hier.
„Ah, perfekt. Genau wie ich es mir gedacht hatte.“ Neben ihm tauchten nun mehrere Wachen auf. Zarifa zitterte. Wie hatte er sie so schnell gefunden? Vor weniger als zwölf Stunden war er noch nicht einmal in der Stadt gewesen. Sie blickte zu Tekin. Er schien dieselbe Mischung aus Angst und Ratlosigkeit zu empfinden wie sie selbst.
„Zwei entflohene Haustiere, die sich in einer Höhle verkriechen. Ein gutes Versteck, das muss ich zugeben. Nur zu schade, dass ich diese Höhle in meiner Kindheit selber gerne als Versteck genutzt habe. Als man mir berichtete, was ihr mit dem bedauernswerten Kazimir gemacht hattet und dass man euch in der Stadt bisher nicht aufspüren hatte können, kam mir die Idee. Ich wusste, ihr konntet noch nicht weit gekommen sein. Als mir dann noch erzählt wurde, dass man euch bereits vorher vergeblich gesucht hatte, kam mir die Idee. Und ich hatte wie immer Recht. Ihr seid hier!“
Da hatten sie ihre Antwort. Es war also einfach nur Pech. Radomir kannte diese Höhle und konnte sie daher leicht aufspüren. Wären sie doch nur schon früher aufgebrochen. Zarifa verfiel nun mehr und mehr in Panik. Dies konnte nicht gut für sie ausgehen. Würde man sie und Tekin töten? Oder würde man sie bestrafen? Verdammt, sie konnte nichtmal sagen, was schlimmer war. Ein zahnloses Grinsen tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.
„Ihr habt euch also in meinem Anwesen nicht wohlgefühlt? Ihr habt meine Abwesenheit zum Anlass genommen zu fliehen? Nun, ich versichere euch, wir sehen es hier gar nicht gerne, wenn Ungeziefer glaubt, es könne sich selbstständig machen. Ihr habt einen Platz und dieser Platz ist im Dreck. Immerhin das scheint ihr eingesehen zu haben, als ihr euch hier versteckt habt.“
Neben der Angst mischte sich nun auch Wut in Zarifas nicht enden wollenden Schwall an Gefühlen, die sie mühsam zu kontrollieren versuchte. Dieser Mensch war wirklich überzeugt von der Idee, im Recht zu sein. Er glaubte, das alles zu verdienen. Sein Reichtum und seine Macht stünden ihm tatsächlich zu, während seine Sklaven Menschen niedriger Klasse seien, die wiederum nichts anderes verdienten, als wie Dreck behandelt zu werden.
Was für ein wiederwärtiger Hurensohn! „Doch genug geplaudert. Kommen wir nun zum Geschäftlichen. Zunächst zu dir, Tekin.“
Zarifa spürte förmlich das Grauen, welches Tekin überkam, als sein Name genannt wurde. Es war, als würde sein Körper plötzlich Kälte statt Wärme ausstrahlen. Auch Zarifa spürte die Angst. Was würde Radomir mir Tekin machen?
Hoffentlich werden sie ihn nicht töten. Der Gedanke traf Zarifa wie ein Messerstich ins Herz. Würde sie erneut den Menschen verlieren, der ihr am meisten auf der Welt bedeutete? Das konnten sie nicht tun. Das durften sie einfach nicht. Tekin war es gewesen, der Zarifas Lebenswillen wieder hergestellt hatte. Ein Leben ohne ihn konnte und wollte sie sich nicht vorstellen. Zarifa spürte, wie sie heftig zu Schwitzen begann und das obwohl es ein eher kühler Morgen war. Ihre Lippen waren trocken. Es graute sie vor dem, was als Nächstes passieren würde
Bitte tötet ihn nicht. Tötet lieber mich an seiner Stelle.„Wie mir berichtet wurde, hatte der bedauernswerte Kazimir dir ein Angebot gemacht. Ein gütiges Angebot, dass es dir erlaubte in die Freiheit zu gehen. Obwohl es dir nicht zustand, solltest du die Möglichkeit bekommen, als freier Mensch das Anwesen zu verlassen. Der arme Kazimir war schon immer zu gutmütig.“
Zarifa schnaubte. Das Bild eines silbernen Dolches in ihrem Mund kam ihr in den Sinn. Radomir überging das.
„Dieses Angebot nahmst du an. Du erklärtest dich bereit, deine Freundin, mit der du gemeinsam fliehen wolltest, zu hintergehen und dafür genau das bekommen, was du dir mit der ganzen Aktion ursprünglich erhofft hattest: die Freiheit. Und mehr noch, er gab dir sogar etwas Geld, um dir deinen Start ins freie Leben zu erleichtern. Welch eine gute Seele, möge er in Frieden ruhen.“
Radomir blickte kurz gen Himmel. Zarifas konnte ihre Abscheu nur noch mit äußerste Mühe verbergen. Jeder der gut über diese grausame Existenz sprach, welche die Bezeichnung Mensch nicht verdient hatte, weil zum menschlichen Dasein ein gewisses Maß an Empathie gehörte, war schon automatisch ihr Feind. Sie stellte sich vor, wie sie Radomir genau wie dessen Vertreter mit einem Dolch durchlöcherte. Es war eine gute Vorstellung, doch leider völlig unrealistisch. Sie hatte keinen Dolch und Radomir wurde von Wachen geschützt.
„Du nahmst also das Angebot an und tatest auch zunächst, wie dir geheißen. Doch wie sich hinterher herausstellte, war das alles nur Schein, nicht wahr?“
Tekin zitterte nun am ganzen Leib.
„In Wahrheit hast du alles getan, um deiner Freundin hier ebenfalls zur Flucht zu verhelfen. Und der arme Kazimir hat sich tagelang gefragt, ob du ihn wirklich hintergangen hattest, oder ob deine Freundin hier einfach unfassbares Glück gehabt hatte. Der arme Kerl konnte sich in seiner Gutherzigkeit einfach nicht vorstellen, dass du sein Angebot ausschlagen würdest.“
Zarifa musste irgendetwas tun, um ihre Wut herauszulassen. In Ermangelung einer Alternative, schlug sie unauffällig mit der Faust gegen die Höhlenwand. Doch das bewirkte lediglich, das sich zu ihren sich langsam anbahnenden psychischen Schmerzen bestehend aus schmerzlichen Erinnerungen auch physische Schmerzen gesellten. Doch vielleicht war diese Ablenkung gar nicht so schlecht?
„So kam es dann also, dass du gemeinsam mit deiner Freundin hier einen Plan schmiedetest, um die Gutherzigkeit Kazimirs auszunutzen. Als er sah, wie du mit deiner Freundin gefesselt vor dir hergehend in sein Büro kamst, war er sofort bereit alles zu glauben. Sein gutes Herz war seine größte Schwäche und letztlich sein Untergang.“
Radomir seufzte. Zarifa hätte sich am liebsten übergeben. Unfassbar, wie der Fürst die Geschichte so zurechtbog, als sei Tekin der Böse. Das machte Zarifa nachdenklich. War es wirklich so einfach, die Geschichte im eigenen Sinne zu verändern?
„Du warst als Sklave unserem Haus verpflichtet und doch entschiedst du dich entgegen deinem Recht, einen Fluchtplan auszuarbeiten. Kazimir bot dir großherzig an, darüber hinwegzusehen und dir darüber hinaus sogar einen Gefallen zu tun, wenn du eine Sache für ihn erledigen würdest. Du erledigtest diese Sache nur zum Schein und verhalfst deiner Freundin zur Flucht. Doch damit nicht genug. Es reichte dir nicht, einfach die Belohnung und deine Freundin mitzunehmen. Nein, du nutztest erneut das Vertrauen von Kazimir aus und leitetest so seinen Tod in die Wege. Du hattest bereits deine zweite Chance. Kazimir hatte sie dir großzügig gewährt und du hast sie gleich doppelt verspielt. Ich weiß nichts mehr mit dir anzufangen. Tötet ihn!“
„NEIN!“ Zarifa schrie dieses Wort hinaus unmittelbar nachdem ihr schlimmster Gedanke ausgesprochen worden war. „Bitte, das könnt ihr doch nicht tun. Ihr könnt ihn doch nicht einfach töten. Tötet mich stattdessen. Es war ohnehin alles meine Idee. Bitte, bitte, ich tue alles. Nur tötet ihn nicht.“
Zarifa schwitzte, zitterte und überschlug sich fast mit ihren Worten. Sie würde alles tun, um Radomir von seinem Entschluss abzubringen. Sie konnte einfach nicht mit ansehen, wie noch ein geliebter Mensch vor ihren Augen getötet werden sollte. Der eigene Tod wäre die bessere Alternative.
„Ach nein, wie rührend. Mir scheint, als bestünde hier mehr als nur Freundschaft. Diese Bereitschaft den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, um den eines Anderen zu verhindern ist durchaus faszinierend. Und doch muss ich dir leider mitteilen, dass das überhaupt nicht infrage kommt. Tekin hat seine zweite Chance gleich doppelt verspielt. Er verdient nichts anderes, als den Tod.“
„NEIN! BITTE NICHT!“
Zarifa warf sich nun vor Tekin in einem verzweifelten Versuch, ihn irgendwie zu beschützen. Sie streckte ihre Arme aus, um eine Art menschlichen Schild vor ihm zu bilden. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Ziads Leiche, wie sie vor ihr lag. Das würde sie nicht noch einmal zulassen. Radomir lachte.
„Glaubst du wirklich, deinen Freund so retten zu können? Los, zieht die Kleine zur Seite und tötet ihn. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Die Wachen reagierten sofort. Zwei von ihnen zogen Zarifa beiseite, die sich wütend strampelnd versuchte zu wehren. Eine weitere Wache schritt mit gezogenem Schwert auf Tekin zu. Der rührte sich nicht von der Stelle. Er zitterte und doch sprach laut und deutlich:
„Zarifa... du bist das Beste, was mir in meinem Leben je passiert ist. Die letzte Woche mit dir, war all das Leid wert. Was auch immer du tust, gib nicht auf. Ich liebe dich!“
„NEIN! ICH DARF DICH NICHT VERLIEREN!“ Zarifa verpasste einem der Wachen einen heftigen Tritt in die Magengegend. Der war so überrascht, dass er seinen Griff kurz löste. Zarifa riss sich von ihm frei und versuchte auf die Wache mit dem Schwert zuzuspringen. Doch die andere Wache hielt sie immer noch fest und machte keine Anstalten, loszulassen. Zarifa drehte sich um und wollte ihm einen Faustschlag verpassen, der jedoch abgefangen wurde.
„Halt endlich still, du dummes Mädchen!“
Zarifa versuchte alles, um sich loszureißen, doch es hatte keinen Zweck. Sie konnte nur zusehen. Ein silbernes Schwert blitzte im herein schimmernden Sonnenlicht auf. „NEIN! TEKIN, RENN DOCH WEG! TU IRGENDWAS!“, schrie Zarifa, doch Tekin schien wie festgewachsen. Die Wache hob das Schwert. „NEIN! BITTE! HABT GNADE!“ Die Wache schwang das Schwert im hohen Bogen. Zarifa schloss die Augen. Ein ekelerregendes Geräusch war zu hören. Etwas fiel auf den steinigen Höhlenboden. Der Geruch von Blut stieg Zarifa in die Nase.
„Den Kopf nehmen wir mit. Als Mahnmal für das restliche Gesindel. Den Körper könnt ihr hierlassen.“
Sie hatten es tatsächlich getan. Zarifa wurde von einer Hoffnungslosigkeit erfasst. Sie wollte Schreien. So laut, dass jeder in der Stadt sie hören würde. Doch sie brachte keinen Ton heraus.
„Und nun zu dir, meine liebe Zarifa.“ Sie hörte, wie Radomir einige Schritte auf sie zukam. Die Augen hielt sie weiterhin geschlossen. Sie wollte Tekins Leiche nicht sehen. Sie zu sehen hieß, dass es real war. Noch konnte sie so tun, als sei das alles nur ein schrecklicher Albtraum.
„Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.“ Ohne es bewusst zu wollen, stieß sie ihre Augen auf. Da lag er: Tekins toter Körper. Um ihn herum eine riesige Blutlache. Sein Kopf fehlte. Und dann traf es die junge Frau wie ein Schlag: Der einzige Mensch, den sie jemals wahrhaftig geliebt hatte, war tot. Für immer weg. Sie würden nie wieder zusammen lachen. Sie würden sich nie wieder zusammen betrinken. Sie würden sich nie wieder küssen. Eine Träne lief ihre Wange herunter. Ihre Kehle wurde trocken. Sie wollte raus aus dieser Höhle. Einfach nur weg. Sie bekam keine Luft mehr. Sie versuchte sich loszureißen, wurde jedoch weiterhin von einer Wache festgehalten. Und dann trat Radomir in ihr Blickfeld. Der Fürst von Gorak und Mörder des Menschen, der ihr wieder Lebenswillen eingehaucht hatte. Und der Hass fraß sich mit rasender Geschwindigkeit durch jede Zelle ihres Körpers. „DU!“, begann Zarifa mit anklangender und lauter Stimme.
„Ich?“, fragte Radomir ruhig. Zarifa wollte ihrem Zorn Luft machen, doch sie fand keine Worte, die beleidigend genug waren. Und im nächsten Augenblick kam ihr schon wieder Tekin in den Sinn. Und die Trauer schob den Zorn beiseite. Sie brachte keinen Ton mehr heraus.
„Nun, wie dem auch sein“, meinte Radomir beiläufig. „Ich wollte gerade dazu kommen, was ich mit dir vorhabe.“
Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, werden Tekin und ich uns wiedersehen.„Du hast genau wie dein junger Freund hier“, und er deutete auf den kopflosen Körper, während er sprach, „entgegen deinem Recht einen Fluchtversuch geplant, der letztlich über verschiedene Umwege gelungen ist. Doch im Gegensatz zu deinem Freund hier hast du kein Angebot von Kazimir erhalten. Du hattest keine zweite Chance, die du verspielen konntest. Nein, du hast dich dank deines eigenen Geschicks und Könnens aus der Lage befreit, in die dein Freund dich gebracht hatte. Und anschließend wolltest du dich an Kazimir rächen, für diesen unerfreulichen Zwischenfall vor den Toren von Umbar. Weißt du, das kann ich verstehen. Es erfordert Mut und Talent, für seine Vergeltung zu kämpfen. Du hattest ein Motiv und das Talent für die Umsetzung eines Plans. Im Gegensatz zu Tekin, hast du nicht einfach ein Angebot angenommen und dann deinen Teil der Abmachung gebrochen. Nein, du hast dich selbst befreit und hattest anschließend den Mut, Rache zu üben. Ob du es glaubst oder nicht, das weiß ich durchaus zu schätzen. Vielleicht bist du tatsächlich mehr als nur Ungeziefer. Du hast es immerhin geschafft, meinen obersten Vertreter zu töten und anschließend zu entkommen, bevor dich jemand bemerkt hat. Das ist beeindruckend. Und auch wenn ich deine Tat nicht gutheiße, so kann ich doch nur den Hut vor deinem Talent und deiner Entschlossenheit ziehen. Und daher gebe ich dir nun eine zweite Chance. Auch wenn Großherzigkeit das war, was Kazimir letztlich in den Tod getrieben hat, will ich dir ein Angebot machen. Du hast gesehen, was mit Leuten passiert, die ihre zweite Chance verspielen, also rate ich dir, mich nicht zu hintergehen.
Also, in Gortharia musste ich leider feststellen, dass es Leute gibt, dir mir nicht wohlgesonnen sind. Ich bin mir sicher, dass sie mir nach Gorak folgen. Du bekommst die glorreiche Möglichkeit, mich vor ihnen zu schützen. Du wirst alles, was ich esse und trinke, probieren. Du wirst alles in deiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, wer etwas gegen mich im Schilde führt. Wenn ich in einer Woche nicht tot bin, meine Feinde dagegen schon, biete ich dir eine Anstellung in meinem Anwesen an. Nicht als Sklavin, sondern als eine hohe Vertreterin von mir. Na, klingt das gut?“
Zarifa wollte ihren Ohren nicht trauen. Erwartete Radomir ernsthaft, dass er erst Tekin ermorden lassen und anschließend sie zu seiner Vorkosterin machen konnte, und Zarifa das Ganze gutheißen würde. Ihr gesamter angestauter Hass manifestierte sich nun in den folgenden zwei Worten:
„FICK DICH!“
„Wie bedauerlich. Nun gut. Nehmt sie mit. Sie ist immer noch eine Sklavin. Sie wird schon das tun, was ich ihr sage. Auch wenn es vielleicht etwas Überzeugungsarbeit braucht.“
Zarifa wurde nun aus der Höhle geschleift. Es gab nichts, was sie tun konnte. Auch wenn sie am liebsten alles gleichzeitig tun wollte, was sie menschenmöglich tun konnte, tat sie nichts, um sich zu wehren. In einem nicht enden wollenden Wechselbad der Gefühle, schwankte sie hin und her zwischen Wut, Trauer, Hass, Angst und einer inneren Leere. Zarifa dachte an Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. An einen silbernen Dolch. An Blutspritzer auf ihrer Kleidung. An Ziads Leiche. An einen blutigen Dolch in ihren Mund. An ein zahnloses Grinsen. Hörte das Leid niemals auf? War das gesamte Leben nur eine nicht enden wollende Flut an Schmerz und Leid, in denen Hoffnung und Glück nur die Abwesenheit von Unglück darstellten? Kurze Momente der Freude, bevor man unweigerlich wieder Schmerzen empfand? Hatte das alles überhaupt irgendeinen Sinn?
Stumme Tränen rannen Zarifas Gesicht herunter. Als sie die Höhle verlassen hatte, stoppte Radomir noch einmal und die Wachen taten es ihm gleich. Es begann zu regnen.
„Habt ihr den Kopf des Verräters mitgenommen?“
„Ja, Herr!“
„Sehr gut! Mir kommt da gerade eine Idee. Unsere junge Freundin hier möchte sich doch bestimmt noch von ihrer großen Liebe verabschieden. Ein letztes Mal in die Augen sehen? Vielleicht sogar ein letzter Kuss?“
Zarifa wurde schlecht. War das sein Ernst?
Radomir nahm Tekins Kopf und packte ihn an den Haaren. Zarifa schloss die Augen. Sie konnte diesen Anblick nicht ertragen. Sie hörte wie Radomir auf sie zuschritt.
„SIEH HIN!“, brüllte er. Sie weigerte sich. Sie spürte, wie Tekins Kopf nun direkt vor ihr Gesicht gehalten wurde. Wie seine Haare in ihrem Gesicht kitzelten. Sie konnte nicht anders. Sie öffnete ihre Augen unwillkürlich einen winzigen Spalt. Sie blickte in die einst wunderschönen braunen Augen Tekins. Jetzt waren sie tot, leer und blutverschmiert. Sie weinte immer heftiger und schloss die Augen wieder. Sie wollte das nicht sehen. Sie wollte nur noch hier weg. Alles hinter sich lassen. Alles vergessen
„Was ist? Kein Abschiedskuss?“ Zarifa spürte, wie Tekins Kopf an ihr Gesicht gepresst wurde. Sie begann heftig zu schluchzen, doch da sie immer noch kräftig festgehalten wurde, konnte sie nichts tun. Blut tropfte auf ihre Lippen. Der Geschmack stülpte ihr den Magen um. Sie war kurz davor, sich zu übergeben. Angewidert war das Wort, doch es war nicht stark genug. Ihre Tränen vermischten sich mit Tekins Blut. Sie wollte einfach nur noch weg.
Zarifa in das
Anwesen des Fürsten von Gorak