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Autor Thema: Toba und der Berg Barkal  (Gelesen 5703 mal)

Eandril

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Toba und der Berg Barkal
« am: 13. Jan 2018, 18:46 »
Narissa und Aerien aus der Hauptstadt Kermas

Narissa und Aerien erreichten die Stadt Toba am Fuß des Paragebirges am Abend des vierten Tages nach ihrem Aufbruch aus der Hauptstadt. Von Kerma aus waren sie zunächst einige Meilen lang der Straße auf der sie gekommen waren nach Norden gefolgt, bevor sie in nordöstlicher Richtung abgebogen waren. Am späten Nachmittag des zweiten Tages ihrer Reise hatten sie die kleine Stadt Aniba erreicht, die an der Grenze zwischen dem fruchtbaren Schwemmland des Atbara und der Karumawüste lag.
Vor ihrem Aufbruch hatte sich Narissa die Karte von Kerma so gut es ging eingeprägt, und erinnerte sich daran, dass diese Wüste das gesamte nordöstliche Drittel von Kerma einnahm. Die Straße von Aniba nach Toba führte mitten durch die Wüste hindurch, und war staubig und heiß, doch es war nichts, woran Narissa nicht gewohnt war. Sie ritten nur morgens und abends, und verbrachten die Mittagshitze im Schatten einiger Oasen, an denen die Straße vorbeiführte, bis schließlich im Licht der untergehenden Sonne die gelblichen Felsen des Paragebirges vor ihnen aufragte.
Die Stadtmauer von Toba war aus dem gelben Stein des Gebirges errichtet worden und durch die Jahrhunderte von Sandstürmen glattgeschliffen worden. Die Straßen der Stadt waren staubig und karg, doch es gab hier mehrere Quellen und kleine Wasserläufe, die allerdings kurz hinter der Stadtgrenze in der Wüste versickerten und verschwanden.
"Ich frage mich, warum hier Leute leben", wunderte sich Narissa, während sie auf der Suche nach einer Unterkunft langsam die Hauptstraße der Stadt entlang gingen. Es war wenig Betrieb auf den Straßen und so wäre es nicht nötig gewesen, abzusitzen und die Pferde zu führen, doch nach vier Tagen im Sattel war es äußerst angenehm. "Fruchtbar scheint der Boden nicht zu sein, also kann man hier nichts anbauen - und es gibt offenbar auch gerade so nur genug Wasser zum Überleben."
Aerien warf ihr einen spöttischen Blick zu. "Es gibt mehr Gründe, warum Menschen beschließen, sich an bestimmten Orten anzusiedeln - nicht nur Essen. Vielleicht gibt es Gold oder Juwelen in diesen Berge, oder allein der Stein ist genug, um hier ein Auskommen zu finden."
"So? Und was mag der Grund deiner Vorfahren gewesen sein, sich in Mordor anzusiedeln?", fragte Narissa um es ihr ein wenig heimzuzahlen, doch als Aerien spürbar zusammenzuckte tat es ihr sofort leid. Sie griff nach Aeriens Hand und atmete heimlich und erleichtert auf, als diese die Hand nicht wegzog, sondern den Druck sanft erwiderte. "Tut mir leid, das war... unbedacht."
"Aber keine unberechtigte Frage", erwiderte Aerien leise, und sah Narissa in die Augen. "Ich frage mich das manchmal - was müssen sie für Menschen gewesen sein, die freiwillig ein Leben an einem solchen Ort gewählt haben? Fernab von Dingen wie Schönheit, Freude und Liebe, und in den Diensten eines Wesens, das so offensichtlich Böse ist?"
Darauf wusste Narissa keine Antwort, jedenfalls keine, die Aerien trösten könnte. Aerien wandte nach einem Augenblick des Schweigens den Blick ab, und deutete auf ein niedriges Lehmgebäude mit einem kleinen hölzernen Stall daneben. "Das sieht doch nach einer Herberge aus. Vielleicht sollten wir es mal dort versuchen."

Aerien hatte, wie sich herausstellte, einen guten Riecher gehabt. Bei dem Gebäude handelte es sich tatsächlich um eine Herberge für Pilger zu Anlamanis Grab, die, wie der Wirt ihnen erklärte, häufig in Toba übernachteten, bevor sie sich an den Aufstieg zum Grab, das auf dem halben Weg zum Gipfel des Barkal lag, machten.
"Leider ist das Geschäft in letzter Zeit nicht allzu gut", erzählte der Wirt trübsinnig, während sie ihm durch einen schwach erleuchteten Gang zu ihrem Zimmer folgten. "Der Krieg und alles, ihr versteht... da bleiben die Leute lieber hinter ihren sicheren Mauern, anstatt sich auf die Reise unserem Herrn Anlamani die Ehre zu erweisen." Er zog den Vorhang zur Seite, der statt einer Tür den Weg zum Zimmer verbarg, und Narissa und Aerien folgten ihm über die Schwelle. Das Zimmer war klein und nur mit zwei Betten (deren Matratzen unangenehm hart aussahen) und einem wackligen Schränkchen dazwischen ausgestattet, doch es sah wenigstens sauber aus - was man von ihrer Unterkunft in Aniba zuvor nicht hatte behaupten können.
"Wenigstens keine Ratten", murmelte Aerien Narissa zu, und diese grinste, auch wenn ihr die Erinnerung ein wenig unangenehm war. In Aniba war sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufgeschreckt und hatte dabei einen äußerst mädchenhaften, wie Aerien es ausgedrückt hatte, Schrei ausgestoßen, als sie etwas im Gesicht gekitzelt hatte. Der Übeltäter hatte sich als eine magere Ratte herausgestellt, die auf Narissas Brust gesessen und neugierig an ihrem Gesicht geschnüffelt hatte.
Sie bezahlten den Wirt für die Übernachtung und ein Abendessen, dass sehr zu ihrer beider Missfallen aus Hirsebrei bestand. Während Aerien missmutig die gelbbraune Masse auf ihrem Löffel betrachtete, winkte Narissa den Wirt zu ihrem Tisch heran, und fragte: "Der Weg zu Anlamanis Grab, wo beginnt er? Könnt ihr uns das sagen?" "Ihr dürfte ihn ohne Probleme finden. Vom Nordtor aus folgt ihr einfach ein Stück der Bergstraße nach Norden zu den Steinbrüchen, bevor Anlamanis Weg nach Nordwesten abzweigt. An der Stelle steht ein Schrein mit dem Abbild des Schwarzdrachen, ihr könnt es also nicht verfehlen."
"Und wie weit ist es in etwa bis zum Grab?"
"Etwa einen halben Tagesmarsch", erwiderte der Wirt, und Narissa tauschte einen überraschten Blick mit Aerien. Auf der Karte hatte die Entfernung nicht allzu groß ausgesehen, und sie hatten eigentlich damit gerechnet, noch vor dem Mittag dort zu sein. Der Wirt hatte ihr Erstaunen offenbar bemerkt, denn er erklärte weiter: "Ihr müsst bedenken, dass der Weg durch die Berge führt - er ist schmal, geht an einigen Stellen steil bergauf und macht viele Biegungen." Er zögerte einen Augenblick, und konnte dann seine Neugierde nicht mehr bezähmen.
"Seid ihr gekommen, um am Grab des Herrn Anlamani zu beten, und seinen Segen zu erlangen? Ich meine... ihr seid offenbar nicht aus Kerma, man kann es an eurer Sprechweise und eurem Äußeren erkennen." Narissa wollte gerade den Kopf schütteln, als sie einen warnenden Blick Aeriens auffing. Stattdessen sagte sie: "Nur weil wir nicht aus Kerma stammen, heißt das doch nicht, dass wir nicht, äh... den Segen des Herrn Anlamani empfangen können, nicht wahr? Ich meine, er... hat einen Drachen getötet und alles, also wessen Segen könnte in diesen... Zeiten sinnvoller sein?"
Man konnte der Miene des Wirtes ansehen, dass ihn die Antwort nicht vollständig zufrieden stellte, doch er stellte keine weiteren Fragen und verließ ihren Tisch wieder, um sich um seine anderen Gäste zu kümmern.
"Wirklich sehr überzeugend", meinte Aerien trocken, als er außer Hörweite war, und Narissa schnaubte unwillig. "Das nächste Mal darfst du dir eine Geschichte ausdenken. Außerdem, wir haben doch einen Geleitbrief vom König. Warum benutzen wir ihn nicht?" Bereits in Aniba hatten sie diese Diskussion geführt, und so wusste Narissa genau, was Aerien antworten würde.
"Wir haben beschlossen, dass wir keine unnötige Aufmerksamkeit auf unsere Mission lenken sollten", antworte diese wie erwartet. "Wenn wir weiterkommen, ohne den Geleitbrief zu benutzen, sollten wir das auch nicht tun. Du hast wohl nicht vergessen, dass Músab uns gewarnt hat, wir könnten nicht die einzigen sein, die den Zahn suchen. Darüber hinaus verstehe ich nicht, warum wir das schon wieder diskutieren müssen." Narissa seufzte, und rührte missmutig in ihrer halb geleerten Schale herum. "Ich weiß, ich weiß. Tut mir leid. Ich dachte nur... ich hatte mir das ganze etwas aufregender vorgestellt."
Aeriens Miene blieb ernst, doch ihre Augen funkelten amüsiert als sie erwiderte: "Gib Acht, was du dir wünscht. Noch haben wir unser Ziel nicht erreicht, und wer weiß, vielleicht wird es noch aufregender als uns lieb ist..."
« Letzte Änderung: 15. Jan 2018, 16:14 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Der Tempel des Schwarzdrachen
« Antwort #1 am: 22. Jan 2018, 19:11 »
Sie hatten Glück, denn in der folgenden Nacht war von Ratten nichts zu hören oder zu sehen. Aerien und Narissa hatten nach einer kurzen Diskussion gemeinsam beschlossen, früh schlafen zu gehen, um am nächsten Tag ebenfalls früh aufstehen zu können.
“Der Aufstieg zum Grab scheint mir recht anstrengend zu werden,” hatte Aerien argumentiert. “Da ist es besser, wenn wir den halben Tagesmarsch hinauf hinter uns bringen, ehe die Mittagshitze aufzieht.”
Narissa hatte es sich nicht verkneifen können, darauf hinzuweisen, dass Aerien sich mit dieser Aussage zu einer “vernünftigen, langweiligen Erwachsenen” gemacht hatte, doch sie hatte dem Vorschlag dennoch zugestimmt. Die Vorteile lagen auf der Hand.
Die Nacht war ohne weitere Vorkommnisse verstrichen und bei Sonnenaufgang war Aerien von Narissa geweckt worden. Nach einem kurzen, einfachen Frühstück hatten sie entschieden, ihre Pferde im Stall der Herberge in der sie übernachtet hatten zu lassen, und sich an den Aufstieg zu machen.

Das kurze Stück Weg, das jenseits des Nordtors der Stadt Toba lag, führte auf direktem Weg zum Fuße des Para-Gebirges, das hier sein südliches Ende fand. Eine steile Felswand bildete den Abschluss der Bergkette, die sich parallel zur viele Meilen östlich gelegenen Küste des kermischen Golfes entlang zog. Die Straße von Toba führte hier in nördlicher Richtung weiter zu den Steinbrüchen von Para, doch ein zweiter Weg zweigte nach rechts ab, und begann sofort, steil anzusteigen.
“Dort,” rief Narissa aufgeregt. “Das muss der Schwarzdrache sein!”
Aerien folgte Narissas ausgestrecktem Zeigefinger. Ein steinerner Schrein stand etwas abseits der Weggabelung, im Schatten des Berges, der hoch über ihren Köpfen aufragte. Unter einem gemauerten Dach war eine kunstvoll gearbeitete Szene in die Rückwand des Schreins eingemeißelt worden. Sie zeigte eine geflügelte Bestie, die sich im Todeskampf aufbäumte, das Herz vom Speerstich eines Einarmigen durchbohrt.
“Anlamani, wie er den Schwarzdrachen Arkhasias erschlägt,” erinnerte sich Aerien an das, was ihnen König Músabs Tochter Asáta in der Hauptstadt Kermas erzählt hatte. “Glaubst du, der Drache war wirklich so groß, wie er hier dargestellt wird?”
„Vermutlich nicht,“ entgegnete Narissa. „In Legenden dieser Art wird gerne etwas übertrieben.“
„Hmm,“ machte Aerien nachdenklich. “Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es Drachen wirklich jemals gegeben hat. Wie soll eine so gewaltige Kreatur überhaupt fliegen können? Oder Flammen spucken? Das klingt ziemlich abwegig, wenn du mich fragst.”
Narissa hingegen verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und antwortete: “Nun, nur weil du etwas noch nie gesehen hast, heißt es nicht, dass es nicht existiert oder nicht möglich ist.”
Aerien hielt für einen Augenblick inne und ordnete ihre Gedanken, ehe sie antwortete. “Soweit ich gehört habe, leben die meisten Drachen - falls es sie wirklich gibt - im hohen Norden, jenseits der von Menschen und Elben bewohnten Länder Mittelerdes. Ich frage mich, was den Schwarzdrachen wohl so weit in den Süden verschlagen hat.”
“Vielleicht die Reichtümer Kermas,” mutmaßte Narissa.
“Du meinst Kush,” korrigierte Aerien. “Damals gab es das Königreich von Kerma noch nicht, sondern das Reich von Kush.”
Narissa stupste ihr mit dem Finger gegen die Nasenspitze. “Niemand mag Besserwisser, Sternchen.” Sie drehte sich auf dem Absatz herum und eilte voraus, den Pfad zum Grab Anlamanis hinauf.

Der Weg zog sich in Schlangenlinien die Felswand hinauf. An jeder Biegung war ein weiterer Schrein mit dem Bild des Schwarzdrachen platziert worden. Je weiter die beiden Abenteurerinnen voran kamen, desto wärmer wurde es. Schon bald würde die heiße Sonne Kermas ihren Zenit erreicht haben, und obwohl der Herbst bereits gekommen war, würde es dennoch sehr heiß werden. Sie beschleunigten ihre Schritte. Immer wieder mussten sie sich ihren Weg durch Felsbrocken suchen, die quer auf der Straße lagen und offensichtlich von oben herab gestürzt waren. Aerien und Narissa sprachen wenig und hielten Augen und Ohren nach weiteren Steinschlägen offen. Doch sie schienen Glück zu haben, denn der Berg gab im Augenblick Ruhe.
Nachdem sie ungefähr zwei Drittel des Weges hinter sich gebracht hatten, kamen sie an einer großen Ruine vorbei, die etwas abseits des Weges auf einem großflächigen Felsvorsprung ruhte. Die Architektur erinnerte Aerien an die Hauptstadt Kermas, kam ihr jedoch um einiges älter vor. Sie vermutete, dass hier womöglich einst die Herrscher des untergangenen Reiches von Kush gelebt hatten, doch sie konnte sich dessen natürlich nicht sicher sein.

Kurz vor Mittag erreichten sie schließlich das Ende der Straße. Sie bogen um die letzte Biegung und sahen den Eingang des Grabes vor sich. Gewaltige steinerne Säulen säumten ein kunstvoll verziertes Portal, dessen Front in Richtung des Abgrunds blickte, an dessen Felswand sich die Straße von Toba hinaufzog. Der Ausblick war atemberaubend. Narissa und Aerien nahmen sich einen Augenblick Zeit, um über die Ebene des Sobat-Flusses hinauszublicken, die sie seit ihrem Aufbruch aus der Hauptstadt Kermas durchquert hatten. Das Land auf beiden Seiten des fernen Flusses war grün und fruchtbar - im großen Gegensatz zu der kargen Trockenheit des Gebirges, das sie gerade erstiegen hatten.
Aerien war stolz auf sich und natürlich auf Narissa. Sie hatten es gemeinsam bis hierher geschafft und in jenem Moment fühlte Aerien sich, als könnte sie mit Narissa überall hin reisen. Als gäbe es nichts, das sie jetzt noch aufhalten konnte. Ein rascher Blick auf Narissa, die ebenfalls äußerst zufrieden drein blickte, zeigte ihr, dass sie mit dieser Meinung nicht allein war.
“Also,” sagte Narissa abenteuerlustig. “Sehen wir nach, ob das Königssymbol dort drinnen ist.” Sie stapfte unerschrocken voran und Aerien folgte ihr.
Fünf breite Stufen ging es hinauf, zwischen den gewaltigen Säulen hindurch und hinein in eine große Halle, die von der Mittagssonne durch den Eingang und durch die großen Fenster in der Frontwand erleuchtet wurde. Aerien fühlte sich, als hätte sie einen Königspalast betreten. Die Wände waren von Statuen des einarmigen Helden gesäumt, der der Legende nach den Schwarzdrachen erschlagen und das Königsgeschlecht Kermas begründet hatte. In der Mitte hing von der Decke ein weinrotes, mit Goldrand besticktes Banner herab, das den Mûmak von Kerma umgeben von Speeren und Pfeilen zeigte, und darüber das heroisch stilisierte Antlitz Anlamanis. Die Decke der Halle lag in großer Höhe, und dennoch berührte das breite Banner beinahe den Boden, so groß war es.
“Das nenn’ ich mal einen Augenöffner,” meinte Narissa und trat an das Banner heran. Ehe Aerien sie aufhalten konnte, hatte sie den tiefroten Stoff bereits berührt und tastete neugierig daran herum.
Halb hatte Aerien erwartet, sofort von erzürnten Grabwächtern oder Priestern angegriffen oder zumindest des Grabes verwiesen zu werden, dafür dass sie diesen heiligen Ort entweiht hatten. Doch zu ihrer Erleichterung - und Verwunderung - geschah nichts dergleichen. Alles blieb ruhig.
Zu ruhig dachte Aerien. Nervös blickte sie sich in der Eingangshalle um, doch niemand war zu sehen.
“Sollten hier nicht Tempelwächter sein, oder Priester? Oder zumindest ein paar Pilger?” fragte sie und zog damit Narissas Aufmerksam auf sich und weg von dem gewaltigen Banner.
“Vielleicht haben wir heute einen besonders günstigen Tag erwischt, und es ist niemand hier,” mutmaßte Narissa. “Komm, sehen wir uns etwas um. Der Zugang zum Grab muss hier irgendwo sein.”
Aerien nickte, doch es gelang ihr nicht ganz, ihr ungutes Gefühl abzuschütteln. Die Mädchen umrundeten das große Banner und kamen an ein Tor, das ähnlich groß wie das Eingangsportal war. Einst war es vermutlich verschlossen gewesen, doch nun standen die beiden eisernen Torflügel weit offen. Dahinter lag ein etwas dunklerer Raum, der kreisrund zu sein schien. Das meiste Licht kam aus der Eingangshalle hinter ihnen, doch von der ebenfalls runden Decke hingen drei Öllampen bis beinahe auf die Höhe ihrer Köpfe herunter. Und dort im geblichen Licht der Lampen waren mehrere Gestalten zu erkennen, die regungslos auf den Boden ruhten. Der Boden selbst bestand aus bemalten, runden Felsplatten, die das Licht auf merkwürdige Weise reflektierten...
Als Aerien klar wurde, was sie hier vor sich hatte, schlug sie die Hand vor den Mund und überraschte sich selbst damit. Sie hatte bereits als kleines Mädchen große Mengen Blut gesehen und war dazu erzogen worden, keinerlei Emotionen angesichts solcher Schrecken zu zeigen. Doch jetzt war sie nicht mehr Azruphel von Durthang, sondern Aerien. Und Aerien war einigermaßen geschockt von den verbluteten Leichen, die sie gerade entdeckt hatte.
“Verdammt,” entfuhr es Narissa. “Da hast du deine Priester, Sternchen.” Sie umrundete die große Blutlache und sah sich eine der Leichen genauer an. Es handelte sich um einen in die Jahre gekommenen Kermer in einer mit roten Streifen verzierten weißen Robe. “Der kann noch nicht lange tot sein. Riecht jedenfalls nicht so,” meinte Narissa.
Aerien hatte ihr Schwert gezogen und sah sich wachsam um. Doch von den Mördern der Priester war keine Spur zu entdecken.
“Wir sollten rasch zum Grab gehen und hoffen, dass diejenigen, die diese Bluttat angerichtet haben, nicht dort sind,” schlug sie vor.   
“Oder wir gehen zurück nach Toba,” hielt Narissa dagegen. “Ich glaube nicht, dass die Mörder besonders fern sind.”
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Narissas Dolche blitzten auf als sie sie zog und sich kampfbereit umsah. Schwere Schritte näherten sich, als eine Fackel im Durchgang jenseits der Leichen auftauchte und ein Mann den runden Raum betrat. Er hatte schwarze Haare und Bart und in der rechten führte er einen langen Krummsäbel nach Art der Qahtan-Haradrim.
“Willkommen im Grab Anlamanis,” begrüßte er sie mit deutlich herauszuhörender Häme. Spätestens als Aerien das Blut an seiner Klinge sah, war ihr klar, wer die Priester ermordet hatte. Ihr erster Impuls war es, vorwärts zu stürmen und ihm das Grinsen mit einem gut gezielten Schwertstreich aus dem Gesicht zu wischen, doch da tauchten weitere Haradrim an seiner Seite auf. Aerien wandte sich um und fand sich und Narissa in der Mitte des runden Raumes umzingelt vor. Noch mehr Haradrim waren aus der Eingangshalle gekommen und aus den Seitenräumen, in denen vermutlich die unglücklichen Priester gelebt hatten und die ebenfalls an die runde Halle angeschlossen waren. Sie saßen in der Falle.
“Ein ehrfürchtiger Anblick, nicht wahr?” fuhr der Anführer der Südländer fort. “Zu schade, dass diese Narren sich uns widersetzt haben. Sie hätten nicht sterben müssen.”
“Wer seid ihr?” wollte Narissa unnachgiebig wissen. “Geht uns aus dem Weg!”
“Oh, ich fürchte, das geht nicht, kleine Turmherrin,” gab der Südländer zurück. “Das Königssymbol von Kerma gehört in die Hände des wahren Königs dieses Landes, nicht in die schmutzigen Pfoten gondorischer Hunde. Und ich, Mustqîm der Gerissene, werde dafür sorgen, dass Qore Kashta seinen Preis erhält.”
Aerien wurde bleich und tauschte einen raschen Blick mit Narissa aus, die ebenfalls perplex wirkte. Músab hatte sie gewarnt, dass es andere geben würde, die nach dem Königssymbol suchen würden. Doch offenbar waren die Warnungen des Königs nicht genug gewesen.
“Das Grab ist mit allerlei hinterhältigen Fallen gesichert,” fuhr Mustqîm fort. “Den Todesschreien der Männer zufolge, die ich hineingeschickt habe, ist der Schatz im Inneren äußerst gut gesichert.”
“Was hat das zu bedeuten? Lass uns gehen, du Monster!” rief Aerien zornig.
“Aber aber, meine Schöne. Ich habe meine Zeit nicht verschwendet, um euch diese meisterhafte Falle zu stellen und euch dann einfach gehen zu lassen. Ihr beiden werdet mir das Königssymbol holen - oder bei dem Versuch sterben.”
Narissa war anderer Meinung. “Niemals werden wir Abschaum wie dir helfen!” 
“Zu schade. Ich kann jedoch nicht behaupten, diese Entwicklung nicht vorhergesehen zu haben.” Mustqîm gab einem seiner Leute ein Zeichen, und dieser verschwand in den Schatten. “Wie sagt man so schön? Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr? Ihr helft mir - und im Gegenzug...”
Der Gefolgsmann Mustqîms kehrte zurück, eine gefesselte Gestalt mit sich schleifend. Brutal schleuderte er sie zu Boden neben die Blutlache. Mustqîms langer Säbel fuhr vorwärts und legte sich an den Hals der Gefangenen, als Aeriens Blut zu gefrieren schien. Vor ihr lag Kani, gefesselt und geknebelt, die Augen vor Furcht weit aufgerissen, mit der blutbefleckten Klinge an ihrer Kehle.
“...und im Gegenzug schlitze ich diesem Küken nicht hier und jetzt die Kehle auf,” vollendete Mustqîm seinen Satz.
« Letzte Änderung: 23. Jan 2018, 15:21 von Fine »
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Eandril

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Re: Toba und der Berg Barkal
« Antwort #2 am: 23. Jan 2018, 13:57 »
Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille, während Narissa versuchte, sich an ihre Ausbildung zu erinnern.



"Was tust du, wenn dein Feind eine Geisel nimmt, und ihr Leben bedroht?" Hador hatte die Arme verschränkt, und blickte Narissa, die ihm gegenüber im Schneidersitz auf einem Felsen saß, in die Augen. Narissa war siebzehn, und seit einigen Monaten hatte ihre Ausbildung einen viel ernsteren Grundton bekommen. Als sie einige Augenblicke lang ratlos geschwiegen hatte, lächelte Hador flüchtig. "Es ist gut, dass du darauf keine schnelle Antwort weißt - denn das ist eine der schwierigsten Situationen,
 in die wir geraten können, und hättest du zu schnell geantwortet, hätte das deine Voreiligkeit gezeigt."
"Kommt es darauf an, wen der andere als Geisel genommen hat?", vermutete Narissa,
 und ihr Großvater nickte. "In gewisser Weise. Aber zunächst musst du dir den Grundsatz merken: Wir verhandeln nicht. Das ist der Punkt, von dem wir in einer solchen Situation zunächst ausgehen, denn wenn du nachgibst, macht dich das angreifbar - auch für andere Feinde, denn so etwas kann sich herumsprechen."
"Aber was für eine Bedeutung hat es denn dann, wer die Geisel ist?"
"Das an sich hat keine Bedeutung. Was wichtig ist, ist das Verhältnis vom Wert der Geisel zum Wert dessen, was dein Feind von dir verlangt. Und bedenke, damit meine ich nicht den persönlichen, sentimentalen Wert, den die Geisel für dich hat, sondern ihren Wert für die Mission. Und wenn sie nicht wertvoller für die Mission ist als das, was dein Feind im Austausch für die verlangt, gilt unser Grundsatz: Wir. Verhandeln. Nicht."




Narissa wurde von einem Klirren aus ihren Gedanken gerissen, als Aeriens Schwert auf den blutigen Steinboden fiel. Ohne den Blick von Mustqîms Gesicht, auf dem sich ein triumphierendes Grinsen auszubreiten begann, schob Narissa langsam ihre Dolche zurück in die Scheiden - erst links, dann rechts. Sie war sich der Tatsache, dass die entgegen der Regeln ihres Großvaters handelte, bewusst - doch er war tot, getötet von Suladâns Schergen. Natürlich besaß Kani keinerlei Wert für ihre Mission, und Narissa konnte sie nicht einmal besonders gut leiden. Doch das Mädchen war unschuldig, und viel wichtiger: Aerien betrachtete sie als ihre Freundin. Und Narissa würde nichts tun, was Aeriens Freunde in Gefahr brachte.
"Schön, schön", meinte Mustqîm noch immer grinsend. "Jetzt schnall sie ab und wirf sie zu Boden." Narissa tat wie geheißen, und löste langsam die Dolchscheiden vom Gürtel. Währenddessen betrachtete sie aus dem Augenwinkel Mustqîms Männer. Sie waren gut ausgerüstet und, ihrer Haltung nach zu urteilen, auch gut ausgebildet. Doch einige von ihnen wirkten nicht ganz bei der Sache, als ob sie bereits frühzeitig ihren Triumph feiern würden. Vielleicht würde es möglich sein, im richtigen Moment mit Kani zu entkommen, doch dazu würden sie auf Zeit spielen müssen.
Narissa legte die beiden Dolche neben Aeriens Schwert auf den Boden, und hob beschwichtigend die Hände. "Also schön, Mustqîm der Gerissene. Ich muss sagen, ihr habt das schön eingefädelt - und offenbar habt ihr ja ordentlich Respekt vor uns, sonst hättet ihr kaum eine halbe Armee mitgebracht, und eine Geisel genommen." Es war befriedigend zu sehen, wie Mustqîms Haut oberhalb seines Bartes leicht errötete, und das triumphierende Grinsen von seinem Gesicht verschwand.
"Na los", stieß er hervor. "Ins Grab. Und ihr solltet besser nicht zu lange brauchen, sonst erlaube ich meinen Männern, sich ein wenig mit eurer kleinen Freundin hier die Zeit zu vertreiben..." Einige seiner Männer grinsten, und warfen einander wissende Blicke zu.
"Du wirst das bereuen, Mustqîm", sagte Aerien ruhig, aber mit kalten Hass in der Stimme, während sie und Narissa auf den Tunneleingang gegenüber des Tores zur Eingangshalle zugingen. "Eines Tages wirst du den heutigen Tag bitter bereuen."
Das triumphierende Grinsen war zurück auf Mustqîms Gesicht, als er erwiderte: "Nun, das hättest du nicht unbedingt sagen sollen, meine Hübsche. Ich weiß woher du kommst, also weiß ich auch, dass ich eine solche Drohung ernst nehmen muss... Aber jetzt los mit euch, die Zeit läuft."
Narissa wechselte einen Blick mit Aerien, und ging dann voraus in den dunklen Tunneleingang. Aerien kam ihr hinterher, und sobald sie über die Schwelle getreten war, schloss sich die schwere, hölzerne Tür hinter ihr. Das einzige Licht boten jetzt zwei flackernde Fackeln, die in Halterungen an beiden Wänden des Ganges steckten. Das Licht des Feuers spiegelte sich in Aeriens Augen, als sie Narissa anblickte und mit belegter Stimme sagte: "Für einen Moment war ich nicht sicher, was du tun würdest... ich meine, du konntest Kani nie wirklich leiden - denk nicht, ich hätte das nicht bemerkt - und..."
Narissa zuckte mit den Schultern. "Mein Großvater wäre sicher wütend auf mich. Und es spielte keine Rolle, ob ich sie mag oder nicht, wenn sie deine Freundin ist, werde ich nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht." Bevor sie noch mehr sagen konnte, hatte Aerien einen Schritt nach vorne gemacht und sie fest umarmt. Narissa erwiderte die Umarmung und strich ihr über den Rücken, bevor sie sich sanft befreite.
"Ich wollte ja unbedingt ein bisschen mehr Abenteuer", meinte sie, und zu ihrer Erleichterung zuckten Aeriens Mundwinkel verdächtig. Dann schien Aerien sich innerlich zu straffen, und spähte nach vor, den dunklen Tunnel entlang. "Verflucht finster hier... Wir sollten vielleicht diese Fackeln mitnehmen."
Narissa hatte bereits eine der Fackeln aus ihrer Halterung gelöst. "Dann wollen wir mal - aber pass auf wohin du trittst, du hast ja gehört, was unser Freund da draußen über Fallen gesagt hat." Aus dem Augenwinkel sah sie Aerien die Augen verdrehen, und musste ein Grinsen unterdrücken.

Der Tunnel zog sich in mehreren Biegungen immer tiefer in den Berg hinein. Das flackernde Licht der Fackeln erhellte die Wände, auf denen sich den ganzen Weg entlang kunstvolle Malereien und Mosaike, die offenbar die Geschichte von Kush und Kerma darstellten, abwechselten. Die Priester mussten dafür verantwortlich gewesen sein, denn laut Anlamanis Tagebuch, das nach seinem Tod von seinem Gefährten Salih Al Taybet ergänzt worden war, durften nur die Priester selbst das eigentliche Grab betreten. Alle anderen Pilger durfte nur bis in die zweite Halle, um dort Anlamani die Ehre zu erweisen.
"Ich hoffe, Anlamanis Geist wird uns nicht für unser Eindringen hier heimsuchen", versuchte Narissa einen Scherz zu machen. "Ich glaube nicht, dass es hier Geister gibt", erwiderte Aerien, die die Fackel vor sich hielt um damit den Boden zu beleuchten. "Außerdem sind wir mit Músabs Erlaubnis hier, also sollte es in Ordnung sein."
In diesem Augenblick stießen sie auf die erste Leiche. Der Mann stand, von drei Speeren aufgespießt, in der Mitte des Tunnels, und unter ihm hatte sich eine Blutlache gebildet, die im Fackellicht schwarz glänzte. "Da hätten wir eine von den Fallen", sagte Aerien, und deutete mit der Fackel auf eine flache Erhebung inmitten des Blutes. "Tritt jemand darauf, schießen Speere aus der Decke, und..." "... beenden das Leben des Eindringlings sehr abrupt", beendete Narissa den Satz. "Vielleicht sollten wir seine Waffe mitnehmen."
"Ich glaube nicht, dass wir hier drin Feinde finden, die wir mit dem Schwert bekämpfen können", erwiderte Aerien. "Und mit nach draußen nehmen könnten wir es auch nicht, das wäre zu offensichtlich."
"Hm", machte Narissa unzufrieden, und tastete vorsichtig die Taschen der Leiche ab. Nach einem kurzen Moment fand sie, was sie suchte: Ein schmales, kurzes Messer. "Aber das hier könnte funktionieren." Sie nahm dem Toten das Messer ab, und versteckte es unter ihrem eigenen Hemd.
Als sie dem Tunnel weiter folgten, stießen sie auf weitere Leichen. Ein weiterer war ebenfalls von Speeren, die diesmal aus den Wänden des Tunnels hervorgeschossen waren, aufgespießt worden, und zwei von einem herabstürzenden Felsblock, der beinahe den ganzen Tunnel blockierte, erschlagen worden. "Weißt du", ächzte Narissa, während sie sich an dem Felsen vorbeiquetschte. "Ich glaube fast, die wollen uns hier nicht haben." Sie war gerade an dem Felsen vorbei und wollte weitergehen, als Aerien sie am Arm packte und zurückhielt.
Narissa schwankte für einen Augenblick am Rand des Abgrunds, bevor sie wieder festen Stand hatte, und schüttelte dann den Kopf. "Also nein, das ist wirklich fies." Sie standen auf einem schmalen Streifen festen Steins, und vor ihnen lag eine tiefe Grube, auf deren Grund jede Menge Speerspitzen bedrohlich glitzerten. Dort lang auch Mustqîms fünfter Mann, der, erleichtert dem Felsblock entkommen zu sein, offenbar ebenso unvorsichtig wie Narissa eben geworden war.
"Er hatte keinen, der ihn gewarnt hat", stellte Aerien fest. "Also war er vermutlich der letzte."
"Wir werden es wohl herausfinden", sagte Narissa, und machte einen Sprung über die Speergrube hinweg. Zum Glück war die Grube nicht allzu breit, denn ansonsten wären sie sicher nicht hinüber gekommen. Einen Augenblick später landete Aerien sicher neben ihr. "Eigentlich dürfte es nicht mehr allzu weit sein. Gefühlt sind wir bald einmal unter dem ganzen Berg hindurch gewandert."
"Und hier sind keine Malereien mehr an den Wänden", stellte Narissa fest. "Dann sind wir vermutlich an den neuesten Ereignissen vorbei gelaufen und befinden uns jetzt in der Zukunft."
"Ich hoffe doch, dass die wirkliche Zukunft etwas farbenfroher sein wird als das hier", meinte Aerien mit einem Blick auf die kahlen, gelbbraunen Steinwände.
Tatsächlich stießen sie auf keine weiteren Leichen mehr, doch auf ein Mosaik aus weißen und schwarzen Steinplatten.
"Das riecht doch sehr nach einer weiteren Falle." Sie waren am Rand des Mosaiks stehen geblieben, dass zu breit war, um es zu überspringen. "Man darf nur auf eine bestimmte Farbe treten, sonst stirbt man irgendeinen schrecklichen Tod", vermutete Narissa, und Aerien nickte. "Die Frage ist nur, auf welche Farbe... ich möchte nicht riskieren, es auszuprobieren." Sie reichte Narissa ihre Fackel, und zog Anlamanis Buch aus der Tasche. "Vielleicht sagt uns das etwas..."
Sie blätterte einen Augenblick in dem Buch, während Narissa ungeduldig wartete, und sagte dann: "Ah, das könnte es sein. Wer will, dass er am Leben bleibe, der geh auf Schwarz, doch Weiß er meide."
"Furchtbarer Reim", kommentierte Narissa. "Aber wenigstens ist die Anweisung klar." Sie gab Aerien ihre Fackel zurück, und trat dann vorsichtig auf eine der schwarzen Platten. Nichts geschah, und mutiger geworden ging sie weiter, immer von schwarz zu schwarz. Aerien folgte ihr, und nacheinander gelangten sie unbeschadet auf die andere Seite. Dort angekommen wandte Narissa sich um. "Ich frag mich, was passiert wäre, wenn wir auf eine weiße Platte getreten wären..."
"Wir wären eines schrecklichen Todes gestorben, wie du schon gesagt hast", antwortete Aerien mit einem strengen Blick. "Musst du es unbedingt genauer wissen?"
Narissa seufzte. "Schon gut... lass uns weitergehen."

Das Mosaik war tatsächlich die letzte Falle gewesen. Nur kurze Zeit später wurde es heller, und ein merkwürdiges Rauschen erfüllte den Tunnel. Schließlich flohen die Tunnelwände zu beiden Seiten, und sie traten hinaus in eine gewaltige Höhle. Im Gegensatz zur Eingangshalle waren hier die Wände nicht bearbeitet worden, und von der Decke und dem Boden wucherten gewaltige Tropfsteine. Dem Tunnelausgang gegenüber lag eine große Öffnung, durch die die Sonne, die den Zenit bereits überschritten hatte, hinein fiel. Das Rauschen, dass sie gehört hatten, kam von einem kleinen Wasserfall, der genau vor diesem Fenster vorüber fiel.
"Du hast tatsächlich Recht gehabt", meinte Narissa. "Wir scheinen einmal unter dem Berg hindurch gegangen zu sein."
"Zur Regenzeit muss dieser Wasserfall viel beeindruckender sein...", sagte Aerien nachdenklich, während sie langsam darauf zu gingen. Ein Stück vor dem Fenster war ein kunstvolles, rundes Mosaik auf dem Boden, das einen schwarzen Drachen zeigte, und zu seiner rechten ein länglicher Steinblock auf dem die Statue eines Mannes stand und nach Südwesten blickte. Ein Arm hielt ein Schwert und war triumphierend in die Höhe gereckt, der andere mit der Handfläche nach oben in ihre Richtung ausgestreckt.
"Das dürfte dann wohl Anlamani sein", vermutete Narissa. "Er blickt genau zur Hauptstadt."
"Aber wo ist das Königssymbol?", fragte Aerien, und blickte suchend umher. "Meinst du... meinst du es ist im Grab selbst?"
Narissa zögerte. Der Gedanke, Anlamanis Steinsarg zu öffnen, bereitete ihr Unbehagen - ganz ungeachtet der Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie das überhaupt bewerkstelligen sollten. "Ich weiß nicht", erwiderte sie langsam. "Vielleicht ist es irgendwo hier in der Höhle versteckt, oder..." Ihr Blick wanderte zu Anlamanis Statue, dessen steinernes Gesicht ihre Blick ausdruckslos erwiderte. "Findest du es nicht seltsam, dass er hier zwei Arme hat? Sonst wird er überall mit nur einem Arm abgebildet."
Aerien nickte. "Du hast recht, das ist wirklich seltsam. Denkst du, dass..."
"Es gibt eine Möglichkeit, das herauszufinden", kam Narissa ihr zuvor, legte ihre Hand auf die ausgestreckte Hand der Statue, und drückte einmal zu. Das befriedigende Klicken, das zu hören war, bestätigte ihre Vermutung, und nur einen Augenblick später glitt zu Füßen der Statue der Stein zur Seite und gab ein zuvor verborgenes Fach frei. Aerien und Narissa stießen fast mit den Köpfen zusammen, als sie beide neugierig hineinblickten, doch ihr Hochgefühl verflog beinahe sofort, als sie sahen, was darin lag. Aerien nahm die kleine Steinplatte, auf der Schriftzeichen ähnlich derer in Anlamanis Tagebuch eingeritzt waren, heraus.
"Ich glaube, das heißt etwas wie: Der Zahn gehört nur Anlamani selbst, oder so ähnlich", versuchte Narissa die Schrift zu entziffern. "Was bei allen verfluchten Toren von Mordor soll das denn bedeuten?"
"Ganz einfach", erwiderte Aerien. "Irgendjemand ist uns zuvorgekommen."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Notgedrungene Sachbeschädigung
« Antwort #3 am: 23. Jan 2018, 17:08 »
“Was sollen wir jetzt bloss tun? Sie werden Kani umbringen, wenn wir mit leeren Händen zurückkehren!”
“Ich fasse es nicht, dass uns nach all unseren Mühen jemand zuvorgekommen ist,” ärgerte sich Narissa.
Aerien stand hinter dem Wasserfall, der die Grabeskammer in ein geheimnisvolles Licht tauchte und wusste weder aus noch ein. Sie starrte über die Ebenen Kermas hinweg, die vom Licht der Abendsonne langsam mehr und mehr rötlich gefärbt wurden. So rot wie das Blut der Priester Anlamanis, die Mustqîm und seine Gefolgsleute ermordet hatten.
“Hättest du nicht einfach deinen Mund halten können?” fuhr sie Narissa an und meinte damit die Tatsache, dass sich ihre Freundin am Tag zuvor erst über fehlende Aufregung beklagt hatte.
“Ach, jetzt ist es also auf einmal meine Schuld?” gab Narissa uneinsichtig zurück.
“Ja! Ich meine, nein! Verdammt, was machen wir jetzt nur?”
“Erstmal solltest du dich beruhigen,” sagte Narissa und ergriff Aeriens Hände. “Dieser Mustqîm mag sich vielleicht für gerissen halten, aber mir ist aufgefallen, dass er und seine Leute uns unterschätzen. Vielleicht können wir sie überraschen.”
“Sie haben unsere Waffen, schon vergessen?”
Das schien Narissa den Wind ein wenig aus den Segeln zu nehmen und sie ließ die Hände wieder sinken. “Das macht es wohl ein wenig komplizierter...aber ich habe immer noch das hier.“ Sie zog ein kleines Messer hervor und lächelte. Leider half das nicht, um Aerien zu beruhigen.
“Wenn nicht irgendein Wunder geschieht, sehe ich schwarz für uns,” erwiderte Aerien.
“Nun mach mal halblang. Sehen wir uns hier etwas genauer um. Vielleicht ist das Königssymbol ja doch noch hier.”
“Das bezweifle ich...” meinte Aerien, doch sie begann, gemeinsam mit Narissa nach weiteren Hinweisen in der Grabeskammer zu suchen.

Sie wussten, dass sie nicht viel Zeit hatten. Mustqîm würde nicht ewig warten. Irgendwann würde er vermutlich davon ausgehen, dass Narissa und Aerien den Fallen zum Opfer gefallen waren, und spätestens dann würde er Kani nicht mehr benötigen. Aerien versuchte, nicht daran zu denken, dass es vielleicht bereits so weit gekommen sein könnte. Fieberhaft tastete sie die Wände ab und nahm angestrengt jeden Winkel in der Grabeskammer unter die Lupe, doch sie fand bis auf Staub und einige verloren gegangene kermische Münzen nichts, das ihr im Augenblick weiterhelfen würde.
Narissa hingegen hatte mehr Glück. “Sieh dir das mal an!” rief sie aufgeregt und winkte Aerien zu sich hinüber. Sie kniete zur Rechten des Wasserfalls, an der Stelle, an der die Kante, über die das Wasser hinweg stürzte, in die Felswand überging, aus der die Rückwand der Grabeskammer bestand. Die Kante ragte ein gutes Stück über den Abgrund hinaus. Narissas Hand hatte darunter etwas ertastet.
“Hier hängt ein Seil!” stellte sie fest. “Und so wie es aussieht, ist es erstes vor Kurzem angebracht worden.”
“Wer auch immer das Königssymbol von hier weggebracht hat, muss diesen Weg gegangen sein,” mutmaßte Aerien.
“Wir werden dasselbe tun,” beschloss Narissa. “Komm, nimm meine Hand und halte mich, während ich hinunter klettere.”
Bevor Aerien irgendwelche Einwände erheben konnte, war Narissa bereits vorsichtig über die Kante geklettert und hatte die Hand nach dem Seil ausgestreckt. Mit der anderen Hand hielt sie sich an Aerien fest, bis sie das Seil zu packen bekam. Rasch kletterte sie ein Stück daran hinunter.
“Hier ist ein weiterer Vorsprung, und ein Gang, der zurück ins Innere des Berges führt! Komm runter, es ist nicht weit!”
Aerien hatte sich direkt oberhalb des Seiles hingekniet und lugte vorsichtig über die Kante hinweg. Direkt vor ihr rauschte das Wasser in die Tiefe hinab und verschwand zwischen spitzen Felsen, die ihren sicheren Tod bedeuten würden, falls sie abstürzte. Langsam streckte sie die Finger nach dem Seil aus und rutschte dabei weiter und weiter nach vorne, bis ihr gesamter Oberkörper über die Kante hinaus ragte. Endlich gelang es ihr, das Seil zu fassen. Sie zog prüfend daran, doch dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte kopfüber nach vorne, eine Schrei ausstoßend und panisch nach dem Seil greifend.
Da legte sich ein Arm fest um sie und zog sie mit Nachdruck nach vorne. Narissa hatte sie gepackt, als Aerien an ihr vorbei gestürzt war. Beide fielen sie auf der kleinen, unteren Plattform zu Boden.

Das erste, was Aerien spürte, war ein stechender Schmerz an ihrem linken Knie. Sie rappelte sich auf und stellte fest, dass ihr linkes Hosenbein zerrissen war und sie aus einer großen Schürfwunde am Knie blutete. Doch sie spürte auch Narissas Arme, die sie noch immer fest umschlossen hatten, und die tröstliche Wärme, die von ihrem Körper ausging.
“Das... war verdammt knapp, Sternchen,” sagte Narissa, als sie wieder zu Atem gekommen waren.
Aerien nickte einfach nur und war froh, noch am Leben zu sein. Als sie einen Blick in die Tiefe riskierte, entdeckte sie ihr fehlendes Hosenbein, das viel weiter unten an einem spitzen Felsen hing.
Narissa richtete sich auf und zog Aerien auf die Beine. “Sehen wir uns an, wohin dieser Tunnel führt.” Unerschrocken ging sie voran und Aerien folgte ihr, die Schmerzen für den Augenblick ignorierend.
“Er scheint noch recht neu im Vergleich zu dem Zugang zu sein, den wir verwendet haben, um in die Grabeskammer zu gelangen,” dachte Aerien laut nach.
Narissa drehte sich zu ihr um, einen Zeigefinger über die Lippen gelegt. Sie machte Aerien klar, dass Mustqîm sie womöglich hören konnte und dass sie versuchen sollten, sich so leise wie möglich voran zu bewegen.

Das war allerdings leichter gesagt, als getan. Es gab nur sehr wenig Licht in dem Tunnel, der zwar immer geradeaus und leicht bergab führte, aber keinerlei Fackeln aufwies. So mussten sie sich vorsichtig im Dunkeln entlang der grob behauenen Tunnelwände voran tasten, bis sie einige Zeit später einen fernen Lichtpunkt vor sich entdeckten.
Aerien, die Narissas Hand genommen hatte, drückte diese leicht und spürte mehr als dass sie es sah, dass ihre Freundin bestätigend nickte. Dort vorne war etwas. Sie arbeiteten sich beinahe unhörbar vorwärts, bis sie wieder einigermaßen gut sehen konnten und eine gemauerte Wand erreichten, die von dem Tunnel, den sie nun durchquert hatten, durchbrochen worden war. Das Licht einer Öllampe fiel durch die Öffnung. Narissa spähte vorsichtig hindurch, ehe sie auf leisen Sohlen den dahinter liegenden Raum betrat und Aerien an der Hand mit sich zog.
Das muss eines der Schlafgemächer der Priester Anlamanis sein, dachte Aerien. Sie standen in einem beinahe quadratischen Raum mit niedriger Decke, in dem jeweils drei Decken und Kissen nebeneinander lagen. Abgesehen davon war der Raum leer. Zu ihrer Linken gab es eine Tür, die zu einer nach unten führenden Treppe führte. Die Wand, die ihnen hätte gegenüberliegen sollen, fehlte. Als sie vorsichtig näher kamen, erkannten sie, dass jenseits der fehlenden Wand ein tiefer gelegener Raum lag, in dem sie bereits gewesen waren: Der Ort, an dem Mustqîm die Priester ermordet hatte. Narissa legte sich hin und kroch vorsichtig vorwärts, bis sie über die Kante hinweg spähen konnte. Aerien kroch neben sie und beide suchten sie Deckung hinter einer der vier großen Statuen, die in regelmäßigen Abständen in dem runden Raum an den Wänden standen, in den sie nun hinaus blickten.
Ein rascher Blick zeigte Aerien, dass es noch weitere Räume wie das Schlafgemach der Priester gab, die eine fehlende Wand zum zentralen runden Raum hin besaßen. Sie vermutete, dass diese Architektur irgendeine zeremonielle Bedeutung für die Priester besaß oder vielleicht einfach nur einen rascheren Zugang zum Eingang des Grabes ermöglichte. Sie befanden sich ungefähr zwei Meter oberhalb des gemauerten Bodens, auf den das Blut der Priester langsam getrocknet war.
Narissas Ellbogen stieß Aerien an und sie deutete mit ihrem Kinn auf den Eingang des Grabes. Dort war Mustqîm zu sehen, der ungeduldig auf und ab ging und dabei seinen Säbel schwenkte. Kani hingegen lag auf der anderen Seite des Raumes, direkt vor dem Durchgang, der zurück in die große Haupthalle mit dem Banner führte, bewacht von zwei Haradrim-Kriegern. Sie schien noch unberührt zu sein, was Aerien innerlich aufatmen ließ.
Noch während sie zusahen, stieß Mustqîm einen derben Fluch aus und sagte: “Meine Geduld ist zu Ende!”
Er machte drei Schritte durch den Zugang zum Grab hindurch und rief in den Tunnel: “Eure Zeit ist abgelaufen! Falls ihr nicht tot seid, kommt besser schnell zurück, sonst verliert eure kleine Freundin gleich noch mehr als ihre Jungfräulichkeit. Und keine Tricks! Ich will das Königssymbol, und ich werde es bekommen!”
Mustqîm kehrte in den kreisrunden Raum zurück und sagte etwas zu seinen Leuten in einer Sprache, die Aerien nicht verstehen konnte. Narissa aber offensichtlich schon, denn sie ballte die Hände zu Fäusten. Die Männer lachten bösartig und einer von ihnen packte Kani an den Haaren und zog sie zu sich hinüber. Ein zweiter gesellte sich zu ihm und den Geräuschen nach, die das Mädchen durch den Knebel hindurch zustande brachte, berührte er sie mehr als nur unsittlich.
Aerien wollte aufspringen und ihr zur Hilfe eilen, doch Narissa war schneller. Sie begann, mit aller Kraft gegen die Rückseite der Statue zu drücken, die ihnen Deckung bot, und bedeutete Aerien, ihr behilflich zu sein. Aerien ging in die Hocke, ihre Vorsicht vergessend, und warf sich mit aller Kraft gegen den behauenen Stein, der tatsächlich ein unheilvolles Knirschen von sich gab. Noch einmal wiederholte sie die Tat, und beim dritten Mal spürte sie deutlich, wie die Statue nachgab und sich nach vorne zu neigen begann.
In diesem Augenblick entdeckte Mustqîm sie und begann sofort, Befehle zu brüllen. “Da sind sie! Schnappt sie euch! Lass nicht zu, dass sie...”
Der Rest ging in einem gewaltigen Krachen unter, als die Statue mit Getöse in die Mitte des Raumes stürzte und den Boden zum Einsturz brachte, denn darunter befanden sich offensichtlich weitere Räumlichkeiten. Mustqîm selbst entging nur knapp dem Sturz in die tiefere Ebene, denn er rettete sich mit einem beherzten Sprung rückwärts in Richtung des Eingangs zum Grab.
Narissa hatte derweil die Beine über die Kante geschwungen und hatte sich abgestoßen. Geschickt landete sie am von Mustqîm aus gegenüberliegenden Eingang zu der runden Halle, deren Boden nun zum Großteil eingestürzt war. Aerien zögerte einen Moment und erinnerte sich an ihren Sturz am Wasserfall, doch dann ergriff sie die Gelegenheit und sprang. Zwar landete sie deutlich weniger geschickt als Narissa, doch sie kam unbeschadet auf der richtigen Seite des Raumes an. Sofort hob sie eine der Haradrim-Klingen auf, die einer der Unglücklichen, die von der Statue zerquetscht worden waren, fallen gelassen hatte, und kam auf die Beine, um nach Kani zu sehen.
Die beiden Männer, die sich an ihr hatten vergehen wollen, waren noch immer zu überrascht, um zu reagieren. Einer von beiden zog gerade seine Hose wieder hoch, doch da war Aerien bereits bei ihm und stieß ihm die Klinge durch die Brust. Der zweite fiel tödlich von einem Messerwurf Narissas getroffen zu Boden.

Während Aerien Kanis Fesseln durchschnitt, ließ es sich Narissa nicht nehmen, in den runden Raum zurückzukehren und Mustqîm zu verspotten.
“Sieht so aus als säße der Gerissene jetzt schön in der eigenen Falle,” sagte sie grinsend, während Mustqîm sie über den neu entstandenen Abgrund voller Hass anstarrte.
“Das ist noch lange nicht vorbei, kleine Turmherrin,” zischte er. “Das wird mich nicht lange aufhalten.”
“Lange genug um von hier zu verschwinden, ohne dass du etwas dagegen tun kannst,” hielt Narissa dagegen. “Gehab dich wohl.”
Mustqîms Antwort bestand aus mehreren wütenden Worten in einer Haradrim-Sprache, die Narissa nur mit einem Schulterzocken kommentierte, während sie sich abwandte und zu Aerien zurückkehrte. “Also, das war wirklich nicht sehr nett,” meinte sie.
Kani schien noch nicht imstande zu sein, etwas zu sagen. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, selbst als Aerien sie in den Arm nahm und anschließend behutsam zum Ausgang bugsierte. “Jetzt bist du in Sicherheit,” sagte Aerien beruhigend. “Wir bringen dich nach Toba.”
“Je schneller, desto besser,” sagte Narissa. “Mustqîm wird irgendwann einen Weg aus dem Tempel finden, und wenn er es tut, sollten wir besser verschwunden sein.”
Aerien nickte. Rasch verließen sie den Tempel auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren und traten den Rückweg nach Toba an.
« Letzte Änderung: 23. Jan 2018, 18:45 von Fine »
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Eandril

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Re: Toba und der Berg Barkal
« Antwort #4 am: 30. Jan 2018, 16:04 »
Ihr Weg zurück den Berg hinunter nach Toba glich eher einer Flucht. Zwar glaubte Narissa nicht, dass Mustqîm sich allzu bald aus seiner ungünstigen Lage befreien würde, doch je eher sie Toba erreichten, desto sicherer würden sie vor ihm und möglichen weiteren Häschern, die außerhalb des Grabes zurückgelassen haben konnte, sein. Sie konnten ihr hohes Tempo allerdings nicht allzu lange beibehalten, da die Sonne schon zu Beginn ihrer Flucht tief am westlichen Himmel gestanden hatte und vollständig unterging, als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. An vielen Stellen war der Pfad schmal und von Steinen übersät, sodass man jederzeit Gefahr lief zu stolpern und in die Tiefe zu stürzen. Außerdem hatte Kani bereits nach einem kurzen Stück Weg zu keuchen begonnen und auch Narissa begann nach all den Anstrengungen des Tages allmählich ein Ziehen in den Beinen zu verspüren. Sie war ein wenig aus der Übung, dachte sie kritisch, denn während ihrer Zeit als Músabs Gäste hatte ihre Bequemlichkeit ihre Bewegungsfreude oft überwältigt.
Die meiste Zeit ging Narissa vorne an der Spitze, während Aerien mit Kani nachkam, und dabei leise und beruhigend auf das Mädchen einredete. Als die Sonne untergegangen war, hatte Kani sich schließlich ausreichend beruhigt, um erzählen zu können, wie sie in diese Situation gelangt war.
"Es war kurz nach eurem Aufbruch", erzählte sie. "Ich hatte den Palast verlassen um mich ein wenig abzulenken, und bin über den Markt gegangen. Als ich in den Palast zurückkehren wollte ging ich durch eine kleine Gasse und plötzlich... plötzlich wurde ich niedergeschlagen. Als ich wieder aufwachte, hing ich gefesselt über dem Rücken eines Pferdes, und wir befanden uns schon ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Am selben Abend, als diese Männer ihr Lager aufschlugen, kam dieser Mustqîm zu mir, und..." Sie schien für einen Augenblick nicht weitersprechen zu können, und Narissa hörte Aerien sagen: "Hat er dir etwas angetan? Er wird dafür teuer bezahlen, das verspreche ich." Narissa wandte sich nicht um, doch sie musste lächeln als sie sich die entschlossene Miene vorstellte, die Aerien aufgesetzt hatte.
"Nein, er... hat mir nichts getan. Und auch keiner seiner Leute", sprach Kani weiter. "Aber er hat mir angedroht, was er tun würde, wenn ihr ihm nicht gehorchen würdet - und er hat mir erzählt, was er mit euch vorgehabt hätte, nachdem ihr ihm gehorcht hättet."
"Nichts allzu angenehmes, darauf möchte ich wetten", warf Narissa von vorne ein, und  schüttelte ärgerlich den Kopf. "Ich wünschte, wir hätten ihn direkt erledigen können."
"Dazu kann es immer noch kommen", meinte Aerien. "Ich glaube nicht, dass er aufgeben wird - wir haben ihn sicher nicht zum letzten Mal gesehen."
"Reizende Aussichten", murmelte Narissa, und für einen Augenblick herrschte Stille. Sie näherten sich dem Ende des Pfades, wo er auf die Straße durch die Berge von Toba nach Para stieß, und inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Das einzige Licht spendeten die Sterne und die langsam aufgehende Mondsichel, und Narissa war froh, dass sie schon bald den gefährlichen Pfad verlassen und auf die sichere Straße kommen würden.
"Ich glaube...", begann Kani schließlich zögerlich. "Ich glaube, dieser Mustqîm hat mir das alles erzählt, um meine Reaktion zu sehen. Er wollte wissen, ob er wirklich die richtige entführt hat." Auch wenn weder Aerien noch Kani es sehen konnten, zog Narissa eine Augenbraue in die Höhe. Daran hatte sie nicht gedacht, doch es ergab Sinn. "Das könnte tatsächlich stimmen", meinte sie, doch ihr Tonfall schien ein wenig anders geraten zu sein als gedacht, denn Kani sagte offensichtlich ärgerlich: "Nur weil ich nicht mit Waffen umgehen kann und so bin ich noch lange nicht dumm, weißt du?"
Narissa seufzte. "Nein, offensichtlich nicht. So habe ich es auch nicht gemeint."
Sie gingen erneut schweigend weiter, und Narissa begann darüber nachzudenken, was sie als nächstes tun sollten. Die Reise hierher war gewissermaßen ein Fiasko gewesen: Nicht nur hatten Kashtas Schergen sie überrumpelt und hätten beinahe Erfolg gehabt, ihnen war auch noch irgendjemand Unbekanntes zuvorgekommen und hatte das Königssymbol gestohlen. Ihre Hand schloss sich um die kleine Steinplatte, die in dem Geheimfach gelegen hatte. Vielleicht sollten sie in die Hauptstadt zurückkehren - so ärgerlich es auch sein würde, mit beinahe leeren Händen wieder vor Músab zu treten. Aber einerseits könnten sie auf diese Art und Weise Kani zurück in Sicherheit bringen und wieder loswerden, und andererseits konnte sich vielleicht irgendjemand an Músabs Hof einen Reim auf die rätselhafte Botschaft machen.

Das Nordtor von Toba war wie erwartet geschlossen, doch auf der Mauer standen Posten, sie rasch erblickten. "Macht das Tor auf!", rief Narissa zu ihnen hinauf. "Wir sind im Auftrag des Königs unterwegs." Da Kashtas Leute nur allzu offensichtlich von ihrer Mission wussten, sah sie keinen Sinn mehr darin, das ganze noch länger geheim zu halten.
"Beweist es!", rief der Posten zurück, und Narissa war Aerien einen ratlosen Blick zu. Eigentlich hatte sie erwartet, dass das Tor sich bei Músabs Erwähnung sofort öffnen würde, doch offenbar waren sie an einen besonders vorsichtigen Torwächter geraten. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, erschien im Licht der Fackeln auf der Mauer eine zweite Gestalt neben dem Wächter und blickte auf sie hinunter. "Mach das Tor auf, du Tölpel", fuhr der Neuankömmling den Wächter an. "Ich kenne sie, sie sagen die Wahrheit." Bevor Narissa die Stimme zuordnen konnte, waren beide Männer verschwunden, und nur wenige Herzschläge später wurde eine kleine Pforte im Tor geöffnet. Nacheinander traten Narissa, Kani und Aerien hindurch, und blieben dann verwundert stehen. Hinter dem Tor hatte sich eine Gruppe Soldaten von mindestens zwanzig Mann mit Pferden versammelt, und dazu mehrere Männer in den Rüstungen der Stadtwache von Toba. Sie wurden von einem Mann mit kurzen grauen Haaren angeführt, der die Szene mit verschränkten Armen missmutig betrachtete. Am Fuß der Treppe, die zur Mauer führte, stand jedoch Gatisen, und lächelte breit. "Sieh an, Narissa und Aerien - und Kani habt ihr bereits gefunden. Ich komme mir geradezu überflüssig vor." Narissa erwiderte das Lächeln unwillkürlich, doch aus den Augenwinkeln sah sie Aeriens Miene ernst bleiben.
"Was tust du hier?", fragte sie. "Noch dazu mit einer solchen Eskorte?"
"Am Abend nach eurer Abreise fiel uns Kanis Fehlen auf. Zunächst dachten wir, sie könnte euch heimlich begleitet haben, doch durch einige Nachforschungen fanden wir jemanden, der ihre Entführung beobachtet hatte. Ich vermutete, dass sie dazu dienen sollte, euch zu erpressen, deshalb brach ich früh am nächsten Morgen mit einigen Männern auf, um die Entführer hierher zu verfolgen. Wir wollten gerade in Richtung Norden weiter, doch der ehrenwerte Kommandant hielt es für zu gefährlich, des Nachts für uns das Tor zu öffnen."
Narissa waren die Blicke aufgefallen, die er ihr und Aerien beim letzten Satz zugeworfen hatte - offenbar hatte der dem Kommandanten erzählt, der Straße weiter in Richtung Norden, nach Para folgen zu wollen, und nicht zu Anlamanis Grab.
"Nun, zum Glück war das ja auch gar nicht nötig, nicht war?", erwiderte Narissa. "Wir erzählen gern alles, was passiert ist - aber dazu müssen wir nicht hier im Freien herumstehen, nicht wahr?" Sie warf Aerien einen fragenden Blick zu, die offenbar ebenfalls verstanden hatte und zustimmend nickte.

Der Kommandant der Stadt hatte Gatisen und seine Soldaten sichtlich zähneknirschend in der kleinen Festung am nordwestlichen Rand der Stadt untergebracht, und so saßen Gatisen, Narissa, Aerien und Kani nun in einem kleinen kahlen Raum, der nicht viel mehr Einrichtung aufwies als eine Öllampe, mehrere Stühle und ein unbequem wirkendes Bett. Narissa erzählte unterstützt von Aerien, was sich in Anlamanis Grab ereignet hatte, und reichte Gatisen am Ende ihrer Erzählung die Steinplatte mit der eingeritzten Botschaft.
Gatisen starrte einige Augenblicke darauf, und sagte dann: "Es ist nicht nötig für euch, in die Hauptstadt zurückzukehren um mehr zu erfahren. Dieser Stein kommt nicht aus diesen Bergen, sondern aus dem Gebirge von Alodia, im Südwesten. Und diese Botschaft deutet ebenfalls daraufhin, denn in jenen Bergen haben die Erben Anlamanis, wie sie sich nennen, ihre Verstecke."
"Die Erben Anlamanis?", fragte Aerien. "Was sind das für Leute?"
"Fanatiker", erwiderte Gatisen, und schüttelte den Kopf. "Sie... glauben, dass Anlamani der einzig wahre Herrscher von Kerma war, und glauben an seine Wiederkehr. Sie lehnen sämtliche Könige seit ihm ab, und haben für lange Zeit eine Menge Ärger gemacht. Ich vermute, dass sie das Königssymbol aus dem Grab gestohlen haben, damit niemand anders es besitzen kann - denn das wäre nach ihrem Glauben ein Sakrileg."
"Also nach Alodia." Narissa seufzte, und auch Aerien sah nicht allzu glücklich mit diesen Neuigkeiten aus.
"Nach Alodia", bestätigte Gatisen. "Von dort aus folgt ihr dem Fluss Sobat durch die Berge bis zu seiner Quelle. Dort gibt es eine alte Burg, Qustul. Wenn ihr den Fanatikern auf die Spur kommen wollt, solltet ihr dort beginnen. Ich werde gleich morgen früh zum Grab aufbrechen, vielleicht ist dieser Mustqîm noch immer dort, oder wir finden Spuren, die ihr in der Eile übersehen habt."
Narissa nickte zustimmend, und Kani fragte: "Und was ist mit mir?"
"Ich werde einige Männer zu deinem Schutz zurücklassen", antwortete Gatisen. "Wenn wir vom Grab zurück sind, werden wir dich zurück in die Hauptstadt bringen - das Krönungsfest wird lang vorbei sein, aber es ist der sicherste Ort für dich. Dann werde ich meinem Onkel berichten, was geschehen ist, und er wird entscheiden, wo ich gebraucht werde - bei ihm, oder bei euch." Er nickte in Aerien und Narissas Richtung. "Wenn er der Meinung ist, dass ihr meine Hilfe benötigen könnten, werde ich euch nach Alodia folgen und dort oder in Qustul eure Spur aufnehmen - und vielleicht gelingt es mir, euch auf diesem Wege eventuelle Verfolger vom Hals zu schaffen."
Aerien wirkte nicht allzu begeistert über diese Aussichten, doch Narissa glaubte, dass nur sie selbst es bemerkte. Nach außen war Aerien nämlich beinahe keine Regung anzumerken.
Sie verabschiedeten sich für die Nacht von Gatisen und Kani, die in der Festung schlafen würden, und kehrten in ihre Herberge, wo auch ihre Pferde noch immer untergebracht waren. Sie waren sich einig, bereits früh am nächsten Morgen nach Süden aufzubrechen, denn je eher sie das taten, desto eher würden sie sich ihrem späteren Ziel widmen können: Mordor.

Narissa und Aerien zur Provinz Alodia...
« Letzte Änderung: 17. Aug 2018, 12:31 von Fine »

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