Ihr Weg zurück den Berg hinunter nach Toba glich eher einer Flucht. Zwar glaubte Narissa nicht, dass Mustqîm sich allzu bald aus seiner ungünstigen Lage befreien würde, doch je eher sie Toba erreichten, desto sicherer würden sie vor ihm und möglichen weiteren Häschern, die außerhalb des Grabes zurückgelassen haben konnte, sein. Sie konnten ihr hohes Tempo allerdings nicht allzu lange beibehalten, da die Sonne schon zu Beginn ihrer Flucht tief am westlichen Himmel gestanden hatte und vollständig unterging, als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. An vielen Stellen war der Pfad schmal und von Steinen übersät, sodass man jederzeit Gefahr lief zu stolpern und in die Tiefe zu stürzen. Außerdem hatte Kani bereits nach einem kurzen Stück Weg zu keuchen begonnen und auch Narissa begann nach all den Anstrengungen des Tages allmählich ein Ziehen in den Beinen zu verspüren. Sie war ein wenig aus der Übung, dachte sie kritisch, denn während ihrer Zeit als Músabs Gäste hatte ihre Bequemlichkeit ihre Bewegungsfreude oft überwältigt.
Die meiste Zeit ging Narissa vorne an der Spitze, während Aerien mit Kani nachkam, und dabei leise und beruhigend auf das Mädchen einredete. Als die Sonne untergegangen war, hatte Kani sich schließlich ausreichend beruhigt, um erzählen zu können, wie sie in diese Situation gelangt war.
"Es war kurz nach eurem Aufbruch", erzählte sie. "Ich hatte den Palast verlassen um mich ein wenig abzulenken, und bin über den Markt gegangen. Als ich in den Palast zurückkehren wollte ging ich durch eine kleine Gasse und plötzlich... plötzlich wurde ich niedergeschlagen. Als ich wieder aufwachte, hing ich gefesselt über dem Rücken eines Pferdes, und wir befanden uns schon ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Am selben Abend, als diese Männer ihr Lager aufschlugen, kam dieser Mustqîm zu mir, und..." Sie schien für einen Augenblick nicht weitersprechen zu können, und Narissa hörte Aerien sagen: "Hat er dir etwas angetan? Er wird dafür teuer bezahlen, das verspreche ich." Narissa wandte sich nicht um, doch sie musste lächeln als sie sich die entschlossene Miene vorstellte, die Aerien aufgesetzt hatte.
"Nein, er... hat mir nichts getan. Und auch keiner seiner Leute", sprach Kani weiter. "Aber er hat mir angedroht, was er tun würde, wenn ihr ihm nicht gehorchen würdet - und er hat mir erzählt, was er mit euch vorgehabt hätte, nachdem ihr ihm gehorcht hättet."
"Nichts allzu angenehmes, darauf möchte ich wetten", warf Narissa von vorne ein, und schüttelte ärgerlich den Kopf. "Ich wünschte, wir hätten ihn direkt erledigen können."
"Dazu kann es immer noch kommen", meinte Aerien. "Ich glaube nicht, dass er aufgeben wird - wir haben ihn sicher nicht zum letzten Mal gesehen."
"Reizende Aussichten", murmelte Narissa, und für einen Augenblick herrschte Stille. Sie näherten sich dem Ende des Pfades, wo er auf die Straße durch die Berge von Toba nach Para stieß, und inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Das einzige Licht spendeten die Sterne und die langsam aufgehende Mondsichel, und Narissa war froh, dass sie schon bald den gefährlichen Pfad verlassen und auf die sichere Straße kommen würden.
"Ich glaube...", begann Kani schließlich zögerlich. "Ich glaube, dieser Mustqîm hat mir das alles erzählt, um meine Reaktion zu sehen. Er wollte wissen, ob er wirklich die richtige entführt hat." Auch wenn weder Aerien noch Kani es sehen konnten, zog Narissa eine Augenbraue in die Höhe. Daran hatte sie nicht gedacht, doch es ergab Sinn. "Das könnte tatsächlich stimmen", meinte sie, doch ihr Tonfall schien ein wenig anders geraten zu sein als gedacht, denn Kani sagte offensichtlich ärgerlich: "Nur weil ich nicht mit Waffen umgehen kann und so bin ich noch lange nicht dumm, weißt du?"
Narissa seufzte. "Nein, offensichtlich nicht. So habe ich es auch nicht gemeint."
Sie gingen erneut schweigend weiter, und Narissa begann darüber nachzudenken, was sie als nächstes tun sollten. Die Reise hierher war gewissermaßen ein Fiasko gewesen: Nicht nur hatten Kashtas Schergen sie überrumpelt und hätten beinahe Erfolg gehabt, ihnen war auch noch irgendjemand Unbekanntes zuvorgekommen und hatte das Königssymbol gestohlen. Ihre Hand schloss sich um die kleine Steinplatte, die in dem Geheimfach gelegen hatte. Vielleicht sollten sie in die Hauptstadt zurückkehren - so ärgerlich es auch sein würde, mit beinahe leeren Händen wieder vor Músab zu treten. Aber einerseits könnten sie auf diese Art und Weise Kani zurück in Sicherheit bringen und wieder loswerden, und andererseits konnte sich vielleicht irgendjemand an Músabs Hof einen Reim auf die rätselhafte Botschaft machen.
Das Nordtor von Toba war wie erwartet geschlossen, doch auf der Mauer standen Posten, sie rasch erblickten. "Macht das Tor auf!", rief Narissa zu ihnen hinauf. "Wir sind im Auftrag des Königs unterwegs." Da Kashtas Leute nur allzu offensichtlich von ihrer Mission wussten, sah sie keinen Sinn mehr darin, das ganze noch länger geheim zu halten.
"Beweist es!", rief der Posten zurück, und Narissa war Aerien einen ratlosen Blick zu. Eigentlich hatte sie erwartet, dass das Tor sich bei Músabs Erwähnung sofort öffnen würde, doch offenbar waren sie an einen besonders vorsichtigen Torwächter geraten. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, erschien im Licht der Fackeln auf der Mauer eine zweite Gestalt neben dem Wächter und blickte auf sie hinunter. "Mach das Tor auf, du Tölpel", fuhr der Neuankömmling den Wächter an. "Ich kenne sie, sie sagen die Wahrheit." Bevor Narissa die Stimme zuordnen konnte, waren beide Männer verschwunden, und nur wenige Herzschläge später wurde eine kleine Pforte im Tor geöffnet. Nacheinander traten Narissa, Kani und Aerien hindurch, und blieben dann verwundert stehen. Hinter dem Tor hatte sich eine Gruppe Soldaten von mindestens zwanzig Mann mit Pferden versammelt, und dazu mehrere Männer in den Rüstungen der Stadtwache von Toba. Sie wurden von einem Mann mit kurzen grauen Haaren angeführt, der die Szene mit verschränkten Armen missmutig betrachtete. Am Fuß der Treppe, die zur Mauer führte, stand jedoch Gatisen, und lächelte breit. "Sieh an, Narissa und Aerien - und Kani habt ihr bereits gefunden. Ich komme mir geradezu überflüssig vor." Narissa erwiderte das Lächeln unwillkürlich, doch aus den Augenwinkeln sah sie Aeriens Miene ernst bleiben.
"Was tust du hier?", fragte sie. "Noch dazu mit einer solchen Eskorte?"
"Am Abend nach eurer Abreise fiel uns Kanis Fehlen auf. Zunächst dachten wir, sie könnte euch heimlich begleitet haben, doch durch einige Nachforschungen fanden wir jemanden, der ihre Entführung beobachtet hatte. Ich vermutete, dass sie dazu dienen sollte, euch zu erpressen, deshalb brach ich früh am nächsten Morgen mit einigen Männern auf, um die Entführer hierher zu verfolgen. Wir wollten gerade in Richtung Norden weiter, doch der ehrenwerte Kommandant hielt es für zu gefährlich, des Nachts für uns das Tor zu öffnen."
Narissa waren die Blicke aufgefallen, die er ihr und Aerien beim letzten Satz zugeworfen hatte - offenbar hatte der dem Kommandanten erzählt, der Straße weiter in Richtung Norden, nach Para folgen zu wollen, und nicht zu Anlamanis Grab.
"Nun, zum Glück war das ja auch gar nicht nötig, nicht war?", erwiderte Narissa. "Wir erzählen gern alles, was passiert ist - aber dazu müssen wir nicht hier im Freien herumstehen, nicht wahr?" Sie warf Aerien einen fragenden Blick zu, die offenbar ebenfalls verstanden hatte und zustimmend nickte.
Der Kommandant der Stadt hatte Gatisen und seine Soldaten sichtlich zähneknirschend in der kleinen Festung am nordwestlichen Rand der Stadt untergebracht, und so saßen Gatisen, Narissa, Aerien und Kani nun in einem kleinen kahlen Raum, der nicht viel mehr Einrichtung aufwies als eine Öllampe, mehrere Stühle und ein unbequem wirkendes Bett. Narissa erzählte unterstützt von Aerien, was sich in Anlamanis Grab ereignet hatte, und reichte Gatisen am Ende ihrer Erzählung die Steinplatte mit der eingeritzten Botschaft.
Gatisen starrte einige Augenblicke darauf, und sagte dann: "Es ist nicht nötig für euch, in die Hauptstadt zurückzukehren um mehr zu erfahren. Dieser Stein kommt nicht aus diesen Bergen, sondern aus dem Gebirge von Alodia, im Südwesten. Und diese Botschaft deutet ebenfalls daraufhin, denn in jenen Bergen haben die Erben Anlamanis, wie sie sich nennen, ihre Verstecke."
"Die Erben Anlamanis?", fragte Aerien. "Was sind das für Leute?"
"Fanatiker", erwiderte Gatisen, und schüttelte den Kopf. "Sie... glauben, dass Anlamani der einzig wahre Herrscher von Kerma war, und glauben an seine Wiederkehr. Sie lehnen sämtliche Könige seit ihm ab, und haben für lange Zeit eine Menge Ärger gemacht. Ich vermute, dass sie das Königssymbol aus dem Grab gestohlen haben, damit niemand anders es besitzen kann - denn das wäre nach ihrem Glauben ein Sakrileg."
"Also nach Alodia." Narissa seufzte, und auch Aerien sah nicht allzu glücklich mit diesen Neuigkeiten aus.
"Nach Alodia", bestätigte Gatisen. "Von dort aus folgt ihr dem Fluss Sobat durch die Berge bis zu seiner Quelle. Dort gibt es eine alte Burg, Qustul. Wenn ihr den Fanatikern auf die Spur kommen wollt, solltet ihr dort beginnen. Ich werde gleich morgen früh zum Grab aufbrechen, vielleicht ist dieser Mustqîm noch immer dort, oder wir finden Spuren, die ihr in der Eile übersehen habt."
Narissa nickte zustimmend, und Kani fragte: "Und was ist mit mir?"
"Ich werde einige Männer zu deinem Schutz zurücklassen", antwortete Gatisen. "Wenn wir vom Grab zurück sind, werden wir dich zurück in die Hauptstadt bringen - das Krönungsfest wird lang vorbei sein, aber es ist der sicherste Ort für dich. Dann werde ich meinem Onkel berichten, was geschehen ist, und er wird entscheiden, wo ich gebraucht werde - bei ihm, oder bei euch." Er nickte in Aerien und Narissas Richtung. "Wenn er der Meinung ist, dass ihr meine Hilfe benötigen könnten, werde ich euch nach Alodia folgen und dort oder in Qustul eure Spur aufnehmen - und vielleicht gelingt es mir, euch auf diesem Wege eventuelle Verfolger vom Hals zu schaffen."
Aerien wirkte nicht allzu begeistert über diese Aussichten, doch Narissa glaubte, dass nur sie selbst es bemerkte. Nach außen war Aerien nämlich beinahe keine Regung anzumerken.
Sie verabschiedeten sich für die Nacht von Gatisen und Kani, die in der Festung schlafen würden, und kehrten in ihre Herberge, wo auch ihre Pferde noch immer untergebracht waren. Sie waren sich einig, bereits früh am nächsten Morgen nach Süden aufzubrechen, denn je eher sie das taten, desto eher würden sie sich ihrem späteren Ziel widmen können: Mordor.
Narissa und Aerien zur Provinz Alodia...