Jenseits der Hängebrücke führte der Weg weiter durch ein Gewirr schmaler Schluchten und Felsspalten. Ohne zu wissen wonach sie suchten, hätten Narissa und Aerien sich mit Sicherheit sehr bald verirrt, doch zum Glück war der richtige Weg an jeder Abzweigung durch einen in den hellen Sandstein geritzten Drachen gekennzeichnet. Hin und wieder führte der Weg am direkt am Rand der tiefen Schlucht entlang, an deren Grund tief unten der Bach rauschte. An der ersten dieser Stellen konnte Narissa als sie zurückblickte die Überreste der alten Hängebrücke, die sie zum Einsturz gebracht hatten, erkennen, doch später machte die Schlucht eine Biegung, und die Brücke war nicht mehr zu sehen.
Die Sonne sank rasch tiefer, während der Weg immer weiter durch die karge Felslandschaft, in der nur sehr vereinzelte Pflanzen wuchsen, führte. "Wie kommen Leute nur auf die Idee, in einer solchen Gegend leben zu wollen?", ächzte Narissa, als sie nach der ihrer Meinung nach tausendsten Biegung noch immer nur Stein vor sich hatten.
"Gatisen hatte vermutlich Recht, als er sie als Fanatiker bezeichnet hat", erwiderte Aerien mit matter Belustigung. "Man muss schon ziemlich fanatisch sein, um sich freiwillig hier anzusiedeln."
Narissa biss sich auf die Zunge, um einen Kommentar in Richtung von Aeriens Familie zu unterdrücken - dieses Thema schon wieder anzurühren wäre ungerecht Aerien gegenüber. "Und verzweifelt", sagte sie stattdessen. "Nachdem was wir über diese Kerle wissen, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie bei den Königen von Kerma sonderlich beliebt waren."
"Wir sollten weitergehen", meinte Aerien mit einem Wink in Richtung Westen, wo die Sonne schon kurz über den Berggipfeln stand. Ihnen blieben nur noch wenige Augenblicke Sonne, bevor sich zuerst der Bergschatten und dann die Nacht über das Land legen würden. Wenn sie noch lange zögerten, würden sie das Lager der Kultisten auf keinen Fall vor dem nächsten Tag erreichen, denn in der Dunkelheit den Weg zu finden war unmöglich. Doch bevor Narissa einen Schritt machen konnte, glaubte sie ein Geräusch zu hören, das die Stille der Schluchten störte. Sie packte Aerien an der Schulter, um diese am Weitergehen zu hindern, und legte den Zeigefinger der anderen Hand warnend an die Lippen. Aerien schien sofort zu begreifen, denn sie erstarrte sofort und legte nur vorsichtig die Hand an den Schwertgriff.
Angestrengt lauschend verharrten sie eine Augenblicke, bis Narissa erneut das leise Klingen von Metall auf Stein hörte. An Aeriens Blick erkannte sie, dass ihre Freundin es ebenfalls gehört hatte, und suchten mit den Augen die Felsen vor sich nach dem kleinsten Anzeichen von Feinden ab.
Mit einem Mal durchbrach ein Ruf in einer Narissa unbekannten Sprache die Stille, und auf den Felsen vor und über ihnen tauchten mehrere Männer auf, die Speere und Schwerter in den rechten Händen hielten - und jedem von ihnen schien, sofern die weiten Gewänder es erkennen ließen, der linke Arm zu fehlen.
"Ich glaube, wir haben unsere Kultisten gefunden", flüsterte Narissa Aerien zu. Diese nickte ohne die Augen von den Männern zu wenden, und erwiderte ebenso leise: "Hast du verstanden, was sie gerufen haben?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein. Ich finde, es klingt ähnlich wie die Sprache von Kerma, aber es muss irgendein anderer Dialekt sein, den ich nicht verstehe."
"Vielleicht sprechen sie noch die Art der Sprache, die vor hunderten von Jahren in Kerma gesprochen wurde", vermutete Aerien. "Was sollen wir zu ihnen sagen?"
"Gar nichts", meinte Narissa. "Wir warten ab, was sie tun."
Während sie sich im Flüsterton unterhalten hatten, hatten sich die Kultisten nicht vom Fleck gerührt. Inzwischen war die Sonne hinter den westlichen Bergen versunken, und ein kühler Luftzug begann zwischen den aufgeheizten Felsen zu wehen. Schon bald würde es kälter werden als ihnen lieb sein konnte, auch wenn sie hier zwischen den Felsen geschützter waren als in der Wüste.
Noch einige Augenblicke lang verharrten beide Parteien stumm auf ihren Positionen, und dann verschwanden die Kultisten wie auf ein unhörbares Kommando wieder zwischen den Felsen, und schon bald darauf war kein Geräusch mehr von ihnen zu hören.
"Das war... seltsam", meinte Narissa trocken. "Ob wir sie mit unserer Schönheit geblendet haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier draußen oft Frauen zu Gesicht bekommen..."
Aeriens Gesicht blieb ernst. "Sie werden sicherlich ihre eigenen Frauen haben... Ich vermute, sie wollen uns beobachten. Sehen wie weit wir kommen."
"Also Fallen voraus?" Aerien nickte. "Ich denke auch. Wir sollten also vorsichtig weitergehen, solange wir noch genügend Licht haben."
Ihr Vorhaben wurde bereits bei der nächsten Abzweigung auf die Probe gestellt. Aerien, die voranging, hatte bereits den Weg gewählt, der durch den Drachen gekennzeichnet wurde, doch Narissas Blick war an einigen verwitterten Gravierungen auf der anderen Seite der Schlucht hängen geblieben.
"He Sternchen, warte mal", rief sie, während sie mit dem Ärmel über die Zeichen rieb, um sie von Steinstaub zu befreien.
"Was ist denn?", fragte Aerien, die wieder hinter der Biegung aufgetaucht war. "Der Drache ist auf dieser Seite."
"Ja ja... aber hier ist auch irgendetwas. Irgendetwas... wichtiges." Ohne selbst zu wissen warum, spürte Narissa ihre eigene Aufregung.
"Wichtiger als unsere Aufgabe?", fragte Aerien, und hob unverkennbar skeptisch eine Augenbraue. Narissa antwortete nicht, sondern betrachtete die Zeichen im Stein, die sie vom Staub befreit hatte, und spürte ihren Mund trocken werden. In den gelben Stein waren sorgfältig sieben Sterne und darunter ein kleiner Vogel, den sie nicht recht erkennen konnte, eingeritzt worden.
"Ich glaube, ich sollte diesen Weg gehen", sagte sie leise, und Aerien verschränkte die Arme. "Wir haben eine Aufgabe, Narissa. Und nur weil da zufällig jemand etwas anderes als einen Drachen in die Wand geritzt hat, heißt es nicht, dass das plötzlich der richtige Weg zu den Kultisten ist."
"Das hat nichts mit den Kultisten zu tun", meinte Narissa abwesend, und fuhr mit den Fingerspitzen über den kleinen Vogel, folgte den Rillen im Stein. "Sieben Sterne..."
"Sieben Sterne?", wiederholte Aerien, und ihre Stimme klang misstrauisch. "Du meinst, es könnte etwas mit dieser Elyana zu tun haben? Eayans Schwester?"
Narissa zögerte. Irgendetwas an diesem Ort fühlte sich seltsam an, aber gleichzeitig richtig. "Ich... weiß nicht. Könnte sein."
Aerien schüttelte den Kopf. "Dann solltest du erst recht nicht dort entlang gehen. Sie mag uns ja geholfen haben, aber irgendetwas an ihr ist verdächtig."
Narissa erinnerte sich, wie Elyana zwölf Jahre zuvor in einem Zelteingang gestanden hatte, die Sterne hinter sich und ein Schwert in der Hand. Hab keine Angst, kleines Kind der Zeit. Sie schüttelte den Kopf, dass ihr Haare flogen, versuchte, die Gedanken abzuschütteln, die sich ihrer bemächtigen wollten. Sie hatte mit diesem Unsinn vor Jahren abgeschlossen. Sie war keine Auserwählte, kein Kind der Zeit, dass Harad von allem Bösen befreien würde. Doch ein Rest Neugierde blieb...
"Ich werde nur ein kleines Stück gehen", hörte sie sich sagen. "Wahrscheinlich ist da gar nichts, ich schaue nur um die nächste Biegung."
Aerien hatte die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, und antwortete: "Na schön, geh deine Neugierde befriedigen. Ich bleibe hier, und wenn du zurückkommst lachen wir beide darüber, dass du geglaubt hast, da wäre etwas."
Narissa hörte ihre Worte gar nicht richtig, sondern ging bereits entschlossen den linken Weg entlang. Für etwa dreißig Schritte ging es geradeaus, zwischen steilen Felswänden hindurch, die sich über ihrem Kopf einander immer mehr zuneigten. Dann machte der Gang einen Knick nach links, plötzlich trafen die Wände über ihr aufeinander, sodass sie nun in einem Tunnel stand. Hinter ihr blinkten die ersten Sterne am immer dunkler werdenden Himmel, und vor ihr gähnte ein rundes Loch im Felsen, in dem tiefste Finsternis herrschte. Vorsichtig näherte Narissa sich, beugte sich hinunter und spähte hinein, doch sie konnte in der Finsternis nichts erkennen. Trotzdem verharrte sie noch einen Augenblick, einen Augenblick zu lange.
Ein plötzlicher, kräftiger Schlag traf sie in die Kniekehlen und sie strauchelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in das gähnende Loch hinein. Sie konnte gerade noch einen wortlosen Schrei ausstoßen, bevor hinter ihr ein Krachen ertönte und jegliches Licht verschwand.
Narissa fiel durch die Dunkelheit, oder rutschte vielmehr. Nach dem ersten Schrecken war es ihr gelungen, ihre Gedanken wieder einigermaßen zu sammeln, und so war ihr nun klar, dass sie eine glatte Röhre herunterrutschte, auf der es keinen Halt gab, und die geradewegs tief in den Felsen hineinführte. Irgendjemand musste sie gestoßen haben, dachte sie, während sie sich lang ausstreckte, um das Risiko von Stößen und noch mehr Prellungen zu verringern, und so wie es sich angehört hatte, war der Eingang danach mit einem Felsen verschlossen worden. Einen kurzen schuldbewussten Augenblick lang dachte sie an Aerien, und an die Sorgen, die sie sich machen würde, nur weil Narissa ihre Neugierde nicht bezähmen konnte, doch dann beschloss sie, sich zunächst auf ihre eigene Situation zu konzentrieren. Sie glaubte nicht, dass sie es mit den Fanatikern Anlamanis zu tun hatte, und wer immer sie in diese Lage gebracht hatte, konnte sie nicht töten wollen - denn dazu hätte er bereits die Gelegenheit gehabt.
Ihre Überlegungen wurden abrupt unterbrochen, als die Röhre sehr plötzlich endete. Trotz ihrer Überraschung gelang es Narissa, sich halbwegs elegant abzurollen und schwankend auf die Füße zu kommen, bevor sie sich umsah. Sie stand am Rand einer kreisförmigen Kammer mit einer kuppelförmigen Decke, die von einem merkwürdigen bläulichen Licht erhellt wurde. In der Mitte der Kammer befand sich ein ebenso runder Teich, dessen Wasser von sich selbst aus ein wenig zu leuchten schien. Das bläuliche Licht kam, wie Narissa jetzt bemerkte, von Adern, die die Wände der Kammer durchzogen. Auf der anderen Seite des Teiches standen sieben Gestalten in weißen Gewändern, die ihr entgegen blickten.
"Willkommen, Kind der Zeit", sagte die mittlere schließlich, und Narissa erkannte Elyanas Stimme.
"Elyana", erwiderte sie abweisend. Zu ihrer Erleichterung fühlte sie, dass das seltsame Gefühl, dass sie an der Oberfläche erfasst hatte, verschwunden war, und sie wieder sie selbst war. "Was soll das?"
"Es war dein Schicksal, an diesen Ort zu kommen." Elyana trat einen Schritt nach vorne, auf den Teich zu. "Jetzt, trinke das Wasser, und du wirst verstehen." Narissa schnaubte verächtlich, und warf dem Teich einen misstrauischen Blick zu. "Ganz bestimmt nicht. Wer weiß, was ihr damit angestellt habt."
"Du wirst trinken", sagte Elyana bestimmt. "Du wirst trinken, um deine Freundin zu retten."
Der Schreck durchfuhr Narissa, wie Elyana sicherlich beabsichtigt hatte, und sie fragte: "Was habt ihr mit ihr gemacht? Rede, sonst..."
"Wir haben gar nichts mit ihr gemacht", antwortete Elyana ruhig. "Aber die Bewohner dieser Berge sind nicht gut auf Eindringlinge zu sprechen, und uns mögen sie ebenfalls nicht. Wenn sie deine Freundin also an einem Ort sehen, der unser Zeichen trägt, werden sie sie früher oder später angreifen. Wenn du das Wasser trinkst, werden wir dir einen Weg zeigen, sie vor diesem Schicksal zu retten."
"Aerien kann auf sich aufpassen", meinte Narissa sicherer, als sie sich eigentlich fühlte, denn die Sorge um Aerien nagte nun an ihr. "Zuerst will ich wissen, was es mit diesem Wasser auf sich hat."
"Es ist das Geschenk, dass die Sieben Schwestern uns gemacht haben." Elyana lächelte nachsichtig. "Du glaubst, sie wären eine Lügengeschichte? Oh nein, das sind sie nicht. Sie sind real, wie du erfahren wirst - wenn du von dem Wasser trinkst." Narissa machte einen vorsichtigen Schritt auf das Wasser zu, dann noch einen. Neugierde und Sorge gewannen die Oberhand über die Vernunft, und sie kniete sich am Rand des Teiches nieder. "Was wird geschehen, wenn ich trinke?" Das Leuchten des Wassers schien stärker geworden zu sein, je näher sie ihm gekommen war - aber vielleicht bildete sie sich das nur ein.
"Du wirst verstehen", erwiderte Elyana ruhig, und lächelte dann wieder. "Vergiss nicht, Narissa. Die Schwestern werden dich vor allen beschützen, die dir Böses wollen. Und niemals werden wir dir selbst Schaden zufügen."
Narissa atmete tief durch, dann formte sie die Hände zu einer Schale, schöpfte und trank. Einen Augenblick geschah nichts, doch bevor sie etwas sagen konnte, umfing sie Schwärze.
Als Narissa die Augen aufschlug, leuchteten Sterne über ihr. Sie lag neben dem Teich am Boden, doch nicht länger auf Stein, sondern auf weichem Gras. Vor ihr stand eine Frau mit langen silbernen Haaren und in einem silbernen Gewand, die ebenso wie das Wasser von innen heraus zu leuchten schien. "Ah, Narissa. Da bist du ja endlich", sagte sie, während Narissa sich mühsam aufsetzte. In ihrem Kopf drehte sich alles, und für einen Augenblick verschwamm alles vor ihren Augen, bevor sich ihre Sicht wieder aufklarte. Sie sah sich um, und schluckte mühsam. Nur wenige Schritte weiter begann dichter Nebel, der die weitere Sicht verdeckte, doch der Himmel über ihr war klar und von Sternen übersät. "Wo... bin ich hier? Und wer bist du?"
Die Frau lächelte, und streckte ihr eine Hand entgegen. Narissa zögerte kurz, dann ergriff sie sie und wurde überraschend kräftig auf die Füße gezogen. "Diese Fragen sind einfach zu beantworten - und gleichzeitig auch wieder nicht. Dein Körper ist noch immer in der Höhle, unter der wachsamen Obhut Elyanas."
"Dann... ist das hier alles in meinem Geist?"
"So könnte man es sagen."
"Aha... und du bist...?"
"Die letzte der Sieben Schwestern." Die Frau lächelte über Narissas Gesichtsausdruck. "Du hast geglaubt, wir wären nur Geschichten, nicht wahr? Nun, ich kann es dir nicht verdenken, denn es sind Zeitalter vergangen, seit wir das letzte Mal in unserer wahren Form auf Arda gewandelt sind."
Narissa blickte ihr in die Augen - gütige, uralte, weise Augen, hinter denen ein verborgenes Feuer schlummerte. "Dann bist du eine der Maiar?"
Die Schwester lächelte erneut, und neigte den Kopf. "Ich sehe, man hat dich vieles gelehrt. Ja, meine Schwestern und ich gehören zum Volk der Maiar, zu Vardas Gefolge. Wir wandelten viele Jahre in Mittelerde, denn wir liebten die offenen Weiten unter den Sternen. Doch als der alte Feind die Welt mit Schatten überzog, verließen meine Schwestern Mittelerde eine nach dem anderen, und kehrten in den Westen zurück. Nur ich blieb zurück - in gewisser Weise jedenfalls - und machte es mir zur Aufgabe, dem Bösen so gut wie möglich im Weg zu stehen."
Einen Augenblick herrschte Schweigen, während Narissa versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Sie sprach mit einer der Maiar - doch es stellten sich ihr jetzt mehr Fragen als zuvor. "Was heißt in gewisser Weise?", fragte sie, und Schmerz zuckte über das Gesicht der Schwester. "Das heißt, dass ich gestorben bin. Meine körperliche Gestalt wurde vernichtet, von dem Wesen, dass ihr als Sauron kennt, und nur ein blasser Schatten von mir blieb zurück. Ich bin nun an das Wasser dieses Teiches gebunden, und auf die Hilfe anderer angewiesen." Sie deutete mit einer blassen Hand auf das Wasser, das für einen Moment kräftiger leuchtete.
"Und... dieser Teich. Woher kommt er?" Das Licht, das von der Schwester ausging, verblasste, und Narissa fühlte Trauer und Bedauern über sich strömen. "Eine meiner Schwestern hat ihn geschaffen. Doch sie hat sich von uns abgewandt, und ist... einen anderen Weg gegangen. Einen dunkleren." Sie verstummte, und Narissa spürte, dass sie nicht weiter über das Thema sprechen würde. Also fragte sie: "Also... warum ich? Warum hast du mich ausgewählt?"
Zum ersten Mal hatte Narissa das Gefühl, dass die Schwester ihrem Blick auswich, beinahe als ob sie sich für etwas schämen würde. Nach Augenblicken zähen Schweigens antwortete sie schließlich: "Das habe ich nicht." Als Narissa den Mund öffnete, hob sie die Hand. "Lass mich erklären. Und bitte, höre bis zum Ende aufmerksam zu, bevor du urteilst.
Nachdem mein Körper vernichtet worden war, konnte ich nicht länger direkt in die Geschehnisse Mittelerdes eingreifen, ich brauchte also Hilfe. Zu diesem Zweck gründete ich die Sieben Schwestern, eine Religion, mit denen ich meinen Schwestern, die von Morgoths Dunkelheit aus den Landen die sie liebten, vertrieben worden waren, ein Denkmal setzte. Ihre Anhänger sollten mir helfen, den Einfluss den Sauron über Harad ausübte, zu schwächen, doch ich erkannte bald, dass das nicht genug sein würde. Also erschuf ich den Mythos vom Kind der Zeit."
"Den Mythos?", platzte Narissa heraus, und erntete einen strengen Blick von der Schwester. "Ja, den Mythos. Vielleicht haben höhere Mächte als ich ihre Hand im Spiel bei denjenigen, die nach dem Mythos den ich erschaffen hatte, auserwählt waren, doch es liegt nicht in meiner Macht, bestimmte Menschen für große Taten auszuwählen. Ich hoffte nur, dass meine Anhänger dadurch eines Tages einen Menschen erschaffe würden, der in der Lage sein würde, Harad von Sauron zu befreien."
"Aber das bin ich nicht", widersprach Narissa. "Ich alleine kann so etwas niemals schaffen."
"Nein, das kannst du natürlich nicht. Und das erkannte ich auch, nachdem Elyana mir vor zwölf Jahren erzählt hat, was geschehen ist. Und dennoch... du bist die erste von allen Kindern der Zeit, die an diesem Ort mit mir spricht. Vielleicht lenkt ein größeres Schicksal deine Schritte, eine höhere Macht als ich. Und sieh dich an. Du bist wahrlich ein Kind deiner Zeit, Kind einer Zeit des Blutes und der Vernichtung, der Zeit des Endes. Du bist die Tochter eines der ältesten Häuser der Getreuen und des wahnsinnigen Herrschers der Harad im Dienste Saurons unterjocht, der Tod folgt dir auf dem Fuß und doch hat er seinen Schrecken für dich verloren."
Sie legte Narissa eine warme Hand auf die Schulter. "Ich spüre, wie sich die Wellen erheben, wie die Flut kommt und diese Welt fortspülen wird, und eine neue entsteht. Das Ende kommt, und auch wenn du nicht vom Schicksal auserwählt bist, vielleicht kannst du trotz allem die Schwalbe sein - der Vogel der die Hoffnung bringt." Narissa sog scharf die Luft ein. Tuilin, Schwalbe. So hatte sie sich in Qafsah nennen wollen, bevor Níthrar sie entdeckt hatte. Und jetzt ahnte sie auch, welcher Vogel unter den sieben Sternen eingemeißelt gewesen war...
Die Schwester lächelte, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. "Ja, die Schwalbe. Glaubst du, es ist ein Zufall, dass du dich so nennen wolltest? Vielleicht, doch ich glaube nicht an Zufälle. Ich weiß, wer im Dunklen Turm gefangen sitzt, und ich weiß, was er den Menschen des Westens bedeutet. Ich weiß auch, wer deine Freundin ist, die dich begleitet, und ich weiß, was ihr tun wollt. Ein größeres Schicksal als ich dachte hat unser beider Schritte gelenkt, und ich habe den Irrtum erkannt, den meine Anhängerinnen und ich gemacht haben. Du musst Harad verlassen, Narissa, und ins Herz der Schatten gehen, um den Menschen die Hoffnung zu bringen."
Sie nahm die Hand wieder von Narissas Schulter, und trat einen Schritt zurück. "Dies ist alles, was ich dir zu sagen habe. Elyana wird dir eine Geschenk überreichen, das dir helfen wird deine Aufgabe zu erfüllen. Und nun leb wohl Narissa, Tochter Herlennas. Möge das Licht der Sterne über deinen Weg scheinen, selbst in den tiefsten Schatten."
Narissa wollte etwas sagen, irgendetwas um ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Das Bild der Schwester verschwamm vor ihren Augen, und erneut umfing sie Dunkelheit.
Narissa öffnete die Augen, und sah über sich erneut die kuppelförmige Decke der steinernen Kammer. "Hast du die Wahrheit gesehen, Narissa?", fragte Elyana, die nun neben ihr kniete, und half ihr sanft, sich aufzusetzen. "Ich... ja. Ich glaube..." Die Erinnerung begann bereits zu verschwimmen. "Ich weiß, was ich tun muss. Ich meine, ich wusste es vorher bereits, aber jetzt bin ich mir sicher."
"Das ist gut", erwiderte Elyana, stand auf und zog Narissa mit sich auf die Füße. "Und unsere Aufgabe ist getan." Eine tiefe Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit, als sie auf den Teich deutete, dessen sanftes Leuchten erloschen war. Dann zog sie zwei Dolche hervor, die in Scheiden aus schwarzem und weißem Leder steckten. "Nachtigall", sagte sie, als sie Narissa den schwarzen Dolch reichte. "Aus dem Metall geschmiedet, dass du hier in den Wänden siehst. Es ist beinahe so hart wie das Mithril der Zwerge des Nordens, und manche sagen, dass Magie darin lebt." Sie reichte Narissa den weißen Dolch. "Und Schwalbe. Geschmiedet im verlorenen Westen, bevor Sonne und Mond über der Welt aufgingen. Die Noldor brachten ihn mit nach Mittelerde, und auf verschlungenen Pfaden fand er seinen Weg hierher und nun zu seiner wahren Besitzerin." Sie trat einen Schritt zurück. "Mögen sie dir bei deiner Aufgabe nützlich sein."
Narissa befestigte die Waffen an ihrem Gürtel, sodass sie jetzt drei Dolche dort trug - Ciryatans Dolch und Schwalbe links, Nachtigall rechts.
"Ich bin dankbar", sagte sie langsam, während ihre Verwirrung gleichermaßen nachließ wie ihre Erinnerung an das erlebte, und sie selbst allmählich zurückkehrte. "Und noch viel dankbarer wäre ich, wenn ihr mir den Ausgang zeigen könntet."
Sie glaubte, ein Lächeln über Elyanas Gesicht zucken sehen. "Auf der anderen Seite des Teiches ist eine Tür, die zu einer Treppe führt, die an der Wand der gewaltigen Schlucht hinaufführt, in die ihr beinahe gestürzt wärt. Oben angekommen wende dich nach links, dieser Weg wird dich in gerader Linie zurückführen zu dem Ort, an dem du und deine Freundin getrennt wurdet."
Narissa nickte wortlos und wollte gehen, doch Elyana hielt sie zurück. "Seid vorsichtig auf eurer Mission. Derjenige, der die Kultisten anführt, ist nicht was er zu sein scheint - und er ist äußerst gefährlich."
"Wir werden aufpassen", erwiderte Narissa. "Immerhin haben wir noch eine wichtige Mission vor uns." Für einen Augenblick schwiegen sie, dann lächelte Elyana und wendete sich ab.
"Leb wohl, Narissa. Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen."
Narissa zögerte, überlegte, ob sie etwas sagen sollte - doch dann entschied sie sich anders, durchquerte wortlos den Raum und trat durch die verborgene Tür in die Nacht hinaus.