Früh am nächsten Morgen brachen sie auf - Artanis hatte nicht übertrieben, denn die Sonne kroch gerade erst über den östlichen Horizont. Hinter der Hütte waren einige struppige, kleine Pferde im Unterholz versteckt gewesen, die sie für ihre kurzen Beine rasch nach Nordosten, den Fluss entlang durch die Savanne trugen. Edrahil war froh, dass Artanis kein allzu hohes Tempo anschlug und sie beinahe schnurgerade neben dem Fluss führte, denn je weniger er das Pferd mit seinem schmerzenden Knie lenken musste, desto besser.
Gegen Mittag verließen sie den Fluss in nördlicher Richtung, in einer geraden Linie durch die Savanne auf die Berge zu, die sich weit im Norden als bläulicher Schatten zeigten. Je weiter sie nach Norden kamen, desto hügeliger wurde das Land. Die Ebene in der Nähe des Flusses ging allmählich in sanfte Hügel, die immer höher und steiler wurden. Hin und wieder ragten einzelne Felsen aus dem hohen Gras, und in den Tälern, wo sich Regenwasser sammeln konnte, wuchsen seltsame, einzelnstehende Bäume mit breiten, flachen Kronen. Schließlich erreichten sie ein breites Tal zwischen zwei Hügeln, in dem eine Ansammlung runter Lehmhütten mit spitzen Dächern am Ufer eines kleinen Sees lag.
"Willkommen in Temne", sagte Artanis, der am Ufer des Sees, das mit Seerosen und Schilf bedeckt war, abgesessen war. "Eines der Dörfer des Stammes der Temne - ihre Hauptstadt, wenn man so will. Im Augenblick lebe ich hier."
Kaum hatte er ausgesprochen, näherte sich eine Gruppe kräftiger Männer mit dunkler Haut, die als einzige Kleidung einen Lendenschurz und Sandalen trugen. Sie alle waren mit einem Speer und einem ovalen, bunt verzierten Schild bewaffnet. Der Anführer verneigte sich vor Artanis, und sagte etwas in einer Sprache, die Edrahil vollkommen unbekannt war. Er wechselte einen Blick mit Eayan, der nur mit den Schultern zuckte. Einige Männer warfen ihnen feindselige Blicke zu, bis Artanis etwas in der gleichen Sprache antwortete. Der für Edrahil unverständliche Austausch ging noch einige Augenblicke weiter, bis die Krieger die rechte Faust an die linke Schulter schlugen, und sich wieder entfernen.
"Sie haben uns für Raes Gefolgsleute gehalten?", fragte Eayan, und Artanis nickte. "Allerdings, und für die haben sie wenig übrig. Die Temne habe eine lange, blutige Geschichte mit den Königen von Arzâyan und allen, die sie gern beerben wollen. Und seit Taraezaphel ihre Position in der alten Stadt gefestigt hat, gehen ihre Söldner und andere Gefolgsleute immer rücksichtsloser gegen jene vor, die ihnen im Weg stehen." Er band die Pferde an einem Pfosten im Schatten eines Baumes fest, und bedeutete Edrahil und Eayan dann, ihm zu folgen. Er führte sie quer durch das Dorf, wo Edrahil feststellen musste, dass die Frauen der Temne sich ebenso kleideten wie ihre Männer, nämlich lediglich mit einem knielangen Lendenschurz. Edrahils Überraschung darüber währte nicht lange, denn in dieser Hitze war es sicherlich angenehmer, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen - und mit ihrer dunklen Haut verbrannten sie in der Sonne vermutlich langsamer als Menschen mit hellerer Haut.
Im Westen ging die Sonne allmählich unter und die Hütten warfen lange Schatten, als sie eine Hütte am Rand des Dorfes erreichten, die ein wenig erhöht den Hügel hinauf lag. Artanis zog den Vorhang aus gewebtem Stoff, der den Eingang verschloss, beiseite, und bedeutete seinen Begleitern, einzutreten. Im inneren herrschte Dämmerlicht, und es brauchte einige Augenblicke, bis Edrahils Augen sich daran gewöhnt hatten. Im hinteren Teil der Hütte war ein kleiner Bereich durch einen Wandschirm abgetrennt, und an den Wänden entlang zogen sich hölzerne Regale, in denen aus Lehm gefertigte Töpfe und Flaschen aller Art standen. Artanis entzündete zwei flache Talgkerzen, die vollkommen rauchlos brannten, und ließ sich dann auf einem Sitzkissen, ähnlich derer in seinem verborgenen Keller in der Nähe von Zôrkadar nieder. Edrahil und Eayan taten es ihm gleich. Nur kurze Zeit später trat ein junger Mann herein, der einen großen Topf und drei kleinere Schüsseln mit hölzernen Löffeln trug, und vor Artanis abstellte. Dann verschwand er ebenso wortlos wie er gekommen war.
Edrahil zog eine Augenbraue in die Höhe. "Die Leute dieses Dorfes scheinen euch sehr zu respektieren. Seid ihr ihr Häuptling, oder eine Art Ältester?"
"Das zweite trifft es besser", erwiderte Artanis, und füllte die Schüsseln mit einem Eintopf, der zum großen Teil aus Edrahil unbekannten, gelbbraunen Körnchen zu bestehen schien. "Hirse", erklärte Eayan, der seinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkt hatte. "In diesen Gegenden so etwas wie das grundlegende Nahrungsmittel. Es ist eine Art Getreide."
Im Grunde war es Edrahil gleichgültig, worum es sich bei diesem Essen handelte, denn beim Geruch des Eintopfes war ihm klargeworden, dass es über einen Tag her war, dass er etwas gegessen hatte. Während er begann zu essen, sprach Artanis weiter: "Ich lebe hier jetzt bereits seit... nun, beinahe vierhundert Jahren hier. Die Temne betrachten mich als jemanden mit großer Weisheit und Wissen, aber ich würde mich nicht als ihren Anführer bezeichnen. Mir würde es nicht im Traum einfallen, ihnen Befehle zu geben - höchstens Ratschläge. Ob sie diese befolgen oder nicht ist ihnen überlassen."
"Nun, dann frage ich nicht weiter, wie ihr zu Taraezaphel steht", meinte Edrahil. "Sondern wie sie zu ihr und ihren Plänen stehen."
Artanis lächelte. "Die Temne würden am liebsten jede Spur von Arzâyan ausgelöscht sehen. Die meisten der alten Könige haben sie gnadenlos unterdrückt, und die meisten Kriegsherren aus dem Haus Nardûkhôr die seitdem in diesen Landen ihr Unwesen getrieben haben, waren wenig besser. Und sie sind nicht der einzige Stamm, der dieser Ansicht ist. Auch die Limba und die Mende, die anderen beiden großen Stämme im Norden stehen Taraezaphel feindlich gegenüber, doch sie sind auch untereinander zerstritten."
"Das dürfte der Grund sein, warum Rae überhaupt Fuß fassen konnte", vermute Eayan, und Artanis nickte. "Richtig. Nach dem Tod ihres Vaters und Großvaters war die Macht des Hauses Nardûkhôr beinahe vollständig erloschen. Doch die Stämme haben ihre erneut wachsende Macht zu spät bemerkt, weil sie zu sehr mit ihren eigenen Streitigkeiten beschäftigt waren."
"Und niemand weiß genau, wie diese Streitigkeiten begonnen haben, nicht wahr?", fragte Edrahil, und Artanis' dunkle Augen fixierten ihn. "Das ist richtig. Aber ihr glaubt nicht, dass Rae dafür verantwortlich war?"
"Nein, das glaube ich nicht", bestätigte Edrahil. "Jedenfalls nicht sie alleine. Auf die ein oder andere Art denke ich, dass Mordor bereits zu dieser Zeit seine Hand im Spiel hatte."
"Und Mordor ist der Grund für euer Kommen. Warum sonst sollte es euch aus dem Norden in dieses entfernte Land verschlagen?" Edrahil nickte. "Rae hat unsere Wege im Norden bereits gekreuzt - zumindest indirekt. Zu dieser Zeit hat sich mit jemandem zusammengearbeitet, dessen Angehörigkeit zu Mordor und seinen Verbündeten nicht angezweifelt werden konnte. Und auch wenn Arzâyan so weit im Süden liegt: Fällt es unter Saurons Einfluss, könnte er es dazu nutzen, seine Feinde in Harad aus einer unerwarteten Richtung anzugreifen."
"In diesem Fall könnte man euch beinahe dafür verantwortlich machen, Rae Mordor in die Arme getrieben zu haben, Schattenfalke", sagte Artanis an Eayan gerichtet. "Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde", erwiderte dieser scheinbar entspannt, doch Edrahil entging nicht, dass sich sein Kiefer angespannt hatte. Eayan seufzte. "Ich glaube, ich schulde ich eine Erklärung, Edrahil. Unser... Gastgeber scheint die Geschichte bereits zu kennen, also könnt ihr euch darauf verlassen, dass ich euch nicht anlüge." Edrahil erwiderte nichts, sondern nickte nur stumm. Er hatte sich mit einem Urteil über Eayans Vertrauenswürdigkeit noch zurückgehalten, und würde dieses erst fällen, wenn er die Geschichte zur Gänze gehört hatte.
"Zu jener Zeit gehörte ich noch den Assassinen an", begann Eayan zu erzählen. "Saleme begann immer mehr Einfluss zu über den Orden zu gewinnen, und der Auftrag ging vornehmlich von ihr aus. Ich hatte damals keinen Grund, ihr zu misstrauen - ihr kennt unsere Vorgeschichte - und so führte ich ihn ohne zu Zögern aus. Das war ein Fehler in doppelter Hinsicht, doch ich war jung und ehrgeizig." Für einen Augenblick wirkte Eayan müde. "Der Auftrag lautete, nach Arzâyan zu reisen und die letzten Erben des Hauses Nardûkhôr auszulöschen. Angeblich, weil sie das Machtgefüge im tiefen Süden zu kippen drohten."
"Dieser Grund ist nicht völlig abwegig", warf Artanis ein. "Der Blutige Löwe war seit langer Zeit der erste, der einen ernsthaften Versuch unternahm, Arzâyan auferstehen zu lassen. Und er hatte keine schlechten Aussichten auf Erfolg."
"Das mag richtig sein", erwiderte Eayan. "Doch ich bezweifle im Nachhinein, dass das der wirkliche Grund für meinen Auftrag war. Die Assassinen haben eigentlich nie so weit im Süden operiert, sondern eher in den haradischen Reichen. Trotzdem brach ich bald nach Süden auf, und kam in ein Arzâyan, das von Mazhakars, Raes Großvater, Kriegeszügen zerrüttet war. Ich fand keine Gelegenheit, an ihn und seine Nachkommen heranzukommen, also begann ich mir Hilfe zu suchen. Ich fand sie in Gestalt einer anderen marodierenden Söldnertruppe, der ich mich anschloss, und die ich dazu brachte, Mazhakar eine Falle zu stellen. Mazhakars Gefolgsleute gewannen zwar die Schlacht trotz ihrer Überraschung, denn sie waren besser ausgerüstet und geführt als meine Verbündeten, doch mir gelang es, das Chaos der Schlacht auszunutzen. Nach dem Sieg mussten Mazhakars Gefolgsleute feststellen, dass er und sein Sohn inmitten ihrer Reihen ermordet worden waren."
"Nach Mazhakars Tod löste seine Truppe sich bald auf", ergänzte Artanis. "Gegnerische Söldnerhorden und die einheimischen Stämme setzten ihnen, führerlos wie sie waren, derart zu, dass die Überlebenden sich entweder anderen Horden anschlossen, oder Arzâyan verließen."
"Und ihr wurdet nachlässig, Eayan", sagte Edrahil. "Ihr konntet es nicht über euch bringen, ein junges Mädchen zu ermorden - wie alt war sie damals?"
"Zwölf", antwortete Eayan mit einem bitteren Lächeln. "Und ihr habt in gewisser Weise Recht. Ich wollte dieses Kind, dem ich die letzten Verwandten genommen hatte, nicht töten, und ich hielt sie für unschuldig und ungefährlich. Was im Nachhinein betrachtet recht naiv ist."
"Gnade ist niemals naiv oder falsch", meinte Artanis, doch Edrahil schüttelte den Kopf. "Manchmal ist sie das. Ein totes Mädchen gegen wie viele Tote, die durch ihr Handeln inzwischen verursacht wurden? Und die vielen mehr die sterben werden, wenn durch die Mordor die Macht über dieses Land bekommt?"
"Vielleicht habt ihr recht", erwiderte Artanis. "Vielleicht auch nicht. Selbst jene mit schlechten Absichten können letztendlich einem guten Zweck dienen, ohne dass sie es wissen." Edrahil bezweifelte das, sagte aber nur: "Also schön. Wie endet eure Geschichte?"
"Ich sorgte unauffällig dafür, dass das Mädchen nach Umbar gebracht wurde, wo sie entfernte Verwandte haben mochte - ich wusste es nicht mit Sicherheit, doch mehr konnte ich nicht für sie tun."
"So wiederholt sich die Geschichte", warf Artanis ein, doch auf Edrahils fragenden Blick hin winkte er ab. "Später. Zunächst wüsste ich gern, was der zweite Fehler war, von dem ihr gesprochen habt, Eayan."
"Als ich nach Harad zurückkehrte war über ein Jahr vergangen", erzählte Eayan weiter. "Irgendetwas hatte sich in der Zwischenzeit verändert, doch ich begriff erst später - zu spät - was geschehen war. Solange ich fort war, hatte Saleme immer mehr die Macht an sich gerissen, und es dauerte einige Monate, bis ich erkannte, wohin sie die Assassinen führen würde. Es kam zum offenen Bruch, und schließlich spaltete sich der Orden in Salemes Assassinen und meine Gefolgsleute, den Silbernen Bogen. Doch wäre ich nicht nach Azâryan gegangen... vielleicht hätte ich ihren Verrat früher bemerkt. Vielleicht hätte ich es verhindern können, oder zumindest den Schaden begrenzen."
"Oder sie hätte euch auf andere Weise aus dem Weg geräumt", meinte Edrahil. "Und zwar dauerhafter. Vielleicht hat sie euch auf diese Weise das Leben gerettet - ganz unabsichtlich."
"Mag sein. Also, nun kennt ihr die ganze Geschichte. Und vielleicht versteht ihr, warum ich sie euch verschwiegen habe."
Edrahil nickte. Für ihre Mission spielte die Geschichte kaum eine Rolle, also hatte Eayans Schweigen ihnen nicht geschadet.
"Es ist nicht die ganze Geschichte", widersprach Artanis. "Doch diesen Teil kennt vermutlich nicht einmal Eayan." Der angesprochene blickte den Elben überrascht an. "Rae weiß inzwischen, wer ihren Großvater und ihren Vater auf dem Gewissen hat", erklärte dieser. "Sie weiß nur nicht, wie genau ihr ausseht - ansonsten hätte sie euch, vermute ich, nicht in den Kerker geworfen, sondern an Ort und Stelle getötet."
"Sie wäre nicht die einzige, die dieses Bedürfnis hat", erwiderte Eayan unbeeindruckt. "Und dennoch kann uns dieser spezielle Fall vielleicht nützlich werden", meinte Edrahil nachdenklich. "Doch darüber werde ich später nachdenken. Zuerst würde ich gerne eure Geschichte hören, Artanis, selbst wenn sie für unsere jetzige Situation nicht allzu wichtig scheinen mag."
Artanis verschränkte die Beine zum Schneidersitz, und lächelte. "Nun, ich hoffe ihr seid nicht allzu erschöpft von der Reise - denn meine Geschichte ist lang." Vor der Tür, die genau in Richtung Sonnenuntergang blickte, verschwanden gerade die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont und die ersten Sterne leuchteten am Abendhimmel auf.
"Mein Großvater gehörte dem Stamm der Noldor an, und kam im Gefolge Finrods, den sie später Felagund nannten, nach Mittelerde. Ich nehme an, ihr kennt die Geschichte von Nargothrond und seinem Fall?" Sowohl Edrahil als auch Eayan nickten, was Edrahil ein wenig verwunderte. In Gondor wurden die Geschichten vom Kampf der Eldar und Edain des ersten Zeitalters gegen Morgoth von Angband viel erzählt, doch er hatte nicht erwartet, dass sie bis nach Harad vorgedrungen waren.
"Mein Großvater entkam der Katastrophe, und floh nach Süden an die Sirionmündungen, wo er meine Großmutter kennen lernte. Der Überfall von Feanors Söhnen auf die Flüchtlinge dort raubte ihm seinen Glauben an die Elben, und er verließ Beleriand, um die Menschen in den fernen Gegenden der Welt von Morgoths Einfluss zu befreien. Vielleicht ahnte er damals bereits, dass es mit Morgoths Fall, sollte dieser kommen, nicht vorüber sein würde.
Im Zweiten Zeitalter wurde er getötet, als sich Saurons Einfluss von Mordor her ausbreitete, und mein Vater sah seine Träume als gescheitert an. Er ging mit seiner Mutter nach Norden um Elben zu suchen, die den Weg nach Westen kannten, und nur mein Bruder und ich blieben im Süden zurück. Damals kamen wir auf der Flucht vor Saurons Schergen in dieses Land. Lange Jahre arbeiteten wir gegen Saurons Einfluss, der weit nach Süden kroch, an - bis dieser plötzlich verschwand. Und dann kamen die Númenorer. Zu Anfang kamen sie als Freunde, als Händler und als Lehrer. Doch je mehr Zeit verging, desto stolzer und hochfahrender wurden sie, und begannen ihre Herrschaft über dieses Land zu festigen, bis sie schließlich, am Ende des Zweiten Zeitalters wie Tyrannen über dieses Land herrschten. Nach dem Fall Númenors und dem Sturz Saurons durch den Letzten Bund, besserte sich die Lage. Mein Bruder und ich begannen Kontakte zum Truchsess zu knüpfen, und später mit den Königen von Arzâyan. Für einige Zeit herrschte Frieden und Wohlstand, und selbst die Stämme des Nordens hatten sich einigermaßen mit den Königin aus Zôrdakar abgefunden. Doch schließlich, während der Herrschaft von König Kalphazôr, dem letzten Löwen, kam es zu Aufständen, und zu Kämpfen zwischen den hiesigen Stämmen und den Soldaten Arzâyans. Kalphazôr entsandte seinen Sohn Taraezahil, um den Konflikt zu lösen, und dabei traf Taraezahil auf meinen Bruder."
Edrahil erinnerte sich an etwas, was Bayyin ihm gesagt hatte, und warf instinktiv ein: "Tassadar." Artanis' Augen verengten sich. "Ihr seid nicht direkt aus Dol Amroth hierher gekommen, nicht wahr?"
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nein. Wir kommen von Tol Thelyn - ihr kennt diesen Namen?"
"Allerdings. Und ich weiß auch, was die letzten Besucher von dort in diesem Land getan haben. Doch ich will nicht vorgreifen." Artanis holte tief Luft. "Mein Bruder wurde tatsächlich Tassadar genannt. Es war nicht sein richtiger Name, sondern die Ehrenbezeichnung eines Stammes tief im Süden, doch er gefiel ihm, und so behielt er ihn bei. Er begegnete Taraezahil, als dieser kam um die Unruhen zu beenden, und schloss Freundschaft mit ihm. Dem Einfluss meines Bruder und Taraezahils Vernunft ist es zu verdanken, dass die Unruhen friedlich beigelegt werden konnten, und mein Bruder erkannte, dass Taraezahil in Zukunft einen großen und guten König abgeben könnte. Er schenkte ihm den goldenen Schild, den mein Vater einst getragen hatte, und der Taraezahil den Beinahmen Sonnenschild eintrug."
Dieses Mal unterbrach Eayan, dem offenbar ein Gedanke gekommen war, die Erzählung. "Die Waffe, die ihr aus dem Palast gestohlen habt..." "... ist das Gegenstück zu diesem Schild", beendete Artanis den Satz für ihn. "Der Speer von Adûn, wie die Temne und die anderen Stämme ihn nennen."
"Nach dem adûnaischen Wort für Westen", stellte Edrahil fest, und Artanis nickte. "Speer und Schild gehörten meinem Großvater und stammen aus Nargothrond. Mein Vater gab sie an meinen Bruder weiter, und dieser gab den Schild an Taraezahil und behielt den Speer. Er ging sogar soweit, mit Taraezahil in die Hauptstadt zurückzukehren, wo er sich als Soldat aus dem Gefolge des Prinzen ausgab." Der Elb seufzte. "Bei einer Schlägerei zwischen den Anhängern Taraezahils und denen seines älteren Bruders durchschaute ein wichtiger Adliger aus dessen Gefolge Tassadars Tarnung, und Tassadar tötete ihn. Die Angelegenheit führte zum Bruch zwischen Taraezahil und seinem Vater, und zu Taraezahils Verbannung aus dem Königreich. Mein Bruder kehrte nach Norden, wo ich zurückgeblieben war zurück, niedergeschlagen über die Verbannung seines Freundes und das scheinbare Scheitern all seiner Träume. Doch dann kommen eure Freunde von Tol Thelyn ins Spiel."
"Mardil, der damalige Turmherr, kam nach Zôrdakar und tötete König Kalphazôr, was den Krieg auslöste, in dem Arzâyan unterging", erinnerte Edrahil sich an die Lektüre von Mardils Bericht.
"Es ist in diesen Tagen noch einiges mehr geschehen", erwiderte Artanis. "Als Mardil nach der Tat aus Zôrdakar floh, wurde er von Tassadar und mir im nördlichen Gebirge aufgespürt, nachdem wir von Kalphazôrs Tod gehört hatten. Tassadar hatte seinen Traum nicht aufgegeben, ein Arzâyan zu dem Königreich zu machen, dass es sein sollte, und überzeugte Mardil, das Land zu verlassen, und nicht mehr zurückzukehren. Dann überschritt er selbst die östliche Grenze, um Taraezahil nach Arzâyan zurückzuholen." Die Kerzen flackerten, und warfen gespenstische Schatten auf Artanis' Gesicht, der mit einem Mal viel älter aussah als zuvor. "Es waren schreckliche Tage die folgten. Im ganzen Land bekriegten sich die vier Kinder Kalphazôrs, mal hatte dieser die Oberhand, mal jener. Gemeinsam mit Tassadar, der die Unterstützung der nördlichen Stämme mitbrachte, schlug Taraezahil seinen ältesten Bruder vernichtend in der Schlacht, doch der Sieg war nicht entscheidend, und sie verloren viel Zeit dabei, genug Kräfte für den entscheidenden Schlag zu sammeln."
"Wo wart ihr während jener Zeit?", fragte Eayan. "Hattet ihr kein Vertrauen in die Vision eures Bruders?" Artanis schien nicht verärgert. "Ich hätte meinem Bruder mein Leben anvertraut, und auch Taraezahil war ein guter Mann, den ich gerne als König gesehen hätte. Doch ich bin kein Krieger, und kein Intrigant - zumindest war ich das zu dieser Zeit nicht. Ich blieb im Norden, um die Verwundeten zu versorgen, die aus dem Süden heimkehrten, und um die Stämme vor Saerinzîl, Kalphazôrs einziger Tochter, die in dieser Gegend die Oberhand hatte, zu schützen.
Schließlich hatte Taraezahil genug Kräfte für den Sturm auf Zôrdakar gesammelt, schlug Saerinzîl, die die Stadt zu jener Zeit beherrschte, in der Schlacht, und belagerte die Hauptstadt. Und dann kam Varnâk, der jüngste der Brüder, mit einem Heer von Süden, und bot Taraezahil ein Bündnis an. Seine Berater, darunter sein Onkel und mein Bruder rieten ihm von einem Treffen ab, doch Taraezahil hörte nicht auf ihn. Tassadar bestand darauf, ihn zu diesem Treffen zu begleiten, falls Varnâk Verrat plante - er hatte nicht ohne Grund den Beinahmen die Kobra. Tassadars Befürchtungen erwiesen sich als richtig, doch..." Artanis zögerte, als müsste er sich überwinden, weiterzusprechen. "Er konnte nicht verhindern, was geschah. Ich weiß nicht, was bei diesem Treffen geschah, doch hinterher war Taraezahil ein Gefangener, Tassadar war tot, ermordet von Varnâk, und Schild und Speer meiner Vorfahren waren in Varnâks Händen." Artanis verstummte für einen Augenblick, und beobachtete stumm die tanzenden Flammen der Kerzen.
"Die Jahre die folgten waren... die schlimmsten meines Lebens, und ich habe einiges erlebt. Es folgten der Triumph des dunklen Prinzen, Kalphazôrs ältestem Sohn, über seine jüngeren Geschwister, durch ein Bündnis mit Umbar, und dann wiederum seine Niederlage und Tod durch das Bündnis seiner Geschwister mit einer viel dunkleren Macht."
"Mordor?", fragte Edrahil leise. "Schon damals?"
"Zu dieser Zeit begann Sauron, allmählich seine Macht zurück zu erlangen, und die Macht seiner Feinde nach und nach zu schwächen. Einer seiner dunklen Boten kam nach Zôrdakar und ermordete Karazîr, den Onkel des dunklen Prinzen und seine größte Stütze. Bald darauf griffen Varnâk und Saerinzîl wieder nach der Macht, und dieses Mal siegten sie. Ihr Bruder fiel, und die Flotte Umbars wurde auf dem Sakalroth eingeschlossen und vernichtet. Damit begannen Arzâyans dunkelste Tage. Varnâk und Saerinzîl herrschten mit eiserner Faust, Menschenopfer waren an der Tagesordnung. Und zu dieser Zeit kam Galador, Mardils Sohn, von Tol Thelyn nach Arzâyan. Er half Relezôr, dem Großonkel der Geschwister, mit seiner Familie nach Norden zu fliehen - ähnlich wie ihr, Eayan, so lange Zeit nach ihm. Aus diesem Zweig des Hauses stammt Taraezaphel.
Der Krieg fand sein Ende in einem gewaltigen Aufstand, in dem Zôrdakar zerstört wurde und sich Saerinzîl und Varnâk gegenseitig erschlugen - dieser Aufstand wurde Relezôr nach dessen Rückkehr entzündet, und nur deshalb konnte ich Mardil, dessen Tat meinem Bruder letztendlich den Tod gebracht hatte, verzeihen. Denn hätte sein Sohn Relezôr nicht geholfen, hätte dieser nicht nach Arzâyan zurückkehren können, um die Herrschaft der Geschwister und das Königreich auszulöschen."
Nachdem Artanis seine Erzählung beendet hatte, herrschte Stille, in der nur die Geräusche der Nachtvögel von draußen zu hören waren. Schließlich brach Edrahil das Schweigen. "Ich verstehe, warum ihr Arzâyan am liebsten für immer vernichtet sehen würdet. Was werdet ihr unternehmen?"
In Artanis' Augen spiegelte sich das Licht der Kerzenflammen. "Ihr seid zu einem merkwürdigen Zeitpunkt gekommen. Morgen werden sich Vertreter der größten Stämme hier treffen, um ihre Streitigkeiten beizulegen - zumindest hoffe ich das, und ich werde mein Möglichstes tun, damit das geschieht. Wenn es so kommt, wird es Krieg geben - und dann werden der Sonnenschild und der Speer von Adûn in die Schlacht zurückkehren."