Sie ließen Gimli und Aino mit dem Fremden, der sich als Gandalf vorgestellt hatte, am Fuße der steinernen Treppe zurück und machten sich daran, auf den Gipfel des Berges zu erklimmen. Die Stille des Waldes litt ein wenig unter Gimlis Stimme - offenbar hatte er Gandalf, der ein alter Freund des Zwerges zu sein schien, so manches zu erzählen - doch dann hörte Aerien, wie Gandalf etwas sagte, was Gimli zur Beruhigung brachte, und sie kehrten zurück in die schweigende Aura der Ehrfurcht, die über dem Wald lag.
Sie mussten nicht allzu weit gehen. Die Treppe führte in recht steilem Anstieg bis zum Gipfel hinauf, der aus einer abgeflachten, grünen Wiese bestand. Weiße, verblühte Blumen waren hier und dort im Gras zu sehen. Am jenseitigen Rand der Wiese erhob sich eine Konstruktion aus Stein, die aus vier schmalen Säulen bestand, die sich ungefähr in doppelter Mannshöhe zum Zentrum hin im rechten Winkel beugten um sich mittig zu vereinen. Darunter lag eine gemauerte Plattform, deren Oberfläche schwarz wie von einer dichten Schicht Ruß verschmiert war.
"Dies ist das Leuchtfeuer von Halifirien," erklärte Aragorn. "Vier Jahre ist es her, dass es zuletzt in Brand gesetzt wurde, um die Reiter von Rohan zur Erfüllung ihres Eides aufzurufen."
"Und weshalb sind wir hier?" wollte Narissa wissen. "Sicherlich hast du uns nicht mitgenommen, um ein ausgebranntes Leuchtfeuer zu besichtigen."
"Nein," bestätigte Aragorn. Ein seltsamer Ton schwang in seiner Stimme mit.
Auch Aerien verspürte etwas in ihrem Inneren, das sie dazu brachte, den Atem anzuhalten. Sie vermutete, dass es Aragorn ganz ähnlich ging. Selbst Narissa hatte ihre Frage in einem leiseren Ton anstatt in ihrer üblichen Lautstärke gestellt.
"Bevor man das Leuchtfeuer auf dem Halifirien errichtete, war dieser Berg als
Amon Anwar bekannt," fuhr Aragorn fort. "Hier befand sich das Grab Elendils, des Hochkönigs der Dúnedain."
Narissa, die diesen Namen vermutlich aus den Lektionen ihres Großvaters kannte, blickte interessiert auf. "Wieso ist es heute nicht mehr so?" fragte sie.
"Truchsess Cirion ließ die Gebeine nach Minas Tirith bringen, als das Königreich von Rohan gegründet wurde. Denn von diesem Tag an war der Amon Anwar nicht länger das Zentrum Gondors."
"Weshalb... sind wir hierher gekommen?" wollte Aerien leise wissen. Ihr Blick ging zum Himmel hinauf. Wie auf ein geheimes Zeichen hin begannen just in diesem Augenblick hauchdünne Schneeflocken aus dem weißen Himmel zu fallen, langsam und träge wie Blätter in einer sanften Brise. Sie landeten hier und dort zwischen den Grashalmen, wo sie sich zu den verblühten Blumen gesellten.
"Die Alfirin erinnern sich noch immer an ihn," murmelte Aragorn wie im Traum.
"Aragorn?" fragte Aerien behutsam.
"Ich... habe Gondor viele Jahre lang bereist," erwiderte der Dúnadan zögerlich. "Doch obwohl ich von diesem Ort wusste, bin ich niemals hier gewesen.
Kein Geringerer als der Truchsess oder der König Gondors hat das Recht, ihn zu betreten, sagte ich mir. Nun weiß ich, dass ich damals Angst davor hatte, mich der übermächtigen Präsenz zu stellen, die von Elendil geblieben ist. Ich habe euch beide hierher gebracht, um euch... meinen Dank auszusprechen. Narissa... Aerien... ich verdanke euch mein Leben. Hier, an diesem heiligen Ort sage ich dies: Ob durch Tat oder Wort, durch Gaben oder Opfer, durch Leben oder Tod: ich werde euch diese Schuld begleichen. Dies sage ich als König von Gondor, als Stammesführer der Dúnedain des Nordens und als Elendils Erbe."
Aerien keuchte erschrocken auf, als Aragorn sein Haupt vor ihnen beiden neigte - eine Geste tiefen Dankes und eine größere Ehre, als Aerien es jemals vermutet hätte. Auch Narissa schien es die Sprache für den Moment verschlagen zu haben, auch wenn sie sich deutlich besser unter Kontrolle hatte.
Als Aragorn wieder aufblickte, lächelte er. "Sicherlich wüsstest du gerne mehr über diesen Ort, nicht wahr, Aerien?"
Dankbar dafür, die für die hochgradig unangenehme Situation hinter sich zu haben, nickte Aerien. Während Narissa sich neugierig auf dem Gipfel umsah, erklärte Aragorn Aerien, wie der Amon Anwar einst von Elendils Sohn Isildur als Heiligtum der Dúnedain angelegt worden war und weshalb Truchsess Cirion sich entschieden hatte, das Grab schließlich zu verlegen.
"Als Cirion Eorl, den ersten König Rohans hierher brachte, schwuren beide einen Eid, sich in Kriegszeiten gegenseitig beizustehen. Und seit diesem Tag erfüllten Gondor und Rohan ihre Pflicht gegenüber. Als das Leuchtfeuer des Halifirien brannte, brachte sein Ruf die Speere der Reiter Rohans nach Minas Tirith, und die Stadt wurde gerettet... einstweilen."
"Und Rohan... ist nun unser Reiseziel?" fragte Aerien.
"Dort werden wir für einige Zeit sicher sein. Aber sobald ich wieder bei Kräften bin und mir der Lage in Rohan bewusst bin, werde ich nach Dol Amroth gehen," stellte Aragorn klar. "Es gibt viele Angelegenheiten, die in Gondor nun zu regeln sind, nicht zuletzt die Frage, wie ich mit dir verfahren soll."
Aerien prallte zurück. "Was...?"
"Streng genommen bist du ein Feind Gondors, als Tochter deines Vaters, dem Fürsten von Durthang," sagte Aragorn. "Einige Würdenträger werden dich als wertvolle Geisel betrachten, wenn ich nichts unternehme. Man wird dir mit großem Misstrauen begegnen, selbst wenn deine Beteiligung an meiner Befreiung bekannt wird. Es wird nicht einfach für dich werden, wenn du mit mir nach Gondor gehst. Und doch... ist es genau das, worum ich dich bitte, Aerien."
"Ich..." Sie hatte große Schwierigkeiten, die Fassung zu wahren. Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben.
"Vertraust du mir?"
Daran konnte Aerien sich festhalten. "Das tue ich... mein König."
"Ein König mag ich sein, doch hier, an diesem Ort sind wir beide einander ebenbürtig," sagte Aragorn. "Gondor ruft nach uns."
"Dann werde ich dir folgen," sagte Aerien mit fester Stimme. "Aragorn."
"Gut. Das ist gut. Dein Anblick gibt mir Kraft. So wie er es in den vergangenen Monaten meiner Gefangenschaft tat, als ich mit Asche meiner Hoffnung mit der Erinnerung an deine Worte am Leben hielt. Es wird... einfacher werden, wenn ich darauf zählen kann, dich an meiner Seite zu wissen - in dem, was kommen mag."
Es war beinahe zu viel für Aerien. Ihre Knie zitterten. Doch wie schon so oft war es Narissa, die sie rettete.
"Ich habe hier drüben etwas gefunden!" rief sie und winkte Aragorn und Aerien zu sich hinüber. Narissas Ärmel waren hochgekrempelt, und ihre Arme über und über mit Erde verschmiert.
"Äh, 'Rissa?" wunderte sich Aerien, als sie näher kam.
"Seht doch nun," sagte Narissa stolz. Am Fuße des flachen, gemauerten Fundaments auf dem das Leuchtfeuer ruhte, hatte sie einen dünnen Streifen Erde freigelegt und dort ein ungefähr faustgroßes Loch aufgetan. Als Aragorn neben sie trat, kniete Narissa sich hin und griff in das Loch, in dem ihr Arm bis zur Schulter verschwand. Mit einem angestrengten Laut beförderte sie einen Gegenstand hervor, der die Form einer kleinen Flasche besaß.
"Wie hast du das denn entdeckt?" wollte Aerien wissen.
"An der unteren Kante des Fundaments war ein loser Mauerstein," erzählte Narissa gut gelaunt. "Ich bin mit dem Fuß wie zufällig dagegen gestoßen, als ich mir das Mauerwerk des Leuchtfeuers genauer angesehen habe. Als ich den Stein vorsichtig löste, entdeckte ich den Hohlraum darunter. Mit etwas Geschick gelang es mir, dieses Ding freizulegen." Sie reichte den Gegenstand an Aragorn weiter, der ihn interessiert betrachtete.
"Es muss dort versteckt worden sein, als das Leuchtfeuer angelegt wurde," murmelte der Dúnadan. Mit seinem Umhang befreite er die Flasche vom Dreck und entkorkte sie. Darin war ein kleines Stück Pergament eingerollt worden. Vorsichtig öffnete Aragorn das Schriftstück und las vor:
Ich entbinde den Amon Anwar von seiner Pflicht als Hüter der Gebeine Elendils. Mit der Abtretung Calenardhons bildet er nicht länger den Mittelpunkt des Südlichen Königreiches und soll uns nun stattdessen als Leuchtfeuer dienen. Die Gebeine, die so lange nun im Licht des Vandassars ruhten, mögen nun in die Gesellschaft von Elendils Erben einkehren.
Cirion
Truchsess des Königreichs Gondor
"Das passt zu dem, was du mir erzählt hast," meinte Aerien zu Aragorn. "Truchsess Cirion hat diese Botschaft hier hinterlassen, als das Grab Elendils fort gebracht wurde."
Aragorns Blick war noch immer auf die alten Zeilen gerichtet. "Etwas daran wundert mich," sagte er nachdenklich. "Ich weiß, dass die Gebeine damals in der Höhlung ruhten, vor der Gandalf auf uns gewartet hat. Aber..."
Narissa und Aerien wechselten einen Blick. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen, was Aragorn wohl meinen konnte. Doch ehe sie sich darüber Gedanken machen konnte, steckte der Dúnadan die Schriftrolle zurück in die Flasche. "Wir sollten zu den anderen zurückkehren," sagte er.
Und das taten sie. Sie nahmen die Treppe zurück nach unten, wo Gimli, Aino und der Alte - Gandalf - bereits auf sie warteten.
"Eines frage ich mich, alter Freund," sagte Aragorn. "Woher wusstest du, dass ich hierher kommen würde?"
"Ich habe es nicht gewusst," entgegnete Gandalf. "Ich habe nichts weiter getan, als Augen und Ohren offen zu halten und auf den Wind zu achten. Als ich Aldburg verließ, wusste ich nicht, wer mir am Halifirien begegnen würde. Oh - da fällt mir ein: du hast mir deine Begleiter noch gar nicht vorgestellt. Meinen Namen habe ich den beiden genannt, aber wie lauten ihre?"
"Ich bin Narissa," sagte Narissa, an deren Stimme und Körperhaltung Aerien erkannte, dass sie Gandalf noch nicht vertraute. "Und das ist Aerien."
Aerien schüttelte innerlich den Kopf.
Hat sie noch immer nichts darüber gelernt, wie man mit Respektpersonen umgeht? Sie machte einen Knicks - so gut es in ihrer Reisekleidung nun einmal ging und sagte demütig: "Narissa, die Enkelin des Hador vom Haus der Turmherren, und... Aerien, einst Azruphel Balákarneth von Durthang. Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Meister Gandalf."
Zu ihrer Überraschung lachte Gandalf. Auch Gimli schloss sich der Heiterkeit rasch an. "So förmlich, meine Liebe," sagte der Alte belustigt und sah dann zu Narissa. "Von der Weißen Insel habe ich gehört, und sie einst von Ferne gesehen - du scheinst einen weiten Weg hinter dir zu haben, Narissa." Er lächelte, doch als er nach Narissa nun Aerien musterte, blitzte unter seinen buschigen Brauen ein durchdringender Blick auf, der Aerien erstarren ließ. "Förmlich, sagte ich. Und...
mutig. Deinen wahren Namen einem erklärten Feind Saurons gegenüber auszusprechen ist ein Risiko, das nur die Wenigsten eingehen würden."
Von einer Sekunde auf die andere hatte sich Gandalfs Ausstrahlung vollkommen verändert. Bedrohlich ragte er über Aerien auf und seine Gewänder erschienen nun nicht mehr grau, sondern funkelten stechend weiß. Da wurde es ihr klar, wen sie vor sich hatte.
"Ihr seid...
Incánus!" keuchte sie. Ein Name aus ihrem einstigen Leben. Incánus war den Schwarzen Númenorern verhasst: ein Mächtiger unter den Feinden Mordors, der immer dann auftauchte, wenn entscheidende Ereignisse bevorstanden, um die Pläne des Dunklen Herrschers zu vereiteln. Ein furchterregender Zauberer, der selbst dem Verhängnis vor dem Morannon entkommen war und für das Ende Dolguzagars, des Mundes des Großen Gebieters, verantwortlich war. Er war hier! Aerien verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf ihrem Hintern - und da endlich erinnerte sie sich wieder, wo sie war; und
wer sie nun war.
"Der bin ich," sagte Gandalf, nun wieder freundlich. "Und nun, da ich dich gesehen habe, weiß ich, dass Aragorns Vertrauen in dich gerechtfertigt ist. Du musst keine Angst vor mir haben, Mädchen."
"Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst -" drohte Narissa, deren Hände auf den Griffen ihrer Dolche lagen.
"Was soll denn dieser Unsinn," brummte Gimli lautstark. "Niemand wird hier irgendwem ein Haar krümmen. Wir sind alte Freunde, Gandalf, Aragorn, und ich. Und diese beiden dort, Aerien und Narissa, haben ihr Leben riskiert, um uns aus Mordor zu retten. Haben das alle inzwischen mitbekommen? Nicht, dass hier noch jemand auf dumme Gedanken kommt." Er warf Narissa einen stechenden Blick zu.
Aragorn nahm Gandalf beiseite, und beide entfernten sich einige Schritte von der Gruppe in Richtung des Eingangs des leeren Grabes. Derweil leerte Aerien ihren Wasserschlauch, um wieder klare Gedanken fassen zu können.
"Wieso hast du dich denn so erschreckt?" wollte Narissa besorgt wissen.
"Ich habe von diesem...
Gandalf gehört, doch unter einem anderen Namen. In Mordor ist er gefürchtet."
"Aber du gehörst nicht mehr nach Mordor," stellte Narissa entschieden klar.
"Ich weiß... es war nur..."
"Ich lasse nicht zu, dass er dir etwas antut," fuhr Narissa fort.
Das erweckte Gimlis Aufmerksamkeit. "Das wird er auch nicht. Gandalf tut nichts ohne Grund. Hast du nicht zugehört? Er vertraut Aragorns Urteil über die Kleine."
"Ist er wirklich ein alter Freund von dir?" wollte Aerien zaghaft wissen.
"Das ist er," bestätigte Gimli. "Und ein Freund meines Vaters vor mir."
In diesem Augenblick kehrten Aragorn und Gandalf zur Gruppe zurück. Aerien sah noch, wie Aragorn die von Narissa gefundene Flasche einsteckte, ehe der Dúnadan sich ihnen zuwandte und sagte: "Wir sollten hier nicht verweilen. Wir nehmen den Pfad zur Mering-Quelle. Wenn wir uns beeilen, können wir bei Einbruch der Dämmerung in Rohan sein."
Niemand erhob Einwände, als sich Gandalf ihnen wie selbstverständlich anschloss. Der Zauberer (wie Aerien nun wusste) ging mit Aragorn voran, und beide unterhielten sich leise miteinander, während sie dem Weg den Berg hinab durch den Flüsterwald folgten. Aerien, die einige Schritte Abstand hielt, war bemüht, die offenbar private Unterhaltung nicht zu belauschen, was ihr einigermaßen gut gelang. Nur das Wort
Vandassar drang hin und wieder zu ihr durch, doch seine Bedeutung blieb Aerien an diesem Tag verschlossen...
Narissa, Aerien, Gandalf, Aragorn, Gimli und Aino nach Rohan