Hilgorn aus Marwans ehemaliger ResidenzNur wenige Meter von den Mauern entfernt begann schier undurchdringliche Finsternis, aus der die Geräusche der Monster drangen, die sich versammelt hatten, um Linhir zu erobern. Hilgorn hatte entlang der gesamten Ostmauer Fackeln entzünden, doch ihr Schein reichte nicht weit genug, um die Feinde vor den Mauern zu enthüllen. Dennoch war Hilgorn sich sicher, dass der Angriff unmittelbar bevorstand.
“Haltet euch bereit”, sagte er mit tragender Stimme, während er die Treppe zum höchsten Punkt der östlichen Mauer, über dem Tor, hinaufstieg. “Was auch immer Mordor uns entgegenwerfen mag, wir werden standhalten. Söhne Gondors, dies ist unser Land! Und alle Bestien, die der Schatten gegen uns aufbringen wird, werden nicht ausreichen um es uns zu entreißen!”
Noch bevor er ausgeredet hatte, fielen erste Tropfen vom Himmel, und als Hilgorn das letzte Wort gesprochen hatte, öffneten die Wolken ihre Schleusen. Ein regelrechter Sturzregen ergoss sich auf die Verteidiger, und die ersten Fackeln erloschen zischend in einem plötzlichen Sturmwind, der von Osten anhob. Und wie auf ein geheimes Kommando begann der Angriff auf die Stadt.
“Haltet stand!”, rief Hilgorn, obwohl seine Stimme im Rauschen des Regens und des Windes nicht weit reichen konnte, als die vorderen Reihen der Orks im Licht der Fackeln sichtbar wurden. Reihe um Reihe stürmten sie heran. Leitern wurden krachend an die Mauern angelegt, und überall entlang der Mauer begann die ersten Orks und Menschen zu sterben. Dann kam ein Pfeilhagel aus der Dunkelheit herangerauscht. Hilgorn duckte sich hinter eine der Zinnen und hielt den Schild schützend über den Kopf, während um ihn herum Pfeile gegen die Steine schlugen, beschleunigt und tödlich durch den Wind aus dem Osten. Seine eigenen Bogenschützen - viel weniger, als ihm lieb waren - erwiderten das Feuer, doch trotz ihrer überlegenen Bögen trugen ihre Pfeile nicht so weit wie die ihrer Feinde und schlugen mit weniger Wucht in die Reihen der Orks ein.
“Diesen Sturm muss Sauron selbst geschickt haben”, brüllte Balvorn, der neben Hilgorn stand, über das Tosen des Windes, den Regen und den anhebenden Kampfeslärm hinweg. Hilgorn nickte nur stumm, und zog sein eigenes Schwert, denn eine Leiter hatte sich an die Zinnen des Tores gelegt und sogleich sprang der erste Ork über die Zinnen hinweg. Einer von Hilgorns Soldaten stieß dem Ork sein Schwert durch den Hals, wurde jedoch im nächsten Augenblick vom nächsten Angreifer zu Fall gebracht. Hilgorn parierte einen Keulenschlag mit dem Schwert, brachte seinen Gegner mit einem raschen Schildstoß ins Taumeln, und versetzte ihm einen Schwerthieb quer über die Brust. Das hervorspritzende schwarze Blut besudelte seine Beinschienen, und schon war der nächste Gegner heran....
Schließlich gelang es Hilgorn, die Leiter mit Hilfe von Balvorn und zwei weiteren Soldaten, umzustoßen. Er nutzte die kurze Atempause, die sie sich erkämpft hatten, um sich einen raschen Überblick über die Lage zu verschaffen. Soweit er sehen konnte, hielten seine Männer noch überall stand, obwohl der erste Angriff mit noch größerer Heftigkeit erfolgt war, als er befürchtet hatte. Der Sturm hatte sein übriges getan, doch inzwischen hatten Wind und Regen ein wenig nachgelassen, und die gondorischen Bogenschützen bemühten sich nach Kräften, den Gegner zu dezimieren bevor er überhaupt die Leitern erreichte. Dennoch, schon der erste Schlag hatte die Verteidigung ins Wanken gebracht, und je länger die Schlacht dauerte, desto gefährlicher würde die Lage werden - schon jetzt gelang es den Orks immer wieder, kurze Mauerabschnitte zu erobern, bevor die Verteidiger sie unter Mühen zurücktreiben konnten.
“Die Bogenschützen sollen ihr Feuer auf die Leitern konzentrieren”, befahl Hilgorn. “Vor allem an Stellen, wo die Orks drohen, die Oberhand zu gewinnen.” Sogleich eilten Männer los, um die Befehle weiterzugeben. Um durch breit angelegtes Unterstützungsfeuer etwas zu erreichen, hatten sie einfach zu wenige Bogenschützen zur Verfügung - da war es klüger, das Feuer auf wenige, gefährdete Stellen zu konzentrieren. Und tatsächlich schien sein Befehl Wirkung zu zeigen - soweit Hilgorn durch die Dunkelheit sehen konnte, erlangten die Orks an weniger Stellen als zuvor kurzzeitig die Oberhand, und die Verteidigung hielt ein wenig besser als zuvor. Doch er kam sich vor wie jemand, der mit Kieselsteinen Löcher in einem Damm flickte, der jederzeit zu brechen drohte.
“General!”, hörte er einen Ruf über den Schlachtenlärm hinweg, und ein junger Soldat, der einen blutigen Kratzer auf der Stirn trug, drängte sich von Norden zu ihm durch. “Kommandant Turin meldet, dass die Orks durch den Erdwall gebrochen sind.” Hilgorn fluchte. Turin war an einer der Stellen weiter im Norden stationiert, wo die Mauern am stärksten beschädigt und nur durch Erdwälle notdürftig geflickt waren.
“Balvorn, wie viele Männer in der Reserve hinter dem Tor?”, fragte Hilgorn. “Einhundert, Herr”, antwortete sein Adjutant, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken als ein Pfeil direkt an seinem Ohr vorbeiflog und funkensprühend von den Steinen abprallte. “Nimm fünfzig davon mit”, wandte Hilgorn sich wieder an den jungen Boten. “Sag Turin, er soll versuchen, den Wall zurückzuerobern, aber dabei keine unnötigen Risiken eingehen. Zur Not haltet sie kurz hinter der Mauer auf.” Der Soldat eilte ohne ein weiteres Wort davon, und Balvorn sagte: “Diese fünfzig werden sie nicht lange aufhalten, wenn sie den Wall nicht zurückerobern können.” Es war ungewöhnlich für den Mann, seine eigene Meinung auf diese Weise zu äußern - in der Regel nahm er lediglich seine Befehle entgegen und gab sie weiter.
“Nein”, erwiderte Hilgorn düster. “Und wenn die Orks hier durch das Tor brechen, werden sie uns fehlen.” Jede seiner Entscheidungen, die sie ein wenig länger durchhalten ließ, schien seine Aufgabe für die Zukunft schwerer zu machen. Doch noch hielten die Reihen der Verteidiger, und wenn sie bis zum Sonnenaufgang durchhielten, hatten sie eine Chance.
“General”, sagte Balvorn scharf, und riss Hilgorn damit aus seinen Gedanken. Er deutete mit dem Schwert hinab auf die Fläche vor dem Tor, wo Hilgorn im schwachen, flackernden Fackellicht einen Rammbock erkennen konnte, der von kräftigeren, großgewachsenen Orks getragen wurde. Erneut stieß er einen Fluch aus. Ohne diese absolute Finsternis vor den Mauern hätte er die Gefahr viel eher kommen sehen und entsprechende Befehle gegeben, doch nun war es zu spät. Nur wenige Herzschläge nach Balvorns Warnung krachte der Rammbock das erste Mal gegen das neue Tor - lange würde es nicht standhalten, denn es war lediglich aus Holz und rasch zusammengezimmert worden.
“Alle Bogenschützen in der Nähe sollen auf die Träger schießen”, befahl Hilgorn, im vollen Bewusstsein, dass es damit die Verteidiger auf den Mauern wieder viel schwerer haben würden, die Leitern abzuwehren. Seine Befehle wurden weitergegeben, doch dieses Mal war der Effekt deutlich schwächer als beim letzten Mal - nur wenige Pfeile gingen auf den Rammbock nieder, und sogleich eilten schildbewehrte Orks heran, um die Träger mit den Schilden und ihren Körpern zu schützen. Hilgorn blickte nach Süden, wo eigentlich eine der Stellungen mit vielen Bogenschützen in einer der Turmruinen sein sollte - doch die Ruine war, während er von den Nachrichten aus dem Norden und dem Rammbock abgelenkt gewesen war, von Orks überrannt worden.
Erneut krachte der Rammbock gegen das Tor, mit einer solchen Gewalt, dass die Mauer darüber erzitterte. Hilgorn atmete tief durch. Wenn sein Zeitgefühl ihn nicht trog, neigte sich die Nacht dem Ende, und die Dämmerung nahte - doch so lange würden sie nicht durchhalten. War das Tor erst durchbrochen, wäre ihnen darüber hinaus schon bald der Rückzug nach Westen verstärkt.
“Gebt die Stellungen auf”, befahl er leise, und Balvorn wandte ihm das Gesicht zu. “Herr?”
“Gebt die Stellungen auf”, wiederholte Hilgorn lauter. “Geordneter Rückzug sobald von hier das Signal kommt - keine Flucht, lasst sie nirgends durch die Reihen brechen.” Balvorn nickte, und sofort brachen Soldaten auf, um den Befehl zu verbreiten.
Hilgorn wartete, quälend lange, bis seiner Meinung nach genug Zeit vergangen war, dass die Befehle die nördlichen und südlichen Enden der Mauern erreicht haben konnte. Dann nahm der den Bogen zur Hand, der neben ihm auf den Steinen der Mauer gelegen hatte, und entzündete einen mit ölgetränktem Stoff umwickelten Pfeil an der Feuerschale neben ihm.
Der brennende Pfeil stieg trotz Wind und Regen in einem beinahe senkrechten Bogen zum Himmel auf, weit sichtbar für alle, die darauf achteten - das Signal zum Rückzug.