Córiel stand wie vom Donner gerührt noch immer an Ort und Stelle, selbst als die drei finsteren Gestalten mit ihren neun Opfern bereits seit mehreren Minuten in dem großen Gebäude verschwunden waren, das oberhalb der breiten Treppe thronte. Die Menschenmenge um sie herum hatte sich inzwischen schon zum Großteil aufgelöst und der Platz rings um die Statue des Dunklen Herrschers leerte sich mit großer Geschwindigkeit.
„Verschwinden wir von hier,“ wisperte Vaicenya und zog Córiel hastig davon, bis sie in einer engen Seitengasse schwer atmend stehen blieben.
„Ich...“ begann Córiel, doch sie war noch zu durcheinander, um ihren angefangenen Satz fortzuführen.
Vaicenya blickte etwas betreten zu Boden, dann sagte sie: „Schade um den Jungen. Ich fing gerade an, ihn zu mögen.“ Sie stieß so etwas wie ein Seufzen aus. „Aber es hilft wohl nichts. Wir werden zu zweit weitermachen müssen.“
Das brachte Córiel schliesslich dazu, wieder klare Gedanken zu fassen. „Das kannst du vergessen,“ erwiderte sie wütend. „Ich lasse Jarbeorn nicht zurück. Wir werden ihn da raus holen.“
„Melvendë, das ist Wahnsinn. Du hast gesehen, wie gut der Fürstensitz bewacht ist. Wir bringen uns nur unnötig in Gefahr,“ antwortete Vaicenya.
„Ich weiß, dass Jarbeorn für mich dasselbe tun würde. Ich werde ihn nicht im Stich lassen, jetzt, wo er auf meine Hilfe angewiesen ist,“ stellte Córiel klar. „Und du wirst mir helfen, sonst musst du alleine nach deinem Sohn suchen. Und ohne meine Fürsprache wird er dir niemals vertrauen oder auch nur im Ansatz glauben, dass du dich geändert hast.“
Vaicenya gab ein Geräusch von sich, das von unterdrückter Wut zeugte. Doch dann schien sie ihren Ärger auf untypische Art herunterzuschlucken und beherrschte sich. Ihre silbernen Augen flackerten, doch ihre Haltung veränderte sich. „Also gut,“ presste die Dunkelelbin hervor. „Und was schlägst du nun vor?“
Als es Nacht geworden war, stieg eine in einfache, helle Gewänder gehüllte Gestalt die steilen Treppenstufen zum Fürstenpalast hinauf. Sie bewegte sich langsam, aber stetig und trug in beiden Händen einen Korb, gefüllt mit Brot und Obst, das von einem der Märkte der Stadt zu stammen schien. Der leichte Wind, der durch die Straßen pfiff, spielte mit dem langen, dunkelblonden Haar, das unter der Kapuze ihres hellbraunen Umhangs in dichten Strähnen hervorlugte und verstärkte den Eindruck, dass es sich um eine junge Frau handelte.
Oben angekommen traten ihr die beiden schwer gerüsteten Gardisten entgegen, die ihren Aufstieg von Anfang an beobachtet hatten.
„Halt,“ drang es unter dem Helm des linken Wächters hervor. „Niemand betritt den Palast.“
„Ich ersuche das Recht auf das Geschenk des Abschieds,“ antwortete die junge Frau. Ihre Haut, die an Hals, Mund und Händen zu sehen war, war rein und faltenlos. Sie konnte nicht älter als zwei Jahrzehnte sein.
„Bist du dir der Konsequenzen bewusst, Kleine?“ fragte der rechte Gardist.
Sie nickte zur Antwort. „Ich kann ohne meinen Bruder nicht leben, Herr. Nehmt diese Gabe und lasst mich zu ihm gehen, damit wir wieder vereint sind. Was auch immer unser Fürst für ein Schicksal für uns ersonnen hat - wir werden uns ihm gemeinsam stellen.“
„Was für eine Verschwendung,“ murmelte der andere Wächter.
„Nicht zwingend,“ raunte sein Kumpan ihm zu, in dem Glauben, die junge Frau könne ihn nicht hören. „Lass sie zu ihrem Bruder gehen, bis man ihn holt. Und dann werden wir uns ihrer annehmen...“
Sein Gegenüber beantwortete den Vorschlag mit einem kaum merklichen Nicken, dann wandte er seinen behelmten Kopf wieder der Bittstellerin zu. „Es sei dir gewährt, Kleine. Wir werden dich zu deinem Bruder bringen.“
Sie nahmen die junge Frau in die Mitte und durchquerten zu dritt das große Portal, das ins Innere des fürstlichen Anwesens führte. In der Eingangshalle angekommen gaben die Gardisten den Torwachen auf der Ebene über ihnen das Zeichen, das Tor zu verschließen, ehe sie die Bittstellerin weiter zu den Zellen im Kerker eskortierten.
Keiner von ihnen bemerkte den schlanken Schatten, der im letzten Moment durch das Tor schlüpfte, ehe es sich mit einem unheilvollen Grollen schloss.
Jarbeorn starrte nun schon seit Stunden an die Decke seiner kleinen Zelle und ärgerte sich darüber, was für ein Pech er gehabt hatte. Seine Hände steckten in eisernen Handschellen, die ihn unangenehm nahe an eine der Zellwände ketteten, was ihn dazu zwang, mit in die Höhe gestreckten Armen am Boden zu sitzen, seitdem er nicht länger hatte stehen wollen. Seine geliebte Axt ruhte an einer der Säulen in der Nähe - verlockend nahe, und doch unerreichbar. Er war von seiner Waffe durch mehrere, sehr dicke und widerstandsfähige Eisenstangen getrennt. Selbst wenn er nicht gefesselt gewesen wäre, hätte er die Axt nicht packen können.
Er wandte den Blick von der Zellendecke ab und fragte sich, wie spät es inzwischen wohl war. Weder seine noch die Nachbarzelle hatten ein Fenster. Seitdem man ihn unsanft in den Kerker geworfen hatte, waren keine Wachen mehr aufgekreuzt. Und soweit er wusste, waren die übrigen fünf Zellen, die entlang des Ganges mit den Säulen lagen, alle leer. Zumindest hatte niemand auf seine Unterhaltungsversuche reagiert.
Er ärgerte sich darüber, dass er bei seiner Gefangennahme nicht heftiger versucht hatte, sich zu wehren. Natürlich war ihm klar, dass man ihn so oder so überwältigt hätte. „Aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich ein paar von diesen Mistkerlen vorher ordentlich verdroschen hätte,“ murmelte er.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür ließ ihn aufblicken. Schritte näherten sich. Und dann standen drei Gestalten vor seiner Zelle. Bei zweien handelte es sich um die in schwarze Rüstung gehüllten Gardisten, von denen einer die Gittertür zu Jarbeorns Gefängnis aufschloss. Die Dritte hingegen...
Die junge Frau streifte die Kapuze ab und lächelte hinterlistig. Dunkelblondes Haar und spitze Ohren kamen darunter zum Vorschein. „Hallo,
Bruder,“ sagte sie gut gelaunt. „Ich habe einen Vorschlag für dich... Werde
wütend.“
Córiel stellte dem Wächter, der die Zelle aufgeschlossen hat, ein Bein, und schubste ihn so fest sie konnte hinein. Dann warf sie sich sofort zu Boden und rollte sich geschickt vorwärts - und keine Sekunde zu spät. Der zweite Gardist hatte sein Schwert gezogen und sie entging nur knapp seinem Schlag, der ihr den Kopf von den Schultern getrennt hätte.
„Elben-Abschaum,“ rief der Gardist und stürmte auf sie zu. Erneut wich sie ihm aus und riss sich im Sprung ihren Umhang vom Rücken. Dann warf sie das Stoffstück ins Gesicht des Mannes, dessen eiserner Helm sich darin verhedderte und ihm für einige Sekunden die Sicht nahm.
Während sie sich noch über ihren Erfolg freute, traf sie die stählerne Rückhand eines Panzerhandschuhs im Gesicht. Der zweite Wächter hatte sich inzwischen aufgerappelt und sie mit einem direkten Treffer zu Boden geschickt. Córiel sah für einen Moment Sterne vor den Augen und spuckte einen kleinen Schwall Blut aus. Als sie wieder aufblickte, stand ihr Feind über ihr, einen langen Speer zum Todesstoß erhoben.
Das war der Moment, als der Wächter von einer gewaltigen Pranke gepackt und schreiend zurück in die Zelle gezerrt wurde. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erstickte seinen Todesschrei. Etwas sehr großes und sehr wütendes donnerte an Córiel vorbei und machte auch mit dem zweiten Gardisten kurzen Prozess.
„Hier entlang!“ rief Córiel und sprintete zu der Tür, durch die die Gardisten sie wenige Minuten zuvor in den Kerker eskortiert hatten. Das Monstrum folgte ihr, einen Pfad der Verwüstung hinterlassend.
Córiel, die eines der fallen gelassenen Schwerter aufgehoben hatte, nahm nur wenig an den Kämpfen teil, die nun folgten. Jarbeorn bahnte sich seinen Weg durch die völlig überraschten und verschreckten Wachen, bis sie sich wenig später in der großen Eingangshalle wiederfanden. Dort wartete bereits Vaicenya auf sie... inmitten einem dutzend von toten Gardisten. Die Dunkelelbin hatte bereits zwei der drei finsteren Kommandanten ermordet und hielt ihre silberne Klinge nun an den Hals des dritten Anführers der Garde - jener Mann, der Jarbeorn als neuntes Opfer ausgewählt hatte.
„Wie schön, dass ihr kommen konntet,“ begrüßte sie die Hochelbin und den Beorninger, dem es tatsächlich gelang, in seiner Zerstörungswut innezuhalten. Der große, schwarze Bär legte neugierig den Kopf schief und gab ein Schnauben von sich.
„Ich muss schon sagen,“ fuhr Vaicenya fort, an ihren Gefangenen gewandt. „Ihr habt hier wirklich eine beeindruckende Schreckensherrschaft auf die Beine gestellt. So zu tun, als ob der Fürst von Dervesalend, den du und deine Spießgesellen in seinem Schlaf erstochen habt, noch am Leben wäre... und in Wahrheit hattet ihr selbst schon seit Monaten die eigentliche Kontrolle in der Hand. So war es doch, nicht wahr?“
Die Elbenklinge ritzte den Hals des Mannes, der hastig nickte und somit Vaicenyas Theorie bestätigte.
„Ich habe den verrottenden Leichnam des Fürsten von Dervesalend gesehen, der noch immer in seinem Bett liegt,“ fuhr sie fort. „Ihr hieltet das Volk mit der regelmäßigen Auswahl von Opfern ruhig und habt euch inzwischen mit den Reichtümern des Fürsten und seines Fürstentums die Taschen gefüllt. Zu schade, dass ihr heute die falsche Wahl getroffen habt.“
„Lass ihn in Frieden, Vaicenya,“ sagte Córiel. Jarbeorn hatte sich derweil zurückgezogen, um sich wieder in seine menschliche Form zu verwandeln.
„In Frieden? Oh nein, nicht ohne Bestrafung,“ erwiderte Vaicenya. „Das wäre nicht gerecht.“
„Er wird seine Strafe erhalten,“ antwortete Córiel.
„Gut gemacht, Stikke,“ lobte Jarbeorn. „Ohne deine Hilfe hätte ich die Verwandlung nicht riskieren können, weil ich den Weg nach draußen nicht kannte. Doch als ich dich sah fand ich die Kraft in mir, meine Fesseln zu sprengen.“
„Wie ich es mir erhofft hatte,“ erwiderte sie lächelnd. Dann sah sie zu dem Gefangenen hinüber und ihr Lächeln verschwand. „Und nun zu ihm...“
In den Archiven des fürstlichen Anwesens fanden sie einige gute Karten, die den Verlauf des Tajnik-Flusses zeigten, dem sie bis zu seinem Ursprung zu folgen planten. In den Küchen stockten sie ihre Vorräte großzügig auf. Dann befreiten sie alle Gefangenen aus den weitläufigen Verliesen, die Córiel in der Eingangshalle zusammenbrachte.
„Euer Fürst ist tot, und sein Mörder kniet nun vor euch,“ sagte sie zu den Dervesalendern, die sich um den letzten der drei Rädelsführer des Putsches versammelt hatten. „Verfahrt mit ihm wie ihr es für richtig erachtet. Und was nun aus eurem Land und eurem Volk wird, bleibt ebenfalls euch selbst überlassen. Ich habe nur einen einzigen Rat für euch: Wendet euch von Sauron ab. Er herrscht nur durch Furcht, so wie es diese Männer hier getan haben, und er benutzt euch nur, um seine eigene Macht zu stärken.“
Damit wandte sie sich ab und schritt auf den Ausgang des Anwesens zu, gefolgt von Vaicenya und Jarbeorn. Sie hatten die Schwelle gerade erst überschritten, als sie den Todesschrei des finsteren Gardisten vernahmen, der von dem wütenden Mob auseinander gerissen wurde.
Rasch kehrten sie zu ihren Pferden zurück und bedankten sich großzügig bei den Stadtbewohnern, die ihnen beim Durchführen ihres Befreiungsplans geholfen hatten, indem sie Córiel einfache Kleider gegeben und ihr von dem Geschenk des Abschieds erzählt hatten, das sie als Vorwand verwendet hatte um zu Jarbeorn zu gelangen. Dann stiegen die drei Gefährten in die Sättel und verließen Dervogord in nordöstlicher Richtung, entlang des breiten Flusses, der sie tief in wildes, unerforschtes Land führte.
Córiel, Jarbeorn und Vaicenya in die wilden Lande im Osten