Aglarân aus der Mehu-WüsteDie Reise dauerte fast eine Woche, während er die großen Straßen mied. Er konnte nicht wissen, ob schon Mordors Schergen nach ihm suchten, oder man ihn überhaupt als Verräter abgestempelt hatte. Nach dem Kampf mit Bâlakan war er sich aber ziemlich sicher, dass es so war. Seine Vorräte waren fast aufgebraucht, als die Stadt am Horizont sichtbar wurde.
Er hatte Glück, die Wachen am Eingang der Stadt wussten, dass sich im Gefolge König Músabs ein Schwarzen Númenorer befand, so wurde ihm der Zutritt gewährt - wenn auch höchst widerwillig. Aglarân hatte schon aus der Entfernung gesehen, dass die Stadt in dem Krieg üblen Schaden genommen hatte. Er war nur ganz kurz in Músabs Begleitung hier gewesen und hatte die Schiffe bewacht, an den Kämpfen in der Schlacht war er unbeteiligt gewesen. Langsam schlenderte er durch die Stadt, die nur langsam wieder aufgebaut wurde. Scheinbar fehlte viel Material, vor allem Holz. Einige Gebäude waren notdürftig abgestützt, andere wurden komplett niedergerissen. Der Großbrand hatte selbst intakte Gebäude durch den Rauch und die Asche unbewohnbar gemacht. Ihm entgingen nicht die misstraurischen Blicke, die ihm zugeworfen wurden, aber sie waren nicht feindlich. Es zeigte scheinbar Wirkung, dass er seinen Helm gegen einen Turban getauscht und einen Mantel trug. Da ihm so oder so kaum jemand länger als drei Herzschläge ins Gesicht blicken konnte, machte es ihm nicht ganz so viel aus, wie er zuvor befürchtet hatte. Zielstrebig schlug er den Weg zum Hafen ein. Auf der großen Hauptstraße, die von Leben gefüllt war, wimmelte es so vor Menschen aus allen Herren Ländern. Nicht umsonst war Napata der wichtigste Handelsstadt Kermas. Jemand stieß hart gegen seine Rüstung. Aglarân blickte hinab und bemerkte ein junges Mädchen, das vielleicht zehn Jahre alt sein mochte. Durch den Zusammenprall, war sie auf dem Hintern gelandet. An ihrer Stirn prangte eine frische Prellung.
"Wo ist dieses Gör schon wieder?", bellte ein herrische Stimme von der Seite.
Das Mädchen zuckte sofort zusammen und kroch im Staub der Straße rückwärts, weg von dem Haus, aus dem die Stimme gekommen war. Aglarân betrachtete sie dabei fasziniert, wie ein Insekt, das man gerade zum ersten mal sah. Noch nie hatte er in Kerma ein Kind gesehen, die in so schlechter Verfassung war wie sie. Ihre Kleidung - was wohl mal ein weinrotes Kledichen war - hing in Fetzen an ihrem mageren Körper und verhüllte weniger als ihr lieb zu sein schien, doch die Furcht in ihren braunen Augen war so groß, dass sie fast panisch versuchte zu entkommen. Aglarân blickte sich um, doch die umstehenden Menschen blickten angestrengt zur Seite, oder beeilten sich ihren Geschäften nachzugehen. Er wunderte sich, dass die Stadtgarde nichts unternahm. Sein Eindruck von Músab war, dass er solche Zustände niemals zulassen würde. Scheinbar war das nur in der Gegenwart des Königs möglich. Wenn er fort war, fielen die Menschen wieder in ihre üblichen Gebräuche zurück. Er vermutete, dass auch die Kriegszeit und damit die Belastung auf der Bevölkerung Schuld an der Lage war.
"Da bist du ja!", kläffte der Vater des Mädchens und hob sie ruckartig am Arm hoch, "Ich habe dir doch verboten das Haus zu verlassen. Die Strafe dafür kennst du ja."
Aglarân musterte den Mann, der scheinbar irgendeine Autorität besaß, denn die Menschen, die stehengeblieben waren, beeilten sich weiterzugehen. Es war ein athletischer Kerl, dessen durchtrainierter Körper teilweise in kermischer Rüstung steckte, bis auf den nackten Oberkörper. Das dunkelbraun gebrannte Gesicht war jedoch eingefallen, die Wangen rot und die Nase krumm, wahrscheinlich mehrfach gebrochen. Ein schmutziger Kinnbart, der von einer breiten Narbe diagonal durchtrennt wurde, rundete die jämmerliche Erscheinung ab. Der erboste Vater bemerkte seinen Blick und baute sich vor ihm auf.
"Was gibt es da zu glotzen? Wie ich meine Tochter behandel, ist meine Sache!", schnauzte er ihn an. Aglarân musste nicht einatmen um zu wissen, dass vor ihm ein Trunkenbold stand. Er nickte dem Säufer knapp zu und wandte sich zum Gehen. Sich in Angelegenheiten einmischen war nicht seine Art.
"Tzsk, dahergelaufener Straßenköter", ertönte es leise hinter ihm, "Tut so als ob ihn alles etwas angeht. Gehen wir jetzt, das Abendessen fällt für dich natürlich aus, dafür gibts den Gürtel."
Sein Stiefel stoppt augenblicklich. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, sich ein wenig einzumischen. Seine Handschuhe knirschten leise, als er seine Hände zu Fäusten ballte.
"Was war das?", fragte Aglarân über seine Schulter.
"Ha? Höre ich da jemanden kläffen? Geh weiter und steck dein Narbengesicht nicht in Dinge, die dich nichts angehen. Ich bin Kommandant in der Stadtgarde, was ich sage gilt. Jetzt scher dich davon!"
Aglarân unterdrückte den Impuls nach seinem Schwert zu greifen und diese Made niederzumetzeln.
"Ich fürchte, dass ich das nicht mehr tun kann", antwortete er stattdessen und drehte sich wieder zu dem betrunkenen Kommandanten, "Zumindest nicht, bis das hier geklärt ist."
"Ach, du fürchtest dich? Trägst die dicke Rüstung wohl nur zur Schau eh?" Der Kommandant lachte leise und winkte zur Seite. Ein Diener eilte herbei und brachte einen Säbel. "Ich habe die Schlacht um Assuit und später die um Napata überlebt und dutzende Männer getötet. Ein weiterer Toter schadet nicht. Ich verhafte Euch wegen Stiftung öffentlichen Aufruhrs, leistet Ihr Widerstand, werde ich die Drohung wahr machen."
Einige Leute waren stehen geblieben und tuschelten leise durcheinander, was rasch zu einer Menschentraube anschwoll.
"Männer die Drohungen aussprechen müssen, sind keine Krieger. Ihr hattet nur Glück die Schlachten zu überleben", entgegnete Aglarân kühl und breitete die Arme aus, "Kommt nur, ihr dürft den ersten Schlag ausführen."
Er wusste, das der Kommandant durchaus kampfbereit war und achtete darauf, dass sich nicht die übrige Stadtgarde einmischte. Zumindest war die Menschenmenge zu groß, ein wenig Zeit hatte er. Aglarâns Blick ging zu dem Mädchen, dass von dem Diener des Kommandaten festgehalten wurde. Ihre runden Augen wandterte zwischen ihm und ihrem Vater hin und her. Noch immer las er darin Furcht. Er fixierte den wütenden Vater, dessen Augen einen hasserfüllten Ausdruck annahmen. Mit einem Brüllen stürtze er nach vorn und schwang seinen Säbel von der Seite, um Aglarâns Kopf abzuschlagen. Doch er hatte den Schlag kommen sehen - der zudem auch noch zu weit ausgeholt war. Er machte einen Schritt nach vorn und blockte den Arm des Kermers. Ein Faustschlag gegen das Kinn ließ den Mann zurücktaumeln. Der Kommandant grunzte und spuckte Blut.
"Nicht schlecht für einen Straßenköter, wenn wir fertig sind muss ich woanders meine Wut auslassen-..."
Aglarân ließ ihn nicht weitersprechen und zog seine eigene Klinge, die unter dem Mantel bisher verborgen war. Dabei blitzte die schwarze Rüstung deutlich sichtbar hervor. Die ebenfalls schwarze Klinge ließ die Gaffer aufgeregt tuscheln. Er ignorierte es und setzte einen Stich auf den Bauch an, änderte die Stoßrichtung und verwundete den Kommandanten am rechten Arm, den er zur Parade gehoben hatte. Es war nur ein flacher Schnitt, doch der wütende Ausdruck seines Gegners wich ernsthaften Kampfgeist.
"Mich interessieren Beleidungen nicht", sagte Aglarân kühl, "Doch kann ich ein solches Verhalten von einem Vater nicht dulden. Ich hatte gehofft, dass Ihr mit einer Schmähung mir einen Grund für ein Eingreifen bietet. Und dafür bin ich euch dankbar." Er ging sogar so weit und beschrieb ein dankbare Geste mit der Klinge, "Wenn ich dafür etwas Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen kann, mische ich mich gern ein."
Das stimmte auch nicht so ganz. Er wollte diesem Säufer einfach eine Lektion erteilen und ihm vielleicht ein paar Knochen brechen. Möglicherweise zeigte das ihm, was wirkliche Verzweiflung bedeutet. Und dass das kein Grund war, ein unschuldiges Kind zu misshandeln. Aglarân musterte seinen Gegner, der mehr auf der Hut zu sein schien aufmerksam. Abschätzend und wachsam umkreisten sie einander. Er kam zu dem Schluss, dass der Kommandant es nicht wert war, dass er seinen Schild benutzte.
"Ihr habt keine Ahnung wie das ist", sagte sein Gegner schließlich mit kaum beherrschter Wut nach einer langen Stille, "Wenn Ihr nach Hause kommt und Eure Frau geschändet von Feinden vorfindet, die Gedärme aufgeschlitzt und den Hals geöffnet, erstickt am eigenen Blut."
Der letzte Satz war gefolgt von einer Abfolge an Schlägen, die willkührlich gewählt waren. Aglarân parierte sechs davon, ließ den siebten an seiner Klinge aufprallen und zum Heft herunterfahren. Mit aller Kraft rammte er dem Kommandanten das Knie ins Gemächt. Stöhnend ging er auf ein Knie, die Kraft hinter seinem Säbel schwand.
"Ich hatte nie eine Familie, aber in so einer Situation würde ich nicht das Quälen, dass mich für immer an meine Frau erinnert wird. Ihr habt es nicht verdient ein Vater zu sein."
Mit einem wütenden Aufschrei warf sich der Mann gegen Aglarân. Die Wucht dabei ließ sie beide zu Boden fallen. Doch die Elite von Aglarêth war auch im absoluten Nahkampf am Boden trainiert. Aglarân nahm einen Arm seines Gegner und drehte ihn ihm auf dem Rücken, mit der andere Hand verpasste er ihm zwei Schläge ins Gesicht. Der Kommandant sträubte sich und versuchte sich aus dem Klammergriff zu ziehen, indem er mit den Beinen wegrobbte. Aglarân reagierte rasch und winkelte seine eigenen Beine an und presste mit seinen Fersen die Kniekehlen seines Feindes zu Boden.
"Gebt Ihr auf, oder soll ich diesen Arm komplett auskugeln?" Ein trockenes "Klack" erübrigte die Frage, die von einem gellenden Schrei begleitet wurde, "Ups. Jetzt bleibt die Frage ob ich ihn brechen soll, oder nicht. Wenn Ihr weiter rumzappelt, erledigt sich auch diese Frage und Ihr könnte für eine lange Zeit keine Waffe schwingen. Ohne Alkohol, hätte das hier ein durchaus spannender Kampf sein können, aber in diesem erbärmlichen Zustand beschämt Ihr Euch nur selbst."
Der Kommandant ächzte und schnaufte, bis sein Widerstand plötzlich erschlaffte. Gleichzeitig ertönten laute Rufe aus der Menge und ein großer Trupp Stadtwachen strömte in den Kreis, der sich um die Kämpfenden gebildet hatte. Speere richteten sich auf sie.
"Auseinander! Sofort!", bellte ein Mann mit einem edlen Mantel und hochwertiger kermischer Rüstung. Offenbar war er ebenfalls ein Kommandant der Stadtgarde.
Aglarân kam der Aufforderung langsam nach und richtete sich auf. Sein Gegner tat es ihm gleich. Auf sie beide war die gleiche Anzahl an Speeren gerichtet, was ihn verwunderte.
"Karim", sprach der Anführer mit Enttäuschung in der Stimme und wandte sich an Aglarâns Gegner, "Ich hatte gehofft, dass die Gerüchte über deine Verfassung..." Der Blick ging kurz zu dem verschreckten Mädchen, "Nur Gerüchte sind. Nun prügelst du dich auch noch in aller Öffentlichkeit mit einem Reisenden, der aus dem Gefolge des Qore stammt. Trotzdem wir alte Freunde sind und ich nur temporär deinen Posten halte, kann ich das nicht übersehen. Heute Abend musst du dich vor dem Oberkommandanten der Stadtgarde verantworten."
"Ich bin in deinen Händen, Rasin", murmelte Karim nur leise und senkte reuevoll das Haupt.
Schließlich wandte der sich der Kommandant der Stadtwachen - Rasin - an Aglarân.
"Ich habe Euch nach der Schlacht um diese Stadt von dem Schiff des Qore gehen sehen. Gibt es eine Erklärung, warum ihr nun alleine unterwegs seid? Und wie kam es zu diesem Schlagabtausch hier?"
"Ihr habt von dem Ausgang von der Schlacht bei El Kurra gehört? So wie es jetzt ist, kann ich nicht hier bleiben."
Rasin nickte und ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er schien genau zu wissen, worauf Aglarân hinaus wollte.
"Ich verstehe"", sagte der Kommandant leiser und nickte zu Karim, "Wer hat den ersten Schlag geführt?"
Aglarân gab die Auseinandersetzung so wieder, wie alles abgelaufen war. Rasin, dessen Gesicht von einem prächtigen, schwarzen Vollbart beherrscht wurde, blickte immer wieder zwischen ihnen hin und her. Als Aglarân endete, gab er seinen Männern einen Wink, die die Speere zurückzogen und damit begannen die Schaulustigen zu vetreiben.
Rasin überlegte eine Weile, räusperte sich aber dann und verkündete: "Ich werde diesen Vorfall als simplen Streit verzeichnen. Napata ist immerhin ein Ort, an dem viele Menschen zusammenkommen und da geschieht es hin und wieder, dass man sich in die Quere kommt. Da niemand ernsthaft verletzt ist, dürfte das in Ordnung sein."
"Aber Rasin", schaltete sich Karim ein, "Mein Arm."
Der Kommandant blickte Aglarân erwartungsvoll an und er verstand. Mit einer raschen Bewegung stand er hinter dem knieenden Karim und renkte mit einer geübten Griff die Schulter wieder ein. Der Mann keuchte laut auf und fluchte, nickte aber dann langsam.
"Ich gestehe, dass ich viele Fehler gemacht habe", sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, "Mein Qore, mit dem ich in dieser Stadt gekämpft habe, würde sich für solch einen Untertanen schämen. Ich werde mit Oberkommandanten Zafer sprechen und aus der Stadtgarde austreten. Meine Tochter wird zu ihrer Tante ziehen. Dann werde ich auf eine Reise gehen um mich neu zu finden."
"Und ich bin mir sicher, dass wirst du, mein Freund. Finde dich selbst neu, vielleicht kann dir deine Tochter dann verzeihen, was du ihr angetan hast", pflichtete Rasin ihm bei und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Aglarân räusperte sich: "Wenn das alles ist, würde ich gerne weiterreisen."
Rasin wollte etwas sagen, doch Karim erhob sich und reichte dem Númenorer die Hand.
"Bitte entschuldigt mein ehrloses Verhalten. Ich war in so ein tiefes Loch aus Trauer, Wut und Verzweiflung gefallen, dass ich fast das zerstört habe, was mir als einziges geblieben ist. Es ist wie Ihr sagtet. Ich danke Euch, dass ihr mich dort herausgeprügelt habt."
Aglarân nickte amüsiert. Noch nie hatte sich jemand bei ihm für eine Tracht Prügel bedankt - die Kermer sind ein seltsames Völkchen. Er schlug ein und blickte dabei zu dem Mädchen, dass ihn unsicher anblickte.
"Dankt mir, indem Ihr der Vater werdet, den sie verdient."
Mit den Worten wandte er sich ab und ging zum Hafen.