Cyneric und Tyra von den Straßen von GorthariaDas Anwesen von Haus Castav lag im nordöstlichen Viertel der Königsstadt, in der der Großteil des gortharischen Adels residierte. Es war rundum mit einer starken eigenen Mauer umgeben und war von einer starken Wachmannschaft geschüzt. Es dauerte eine ganze Weile, bis man Tyra und Cyneric endlich einliess. Sie wurden beide gründlich durchsucht und mussten sämtliche Waffen abgeben. Dann führten die Wächter des Anwesens sie durch das mit Eisen beschlagene Tor in den Innenhof des Anwesens. Fackeln erleuchteten das Zentrum des gepflasterten Platzes und Cyneric spürte die Augen der Wachposten auf sich, als sie sich dem Treffpunkt mit dem Kontaktmann der Castavs näherten. Vorsichtig nahm er seine Umgebung unter die Lupe. Direkt vor ihnen erhob sich das Herrenhaus im Zentrum des Anwesens. Eine einladende, eingemauerte Terasse lag direkt neben dem Haupteingang des Hauses. Zu beiden Seiten gab es verschiedene kleinere Gebäude, unter anderem einen Stall und etwas, das nach einer Schmiede aussah. In der Nähe der Terasse sah Cyneric im flackernden Licht der Fackeln etwas Sand, mit dem der Boden bestreut worden war, sowie mehrere hölzerne und mit Stroh gefüllte Übungspuppen. Er fragte sich, ob diese wohl von den Wachmännern genutzt wurden.
Im Zentrum des Innenhofes angekommen ließen die Wachen Tyra und Cyneric stehen und kehrten zum Tor zurück. Gleichzeitig näherte sich vom Haupthaus her ein Mann in fester Rüstung aus Leder und dunkelrotem Umhang. Er nickte Cyneric mehr oder weniger freundlich zu und deutete dann nach links, auf eines der Nebengebäude, wo eine Tür offen stand. "Bitte folgt mir," sagte er und ging voraus.
Eine einzelne Laterne erhellte das Innere des Nebengebäudes, in dem sich ein Tisch mit mehreren Stühlen befand. Ihr Gastgeber bedeutete Cyneric und Tyra, Platz zu nehmen und setzte sich ihnen dann gegenüber hin.
"Willkommen im Anwesen der geschätzten Familie Castav," begann er. "Mein Name ist Lerkko, meines Zeichens Hauptmann der Wache."
"Ich bin Tyra, dies ist Cyneric. Ich spreche für die Schwarze Rose," erklärte Tyra.
Lerkko nickte. "Wir hatten angenommen, dass du alleine kommen würdest," wandte er sich an Tyra.
"Man kann nie vorsichtig genug sein, schon gar nicht in
dieser Stadt," erwiderte diese.
"Ich verstehe. Ich hoffe, meine Leute haben euch nicht allzu grob behandelt."
Tyra winkte ab. "Lassen wir die Höflichkeiten und kommen zum Punkt. Dein Meister ist an uns herangetreten um Informationen auszutauschen. Ich bin hier um herauszufinden, was er anzubieten hat."
Lerkkos Miene wurde eine Spur härter. "Meister Castav hat seine Augen und Ohren überall, doch ich weiß, dass auch die Schwarze Rose viel von dem erfährt, was in den Straßen und auf den Feldern Rhûns gesprochen und gewispert wird. Doch fehlt euch eines: Ein Ohr an der Tür des Adels. Dies ist Meister Castavs Spezialgebiet."
"Nun, das lässt sich nicht bestreiten," meinte Tyra und verschränkte die Arme vor der Brust. "Aber dann frage ich mich doch, was die Schwarze Rose für
Meister Castav tun kann, wenn er seine Augen und Ohren wirklich
überall hat."
Der spöttische Tonfall schien Lerkko nicht entgangen zu sein. "Meister Castav hat seine Gründe," sagte er. "Für den Augenblick genügt es ihm, wenn der Anführer der Schwarzen Rose ihm einen Gefallen schuldet, im Austausch gegen aktuelle Informationen aus der Oberschicht."
"Hmm," machte Tyra. "Ich bin mir nicht sicher, ob unser Anführer darauf eingehen wird. Er ist derzeit... womöglich zu beschäftigt, um jemandem einen Gefallen zu tun."
So ging das Gespräch noch eine ganze Weile hin und her. Cyneric beschränkte sich darauf, aufmerksam zuzuhören, konnte jedoch nicht gänzlich verhindern, dass ein Teil seiner Gedanken abdriftete und sich mehr mit anderen Dingen beschäftigte. Er fragte sich, ob er Lerkko wohl nach Milva oder Salia fragen sollte. Als Hauptmann der Wache war Castavs Kontaktmann sicherlich mit vielen Menschen in Gortharia vernetzt und konnte vielleicht bei der Spurensuche helfen.
"Die Frage ist, wie ihr im Notfall eure Leute mobilisieren könnt," sagte Lerkko gerade.
"Das hängt von der Art des Auftrags ab," entgegnete Tyra. "Aber genug davon. Ich habe noch ein weiteres Anliegen, das von großer Wichtigkeit ist. Es geht um..."
"...das Verschwinden der totgeglaubten Stieftochter König Gorans, die ein hochrangiges Mitglied der Schwarzen Rose war?" sagte eine neue Stimme. Die Worte waren in eine ruhigen und deutlichem Ton gesprochen worden und in der Stimme schwang eine gewisse Autorität mit.
Tyra fuhr herum und hielt wie aus dem Nichts einen kleinen Dolch in der Hand. Auch Cyneric blickte in Richtung der Stimme, die aus einer der Ecken des Raumes gekommen war. Dort schälte sich gerade eine gedrungene Gestalt aus den Schatten.
"Lerkko... hatte ich nicht darum gebeten, unsere Gäste gründlich zu durchsuchen?" Diesmal war der Tonfall tadelnd, wie der eines Vaters, der seinen fehlgeleiteten Sohn zurechtweist.
"Meine Männern haben mir versichert, sie hätten..."
"Du hättest dich selbst vergewissern sollen." Der Sprecher trat nun ins Licht: Ein Mann im fortgeschrittenen Alter, gekleidet in vornehme, dunkle Gewänder. Er hatte kurzes, schwarzes Haupthaar und einen Vollbart, beides war dicht mit grauen Strähnen durchsetzt. Das Gesicht war faltig, doch aus den grünbraunen Augen blitzte ein ungetrübter Intellekt hervor. Kostbare Ringe zierten seine Finger und die Füße steckten in halbhohen, pelzbesetzten Lederstiefeln.
Lerkko neigte vor dem Neuankömmling das Haupt. "Vergebt mir, Meister Castav," sagte er demütig.
Branimir Castav, der Herr des Anwesens, ließ ein leises Seufzen hören, als er sich an den Platz setzte, den Lerkko gerade geräumt hatte. "Es ist gut. Doch wiederhole deinen Fehler nicht."
"Sieh mal einer an. Meister Castav höchstpersönlich," sagte Tyra mit einem schiefen Lächeln. "Was sollte dieses Versteckspiel?"
"Ich habe meine Gründe", erwiderte Castav gelassen. "Liege ich mit meiner Vermutung richtig? Gorans Stieftochter ist verschwunden?"
Tyras Lächeln verschwand. "Es stimmt," gab sie zu. "Wir hatten gehofft..."
"...dass ich Informationen darüber besitze," ergänzte Branimir Castav. "In der Tat ist dem so. Richte deinem Herrn aus, dass ich ihm schon bald eine Spur liefern werde, wenn er mir meinen Gefallen erfüllt."
"Und der wäre?" wollte Tyra wissen.
"Er wird wissen, wovon ich spreche," entgegnete Castav nur.
"Und was ist mit den Gildenattentätern?" fragte Tyra weiter. "Gibt es gar nichts, was Ihr über sie zu erfahren wünscht?"
"Dieses Narrengezänk geht mich nichts an," erwiderte Castav kalt. "Sie haben für mich längst keine Bedeutung mehr. Und nun... zu dem Eorling dort. Ihn habe ich hier
nicht erwartet. Wieso ist er hier?"
Cyneric war von der plötzlichen Frage etwas überrumpelt und benötigte einen kurzen Augenblick, um sich zu sammeln. Währenddessen musterte der Herr von Haus Castav ihn eindringlich, ohne etwas zu sagen. "Verzeiht mein unerwartetes Eindringen, Meister Castav," begann Cyneric. Als Castav nur leicht nickte, fuhr er fort: "Mein Name ist Cyneric, Cynegars Sohn. Ich gehöre nicht zur Schwarzen Rose."
"Sondern Ihr arbeitet mit den Schattenläufern zusammen," bemerkte Castav.
"Das ist richtig," gab Cyneric zu. "Allerdings tue ich das nicht freiwillig. Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir dabei behilflich sein, jemanden zu finden."
"Von wem sprecht Ihr, Cyneric?"
"Von einer Frau namens Milva. Sie stand vor einiger Zeit im Dienste der Familie Bozhidar."
Castav zog die Augenbrauen um ein wenig in die Höhe. "Ah, ja. Eine Tragödie, was mit der Familie geschehen ist. Aber das tut hier nichts zur Sache. Stattdessen habe ich eine Frage an Euch, Cyneric. Wieso sollte ich Euch helfen, wenn ich Euch auch einfach an die Palastgarde ausliefern könnte, was mir eine großzügige Belohung und das Vertrauen des Königs einbringen würde?"
Cyneric erschrak. So berechnend hatte er sich Meister Castav nicht vorgestellt. "Ich... wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr davon absehen könntet," brachte er mit Mühe hervor. "Ich will nichts weiter als Milva zu finden und sie aus dieser Stadt herauszuschaffen. Selbstverständlich würde ich Euch Eure Unterstützung nach bester Möglichkeit vergelten."
Branimir Castav lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Nun, Cyneric, ich verstehe Euer Anliegen. Und ich denke... ich werde Euch meine Hilfe anbieten. Im Gegenzug werdet Ihr mir sämtliches Wissen das Ihr über die Schattenläufer besitzt zur Verfügung stellen."
"Und was hindert Euch dann daran, ihn hinterher trotzdem an die Garde auszuliefern?" mischte sich Tyra ein.
"Mein Wort muss Euch genügen," antwortete Castav. "Sind wir uns also einig?"
"...Sind wir," sagte Cyneric nach einem kurzen Augenblick des Zögerns.
"Exzellent," befand Castav. "Dann steht Ihr mit sofortiger Wirkung unter meinem Schutz, Cyneric. Im Nebenraum werdet Ihr eine bescheidene Unterkunft finden. Ich erwarte Euch morgen zur Mittagszeit in meinem Arbeitszimmer, wo Ihr Eure Bezahlung ableisten werdet." Er wandte sich an Tyra. "Überbringt meine Nachricht an den Anführer der Schwarzen Rose. Ich werde auf seine Antwort warten. Aber nicht ewig..."
Tyra warf Castav einen missbilligenden Blick zu. Dann nickte sie Cyneric aufmunternd zu und verschwand durch die Türe nach draußen.
Auch Castav verabschiedete sich rasch. Cyneric blieb alleine zurück und fragte sich, ob er wohl die richtige Entscheidunge getroffen hatte, sich dem Herrn von Haus Castav anzuvertrauen...