Narissa, Aerien und Karnuzîr aus HarondorDer Passweg wand sich zwischen den schwarzen Felsen der Ephel Dúath stetig nach oben, und war selbst im schwachen Licht des Mondes leicht zu erkennen. Das war ein Glück, denn obwohl Narissa hier keine Feinde erwartete, wagten sie es nicht, Fackeln zu entzünden. Schließlich jedoch ging der Mond unter, und die Nacht wurde zu dunkel, um weiterzugehen. Narissa und Aerien beschlossen, im Schutz eines verkrüppelten kleinen Baumes, der ein wenig abseits des Weges am Rand eines Geröllfeldes wuchs, zu lagern und ein wenig Schlaf zu finden. Sie verständigten sich mit stummen Blicken darauf, dass sie sich mit dem Schlafen abwechseln würden, denn Karnuzîrs Hände waren nicht mehr gefesselt.
Narissa übernahm die erste Wache, und obwohl Aerien Karnuzîr, der sofort eingeschlafen war - zumindest scheinbar - immer wieder misstrauische Blicke zuwarf, schlossen sich auch ihre Augen bald. Narissa lehnte sich mit dem Rücken an den rauen Stamm des verkrüppelten Baumes, und lauschte in die Nacht hinein. Sie hätte gerne mehr mit Aerien geredet, über das was sie am Anfang des Pfades gesehen hatten, und über das, was vor ihnen lag, doch Karnuzîrs Anwesenheit machte sie befangen, und so hatten sie auf dem ganzen Weg von der Höhle an nur sehr wenig miteinander gesprochen. Ihr Schweigen fügte sich perfekt in die Stille, die über dem Schattengebirge lag. Kein Nachtvogel rief, keine Insekten waren zu hören - das einzige Geräusch war der Wind, der über die Felsen wehte. All das, die Stille, die schwarzen Felsen, machte Narissa unruhig. Sie hatte das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem sie nicht sein sollte, an dem kein lebendiges Wesen sein sollte.
Als Aerien sie abgelöst hatte schlief Narissa ebenso rasch ein wie ihre Freundin zuvor. Sie hatte geglaubt, an diesem Ort keinen Augenblick schlafen zu können, doch ihr Körper übernahm das Kommando. Die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut, und sie glitt in unruhige Träume, aus denen sie erst erwachte, als Aerien sie sanft an der Schulter rüttelte.
"Die Sonne geht auf", sagte sie. "Es wird Zeit, weiterzugehen." Narissa setzte sich auf und rieb sich die Augen. Über die Berggipfel im Osten kroch langsam das erste Licht des Tages, und die Ebenen von Harondor, die im Süden unter ihnen lagen, lagen bereits im Sonnenlicht. Sehnsüchtig blickte Narissa nach Süden. Dort lag ihre Heimat, ein Land, dass nicht ohne Gefahren war, aber wo die Sonne schien und sie sich auskannte. Mit Bedauern wandte sie sich von dem Bild ab und den schwarzen Felsen im Norden, die sie von Mordor trennten, zu.
Die Höhe des Passes war ein vielleicht fünfzig Schritt breiter, halbrunder Buckel, der im Westen und Osten von weiter in die Höhe ragenden, schwarz-grauen Felszacken begrenzt wurde und nach Norden in einem langen Geröllfeld abfiel. Die Sonne stand bereits relativ hoch am Himmel, es war kurz vor Mittag, und brannte heiß von Süden. Narissa konnte jedoch das Gesicht nicht von dem Anblick abwenden, der sich vor ihr im Norden ausbreitete. Der Fuß des Gebirges ging zunächst in graue, mit ebenso grauen Bäumen bewachsene, Hügel über, und jenseits dieser Hügel begann eine schier endlose Ebene. Auch die Ebene wirkte gräulich-schwarz, und das Sonnenlicht, das über die Berge hinweg auf sie fiel, war schwächer als jenes, dass auf den Südhang des Gebirges schien. In der Ferne, im Nordosten, glaubte Narissa ein schwaches Glitzern, wie von Wasser zu entdecken. Dort lag das Nûrnenmeer, erinnerte sie sich, als sie sich die Karten in Erinnerung rief, die sie vor ihrem Aufbruch angesehen hatte. Ihr Blick jedoch wurde beinahe zwanghaft vom Norden angezogen, wo der Himmel dunkler wirkte, und wo irgendwo Barad-Dûr in die Höhe ragte - der dunkle Turm, und das Ziel ihrer Reise.
"Man kann den Turm von hier aus nicht sehen", sagte Aerien leise, und in ihrer Stimme schwang etwas seltsames mit. "Wir müssen das Land einmal von Süden nach Norden durchqueren."
"Ich kann mir Schöneres vorstellen", erwiderte Narissa mit gezwungener Leichtigkeit. "Aber wir sind nun einmal hier, also warum nicht das berühmte Mordor besichtigen?"
Der Blick, den Aerien ihr zuwarf, sagte ganz eindeutig aus, dass ihr Freundin nicht zu Scherzen aufgelegt war. Narissa zuckte mit den Schultern, unterdrückte dabei das Zittern ihrer Hände, und ließ ihren Blick jetzt über die Westseite des Passes schweifen. Dabei blieben ihre Augen an etwas hängen - einer unebenen, hellen Stelle im schwarzen Stein. Sie eilte hinüber, wäre dabei beinah über Karnuzîr gestolpert, der auf einem einzelnen Felsen saß und mit undurchschaubarer Miene nach Mordor blickte, und stellte dann fest, dass ihre Augen sie nicht getäuscht hatten. In den schwarzen Stein war auch hier eine weißer Baum mit sieben Sternen eingraviert, allerdings weitaus weniger kunstfertig als am unteren Eingang des Passes. Hinter dem Felsen führte ein schmaler Pfad, gerade breit genug für eine Person, zwischen den Steinen hindurch.
"Aerien, sieh mal", sagte Narissa, ohne sich umzudrehen. "Hier führt ein Weg lang." Sie hörte Aeriens Schritte hinter sich. "Man muss nicht jeden Weg beschreiten, den man findet, 'Rissa", meinte diese. "Erinnerst du dich nicht, was das letzte Mal geschehen ist?"
Narissa wusste sofort, was Aerien meinte. Sie wandte sich um, und musste feststellen, dass Aerien sehr nah herangekommen war - sie standen sich praktisch Nase an Nase gegenüber. "Ich gebe zu, wir haben etwas Zeit verloren", meinte sie. "Aber..." Sie klopfte mit der Handfläche auf die Griffe der Dolche, die sie an den Seiten trug. Nachtigall und Schwalbe. "Ich hätte die hier nicht bekommen. Und es ist ja nicht so, dass wir uns nicht ein paar Minuten Verzögerung leisten können, oder?"
Aerien seufzte. "Du bist unmöglich. Ich meine nur, dass man auf solchen Wegen leicht etwas Unerwartetes treffen kann." Narissa grinste, und küsste Aerien auf die Nasenspitze, die praktischer weise gerade so nah war. "Unerwartet muss nicht gleich schlecht sein." Sie wandte sich um, und quetschte sich zwischen den Steinen hindurch, den staubigen Pfad entlang. Die Geräusche hinter ihr verrieten ihr, dass Aerien ihr nach kurzem Zögern gefolgt war.
Der Pfad endete kaum hundert Meter weiter vor einem halbrunden, mannshohen Höhleneingang. Drinnen war es keineswegs so finster, wie Narissa erwartet hatte - es musste einen zweiten Ausgang nach Süden geben. Ohne langes Zögern betrat sie die Höhle, allerdings vorsichtig und auf Fallen achtend. Nach wenigen Schritten verbreiterte sie sich zu einer höheren Kammer, in die von Süden durch ein großes, in den Stein gehauenes Fenster, Licht fiel. In der Mitte der Kammer erhob sich ein grob behauener Steinblock, auf dessen Vorderseite Runen eingraviert waren.
Arandir, Elendars Sohn
Entdecker, Lehrer und Freund
gestorben im 59. Jahr des Dritten Zeitalters
Narissa fiel vor dem Stein auf die Knie, und betastete die Runen mit dem Finger. "Er ist also hierher zurückgekehrt, und nicht auf seiner Fahrt nach Westen gestorben."
"Und er kann nicht allein gewesen sein", ergänzte Aerien hinter ihr. "Irgendjemand hat dieses Grabmal für ihn errichtet, und..."
Ihre Stimme brach abrupt ab, und als Narissa sich zu ihr umdrehte, war sie verschwommen. Die Wände der Höhle schienen zu flackern, und das Licht, dass durch das Fenster von Süden herein fiel, wirkte unwirklich. Vor ihr, am Höhleneingang, stand die hochgewachsene Gestalt eine Mannes mit einem Turban, in weißen Gewändern und einem gekrümmten Schwert an der Seite, wie es viele Stämme Harads verwenden. Seine Gestalt wirkte seltsam durchsichtig, als ob er nicht ganz auf dieser Welt wäre. "Du bist seine Erbin?", fragte der Mann, und deutete auf das Grab hinter Narissa. Narissa leckte sich nervös über die Lippen. "Ja, also... Arandir hatte keine Kinder, aber ich bin..." Der Geist - zumindest meinte Narissa, dass es ein Geist sein müsste, denn was sollte es sonst sein? - unterbrach sie. "Trägst du das Zeichen?"
"Das Zeichen...?" Ihr Verwirrung legte sich schnell, und sie zog das Medaillon, dass ihre Mutter ihr gegeben hatte, unter dem Hemd hervor und hielt es der Gestalt hin. "Dieses Zeichen?"
Der Geist verneigte sich. "Sei willkommen, Erbin Arandirs, und verzeih mein Misstrauen. Arandir wollte, dass dieser Weg geheim bleibt, bis jemand vertrauenswürdiges ihn benutzt - zu einem guten Zweck."
Verschiedene Fragen schwirrten in Narissas Kopf umher, und sie stellte die nächstliegende. "Wer bist du eigentlich?"
"Ich bin - ich war - ein Freund Arandirs. Als er von seiner Fahrt über das westliche Meer zurückkehrte, war er verstört und besorgt, und wollte nach Mordor und an diesen Ort zurückkehren. Ich ging mit ihm."
"Und du warst es, der ihn begraben hat", stellte Narissa fest. Der Geist neigte den Kopf. "Das habe ich getan. Gemeinsam trafen wir Vorkehrungen, dass dieser Weg über Jahrhunderte, oder Jahrtausende verborgen bleiben konnte, doch Arandir wurde schwächer. Irgendetwas zehrte an ihm, etwas, dass nicht heilte. Als er starb, begrub ich ihn hier, an dem Ort, der ihm in den letzten Wochen seines Lebens eine Heimat gewesen war."
Narissa fuhr sich durch die Haare, die nach dem Aufstieg und der Reise über die Ebenen Harondors staubig waren, und eher grau statt weiß aussehen mussten. "Aber wie kommt es dann, dass du... dass dein..."
"Dass ich noch hier bin? Mein Geist?", beendete er die Frage für sie, und auf dem Gesicht, dass bislang unbewegt geblieben war, war die Andeutung eines Lächelns zu sehen. "Ich leistete einen Eid. Den Eid, diesen Weg zu beschützen, bis jemand kommt, der das Zeichen des Baumes rechtmäßig trägt. Und diesen Eid halte ich, über den Tod hinaus. Meine Überreste sind längst zu Staub zerfallen und vom Wind verweht, doch ich halte meinen Eid."
Narissas Finger umklammerten das Medaillon. "Aber jetzt bin ich ja hier. Und dein Eid..." Die Gestalt sah sie erwartungsvoll an. "Dein Eid ist erfüllt."
"Und ich bin frei. Doch ich habe eine letzte Warnung an dich, Arandirs Erbin. Dein Weg führt in eine Dunkelheit, wie sie wenige Menschen gesehen und überlebt haben. Doch selbst an den dunkelsten Orten kann ein Licht scheinen, und die Verzweiflung kann nicht überleben in Hoffnung, Liebe und Mut. Leb wohl."
Mit einem Geräusch wie ein Seufzer löste sich der Geist auf. Narissa blinzelte, und mit einem Mal kniete sie wieder vor dem Grab, Aerien neben ihr. "He, hörst du mir überhaupt zu?", fragte diese gerade, und Narissa schüttelte, noch immer verwirrt, den Kopf. "Nein, da war ein... ein Geist." Als sie es aussprach wusste sie, wie lächerlich es sich anhören musste, doch Aerien lachte nicht, sondern hob nur eine Augenbraue. "Ein Geist? Wessen Geist?"
"Ich... ich weiß es nicht so wirklich", antwortete Narissa. "Er sagte, er wäre ein Freund Arandirs gewesen." Sie erzählte, was sie erfahren hatte, und Aerien nickte. "Das passt zusammen - Arandir kann sich schließlich schlecht selbst begraben haben."
Narissa massierte sich die Schläfen. "Aber ein Geist, Aerien. Der Geist eines sterblichen Menschen. So etwas gibt es doch nicht - oder?"
"Inzwischen glaube ich, dass es viel mehr Dinge auf dieser Welt gibt, als wir denken", erwiderte Aerien. "Der Eid, den er geschworen hat, hat ihn nicht losgelassen, und deswegen ist er geblieben, über den Tod hinaus."
"Aber... aber das heißt..." begann Narissa, und Aeriens Miene wurde sanft. "Nein, 'Rissa. Die Seele deiner Mutter ist weitergegangen. Du wirst sie nicht wiedersehen - außer in deinen Erinnerungen."
"Daran habe ich gar nicht gedacht", log Narissa, und rieb sich über das rechte Auge. "Also los." Aerien blickte sie für ihren Geschmack viel zu verständnisvoll an, also sprang sie auf die Füße und sagte. "Komm endlich. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns."