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Autor Thema: Nurn und Lithlad  (Gelesen 5953 mal)

Eandril

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Nurn und Lithlad
« am: 20. Mär 2019, 12:53 »
Narissa, Aerien und Karnuzîr aus Harondor

Der Passweg wand sich zwischen den schwarzen Felsen der Ephel Dúath stetig nach oben, und war selbst im schwachen Licht des Mondes leicht zu erkennen. Das war ein Glück, denn obwohl Narissa hier keine Feinde erwartete, wagten sie es nicht, Fackeln zu entzünden. Schließlich jedoch ging der Mond unter, und die Nacht wurde zu dunkel, um weiterzugehen. Narissa und Aerien beschlossen, im Schutz eines verkrüppelten kleinen Baumes, der ein wenig abseits des Weges am Rand eines Geröllfeldes wuchs, zu lagern und ein wenig Schlaf zu finden. Sie verständigten sich mit stummen Blicken darauf, dass sie sich mit dem Schlafen abwechseln würden, denn Karnuzîrs Hände waren nicht mehr gefesselt.
Narissa übernahm die erste Wache, und obwohl Aerien Karnuzîr, der sofort eingeschlafen war - zumindest scheinbar - immer wieder misstrauische Blicke zuwarf, schlossen sich auch ihre Augen bald. Narissa lehnte sich mit dem Rücken an den rauen Stamm des verkrüppelten Baumes, und lauschte in die Nacht hinein. Sie hätte gerne mehr mit Aerien geredet, über das was sie am Anfang des Pfades gesehen hatten, und über das, was vor ihnen lag, doch Karnuzîrs Anwesenheit machte sie befangen, und so hatten sie auf dem ganzen Weg von der Höhle an nur sehr wenig miteinander gesprochen. Ihr Schweigen fügte sich perfekt in die Stille, die über dem Schattengebirge lag. Kein Nachtvogel rief, keine Insekten waren zu hören - das einzige Geräusch war der Wind, der über die Felsen wehte. All das, die Stille, die schwarzen Felsen, machte Narissa unruhig. Sie hatte das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem sie nicht sein sollte, an dem kein lebendiges Wesen sein sollte.
Als Aerien sie abgelöst hatte schlief Narissa ebenso rasch ein wie ihre Freundin zuvor. Sie hatte geglaubt, an diesem Ort keinen Augenblick schlafen zu können, doch ihr Körper übernahm das Kommando. Die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut, und sie glitt in unruhige Träume, aus denen sie erst erwachte, als Aerien sie sanft an der Schulter rüttelte.
"Die Sonne geht auf", sagte sie. "Es wird Zeit, weiterzugehen." Narissa setzte sich auf und rieb sich die Augen. Über die Berggipfel im Osten kroch langsam das erste Licht des Tages, und die Ebenen von Harondor, die im Süden unter ihnen lagen, lagen bereits im Sonnenlicht. Sehnsüchtig blickte Narissa nach Süden. Dort lag ihre Heimat, ein Land, dass nicht ohne Gefahren war, aber wo die Sonne schien und sie sich auskannte. Mit Bedauern wandte sie sich von dem Bild ab und den schwarzen Felsen im Norden, die sie von Mordor trennten, zu.

Die Höhe des Passes war ein vielleicht fünfzig Schritt breiter, halbrunder Buckel, der im Westen und Osten von weiter in die Höhe ragenden, schwarz-grauen Felszacken begrenzt wurde und nach Norden in einem langen Geröllfeld abfiel. Die Sonne stand bereits relativ hoch am Himmel, es war kurz vor Mittag, und brannte heiß von Süden. Narissa konnte jedoch das Gesicht nicht von dem Anblick abwenden, der sich vor ihr im Norden ausbreitete. Der Fuß des Gebirges ging zunächst in graue, mit ebenso grauen Bäumen bewachsene, Hügel über, und jenseits dieser Hügel begann eine schier endlose Ebene. Auch die Ebene wirkte gräulich-schwarz, und das Sonnenlicht, das über die Berge hinweg auf sie fiel, war schwächer als jenes, dass auf den Südhang des Gebirges schien. In der Ferne, im Nordosten, glaubte Narissa ein schwaches Glitzern, wie von Wasser zu entdecken. Dort lag das Nûrnenmeer, erinnerte sie sich, als sie sich die Karten in Erinnerung rief, die sie vor ihrem Aufbruch angesehen hatte. Ihr Blick jedoch wurde beinahe zwanghaft vom Norden angezogen, wo der Himmel dunkler wirkte, und wo irgendwo Barad-Dûr in die Höhe ragte - der dunkle Turm, und das Ziel ihrer Reise.
"Man kann den Turm von hier aus nicht sehen", sagte Aerien leise, und in ihrer Stimme schwang etwas seltsames mit. "Wir müssen das Land einmal von Süden nach Norden durchqueren."
"Ich kann mir Schöneres vorstellen", erwiderte Narissa mit gezwungener Leichtigkeit. "Aber wir sind nun einmal hier, also warum nicht das berühmte Mordor besichtigen?"
Der Blick, den Aerien ihr zuwarf, sagte ganz eindeutig aus, dass ihr Freundin nicht zu Scherzen aufgelegt war. Narissa zuckte mit den Schultern, unterdrückte dabei das Zittern ihrer Hände, und ließ ihren Blick jetzt über die Westseite des Passes schweifen. Dabei blieben ihre Augen an etwas hängen - einer unebenen, hellen Stelle im schwarzen Stein. Sie eilte hinüber, wäre dabei beinah über Karnuzîr gestolpert, der auf einem einzelnen Felsen saß und mit undurchschaubarer Miene nach Mordor blickte, und stellte dann fest, dass ihre Augen sie nicht getäuscht hatten. In den schwarzen Stein war auch hier eine weißer Baum mit sieben Sternen eingraviert, allerdings weitaus weniger kunstfertig als am unteren Eingang des Passes. Hinter dem Felsen führte ein schmaler Pfad, gerade breit genug für eine Person, zwischen den Steinen hindurch.
"Aerien, sieh mal", sagte Narissa, ohne sich umzudrehen. "Hier führt ein Weg lang." Sie hörte Aeriens Schritte hinter sich. "Man muss nicht jeden Weg beschreiten, den man findet, 'Rissa", meinte diese. "Erinnerst du dich nicht, was das letzte Mal geschehen ist?"
Narissa wusste sofort, was Aerien meinte. Sie wandte sich um, und musste feststellen, dass Aerien sehr nah herangekommen war - sie standen sich praktisch Nase an Nase gegenüber. "Ich gebe zu, wir haben etwas Zeit verloren", meinte sie. "Aber..." Sie klopfte mit der Handfläche auf die Griffe der Dolche, die sie an den Seiten trug. Nachtigall und Schwalbe. "Ich hätte die hier nicht bekommen. Und es ist ja nicht so, dass wir uns nicht ein paar Minuten Verzögerung leisten können, oder?"
Aerien seufzte. "Du bist unmöglich. Ich meine nur, dass man auf solchen Wegen leicht etwas Unerwartetes treffen kann." Narissa grinste, und küsste Aerien auf die Nasenspitze, die praktischer weise gerade so nah war. "Unerwartet muss nicht gleich schlecht sein." Sie wandte sich um, und quetschte sich zwischen den Steinen hindurch, den staubigen Pfad entlang. Die Geräusche hinter ihr verrieten ihr, dass Aerien ihr nach kurzem Zögern gefolgt war.
Der Pfad endete kaum hundert Meter weiter vor einem halbrunden, mannshohen Höhleneingang. Drinnen war es keineswegs so finster, wie Narissa erwartet hatte - es musste einen zweiten Ausgang nach Süden geben. Ohne langes Zögern betrat sie die Höhle, allerdings vorsichtig und auf Fallen achtend. Nach wenigen Schritten verbreiterte sie sich zu einer höheren Kammer, in die von Süden durch ein großes, in den Stein gehauenes Fenster, Licht fiel. In der Mitte der Kammer erhob sich ein grob behauener Steinblock, auf dessen Vorderseite Runen eingraviert waren.

Arandir, Elendars Sohn
Entdecker, Lehrer und Freund
gestorben im 59. Jahr des Dritten Zeitalters

Narissa fiel vor dem Stein auf die Knie, und betastete die Runen mit dem Finger. "Er ist also hierher zurückgekehrt, und nicht auf seiner Fahrt nach Westen gestorben."
"Und er kann nicht allein gewesen sein", ergänzte Aerien hinter ihr. "Irgendjemand hat dieses Grabmal für ihn errichtet, und..."
Ihre Stimme brach abrupt ab, und als Narissa sich zu ihr umdrehte, war sie verschwommen. Die Wände der Höhle schienen zu flackern, und das Licht, dass durch das Fenster von Süden herein fiel, wirkte unwirklich. Vor ihr, am Höhleneingang, stand die hochgewachsene Gestalt eine Mannes mit einem Turban, in weißen Gewändern und einem gekrümmten Schwert an der Seite, wie es viele Stämme Harads verwenden. Seine Gestalt wirkte seltsam durchsichtig, als ob er nicht ganz auf dieser Welt wäre. "Du bist seine Erbin?", fragte der Mann, und deutete auf das Grab hinter Narissa. Narissa leckte sich nervös über die Lippen. "Ja, also... Arandir hatte keine Kinder, aber ich bin..." Der Geist - zumindest meinte Narissa, dass es ein Geist sein müsste, denn was sollte es sonst sein? - unterbrach sie. "Trägst du das Zeichen?"
"Das Zeichen...?" Ihr Verwirrung legte sich schnell, und sie zog das Medaillon, dass ihre Mutter ihr gegeben hatte, unter dem Hemd hervor und hielt es der Gestalt hin. "Dieses Zeichen?"
Der Geist verneigte sich. "Sei willkommen, Erbin Arandirs, und verzeih mein Misstrauen. Arandir wollte, dass dieser Weg geheim bleibt, bis jemand vertrauenswürdiges ihn benutzt - zu einem guten Zweck."
Verschiedene Fragen schwirrten in Narissas Kopf umher, und sie stellte die nächstliegende. "Wer bist du eigentlich?"
"Ich bin - ich war - ein Freund Arandirs. Als er von seiner Fahrt über das westliche Meer zurückkehrte, war er verstört und besorgt, und wollte nach Mordor und an diesen Ort zurückkehren. Ich ging mit ihm."
"Und du warst es, der ihn begraben hat", stellte Narissa fest. Der Geist neigte den Kopf. "Das habe ich getan. Gemeinsam trafen wir Vorkehrungen, dass dieser Weg über Jahrhunderte, oder Jahrtausende verborgen bleiben konnte, doch Arandir wurde schwächer. Irgendetwas zehrte an ihm, etwas, dass nicht heilte. Als er starb, begrub ich ihn hier, an dem Ort, der ihm in den letzten Wochen seines Lebens eine Heimat gewesen war."
Narissa fuhr sich durch die Haare, die nach dem Aufstieg und der Reise über die Ebenen Harondors staubig waren, und eher grau statt weiß aussehen mussten. "Aber wie kommt es dann, dass du... dass dein..."
"Dass ich noch hier bin? Mein Geist?", beendete er die Frage für sie, und auf dem Gesicht, dass bislang unbewegt geblieben war, war die Andeutung eines Lächelns zu sehen. "Ich leistete einen Eid. Den Eid, diesen Weg zu beschützen, bis jemand kommt, der das Zeichen des Baumes rechtmäßig trägt. Und diesen Eid halte ich, über den Tod hinaus. Meine Überreste sind längst zu Staub zerfallen und vom Wind verweht, doch ich halte meinen Eid."
Narissas Finger umklammerten das Medaillon. "Aber jetzt bin ich ja hier. Und dein Eid..." Die Gestalt sah sie erwartungsvoll an. "Dein Eid ist erfüllt."
"Und ich bin frei. Doch ich habe eine letzte Warnung an dich, Arandirs Erbin. Dein Weg führt in eine Dunkelheit, wie sie wenige Menschen gesehen und überlebt haben. Doch selbst an den dunkelsten Orten kann ein Licht scheinen, und die Verzweiflung kann nicht überleben in Hoffnung, Liebe und Mut. Leb wohl."
Mit einem Geräusch wie ein Seufzer löste sich der Geist auf. Narissa blinzelte, und mit einem Mal kniete sie wieder vor dem Grab, Aerien neben ihr. "He, hörst du mir überhaupt zu?", fragte diese gerade, und Narissa schüttelte, noch immer verwirrt, den Kopf. "Nein, da war ein... ein Geist." Als sie es aussprach wusste sie, wie lächerlich es sich anhören musste, doch Aerien lachte nicht, sondern hob nur eine Augenbraue. "Ein Geist? Wessen Geist?"
"Ich... ich weiß es nicht so wirklich", antwortete Narissa. "Er sagte, er wäre ein Freund Arandirs gewesen." Sie erzählte, was sie erfahren hatte, und Aerien nickte. "Das passt zusammen - Arandir kann sich schließlich schlecht selbst begraben haben."
Narissa massierte sich die Schläfen. "Aber ein Geist, Aerien. Der Geist eines sterblichen Menschen. So etwas gibt es doch nicht - oder?"
"Inzwischen glaube ich, dass es viel mehr Dinge auf dieser Welt gibt, als wir denken", erwiderte Aerien. "Der Eid, den er geschworen hat, hat ihn nicht losgelassen, und deswegen ist er geblieben, über den Tod hinaus."
"Aber... aber das heißt..." begann Narissa, und Aeriens Miene wurde sanft. "Nein, 'Rissa. Die Seele deiner Mutter ist weitergegangen. Du wirst sie nicht wiedersehen - außer in deinen Erinnerungen."
"Daran habe ich gar nicht gedacht", log Narissa, und rieb sich über das rechte Auge. "Also los." Aerien blickte sie für ihren Geschmack viel zu verständnisvoll an, also sprang sie auf die Füße und sagte. "Komm endlich. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns."
« Letzte Änderung: 1. Apr 2019, 15:10 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Hinab nach Nurn
« Antwort #1 am: 4. Apr 2019, 16:36 »
"Jetzt verstehe ich, wieso Arandirs Pass selbst nach tausenden Jahren in Mordor unbekannt geblieben ist," sagte Aerien ratlos. Sie wagte einen erneuten vorsichtigen Blick in den Abgrund, der sich urplötzlich vor ihnen aufgetan hatte und warf dann Narissa einen niedergeschlagenen Blick zu.
"Es muss hier irgendwo weiter gehen," hielt diese dagegen und strich sich eine eigensinnige weiße Haarsträhne von der Stirn. Narissa kniete am Rande des Abgrundes und spähte hinab.
Sie waren Arandirs Pfad, nachdem sie das alte Grab des Reisenden gefunden hatten, weiter ins Gebirge hinein gefolgt und hatten den Großteil des Ephel Dúath sogar bereits hinter sich gelassen, wie Aerien schätzte. Doch anstatt mittlerweile bergab ins Tal von Nurn zu führen, war der Weg beständig bergauf verlaufen, den düsteren Gipfeln entgegen. Nun hatte der Pass, nachdem sie um eine sich weit nach Norden in die Länge ziehende Biegung gekommen waren, unerwartet am Rande einer gewaltigen Schlucht geendet. Zu beiden Seiten ragten kahle Bergspitzen aus schwarzem Stein empor, und es wirkte so, als wären sie nun endgültig in einer Sackgasse gelandet. Zwar konnten sie zu ihrer Rechten die Ebenen von Nurn und sogar das in deren Zentrum liegende Binnenmeer sehen, doch anscheinend gab es für Aerien und Narissa keinen Weg, ungesehen dorthin zu gelangen, denn der Abgrund vor ihnen war so tief, dass sie den Boden kaum erkennen konnten.
Karnuzîrs raues Lachen durchdrang die unangenehme Stille, die sich über diese trostlose Gegend gelegt hatte. Es lag kein Hohn darin, nicht einmal ein Anflug von Schadensfreude. Aerien vermutete, dass ihr Gefangener eher der Situation zum Trotze gelacht hatte. Narissa hingegen schien weniger empfänglich für Subtiles zu sein und warf Karnuzîr einen wütenden Blick zu. "Vielleicht sollten wir ihn einfach über den Rand schubsen, um herauszufinden, ob man hier womöglich doch irgendwie herunterklettern kann," drohte sie.
"Nicht nötig mich zu überreden," erwiderte der Schwarze Númenorer. "Ich werde es hier versuchen." Er deutete an das östliche Ende des Hohlwegs, in dem sie standen und der sich nur nach Norden hin zum Abgrund hin öffnete. Karnuzîrs Fingerzeig folgend entdeckte Aerien einen Geröllhaufen von schwarzen Steinen, die wie zufällig dort von den Gipfeln herabgekullert zu sein schienen. Karnuzîr schob sie mit seinem Stiefel beiseite und sie konnten sehen, dass hier eindeutig eine Stufe in den Rand des Felsens an der Klippe geschlagen worden war.
"Es scheint eine Art von Treppe zu sein, die jener beim Cirith Ungol nicht unähnlich ist," sagte Karnuzîr. "Gebt Acht. Sie ist sehr, sehr steil."
"Sie schraubt sich in die Felswand hinein," stellte Aerien fest, die sich vorsichtig über den Abgrund gelehnt hatte und herunter spähte. "Selbst von hier ist sie kaum zu sehen."
Narissa war bereits dabei, die obersten Stufen hinter sich zu lassen. Mit dem Gesicht zur Wand setzte sie vorsichtig Fuß um Fuß und verschwand schließlich aus Aeriens Sichtfeld. Diese bedeutete Karnuzîr, Narissa zu folgen. Aerien würde sich als Letzte der Treppe stellen.

Die Stufen waren kaum zwei Finger breit, boten dennoch überraschend viel Halt, denn sie waren trocken und bestanden aus massivem, steinhartem Fels. Jede Stufe besaß links und rechts gemeißelte Griffe, an denen man sich mit den Händen festhalten und so relativ gefahrlos herunterklettern konnte. Dennoch kam es mehrfach vor, dass Aerien beinahe den Halt verloren und in den sicheren Tod gestürzt wäre. Sie brauchten beinahe drei Stunden, bis sie den Boden endlich erreicht hatten. Inzwischen war es Abend geworden und das Sonnenlicht war längst verblasst. Dennoch war es ungewöhnlich hell, denn über ihnen war der Himmel klar, und Mond und Sterne spendeten ihnen genug Licht, um den Pfad am Fuße der Treppe wieder aufzunehmen. Ihnen war kalt, denn sie waren nass geworden. Die steinerne Treppe hatte über einem dunklen Pfuhl geendet, aus dem ein Rinnsaal entsprang, das mit einem kläglichen Glucksen nach Osten seinen Weg zwischen den Felsen hindurch suchte, um irgendwo weit jenseits des Gebirges in das salzige Binnenmeer von Núrnen zu münden. Diesem Gewässer folgten sie nun durch eine schmale Schlucht, die steil bergab führte. Erneut mussten sie an mehreren Stellen auf allen vieren rückwärts klettern, um nicht abzustürzen und erneut landeten sie am Ende in einem kleinen Teich voller dunklem, schalen Wasser, wo sich das Rinnsaal für eine kurze Rast auf dem Weg nach Nurn sammelte. Doch dann endlich hatten sie das Ende ihres Weges durch das Schattengebirge erreicht.

"Jetzt sind wir also wirklich hier, in Mordor," wisperte Narissa. Sie musste ebenso wie Aerien die ungute Atmosphäre des schwarzen Landes spüren, die aufs Gemüt schlug wie kaum etwas Anderes.
Aerien starrte nach Norden über die dunklen Ebenen hinweg, die selbst das Mondlicht kaum erleuchten konnte. "Einst nannte ich es meine Heimat," hauchte sie. "Doch jetzt wird mir schlecht bei dem Anblick..."
Narissa atmete tief durch. "Wir sollten für heute nicht weitergehen. Selbst wenn wir vielleicht bei Dunkelheit leichter ungesehen voran kommen, fehlt mir nach der Überquerung des Passes die Kraft. Ich muss dringend etwas schlafen."
"Da bist du nicht die Einzige," sagte Aerien und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte geglaubt, in Mordor wohl nie mehr ein Auge zu tun zu können, doch ihr Körper war eindeutig anderer Meinung. Sie fühlte sich, als hätte sie bei dem Abstieg aus den Bergen sämtliche Kraftreserven für viele Wochen verbraucht und schleppte sich nur noch unter Aufbringung ihrer gesamten Willenskraft voran.
Sie fanden einige hundert Schritte weiter eine Nische zwischen zwei großen Felsen, die wohl einst aus dem Gebirge herabgestürzt sein mussten und richteten sich dort mehr schlecht als recht für die Nacht ein. Obwohl Aerien die erste Wache freiwillig übernahm, war es für sie ein ständiger Kampf gegen die Müdigkeit, den sie schließlich verlor. So kam es, dass niemand wach war, um Narissa zu ihrer Wachschicht zu wecken und sie beide die Nacht durchschliefen.

Aerien erwachte davon, dass ein Sonnenstrahl ihr ins Gesicht fiel und eine unerwartete Wärme sich auf ihrer Nase ausbreitete. Sie richtete sich langsam auf und erschrak, als sie zwar Narissa - schlafend und schnarchend - entdeckte, jedoch keine Spur von Karnuzîr zu sehen war. Sie sprang auf, dem Protest ihrer sämtlichen Muskeln zum Trotz - und atmete auf, als sie ihren ungeliebten Vetter in sich zusammengesunken auf der Rückseite des Felsens fand, in dessen Schutz sie die Nacht verbracht hatten. Im Schlaf wirkte sein Gesicht friedlich. Nachdenklich betrachtete Aerien den Schwarzen Númenorer und fragte sich, was wohl gewesen wäre, wenn sie ihm unter anderen Umständen begegnet wäre. Ein Anflug von Mitleid überkam sie, doch so schnell wie der Moment gekommen war, verschwand er wieder, als sie sich an das erinnerte, was Karnuzîr Narissa und Serelloth angetan hatte.
Angewidert wendete sie sich ab. Ihren grauen Umhang, den sie als Decke benutzt hatte sie noch immer eng um die Schultern geschlungen, und so stapfte sie verdrossen zurück zu Narissa, um ihren Freundin zu wecken. Es dauerte mehrere Minuten, bis Narissa wach geworden war; währenddessen war die Sonne zur Gänze aufgegangen und spendete ihnen ein trübes Tageslicht, das hier im Süden Mordors weniger stark von den dicken schwarzen Wolken gedämpft wurde. Denn hier, in Nurn, mussten die unzähligen Sklaven des Dunklen Herrschers Nahrung für die Heere des Schwarzen Landes anbauen, und selbst Sauron in all seiner manipulativen Macht war es noch nicht gelungen, Nutzpflanzen ohne Sonnenlicht zum Wachsen zu bringen.
Sie suchten gerade ihre Sachen zusammen, als Narissa mitten in der Bewegung erstarrte. Sie hob die Hand und schien zu lauschen. Aerien spitzte ebenfalls die Ohren, doch sie hörte nichts bis auf den fahlen Wind, der leise heulend am Rand des Gebirges entlang strich.
"Was ist?" wisperte sie.
"Ich bin mir nicht sicher," flüsterte Narissa zurück. Langsam zog sie ihre Dolche. "Ich dachte, ich hätte etwas gehört, doch jetzt höre ich nur noch diesen Wind..."
"Das ist nicht der Wind," sagte Karnuzîr. Eindeutig besorgt stand er plötzlich da und hatte von irgendwo her ein Messer in der Hand. Er schien jedoch keine Absichten zu haben, damit Aerien oder Narissa anzugreifen. "Ich habe dieses Geräusch schon einmal gehört, als ich mit meinem Vater zum ersten Mal in Mordor gewesen bin und wir das Land in seiner Länge nach Osten durchreisten. Das ist das Jagdheulen eines Kâragath, wenn mich meine Sinne nicht täuschen."
"Eines was?" keuchte Narissa und blickte sich panisch um.
Aerien wollte ihr gerade erklären, was das adûnâische Wort, das Karnuzîr verwendet hatte, bedeutete - als mehrere Dinge gleichzeitig geschahen. Das Heulen des Windes brach mitten im Ton ab und ein Schatten huschte am Rande von Aeriens Sichtfeld vorbei. Narissa schrie auf und Karnuzîr stieß einen adûnâischen Fluch aus. Als Aerien sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie eine große, vierbeinige Kreatur Karnuzîr beiseite schleuderte und Narissa mit einem Prankenhieb zu Boden schickte. Der Kâragath knurrte und sprang dann direkt auf Aerien zu.

Ihre Reflexe setzten ein und sorgten dafür, dass Aerien ihr Schwert zog und es gerade noch rechtzeitig zwischen sich und das aufgerissene Maul der Bestie brachte. Der faulige Atem, der ihr entgegen schlug, raubte ihr beinahe den Verstand. Der Kâragath starrte sie bedrohlich an. Sein Fell war schwarz und struppig und die Form seines Kopfes erinnerte an einen großen Wolf mit breiter Schnauze. Das Ungetüm umkreiste Aerien langsam, die aus den Augenwinkeln sah, dass Narissa sich nicht zu rühren schien.
Ohne Vorwarnung schnellte die Bestie vorwärts und durchbrach ihre Deckung. Aeriens Schwert flog davon ohne Schaden angerichtet zu haben und sie prallte hart gegen den aufrechten Felsen, unter dem sie übernachtet hatten. Doch anstatt in der nächsten Sekunde die Zähne des Kâragath zu spüren, geschah für einen atemlosen Moment... nichts.
Aerien öffnete vorsichtig ein Auge. Der Kâragath stand kaum einen Meter von ihr entfernt, doch sein Blick ging nach rechts. Der Felsen, an dem Aerien lehnte, verdeckte ihr die Sicht auf das, was die Bestie abgelenkt hatte. Das nächste, was sie hörte, war eine fremde, tiefe Stimme:
"Lass sie in Frieden, du verlauste Kreatur. Jetzt hast du es mit mir zu tun."
Der Kâragath knurrte zur Antwort und wandte sich dem Neuankömmling zu. Vorsichtig streckte Aerien sich, um mehr sehen zu können, doch nun verdeckte ihr die Bestie die Sicht. Sie sah nur, wie das Untier sich auf etwas oder jemanden stürzte, einen Herzschlag später aufjaulte und dabei ein Bein verlor, das in hohem Bogen davon flog. Der Kâragath brach zusammen und jemand rammte ihm mit einem zufriedenem Aufschrei ein breites Kurzschwert mitten ins Auge. Der Kadaver zuckte noch einmal, dann war die Bestie tot.
Hinter dem großen Leichnam kam ein bärgtiges Gesicht zum Vorschein, das eindeutig zu einem Krieger gehörte - doch selbst als sich der Fremde aufrichtete, kam es Aerien noch immer so vor, als kniete er. Er war auffallend kurz geraten, wie sie fand.
"Na so etwas," stellte Narissa schwer atmend fest und Aerien war froh zu sehen, dass ihre Freundin wieder auf den Beinen und größtenteils unverletzt war. "Ein Zwerg."
In einer anderen Situation - in einem anderen Land - hätte Aerien über ihre Naivität gelacht. Natürlich, dachte sie. Er ist nicht zu kurz geraten, er ist ein Zwerg. Sie nickte und konnte die Augen kaum von ihrem Retter wenden. Dieser hatte sein Schwert am Fell des Kâragath gesäubert und hatte zufrieden auf seinem besiegten Feind Platz genommen. Er beobachtete sie aufmerksam und schien abzuwarten, was die Frauen als Nächstes tun würden.
"Ich habe mehrere Fragen," sagte Narissa, nachdem eine Minute unangenehmen Schweigens vergangen war.
Der Zwerg grinste in seinen stattlichen Bart hinein und nickte. "Das kann ich mir denken," erwiderte er. Er trug einfache Kleidung, die Aerien in ihrem Leben schon tausendmal gesehen hatte: Die Lumpen, die man einem Sklaven gab, um sich zu bedecken. Ihr wurde klar, woher dieser Zwerg stammen musste.
"Wer seid Ihr, was war das für eine Kreatur und wie habt Ihr es geschafft, sie so leicht zu besiegen?" fragte Narissa.
"Ha! Eins nach dem Anderen." Der Zwerg hob einen Zeigefinger. Dabei sah Aerien, dass ihm an der linken Hand der Ringfinger fehlte. "Zunächst einmal ist es unhöflich, einen Fremden nach dem Namen zu fragen, ohne sich selbst zuerst vorzustellen." Er stand auf und versetzte dem Kadaver einen Fußtritt. "Was diesen Gesellen angeht, so kann ich euch nicht sagen, wie man diese Viecher hier nennt - für mich sind sie gefährlichere Verwandten der Warge. Ich bin ihnen hier in der Gegend schon öfters begegnet. Dieses Exemplar habe ich schon seit einigen Tagen verfolgt. Wenn man einmal weiß, dass sie ihre Opfer am liebsten anspringen, kann man ihnen das leicht zum Verhängnis werden lassen - indem man klein genug ist, und sich unter dem Sprung hinwegduckt und ihnen dabei den Bauch aufschlitzt oder ihnen ein Bein abtrennt."
"Ihr habt den Kâragath verfolgt?" fragte Aerien. "Wieso?"
Der Zwerg sah sie an, als hätte sie ihn gefragt, weshalb der Himmel blau sei. "Um ihn zu essen natürlich," antwortete er. "Sie mögen nicht sonderlich appetitlich aussehen, aber in einem Land wie diesem darf man nicht allzu wählerisch sein, wenn man es vorzieht, über einen gut gefüllten Magen zu verfügen." Er kam zu ihnen herüber und ließ das Schwert lässig in der Hand kreisen. "Also." Sein Tonfall begann, sich zu verändern. "Ich bin mit dem Fragen dran. Wo seid ihr so plötzlich hergekommen? Dieses Tal hat nur einen Ausgang, und von dort komme ich gerade. Und wieso..." Seine Klinge lag ohne Vorwarnung an Aeriens Hals. "...wieso ist die Tochter des Fürsten von Durthang so weit von zuhause unterwegs?"
« Letzte Änderung: 20. Jan 2020, 13:01 von Fine »
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Eandril

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Re: Nurn und Lithlad
« Antwort #2 am: 4. Apr 2019, 18:07 »
Narissas erster Impuls, als sie die Klinge an Aeriens Hals sah, war, selbst ihre Waffen zu ziehen. Der Ausdruck in den Augen des Zwergs belehrte sie allerdings eines Besseren. Sie würde nicht dazu kommen, ihre Dolche zu ziehen, bevor er zustoßen konnte, also hob sie stattdessen langsam beide Hände auf Kopfhöhe, die Handflächen nach vorne. "Langsam langsam", sagte sie bemüht ruhig. "Eben rettet ihr uns noch das Leben, und jetzt bedroht ihr uns?"
"Ihr seid keine Orks", erwiderte der Zwerg gleichmütig. "Das ist alles, was mich zuerst interessiert hat. Wärt ihr Orks, hätte ich das Vieh hier", er versetzte dem Leichnam des Kâragath einen Tritt, "noch angefeuert, während es euch verspeist. Aber da ich gesehen habe, dass es sich um Menschen handelt, dachte ich mir, dass es sich vielleicht lohnt, sich mit euch zu unterhalten. Im Übrigen habt ihr meine Frage noch nicht beantwortet." Hinter ihm kam etwas mühsam Karnuzîr wieder auf die Füße. An seiner Stirn prangte eine prächtige Beule, wie Narissa mit etwas Schadenfreude feststellte, doch ansonsten schien er unversehrt. Sie warf ihm einen warnenden Blick zu, und zu ihrer Erleichterung machte er keine Anstalten, das Messer, das einige Schritte entfernt auf den Steinen lag, aufzuheben.
"Wir sind über die Berge gekommen", erklärte inzwischen Aerien, und deutete mit einer vorsichtigen Geste hinter sich. "Dort hinunter."
Die Augen des Zwerges verengten sich, und als er konzentriert auf die Felswand starrte. Von hier war die Treppe, die sie hinunter gestiegen waren kaum zu erkennen, doch der Zwerg schien sie dennoch zu sehen. "Bei Durins Bart", sagte er, und brummte anerkennend. "Ich wusste nicht, dass es hier einen Weg über die Berge gibt. Der Weg kann nicht leicht gefallen sein." "Das kann man so sagen", murmelte Narissa vor sich hin, und nahm langsam die Hände wieder herunter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Pranke des Kâragath drei tiefe, blutende Kratzer auf ihrem linken Unterarm hinterlassen hatten.
Der Zwerg wandte den Kopf, und schien sie zum ersten Mal richtig zu betrachten, nachdem bislang Aerien, von deren Hals das Schwert noch immer nicht verschwunden war, seine Aufmerksamkeit beansprucht hatte. "Du siehst nicht aus, als würdest du nach Mordor gehören", stellte er fest, und fügte mit einem Kopfrucken in Aeriens Richtung hinzu: "Die hier allerdings auch nicht, wenn ich nicht gewusst hätte, wer sie ist. Also was führt euch hierher? Heimweh?"
"Ich wäre glücklich gewesen, nie wieder nach Mordor zurückzukehren", erwiderte Aerien. "Und wenn ihr wisst wer ich bin, wisst ihr vermutlich auch, dass ich hier nicht mehr willkommen bin."
Der Zwerg grinste, und ließ dabei einen abgebrochenen Eckzahn sehen. "Ich glaube nicht, dass man in diesem Land etwas wie willkommen wirklich kennt. Warum also seid ihr hier?"
Aerien warf Narissa einen fragenden Blick zu, und Narissa dachte nach. Selbstverständlich konnte das eine Falle sein. Und dennoch... Niemand in Mordor wusste, dass man an dieser Stelle das Gebirge überqueren konnte. Warum also sollte Sauron hier Wachen aufstellen? Und nach allem was sie über Zwerge wusste, aus den Geschichten und Büchern ihres Großvaters, gehörten diese zu den standhaftesten Feinden Mordors überhaupt, und keiner von ihnen hatte jemals auf der Seite des Schattens gestanden.
"Wir... sind nach Mordor gekommen, um... um..." begann Aerien unsicher, doch Narissa fiel ihr kurz entschlossen ins Wort. "Wir wollen jemanden aus der Gefangenschaft befreien." Die buschigen Augenbrauen des Zwergs hoben sich. "Aus den Sklavenlagern hier in Nurn? Das wird nicht leicht werden, aber wenn ihr einen unbewachten Weg aus Mordor hinaus kennt..." Der Blick, denn Aerien Narissa nun zuwarf war eindeutig auffordernd. Du hast angefangen, also musst du entscheiden, wie weit du gehst. "Nicht aus den Sklavenlagern", erwiderte Narissa zögerlich. "Aus... Barad-Dûr." Die Augen des Zwergs verengten sich, und die Knöchel seiner Hand traten weiß hervor, als er den Schwertgriff fester umklammerte.
"Ihr habt wohl einen Todeswunsch", stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. "Der glückliche Gefangene muss ja ziemlich wichtig sein."
"Das ist er." Narissa wechselte einen Blick mit Aerien, und diese zuckte mit den Schultern, seufzte Narissa und fuhr fort: "Also schön. Es ist der König von Gondor."

In der Stille die folgte hätte man eine Stecknadel fallen hören können, während der Blick des Zwergs zwischen Narissa und Aerien hin und her wanderte. Schließlich nahm er mit einer abrupten Bewegung die Klinge von Aeriens Hals, und stieß sie heftig in die Schwertscheide zurück. "Ihr seid verrückt", stellte er fest. "Aber vielleicht ist das genau das Richtige. Verzweifelte Hoffnung." Er streifte Karnuzîr mit einem Blick, bevor er sagte: "Schwört mir, dass ihr die Wahrheit sagt. Überzeugt mich." Es war merkwürdig, denn sein Tonfall war weniger fordernd als eher... bittend? Narissa umfasste das Medaillon, das vor ihrer Brust unter der Kleidung hing, mit der rechten Hand. "Ich schwöre es, bei... der Seele meiner Mutter. Wir sind mit dem Ziel nach Mordor gekommen, den König von Gondor zu befreien und in Sicherheit zu bringen."
"Und ich schwöre es ebenfalls", fügte Aerien hinzu. "Bei allem, was ich liebe." Dabei warf sie Narissa einen Seitenblick zu, und Narissa musste lächeln.
Der Zwerg blinzelte mehrmals verdächtig rasch hintereinander, bevor er sagte: "Kommt mit mir, sofort. Unter freiem Himmel gibt es hier keinen Ort, an dem man sich in Sicherheit unterhalten könnte."

Der Zwerg führte sie an der Bergflanke entlang nach Osten. Hier wuchsen vereinzelte, verkrüppelte Bäume und hin und wieder sah Narissa kleine Bäche und dunkle, schlammige Teiche zwischen den Felsen. Nach Norden hin breiteten sich sanft gewellte Ebenen, die einem blauschwarzen Gras bedeckt waren, aus. Über dem ganzen Land lag eine bedrückende Stille, und das Licht der Sonne schien gedämpfter zu sein als sie es gewohnt war. Schließlich, die Sonne hatte gerade ihren höchsten Stand erreicht, bog der Zwerg zwischen zwei Felsen nach Süden ab, eine schmale Schlucht entlang, an deren Ende ein niedriger Höhleneingang lag. Während der Zwerg weiterhin aufrecht gehen konnte, mussten sich die drei Menschen ein wenig Ducken, um nicht mit den Köpfen an die Schwarzen Felsen zu stoßen. Aerien folgte dem Zwerg als erste, doch Narissa wartete, bis Karnuzîr ihr gefolgt war, bevor sie die Höhle hinter ihm betrat. Er hatte zwar auf ihrer Reise mehrere Gelegenheiten ausgelassen, um sie zu töten oder ihnen zumindest zu entkommen, doch Narissa traute ihm noch immer nicht. Es war immer noch möglich, dass er ein doppeltes Spiel spielte, um sie am Barad-Dûr zu verraten und Saurons Gunst zurück zu gewinnen, und darauf wollte sie vorbereitet sein.
In der Höhle entzündete der Zwerg ein kleines Feuer, dessen flackernde Flammen den kleinen Raum ein wenig erhellten. An der hinteren Wand tröpfelte ein wenig Wasser durch eine Felsspalte, und auf dem Boden lagen ein Fell, dass vermutlich von einem Kâragath stammte, sowie mehrere säuberlich abgenagte Knochen - vermutlich von dem selben Kâragath, dessen Fell dem Zwerg als Schlafplatz dienen mochte. Der Zwerg machte eine einladende Geste, während er sich vor dem Feuer niederließ. Die Menschen taten es ihm gleich, Narissa und Aerien dicht nebeneinander, Karnuzîr ein wenig im Hintergrund. 
"Ich denke es ist an der Zeit, dass wir uns einander vorstellen", begann der Zwerg. "Mein Name ist Gimli, Glóins Sohn, und ich..." Er wurde unterbrochen, als Aerien nach Luft schnappte. "Natürlich! Aragorn hat mir von dir erzählt. Ich habe mich immer gewundert, warum... warum ich dich in Barad-Dûr nie gesehen habe." Sie blickte zur Seite, als würde sie sich für ihre Zeit im Dunklen Turm schämen, und Narissa drückte ihre Hand.
"Du hast mit Aragorn gesprochen?", fragte Gimli mit erhobenen Augenbrauen, und Aerien nickte langsam. "Er... er ist der Grund, warum ich Mordor verlassen habe. Und warum ich mich letzten Endes dazu entschieden habe... die Seiten zu wechseln."
"Hm", brummte Gimli, und stocherte mit einem Knochen in den niedrigen Flammen herum. "Das wundert mich nicht. Der Junge konnte - kann - sehr überzeugend sein. Und warum du mir dort nie begegnet bist, nun... das ist schnell erklärt. Doch zunächst würde ich gerne die Namen deiner Gefährten erfahren." Bei diesen Worten blickte er Narissa an, und sie antwortete: "Mein Name ist Narissa. Ich komme von der Insel Tol Thelyn."
"Nie davon gehört", gab Gimli zurück. "Klingt nach Gondor."
Narissa schüttelte den Kopf. "Du hast Recht, aber Tol Thelyn liegt vor der Küste Harads. Meine Vorfahren sind vor dem Untergang Númenors dorthin gekommen, und haben seitdem in Harad gegen Sauron und seine Diener gekämpft."
Die Antwort schien den Zwerg einigermaßen zufrieden zu stellen. "Nun, der alte Gandalf wüsste sicherlich, ob du die Wahrheit sagst. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ihr mich anlügt."
"Ich bin Karnuzîr, Sohn des Aglazôr", erklang Karnuzîrs kalte Stimme aus dem Hintergrund. "Und das ist alles, was du von mir wissen musst, Zwerg." In Gimlis Augen spiegelten sich die Flammen. "Nicht sehr freundlich, euer Freund", meinte er an  Aerien gerichtet. "Dem Namen nach ein Verwandte von dir?" Aerien verzog das Gesicht. "Leider."
"Aber unser Freund ist er nicht", ergänzte Narissa, und es war ihr egal, dass Karnuzîr sie hören konnte. Er legte gewiss keinen Wert auf ihre Freundschaft.
"Wenn er nicht euer Freund ist, habt ihr hoffentlich einen guten Grund, ihn bei euch zu haben", sagte Gimli mit einem unzufriedenen Blick in Karnuzîrs Richtung. Dann strich er sich mit einer Hand über den Bart, und meinte: "Eigentlich ist es Brauch, dass die Gäste ihre Geschichte zuerst erzählen, doch ich habe das Gefühl, dass das etwas dauern könnte - und meine Geschichte ist schnell erzählt.
Wie Aragorn bin ich am Schwarzen Tor in Gefangenschaft geraten." Der Zwerg machte eine Miene, als würde ihm die bloßen Erinnerungen Schmerzen bereiten. "Einige Zeit habe ich in Barad-Dûr selbst verbracht, und an diese Zeit möchte ich so wenig wie möglich zurückdenken. Aber da ich keine so wichtige Person bin wie Aragorn, wurde schließlich beschlossen, mich zur Arbeit einzusetzen. Ich kam in die Steinbrüche nördlich des Nurnenmeers, und verbrachte ein paar Monate mit Steineklopfen. Vielleicht haben sie gedacht, die Anstrengung würde mich umbringen, doch Steine... nun, als Zwerg fühlt man sich dort wie ein Fisch im Wasser." Er grinste in seinen Bart hinein, doch Narissa hatte das Gefühl, dass er verschwieg, wie schwer diese Zeit in Wahrheit gewesen war. "Schließlich kam die Gelegenheit zur Flucht", fuhr Gimli fort. "Und ich ergriff sie, wobei einer der Aufseher einen tragischen Unfall erlitt. Ich schlug mich nach Süden durch, und schloss mich einige Zeit einer Gruppe geflohener Sklaven am Südufer des Meeres an. Sie wurden schließlich aufgerieben, und ich konnte weiter nach Südwesten fliehen. In dieser Gegend hier gibt es nämlich fast nichts außer Felsen und... wie hast du sie genannt? Kâragath? Jedenfalls kommen nur selten Streitkräfte Mordors hierher, also richtete ich mir hier mein Versteck ein."
"Und du hast nie versucht, Mordor zu verlassen?", fragte Narissa, und Gimli wandte ihr das Gesicht zu. "Alle meine Freunde sind vermutlich tot", erwiderte er ruhig. "Nur Aragorn lebt noch - soweit ich weiß. Und solange er noch lebt und in Mordor gefangen ist, werde ich Mordor nicht verlassen. Weißt du warum? Weil ich nicht bereit bin, die Hoffnung aufzugeben." Er beugte sich ein wenig vor, und seine Augen funkelten. "Und weißt du auch, junges Fräulein, was mir diese Hoffnung gebracht hat?" Er deutete mit dem Finger erst auf Narissa, dann auf Aerien. "Euch. Also enttäuscht mich nicht."
« Letzte Änderung: 20. Jan 2020, 13:05 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Eine Frage des Vertrauens
« Antwort #3 am: 17. Apr 2019, 11:28 »
Ehe sie sich weiter mit Gimli unterhalten konnten, erhob sich der Zwerg und legte Narissa eine Hand auf die Schulter. "Ihr beiden seht zu, dass das Feuer nicht ausgeht. Am Ende der Höhle findet ihr einen Stapel Feuerholz."
"Wohin gehst du?" fragte Narissa prompt.
Gimli grinste. "Ich kümmere mich um das Abendessen." Und damit verschwand er.

Von draußen fiel schwaches Tageslicht in die Höhle hinein, doch das meiste Licht spendete das kleine Feuer. Der Rauch, den es verursachte, schien irgendwo zwischen den Felsen über ihren Köpfen abzuziehen und sich in den Schluchten des südlichen Ephel Dúath zu verflüchtigen.
"Ich hoffe, wir machen keinen Fehler," sagte Aerien. Eigentlich hatte sie ihren Gedanken nicht aussprechen wollen, doch nun, da Gimli für einige Zeit fort war, waren die Worte uneingeladen über ihre Lippen gekommen."
Narissa schien sofort zu wissen, wovon ihre Freundin sprach. "Du hast doch gesagt, dass Aragorn dir von Gimli erzählt hast. Wieso jetzt also das Misstrauen?"
Aerien sah ihr in die Augen. "Weil das hier Mordor ist. Hier ist allem und jedem zu misstrauen."
"Dann müsste ich ja auch dir misstrauen," konterte Narissa.
Die Adûna seufzte. "So habe ich das nicht gemeint, und das weißt du auch."
Narissa legte einen Scheit Holz aufs Feuer. "Gimli kommt mir vertrauenswürdig vor. Ich mag ihn. Und er hat uns das Leben gerettet."
"Selbst wenn es wirklich der Gimli aus Aragorns Erzählungen ist, hat er doch zweifellos die Folter Mordors erdulden müssen, ehe ihm die Flucht gelang." Bereits verdrängt geglaubte Bilder aus ihrer Kindheit stiegen vor Aeriens innerem Auge auf. Die Folterkeller unterhalb von Durthang waren stets gut gefüllt gewesen und oft hatte man die Tochter des Fürsten dorthin gebracht, um "ihren Horizont zu erweitern", wie ihr Vater zu sagen pflegte.
"Es scheint ihn nicht mehr als einen Finger hier und einen Zahn da gekostet zu haben," sagte Narissa leichthin.
"Du verstehst nicht," antwortete Aerien. "Denn du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Es gibt weitaus grausamere Methoden der Folter als einfach nur den Verlust eines Fingers oder Zahnes. Selbst wenn man nur einen Arm oder ein Bein verliert kann man sich noch glücklich schätzen. Die schlimmste Verstümmelung, die man einem lebenden Wesen zufügen kann, betrifft nicht den Körper, sondern den Geist."
Während sie sprach, bemerkte Aerien aus den Augenwinkeln, wie Karnuzîr sich aufgerichtet hatte und ihren Worten aufmerksam zu lauschen schien. Auch ihm schienen aufgrund seiner Geburt außerhalb Mordors die Methoden der Folterknechte des Schwarzen Landes fremd zu sein.
"Gestern erst sind wir Zeugen von etwas geworden, das über den Tod hinaus ging," sagte sie. "Solche Dinge müssen aber nicht immer zwangsläufig gut sein, wie es jener Eid ist, den Arandirs Gefährte schwur. Ein Eid bedeutet eine freiwillige Bindung an eine Sache oder eine Person. Die Diener des Dunklen Herrschers jedoch haben gelernt, die Geister ihrer Opfer auch gegen ihren Willen zu versklaven... wenn es stimmt, was ich als Kind gehört habe. Ich... habe Dinge gesehen, die... kein kleines Mädchen jemals zu Gesicht bekommen sollte. Das weiß ich nun. Und ich wünschte mir, von solch finsteren Praktiken niemals erfahren zu haben. Eine Seele zu brechen und einen Menschen in etwas zu verwandeln, das mehr mit einem Tier oder gar einer reglosen Pflanze zu tun hat, ist nur eines von vielen Ergebnissen der Folter Mordors. Nicht selten glauben jene, die den Kerkern entfliehen - oder vielmehr von dort entlassen werden - die Tortur glimpflich überstanden zu haben, bis sie eines Tages etwas tun, das gegen ihren eigenen Willen ist. Und doch tun sie es. Weil ihr Wille in jenen Verliesen meiner einstigen Heimat längst gebrochen wurde, ohne dass es ihnen bewusst war."
"Und du denkst also, deshalb ist mir nicht zu trauen, Mädchen?"
Gimlis Stimme riss Aerien schroff aus ihrem Monolog, den sie am Ende kaum noch um Narissas oder gar Karnuzîrs Willen geführt hatte. Die Worte waren eines nach dem anderen aus dem dunklen Winkel ihres Herzens aufgestiegen, wo sie alle Erinnerungen an das Land Saurons vergraben hatte, um sie dort langsam zu vergessen.
Der Zwerg stapfte zwischen ihnen hindurch und warf den Kadaver des Kâragath, den er geschultert hatte, neben das Feuer. Auf seine Bemerkung hatte Aerien keine Antwort.
Gimli zog sein Schwert und begann - offenbar unberührt von den Anschuldigungen - den Leib der Bestie fachmännisch auszunehmen. Dabei sagte er: "Ich hätte ebenfalls viele gute Gründe, um dir zu misstrauen. Immerhin bist du die Tochter desjenigen, der für meine Gefangennahme und Folter verantwortlich ist."
"Das... tut mir Leid," brachte Aerien kaum hörbar hervor. Sie spürte, wie Narissa ihr die Hand auf den Kopf legte und sanft über das Haar strich und fand einen gewissen Trost in der Berührung.
"Man hört in den letzten Monaten so einiges über dich, angefangen von deinem Namen und deiner Beschreibung. Ich schätze, inzwischen wären sie mehr daran interessiert, dich in die Finger zu bekommen, statt mich." Er grinste und gab ein glucksendes Lachen von sich, während er dem Kâragath weiter das Fell abzog. "Du musst ihnen ja einen ziemlichen Streich gespielt haben."
"Worauf willst du hinaus, Gimli?" wollte Narissa wissen, die mit einiger Faszination das Schauspiel beobachtete.
Gimli hielt für einen Augenblick inne und sah sie über den Kadaver hinweg an. "Ein Freund von mir hat einmal gesagt, im Zweifelsfall sollte man immer seiner Nase folgen. Und da ihr beiden deutlich besser riecht als beispielsweise diese verlauste Kreatur hier," er begann erneut mit seiner blutigen Arbeit, "habe ich mich entschlossen, euch zu vertrauen. Selbst wenn dieser ganzer, irrsinnige, aberwitzige Plan einer Befreiung aus Barad-dûr - Ha! - natürlich auch sehr wahrscheinlich eine Falle sein könnte. Aber was, wenn es gelingt? Das wäre ein so schwerer Schlag für den dunklen Herrscher, dass es all das Leid und die Gefahr wert ist. Und selbst wenn es meinen Untergang bedeuten würde, würde ich mir eine Gelegenheit wie diese dennoch niemals entgehen lassen, beim Barte meiner Vorväter."
"Das... heißt dennoch nicht, dass die Folter dich nicht ge..." begann Aerien.
Gimli unterbrach sie mitten im Wort. "Ich bin ein Zwerg, von Durins Volk. Um mich zu brechen, braucht es schon mehr als ein paar geheimnisvolle Flüche und unverständliches Gemurmel von Menschen, die sich unter ihren lächerlichen Kapuzen verstecken. Ich bin Gimli, Sohn des Glóin - und wenn ich euch durch Leben oder Tod bei der Rettung Aragorns helfen kann, dann werde ich es tun."
Narissa jubelte. Gimlis Rede hatte sie offensichtlich begeistert. "Also wenn das mal keine inspirierende Ansprache war! Glaubst du immer noch, dass er uns hintergehen wird, Sternchen?"
Aerien blieb nichts anderes übrig, als unverhofft zu lächeln. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dass Gimli die Wahrheit gesagt hatte, war ihr inzwischen klar geworden. Also verschränkte sie die Arme vor der Brust und erwiderte: "Ich hoffe, du kochst genauso gut, wie du reden kannst, Gimli, Sohn des Glóin. Dieser Kadaver riecht nämlich in der Tat eher unappetitlich."
"Ihr werdet euch noch wundern," antwortete Gimli und machte sich wieder an die Arbeit.

Während sie ein vergleichsweise reichliches, wenn auch einseitiges Mahl einnahmen, wechselten sie sich damit ab, einander Geschichten zu erzählen. Aerien und Narissa berichteten von ihrer bisherigen Reise und Gimli erzählte ihnen allerlei interessante und wunderliche Geschichten vom Leben der Zwerge und ihren Hallen aus Stein. Aerien staunte über die Beschreibungen des Königreiches unter dem Einsamen Berges und den gewaltigen Gipfeln der Blauen Berge im Westen, sowie die vielen Schlachten in denen Gimli gekämpft und die fremden Länder, die der Zwerg bereist hatte. Noch bis spät in die Nacht saßen sie zu dritt in der Höhle, ehe sie die Wachen für die Nacht einteilten und sich schlafen legten. Am kommenden Tag, so hatte Gimli es vorgeschlagen, würden sie sich Gedanken über ihren Weg nach Barad-dûr machen.
Karnuzîr nahm wie gewohnt nicht oder kaum an den Gesprächen teil. Er blieb für sich in einem Winkel der Höhle und ging nur einmal hinaus, um sich zu erleichtern. Aerien glaubte zu bemerken, dass Mordor eine ganz eigene Wirkung auf ihren Cousin zu haben schien. Seine Gehässigkeit war verschwunden und er blickte sich oft scheinbar gehetzt um, als würde ihn jemand oder etwas aus den Schatten heraus beobachten. Beinahe glaubte Aerien, dass dies Karnuzîrs erster Besuch im Schattenland war, auch wenn sie natürlich wusste, dass das nicht stimmte.
Am Ende ihrer Wachschicht, als sowohl in der Höhle als auch draußen eine schier absolute Finsternis herrschte, weckte Aerien ihre Freundin und legte sich selbst schlafen. Ehe ihr die Augen zufielen dachte sie an den Weg, der nun vor ihnen stand, denn sie würden als Nächstes die Ebenen und Felder Nurns überqueren müssen, ohne den unzähligen Sklavenaufsehern in die Hände zu fallen...
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Eandril

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Re: Nurn und Lithlad
« Antwort #4 am: 30. Apr 2019, 12:07 »
Als sie aufbrachen krochen gerade die ersten blassen Sonnenstrahlen über den östlichen Horizont. Vor ihnen lag eine weite Ebene aus dunkelgrauem Staub und Asche, auf der sich kein Lebewesen zu rühren schien. Gimli deutete mit der Spitze seines Kurzschwertes nach Norden. "Wir werden kurz nach Mittag den Nordrand dieses Staubs erreichen", erklärte er. "Dann beginnt der schwierige Teil, denn wir kommen an die ersten Felder - dort arbeiten Sklaven, und wo es Sklaven gibt, gibt es Aufseher. Wir müssen uns ungesehen zwischen ihnen hindurch schleichen, bis wir an den westlichen Ausläufer des Nûrnenmeers kommen. Wenn alles glatt geht, und ihr nicht schlapp macht, müssten wir gegen Abend des zweiten Tages dort sein."
Narissa wechselte einen spöttischen Blick mit Aerien. Als ob die Möglichkeit bestand, dass sie schlappmachten! Sie hatten bereits ganz andere Strecken hinter sich gelegt. Aerien schob sich eine Strähne schwarzen Haares, die vor ihr linkes Auge gefallen war, wieder hinter das Ohr, und richtete den Blick wieder auf Gimli, während Narissa noch einmal den Sitz ihres Gepäcks überprüfte. Von den Nahrungsvorräten, die sie vor ihrem Aufbruch in Harondor mitgenommen hatten war nicht mehr viel übrig, doch sie hatten sie mit jeder Menge getrocknetem Kâragath-Fleisch aus Gimlis Vorräten aufgestockt. Beim Gedanken daran verzog Narissa das Gesicht, doch es war immerhin besser als nichts. Immerhin hatten sie ihre ledernen Wasserflaschen wieder auffüllen können, denn Wasser war ihre größte Sorge gewesen. Die Worte ihres Großvaters klangen Narissa in den Ohren. Ein geübter Wanderer kann tagelang ohne Nahrung auskommen, ohne in Gefahr zu geraten. Doch Wasser... vernachlässige niemals deine Wasservorräte, denn ohne Wasser stirbst du.
Nun, darum haben wir uns gekümmert, Großvater, erwiderte sie in Gedanken, bevor Gimlis Stimme sie unterbrach.
"Wenn die edle Dame mir dann auch wieder ihre Aufmerksamkeit schenken würde..." Mit einem Ruck zog Narissa ihr Gepäck auf ihrem Rücken fest und räusperte sich ein wenig verlegen. Aerien warf ihr einen Seitenblick zu, bei dem sie die rechte Augenbraue nur um ein winziges Bisschen hob, doch die Aussage war klar. Narissa blickte den Zwerg an, und machte eine auffordernde Kopfbewegung.
"Dort, am Nûrnenmeer", fuhr Gimli fort, "werden wir, hoffentlich, einige alte Bekannte von mir treffen, die uns helfen könnten, den Rest der Sklavenlager zu durchqueren. Jenseits davon werden wir an die breite Berglücke kommen, die zur Gorgoroth führt." Bei diesem Namen erschauerte der Zwerg unmerklich. "Dort endete mein Plan, und wir werden improvisieren müssen."
Beinahe erwartete Narissa eine verächtliche Bemerkung Karnuzîrs, doch Aeriens Vetter schwieg und blickte nur starr nach Norden.
"Also dann", sagte Gimli, und verstaute sein Schwert wieder in der Scheide. "Lasst uns gehen."

Äußerlich unterschied sich die Aschenebene nicht so sehr von den Wüsten Harads, abgesehen von der Farbe. Und dennoch... obwohl das Licht der Sonne gedämpft war, spürte Narissa schon bald, wie sich Schweißtropfen auf ihren Schläfen, der Stirn und der Nasenspitze sammelten. Je länger sie gingen, desto erschöpfter fühlte sie sich, desto mehr protestierten die Muskeln in ihren Beinen vor jedem weiteren Schritt, und das machte ihr Sorgen. Sie war in Harad schon längere Strecken als die, die sie bislang zurückgelegt hatten, am Stück gelaufen, und in höherem Tempo, ohne diese Erschöpfung zu verspüren. Es war, als würde sie gegen einen beständigen, starken Wind anlaufen - wenn es nicht auf der Ebene vollkommen windstill gewesen wäre.
Und trotzdem ging sie weiter, während die Sonne langsam den Himmel hinaufkletterte, verbissen und schweigend, bis sie es nicht mehr aus hielt.
"Aerien", sagte sie atemlos. "Du weißt, dass ich dich liebe, ja?" Aerien warf ihr einen überraschten Blick zu. Auch auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. "Natürlich weiß ich das. Und ich liebe dich auch. Aber warum..."
Narissa zuckte im Gehen mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es noch einmal sagen zu müssen, bevor... Naja, vielleicht haben wir später andere Sorgen, und dann vielleicht... vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu, es zu sagen." Aerien schwieg eine Weile, und Narissa blickte zu Boden. Schließlich erwiderte Aerien, ohne den Blick vom nördlichen Horizont abzuwenden, mit einem unterdrückten Zittern in der Stimme: "Dazu wird es immer eine Gelegenheit geben. Immer."
Narissa drückte einmal rasch ihre Hand, bevor sie sich zurückfallen ließ, wo Karnuzîr alleine ging. Sie hatte etwas zu erledigen.
Aerien warf einen verwunderten Blick über die Schulter, sagte aber nichts und schloss stattdessen zu Gimli auf, der noch immer kräftig ausschreitend die Spitze bildete.

Mit ein wenig Überwindung blickte Narissa Karnuzîr ins Gesicht. Er sah kein bisschen besser aus als sie sich fühlte, und seine Augen, die stur geradeaus blickten, besaßen einen trüben Glanz. "Was willst du?", fragte er schließlich, nachdem sie einige Zeit schweigend nebeneinander her gegangen waren.
"Ich will wissen, ob es dir leid tut", erwiderte sie. "Was du getan hast."
Karnuzîr schnaubte verächtlich. "Was genau? Ich habe sicherlich eine Menge Dinge getan, die mir deiner Meinung nach leid tun sollten."
Das stimmte allerdings. Narissa fuhr sich mit den Fingern der linken Hand über die Narbe auf ihrer linken Wange. "Wie wäre es damit?", fragte sie.
"Nein", erwiderte er ausdruckslos. "Das tut mir nicht Leid. Wir waren... im Krieg. Auf zwei verschiedenen Seiten. Das ist nichts, was ich bereuen müsste."
Narissa nickte stumm. Eigentlich hatte sie nichts anderes erwartet, und sie war sich selbst nicht einmal sicher, was eine Entschuldigung für sie eigentlich bedeutet hätte. Die Narbe wäre davon wohl kaum verschwunden, und außerdem... Sie blickte nach vorne, auf Aeriens Hinterkopf. Aerien liebte sie ziemlich offensichtlich genau so wie sie war, trotz dieser Narbe. Ein wenig erstaunt stellte Narissa fest, dass sie die Narbe als Teil von sich betrachten konnte, nicht länger als eine Verunstaltung.
Darüber hinaus hatte Karnuzîr Recht. Sie waren im Krieg gewesen, und auch wenn Karnuzîr auf der falschen Seite gestanden hatte - er hatte nur versucht so zu handeln, dass seine Ziele nicht in Gefahr gerieten. Narissa selbst hätte sicherlich nichts anderes getan.
Diese Gedanken waren neu für sie. Bislang hatte sie geglaubt, alle, die auf Seiten des Feindes standen, hassen zu müssen. Doch vielleicht... vielleicht war das nicht richtig. Vielleicht gab es auch unter den Dienern des Dunklen Turms jene, die nur ihre Befehle ausführten, oder die nur versuchten, zu überleben.
Ihr langes Schweigen hatte Karnuzîr offenbar unruhig gemacht, also stellte sie die nächste Frage. "Und was ist mit Serelloth? Dem Tag, an dem du... an dem du Aerien entführt hast?"
In Karnuzîrs bislang steinerner Miene zuckte etwas, und schließlich verzog er das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. "Das... das ist etwas, das... das ich... bereue." Am Ende war seine Stimme beinahe zu einem Flüstern hinab gesunken, als ob es ihm Schwierigkeiten bereiten würde, es auszusprechen.
Narissa schüttelte verwundert den Kopf. "Weil es letzten Endes dazu geführt hat, dass wir dich gefangen genommen haben? Dass du jetzt hier bist?"
"Nein." Karnuzîr hob den Blick zum Himmel, lange schweigend. Doch noch bevor Narissa erneut etwas sagen konnte, sprach er weiter. "Ich will nicht hier sein, an diesem... Ort. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass ich hier sein muss." Er richtete den Blick auf Aeriens Rücken. "Mit ihr." Narissa biss die Zähne zusammen. "Wenn du dir irgendwelche Hoffnungen machst, dass... dass..." Sie konnte es nicht aussprechen. "Schlag sie dir aus dem Kopf, verstanden?"
Karnuzîr blickte sie an, und in seinen schwarzen Augen erkannte Narissa etwas wie... Belustigung? "Oh, ich habe all meine Hoffnungen schon lange begraben. Weißt du, warum mir leid tut, was ich damals getan habe? Weil ich sie dazu zwingen musste, mit mir zu kommen." Er deutete mit dem Kinn in Aeriens Richtung.
"Ich... ich denke, ich... liebe sie. Azruphel. Aerien. Schön." Er kostete den Namen aus, und obwohl es sie sämtliche Überwindung kostete, die sie aufbringen konnte, schwieg Narissa. "Schon damals wollte ein Teil von mir nicht das tun, was er tat. Dieser Teil wollte, dass sie aus freiem Willen mit mir kommt, weil sie mich will. Nicht ein verrücktes Mädchen mit aufgeschlitzter Fresse."
Bei diesen Worte verspürte Narissa ein Aufwallen von Hass und Misstrauen, und sie legte unauffällig eine Hand auf den Dolchgriff. "Und jetzt hast du deine Gelegenheit gesehen, dieses verrückte Mädchen in deiner Heimat zu beseitigen?", stieß sie hervor. Karnuzîr blickte sie überrascht an, und schüttelte den Kopf. "Das hier ist nicht meine Heimat", stellte er fest. "Und ich schwöre bei... bei... bei der Seele meiner Mutter, dass das nicht meine Absicht ist. Verstehst du nicht? Ich habe verstanden, dass... sie mich niemals wollen wird. Und so kann ich nur dafür sorgen, dass sie lebt, und dass sie... glücklich ist." Er blieb stehen, und in seinem Blick erkannte Narissa Zorn, Verwirrung, Verachtung, Verzweiflung... "Was habt ihr nur aus mir gemacht?" Die Frage war beinahe ein Flüstern, und auch wenn Narissa wusste, dass sie nicht an sie gerichtet war, antwortete sie: "Einen Menschen."
Sie wandte sich ab, ließ Karnuzîr stehen und schloss trotz des Protests ihrer Muskeln zu Aerien und Gimli auf.

"Was hast du da gemacht?", fragte Aerien. In ihrer Stimme lag kein Misstrauen, nur Neugierde. "Ich hab' nur was klar gestellt", antwortete Narissa, und erklärte auf Aeriens fragenden Blick hin: "Ich... wollte sicher gehen, dass Karnuzîr uns nicht hintergeht."
Aerien hob eine Augenbraue. "Und dazu reicht dir ein kurzes Gespräch?" "Dazu reichen mir die richtigen Antworten."
"Und welche Antworten sind das gewesen?" Narissa schüttelte den Kopf. "Frag ihn selbst, Sternchen." Das Gespräch mit Karnuzîr hatte ihr aus irgendeinem Grund gründlich die Laune verdorben. "Im Augenblick würde mich mehr interessieren, warum mir diese Wanderung so zu schaffen macht."
"Es ist Saurons Wille, der sich gegen uns richtet", erwiderte Aerien, und fügte, als sie Narissas Miene sah, hinzu: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht weiß, dass wir hier sind und was wir vorhaben. Es ist eher so, dass sein Wille in dieses ganze verfluchte Land über gegangen ist. Und wir gehören nicht hierher, also richtet sich diese Wille gegen uns." Narissa dachte an Karnuzîrs erschöpftes Gesicht, und blickte nach vorne zu Gimli, der bereits wieder einen kleinen Vorsprung vor ihnen gewonnen hatte, und nach wie vor frisch und ausgeruht wirkte. Hätte es nicht umgekehrt sein müssen?
Aeriens Blick war ihrem gefolgt, und als ob sie Narissas Gedanken gelesen hätte, sagte sie: "Im Gegensatz zu uns ist Gimli kein Eindringling hier - nicht wirklich. Er ist auf Saurons eigenen Befehl nach Mordor gebracht worden. Auf merkwürdige Weise... gehört er hierher. Das ist zumindest meine Vermutung."
Narissa nickte schweigend, doch sie wusste nicht, was sie beunruhigender fand - den Zweifel, der plötzlich wieder an ihr nagte, oder die Tatsache, dass sie begonnen hatte, ausgerechnet Karnuzîr zu vertrauen.

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Am Rande des Salzsees
« Antwort #5 am: 12. Mai 2019, 20:47 »
"Es ist salzig," sagte Narissa überrascht, als sie vom Wasser des Núrnen-Meeres gekostet hatte. Angewidert spuckte sie aus und trank gleich darauf einen großen Schluck aus einem der Wasserschläuche, um den salzigen Geschmack loszuwerden.
"Das hätte ich dir vorher sagen können," meinte Aerien nur. "Aber du wolltest ja nicht hören."
"Wieso auch? Der Fluss, oder besser gesagt, das schmutzige Rinnsaal, dem wir hierher gefolgt sind, besteht aus Süßwasser. Ekelhaftes, unreines Süßwasser, aber dennoch war keine Spur von Salz darin. Und soweit ich weiß hat dieses Meer - welches letzten Endes auch nur ein großer See ist - keinen Abfluss in den Ozean. Wieso also ist es salzig?"
"Ich weiß es nicht," antwortete Aerien.
"Ich schon," sagte Gimli, der sich bückte und einen der kleineren schwarzen Steine aufhob, aus denen der Strand, an dem sie standen, bestand. "Das Geheimnis verbirgt sich hinter dem Gestein, aus dem sich der Boden Nûrns zusammensetzt." Er holte aus und schleuderte den Stein beeindruckend weit in das stille Meer hinein. Mit einem fernen Platschen duchbrach das Wurfgeschoss die Wasseroberfläche und versank. "Das Salz entstammt aus dem Fels. Ich vermute, dass diese Ebene einst Meeresboden gewesen ist. Ehe die Welt in den Kriegen der Altvorderen zerbrochen und verändert wurde. Das Meeressalz hat sich damals hier festgesetzt und löst sich nun unendlich langsam im Wasser auf, das sich hier aus den umliegenden Gebirgen sammelt. Und obwohl das Wasser dieses Binnenmeeres nicht trinkbar ist, beherrbergt es dennoch köstlichen Fisch."
"Neben dem dürren Getreide, das auf den Feldern von Nûrn angebaut wird, ist der Fisch des Núrnen-Meeres die Hauptnahrungsquelle der Bewohner des schwarzen Landes," fuhr Aerien mit der Erklärung fort. "Selbst in Durthang gab es mindestens ein Mal pro Woche Fisch auf den Tisch."
"Pech für all jene, die keinen Fisch mögen," kommentierte Narissa. "Und Pech für uns - jetzt können wir unsere Wasserschläuche nur mit dem Dreckwasser des Flusses füllen."
"Das ist besser als nichts," meinte Gimli. "Kommt, an die Arbeit, meine Damen. Zwar haben wir nun das Meer erreicht und können uns eine kurze Rast gönnen, doch allzu lange verweilen sollte man nirgendwo, wenn man durch Mordor reist. Bis zu den Sklavenfeldern ist es nicht mehr weit - sie beginnen bereits am jenseitigen Ufer des Binnenmeeres."

Sie hatten den Marsch zum Meer von Núrn in einem zweitägigen Marsch zurückgelegt, der die drei Menschen sichtlich mehr Kraft als den Zwerg gekostet hatte. Kein lebendes Wesen war ihnen auf dem trostlosen Weg über die kaum bewachsene, öde Ebene Núrns begegnet, was Aerien einerseits hoffnungsvoll stimmte, ihr aber gleichzeitig unterbewusst auf die Stimmung schlug. Dies war nicht das Mordor, das sie aus ihrer Kindheit und Jugend kannte. In der Festung von Durthang war sie nie weit von einem anderen Menschen entfernt gewesen - stets hatten vor ihrer Tür stumme Wächter wie Aglarân gestanden, und ständig hatte man sie unerbittlichen Lehrmeistern und Unterweisern vorgeführt, um sie zu jener Perfektion zu drillen, die Sauron, der Große Gebieter, von seinen menschlichen Dienern verlangte. Selbst in den wenigen Stunden der Einsamkeit war Azruphel niemals wirklich allein gewesen. Augen hatten sie aus den Schatten beobachtet und Ohren hatten an Türen und Wänden gelauscht. Als sie alt genug geworden war, um am Hofleben teilzunehmen, hatten sich zu den niemals enden wollenden Unterweisungen kunstvoll gesponnene Intrigen und allerlei geflüsterte Lügen gesellt, die ihr zwar allerhand Schwierigkeiten und Herausforderungen bereiteten, aber ihr niemals das Gefühl gaben, allein auf weiter Flur zu stehen.
Auch wenn sie während der Wanderung durch Mordor nicht wirklich alleine war, denn Narissa war nie weit entfernt, erschreckte die Leere des Landes Aerien doch mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Die beinahe absolute Abwesenheit von lebenden Geschöpfen - von ein paar hartnäckigen Gräsern und Büschen abgesehen - sorgte dafür, dass ihr Mordor noch feindseliger vorkam, als es endlose Reihen von marschierenden Orks hätten tun können. Denn die Soldaten des Schattenlandes waren Aerien vertraut, doch das Verhängnis, das über der Ödnis von Núrn zu schweben schien, hielt ihr vor Augen, welches Schicksal der Dunkle Herrscher für die Welt der Menschen vorgesehen hatte. Alle Lande würde er unterwerfen und sie so lange für seine Zwecke ausbeuten, bis nichts als eine lebensfeindliche, leere Schattenwüste davon übrig blieb.
Eine grauenvolle Vorstellung, dachte sie.

Gimli führte die Gruppe am Strand entlang in nördlicher Richtung, das Meer zu ihrer Rechten. Gesprochen wurde nur wenig. Noch immer war es offensichtlich, dass der Zwerg als Einziger nichts von dem Willen des Schattens spürte, der sich gegen sie richtete und ihre Schritte erschwerte. Noch waren sie einigermaßen bei Kräften und stemmten sich gegen den Widerstand, der ihnen entgegengeworfen wurde, denn sowohl Narissas als auch Aeriens Wille war ungebrochen. Und als Aerien einen verstohlenen Blick auf Karnuzîr warf, glaubte sie, in den Augen ihres Vetters einen neuen Glanz zu erhaschen, der zuvor noch nicht da gewesen war. Etwas hatte sich an ihm verändert. Doch was das sein mochte, konnte sie nicht sagen.
"Jetzt haben wir es bald geschafft," sagte Gimli, der auf einen großen Felsen geklettert war. Ein ganzes Dutzend von mannshohen Felsen war hier als Überbleibsel einer uralten Gesteinslawine im kiesigen Sand des Strandes liegen geblieben. Zu Aeriens Linker ragte eine felsige Klippe auf, an deren Spitze sie die Stelle zu erkennen meinte, wo die Felsen einst von einer unbekannten Kraft abgebrochen worden waren. Gimli beschattete mit seiner linken Hand seine Augen und blickte nach Norden, wo das Ufer des Meeres zur Rechten hin eine langgezogene Biegung machte, um schließlich am östlichen Horizont zu verschwinden.
"Was ist denn das dort?" rief Narissa und deutete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. "Gibt es Vögel in dieser trostlosen Gegend?"
Gimli fuhr herum, eindeutig alarmiert von diesen Worten. "Nein, gibt es nicht," brummte er und kniff die Augen zusammen. Kaum einen Moment später weiteten sie sich, als der Zwerg, erschrocken ausrief: "Los, runter! In Deckung!"
Sofort ließen sie sich in den schwarzen Kies fallen und krochen so rasch es ging in den Schatten der großen Felsen, die nahe genug aneinander zum Stillstand gekommen waren, um ihnen hoffentlich genug Deckung vor unfreundlichen Blicken zu geben. Narissa und Karnuzîr gingen beide sogar noch einen Schritt weiter und bedeckten sich hastig mit einer notdürftigen Schicht des groben Kieses, während Aerien sich nah an Gimli drängte, der beinahe in einer schwarzen Felsspalte verschwunden war. Durch einen feinen Schacht über ihrem Kopf konnte Aerien ein Stück des trüben, grauen Himmels über ihr sehen. Und während sie noch mit pochendem Herzen nach oben blickte, rauschte eine monströse Gestalt hoch über ihrem Versteck vorüber. Der Jagdschrei einer gewaltigen Kreatur drang an ihre Ohren und sorgte dafür, dass sie panisch die Hände darauf presste. Doch noch mehr als das, was sie gesehen oder gehört hatte, raubte die Eiseskälte in ihrem Herzen Aerien beinahe dien Atem. Sie hatte dieses Grauen nicht mehr gefühlt seit... seit Qafsah.
Eine sich in schiere Endlosigkeit dahinziehende Minute des Schreckens verging, dann begann Aerien zu spüren, wie sich die grausame Präsenz nach Norden hin entfernte. Sie schüttelte sich, um die Bilder abzustreifen, die vor ihrem inneren Auge auf sie einstürmten: Eine schattenhafte Gestalt mit einem gezackten Schwert, die in einem gemauerten Gang auf sie zukam. Unerbittlich. Unaufhaltsam. Unvermeidlich.
Eine Hand packte Aerien an der Schulter und zerrte sie aus ihrem Versteck. Es war Narissa.
"Du weißt, was das war, nicht wahr?"
Aerien nickte. "Naz-"
"Sprich es nicht aus," unterbrach Gimli sie. "Nenne sie nicht beim Namen." Sein Blick ging voller Sorge nach Norden. "Ich hatte gehofft, dass sie noch nichts von eurer Ankunft erfahren haben." Traurig schüttelte der Zwerg den Kopf.
"Vielleicht war das nur ein Zufall," meinte Narissa. "Vielleicht hat er gar nicht nach uns gesucht."
"Wohl kaum," erwiderte der Zwerg. "Nichts geht in Mordor vor sich, ohne dass sie es mitbekommen, ob früher oder später. Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit..." Er blickte niedergeschlagen zu Boden und eine Minute verging, in der niemand ein Wort sprach. Dann schien sich Gimli einen Ruck zu geben. "Wie dem auch sei," sagte er. "Auch ohne Aussicht auf Erfolg müssen wir es dennoch zumindest versuchen. Noch sind wir frei und im vollständigen Besitz unserer Kräfte. Also hoch mit euch."
Sie versammelten sich erneut am Strand. "Was war das für ein Wesen?" wollte Narissa wissen.
"Ein Geflügelter Schatten," sagte Aerien leise. Sie hatte eine solche Kreatur selbst erst bei zwei Gelegenheiten gesehen: eine in Barad-dûr, sowie eine weitere in Minas Morgul. "Sie leben in den Ered Lithui, am Nordrand der Aschenöde von Lithlad. Es sind wilde Kreaturen mit ledrigen Flügeln, die der Dunkle Herrscher für seine wichtigsten Würdenträger als Reittiere bereithält."
"Wenn es ein lebendiges Wesen ist, dann kann man es auch töten," sagte Narissa. Auf seltsame Art und Weise schien ihr das Mut zu machen.
Gimli lachte leise, ein beinahe unnatürlicher Laut inmitten der Trostlosigkeit Mordors. "Das ist die richtige Einstellung," pflichtete er Narissa bei. "Trotzdem hoffe ich, dass wir allen weiteren Geflügelten Schatten aus dem Weg gehen können. Dieses Vorhaben, das ihr zu versuchen trachtet, beruht auf List und Heimlichkeit, und nicht auf Waffenstärke."
Er wandte ihnen den Rücken zu und stapfte unbeirrt voran, als wäre nichts geschehen. Die drei Menschen folgten ihm, entlang des dunklen Strandes, bis Gimli sich schließlich direkt nach Norden wandte und sie auf die gewaltigen Sklavenfelder von Núrn führte.
« Letzte Änderung: 13. Jun 2019, 14:30 von Fine »
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Fine

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Über die Sklavenfelder
« Antwort #6 am: 13. Jun 2019, 20:17 »
Ein schwindender Halbmond stand am Himmel, als Gimli die drei Menschen auf die Sklavenfelder von Nûrn führte. Sie hofften, nachts weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Und obwohl es finster ringsum war, minderte sich ihr Unbehagen über den sich bietenden Anblick kaum.
Die Pflanzen, die hier angebaut wurden, wirkten, als würden sie sich mit aller Kraft dagegen wehren, in der geschundenen Erde von Nûrn zu gedeihen, doch wie alles in Mordor waren auch sie längst dem Willen des Dunklen Herrschers unterworfen worden. Sauron hatte früh verstanden, dass ein totes Land keine Nahrung für seine riesigen Heere produzieren würde, und deshalb war den Feldern von Nûrn die Verwüstung erspart geblieben, die den Großteil Mordors auf ewig vernarbt hatte. Bräunliche, krank aussehende Gräser und Gestrüppe wuchsen entlang der Plantagen, die einzig und allein dem Zweck dienten, die Kriegsmaschinerie des Schwarzen Landes zu füttern, denn selbst Orks und andere Wesen des Schattens mussten essen, um bei Kräften zu bleiben.
Gilmi führte sie mehr oder weniger geradewegs nach Norden, stets die Fackeln in der Ferne vermeidend, die auf herumstreifende Sklaventreiber hindeuteten. So passierten sie halb abgeerntete Felder und brach liegende Gehöfte, bis vor ihnen das Licht einer Ansiedlung auftauchte, die mitten in der Ebene erbaut worden war. Das Ufer des Nûrnenmeeres hatten sie inzwischen längst hinter sich gelassen.
"Jetzt werden wir etwas mehr Risiko eingehen müssen," brummte Gimli. "Falls dieses Dorf einen Namen hat, so kenne ich ihn nicht. Aber dort werden wir hoffentlich Bekannte von mir treffen, die uns an den Wachen am Nûrnen-Pass vorbeibringen können."
"Du sprichst von dem Pass, der Nûrn mit der Ebene von Gorgoroth verbindet," sagte Aerien wissend. "Eine große Ork-Festung bewacht jene Straße. Und der einzige Weg daran vorbei führt über die Nordstraße bei Lithlad - ein gewaltiger Umweg."
"Deshalb müssen wir es hier versuchen," antwortete der Zwerg. "Uns bleibt keine Zeit für Umwege."
Sie schlichen sich näher an die Ansiedlung heran. Eine hölzerne Palisade umgab das Dorf, welches aus Zelten und grob zusammengezimmerten Hütten bestand. Beide Zugänge waren von Orks bewacht, doch Gimli führte die Gruppe in einem Bogen um das südliche Tor herum zu der Stelle, an der die Befestigungsanlage an eine Gruppe von großen Felsen stieß. Dort ließ sich einer der Holzstämme, aus denen die Palisade bestand, anheben, um hindurch zu schlüpfen. Für einen patrouillierenden Wächter würde die Mauer vollkommen intakt wirken, doch für Gimli und jeden, der über den wahren Zustand des Stammes bescheid wusste, war sie der perfekte verborgene Zugang in die Ansiedlung. Nacheinander krochen sie hindurch und fanden sich am Ende einer engen Gasse zwischen zwei hohen Zelten wieder.
"Gut," raunte Gimli ihnen zu. "Selbst nach all den Wochen ist der Zugang noch unentdeckt geblieben." Er sah sich vorsichtig um, und als sich nichts regte, setzte der Zwerg sich wieder in Bewegung. Zweimal mussten sie sich rasch in die Schatten von Haustüren oder Seitengängen hechten, um dem Blick vorbeiziehender Wachen zu entgehen, bis sie schließlich an eine der hölzernen Hütten kamen, die vor allem im zentralen Teil des Dorfes standen. Gimli blickte sich erneut um, dann klopfte er viermal gegen die Eingangstür.
Stille antwortete ihm. Der Zwerg verharrte einen Augenblick auf der Stelle, dann klopfte er erneut. Als noch immer keine Reaktion erfolgte, legte Gimli sein Ohr auf das Holz der Tür, um zu lauschen.
"Hörst du etwas?" wisperte Narissa.
"Nicht einen Mucks," gab Gimli leise zurück. "Vielleicht sollte ich..."
Gerade in dem Moment, als ein vage vertrauter Geruch in Aeriens Nase zog, stieß Karnuzîr die Türe kurzerhand auf. Sie war nicht verschlossen gewesen, was Gimli zu überraschen schien. Einer Welle gleich ergoss sich ein Duft aus dem Inneren auf die Straße, der Aerien sofort klar werden ließ, was sie drinnen vorfinden würden. Karnuzîr spähte hinein und bestätigte ihren Verdacht.
"Wer auch immer hier gewohnt hat... sie sind alle tot," sagte er gleichmütig.
Gimli drängte sich an Karnuzîr vorbei, und Aerien und Narissa folgten ihm in die Hütte hinein. Die Leichen von sieben Menschen lagen auf dem Boden des Raumes, in den die Gruppe nun kam. Im fahlen Licht des Mondes, der durch ein offen stehendes Fenster herein fiel sahen sie das getrockete Blut, das Boden und Wände verschmiert hatte. Der Geruch - der Gestank der Verwesung - wurde beinahe unerträglich. Aerien musste die Leichen nicht ansehen um zu wissen, dass sie schon viele Tage lang tot sein mussten.
Gimli starrte tonlos zu Boden. Kein Laut der Trauer drang über die Lippen des Zwerges. Die Jahre seiner Gefangenschaft in Mordor mussten dafür gesorgt haben, dass dieser Verlust ihn nicht weiter schockierte, als er es ohnehin schon war. "Welch ein Jammer," sagte er schließlich, ehe er begann, die Leichen mit einem abgebrochenen Holzbalken, den er aufgehoben hatte, auf einen Haufen zu befördern und sie dann mit einem schmutzigen, großen Tuch zu bedecken, das der Zwerg in einer der Ecken des Raumes gefunden hatte.

Während Gimli mit seiner traurigen Arbeit beschäftigt war, hielt Narissa am Eingang Ausschau nach Gefahren, während Karnuzîr sich auf den einzigen intakten Stuhl im Raum gesetzt hatte, um etwas Atem zu schöpfen. Aerien war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Der Geruch der Verwesung brachte sie nicht aus der Fassung, denn er war ihr seit jungen Jahren gut vertraut. Schon früh hatte man sie in die Kerker von Durthang geschickt, um erste Erfahrungen mit den Strafen zu erlangen, die auf jene warteten, die den Dunklen Herrscher enttäuschte. Aerien erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal von den Wachen ihres Vaters die steinernen Stufen hinab zu den Verliesen gebracht worden war.

~~~

Die kleine Hand ihres jüngeren Bruders, Varazîr, drückte sich fest in ihre, als Azruphel der düsteren Gestalt Aglârans hinab zu den Kerkern folgte. Ihr elfter Geburtstag lag vier Wochen zurück und an diesem Morgen hatte ihr Vater sie persönlich geweckt, um sie auf das vorzubereiten, was sie heute erleben würde. Das Rot ihres Kleides war so dunkel, dass es nur im hellsten Licht seine wahre Farbe preisgab und ansonsten nachtschwarz wirkte, und obwohl der Saum des weichen Stoffes bis zu ihren Fußknöcheln reichte, fror das Mädchen. Fackeln erhellten den Gang, in den sie nun traten und ein unangenehmer Geruch stieg in Azruphels Nase. Aglâran blieb inmitten des Ganges stehen, dann trat der Gardist beiseite und gab den Blick auf den Raum frei, der sich nun vor den beiden Kindern öffnete. Ein trübes Licht, das durch ein breites Gitter in der Decke fiel, erleuchtete eine breite, steinerne Platte, auf der ein Mensch lag. Ein Schatten lag auf dem Gesicht des Mannes, der unbekleidet war, doch Azruphel spürte instinktiv, dass sie einem Toten gegenüber stand.
Jenseits des steinernen Altars regten sich etwas, und eine Gestalt trat vor. Es war Azruphels Vater, gehüllt in volle Rüstung, das Haupt von der Kapuze seines Umhangs bedeckt. In beiden Händen hielt er einen Dolch aus dunklem Metall.
"Tretet vor," befahl Varakhôr seinen Kindern. Und sie gehorchten, wie sie es gelernt hatten, ohne zu zögern. Dabei ließ der kleine Varazîr die Hand seiner Schwester nicht los; selbst dann nicht, als sie direkt vor der Leiche standen.
Der Herr von Durthang reichte ihnen die Dolche. "Dieser hier ist bereits tot und kann euch eure Aufgabe daher nicht mehr erschweren," fuhr er fort. "Betrachtet dies als erste Übung. Verseht seinen Körper nun mit dem Mal des Auges, damit jeder sehen kann, dass er sein Ende in Mordor fand." Unerwähnt ließ er die Tatsache, dass die nächste Übung an einem lebendigen Opfer vollzogen werden würde, wie Azruphel bald schon erfahren würde.
Sie schloss ihren Griff fest um den Dolch, als sie die Spitze der Klinge vorsichtig auf die Brust des Toten ansetzte. Und während sie noch zögerte - so kurz dieser Augenblick auch andauerte - spürte sie schon, wie ihr jüngerer Bruder bereits mit seiner Aufgabe begonnen hatte. Azruphel biss die Zähne zusammen und stieß zu.


~~~

"Wie geht es jetzt weiter?" fragte Narissa einige Minuten später. Das Licht des Mondes war inzwischen beinahe vollständig geschwunden und die dunkelste Stunde der Nacht zog herauf.
"Wir können hier nicht bleiben," murmelte Gimli. Lauter sagte er: "Nein, wir müssen so rasch es geht weiterziehen, zum Nûrnen-Pass... ohne diese armen Seelen hier. Wir werden es ohne ihre Hilfe versuchen müssen."
Aerien sah zu Karnuzîr hinüber, der ihrem Blick für einen Augenblick begegnete, eher er rasch in Narissas Richtung schaute. "Dann müssen wir also früher als gedacht auf unser Täuschungsmanöver zurückgreifen," stellte sie fest.
"Ja," stimmte Narissa zu. "Ich schätze, es wird Zeit für deinen Auftritt, Karnuzîr."
Sie riskierten noch eine halbe Stunde Rast in der verwüsteten Hütte, dann stahlen sie sich zurück zu der Lücke in der Palisade der Ansiedlung. Es gelang ihnen, den Blicken der Wächter auszuweichen und das Dorf ungesehen hinter sich zu lassen. Bald schon waren sie zurück auf den trostlosen Feldern Nûrns, wo sie sich schließlich ein Versteck in einem dornigen Gebüsch suchten, um tagsüber etwas Schlaf zu finden. Am nächsten Abend würden sie sich zum Pass, der nach Gorgoroth führte vorwagen. Dann würde sich zeigen, ob es Karnuzîr gelingen würde, Narissa, Gimli und insbesondere Aerien als seine Gefangenen auszugeben.


Narissa, Aerien, Gimli und Karnuzîr nach Gorgoroth
« Letzte Änderung: 1. Jul 2019, 08:50 von Fine »
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