~~Der Gestürzte~~
In Balanjar gab es keine Kerker, keine Gefängniszellen. Mit mehr Zeit hätte Krastan diese gesamte Karikatur einer Stadt von Grund auf verändert - die Jurten und Zelte wären verschwunden, und hätten einer ordentlichen Stadt aus gemauerten Häusern Platz gemacht, mit einem Palast, der seinen Status als Fürst deutlich widergespiegelt hätte. Doch dazu war es nie gekommen, denn Krastans Herrschaft hatte nicht einmal ein ganzes Jahr gedauert, und während der ganzen Zeit hatte noch immer der große Krieg getobt.
So kam es, dass er lediglich mit dem Rücken an eine hölzerne Stange in der Mitte eines großen Zeltes gefesselt war, das zuvor ihm als Gefängnis gedient hatte. Wo nun er, der Verwandte des Königs von Rhûn und Fürst von Balanjar, angekettet war, hatten zuvor gewöhnliche Verbrecher und Aufrührer auf ihre Hinrichtung gewartet. Welch eine Demütigung! Er hustete, und ein wenig Blut lief ihm aus dem Mundwinkel in den schwarzen Bart, den er sich nach Art der Menschen von Balanjar unter dem Kinn zu einem kurzen Zopf geflochten hatte. Auch die Haare trug er so, wie es bei ihren Kriegern Sitte war, lang über die Schultern fallend. Er hatte sogar die Tochter ihres verräterischen Fürsten zur Frau genommen, dieses dürre schwarzhaarige Ding. Wehmütig dachte er an die Geliebte, die er in Gortharia zurückgelassen hatte -
das war eine Frau gewesen, groß, gut ausgestattet, und mit seidigem blonden Haar... Wenn seine kleine Gemahlin wenigstens schwanger geworden wäre, oder ihm ein wenig Vergnügen im Bett bereitet hätte... stattdessen hatte sie immer unter ihm gelegen wie ein Stück Holz und stumm abgewartet, bis er fertig war. Und hinterher hatte sie ihn manchmal lange mit ihren schwarzen Augen betrachtet, bis ihm eine Gänsehaut den Nacken hinauf kroch.
Er war ein Fürst gewesen, einer der fünf Pfeile Rhûns! So hoch war niemand aus der Familie seines Vaters aufgestiegen, weshalb er auch nicht lange gezögert hatte, als sein Vetter Goran ihm das Angebot gemacht hätte. Hätte er geahnt, wie schwierig dieses Volk war, wie unwillig, ihn als einen der ihren, als ihren rechtmäßigen Fürsten anzuerkennen... Er schüttelte den Kopf, und lachte leise und bitter auf. Er hätte wissen müssen, dass diese Frucht vergiftet war, doch wann bekam man schon eine solche Gelegenheit?
Vor dem Zelteingang bewegten sich dunkle Gestalten. "Es ist soweit", sagte er leise, und leckte sich die aufgesprungenen Lippen. Die Wunde unter seinen Rippen schmerzte, ebenso wie seine Beine vom langen, aufrechten Stehen, an den Pfahl gefesselt. Vielleicht war es gut so, und doch wollte er leben. Sie würden ihn gehen lassen, wenn er darum bat, da war Krastan sich sicher. Sollten sie ihr Fürstentum behalten, seinetwegen auch seine Frau. Er würde nach Gortharia zurückkehren, zu seinen eigenen Ländereien, von denen es sich auch nicht schlecht leben ließ. Oder zu Goran an den Hof.. und vielleicht würde er eines Tages nach Balanjar zurückkehren, an der Spitze eines Heeres. Krastan grinste nervös. Das sollte er ihnen aber vielleicht nicht verraten...
Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen, und flackerndes Fackellicht erhellte des düstere Innere des Zeltes.
"Der Mond steht hoch am Himmel", sagte der weißhaarige, aber ungebeugte Mann, mit den harten, schwarzen Augen. "Und die Zeit der Abrechnung ist gekommen." Vier weitere alte Männer traten neben ihn, zwei zu jeder Seite. "Krastan Iram, wir haben beschlossen, dass ihr sterben müsst."
~~Der Priester~~
Die Augen des gestürzten Fürsten zuckten nervös hin und her. "Das... wird nicht nötig sein", sagte er. "Ich werde nach Gortharia zurückkehren. Ihr könnt euer Drecksloch von einem Fürstentum behalten, Priester. Und eure Enkelin meinetwegen auch, nur lasst mich gehen."
Sie ist meine Großnichte, dachte Darzan bitter.
Aber ihr habt euch nie dafür interessiert wer sie ist, und jetzt werdet ihr den Preis zahlen. Er würdigte Krastan keiner Antwort, und nickte stattdessen den Männern neben sich zu. "Ergreift ihn, und bringt ihn zum Tempel."
Drei Tage zuvor hatte es begonnen. Seit Krastan beschlossen hatte, mitten im Herbst, zur Erntezeit, weitere Männer nach Mordor zu entsenden, hatte Darzan aktiv begonnen, seinen Sturz zu planen, und vor drei Tagen hatten sie ihren Plan in die Tat umgesetzt - alte Männer, Priester, und Frauen, denn die meisten Krieger waren im Namen Mordors in den Kampf gegen den Westen gezogen. Viele waren gefallen, viele andere waren noch immer dort. An der Grenze zu Rohan, im besetzten Gondor, oder im Norden am Erebor. Nur wenige waren bislang nach Balanjar zurückgekehrt.
Mit Stolz dachte Darzan an seine Großnichte, während er gemessenen Schrittes den anderen Priestern, die Krastan an den Armen gepackt hatten und mit sich schleiften, voranging. Irri hatte eigenhändig zwei von Krastans Leibwächtern überwältigt und dem Fürsten - ihrem Gemahl, doch nicht mehr lange - den Dolch an die Kehle gesetzt. Sie hatten offensichtlich nicht mit der Wehrhaftigkeit der Frauen von Balanjar gerechnet, denn im Norden war das so nicht üblich. Die Köpfe von Krastans Getreuen waren vor dem Schrein aus schwarzem Stein in der Mitte der Stadt auf Pfähle gespießt worden. Auf Krastan wartete ein anderes Schicksal.
Sie erreichten den Platz vor dem Schrein, auf dem sich trotz der fortgeschrittenen Stunde eine beträchtliche Menschenmenge versammelt hatte. Vor dem Schrein war ein Ring von Fackeln aufgestellt worden, in dem Darzan nun niederkniete. "Götter des Grases, der Winde und des Himmels", begann er zu sprechen. "Einst war dies der Ort, an dem euch gehuldigt wurde. Viele von uns haben euch vergessen, haben den dunklen Gott Mordors als ihren Gott angenommen. Doch in manchen von uns hat das Gedenken an euch überlebt. Und von diesem Tag an sollt ihr wieder über unser Volk wachen. Balanjar soll wieder frei sein von der Herrschaft des Dämons aus Mordor, der niemals unser Gott war, und niemals wieder unser Gott sein soll!"
Mit einem Gefühl der Befriedigung beobachtete er, wie die Menge aus Alten, Frauen und Kindern um ihn herum auf die Knie fiel - ihm und dem Kreis aus Flammen zugewandt, nicht dem schwarzen Schrein von Morgoth. Hinter ihm spuckte Krastan verächtlich einen blutigen Schleimklumpen ins Gras, und einer seiner Bewacher versetzte ihm einen Fausthieb ins Gesicht. "Eure Götter werden euch nicht beschützen können, wenn die Macht Mordors über euch kommt", sagte er dennoch. "Doch es läge in meiner Macht es zu verhindern. Dieser alte Mann bringt euch nur Tod."
Darzan kam mit knackenden Gelenken auf die Füße, und sein weißer Bart wehte im Nachtwind. "Mordor hat uns Tod gebracht. Die Herrschaft Gortharias hat uns Tod gebracht", erwiderte er. "Wo sind unsere Männer, Krastan? Unsere Söhne, unsere Brüder, unsere Ehemänner, unsere
Krieger? Sie sind gefallen in einem Krieg, der nicht er unsere ist."
"Eure Vorfahren haben auch früher gegen die Westmenschen Krieg geführt. Was ist so anders an diesem?"
"Früher haben wir für uns gekämpft. Jetzt kämpfen wir für eine Macht, für die wir nicht mehr sind als Spielfiguren, die beliebig geopfert werden können."
Krastan lachte laut auf. "Ihr wart schon immer Spielfiguren, nur habt ihr es nicht begriffen."
"Vielleicht." Darzan trat aus dem Kreis der Fackeln hinaus, und gab den anderen Männern einen Wink, woraufhin sie Krastan nach vorne stießen und grob in der Mitte des Kreises auf die Knie zwangen. "Doch jetzt sehen wir die Schnüre, an denen wir baumeln, und wir haben sie durchtrennt." Er sprach mit lauter, klingender Stimme. "Ihr habt Recht, Krastan. Ihr habt die Macht, uns vor Mordors Zorn zu schützen - in eurem Blut."
Bei diesen Worten trat Irri neben ihm, in ein weißes Gewand gekleidet. Darzan zog den uralten, gekrümmten Dolch mit geschwärzter Klinge aus seinem Gürtel, und reichte ihn seiner Großnichte mit dem Griff voran. Drei Fürsten hatte er als Priester zur Ruhe gebettet. Zuerst seinen Vater, dann seinen älteren Bruder, und zuletzt Arran, dessen Sohn, der Irris Vater gewesen war. Dieses Begräbnis hatte in aller Heimlichkeit stattfinden müssen, und das war die Schuld des Mannes, der gefesselt vor ihnen kniete. Irri nahm den Dolch entgegen, und blickte ihm in die Augen. "Danke, Onkel", sagte sie leise. Sie war das letzte, was ihm von seine Familie blieb.
Irri trat in das Innere des Flammenkreises, und kniete vor Krastan nieder. "Mein Eheweib", sagte er spöttisch, doch die Furcht in seiner Stimme war nicht zu überhören. "Bist du gekommen, um mich vor diesen Wahnsinnigen zu erretten?"
"Wenn du das glaubst, bist du er einzig Wahnsinnige hier, mein Gemahl", erwiderte Irri, und nahm beinahe sanft seine rechte Hand. "Ich bin gekommen, um eine Rechnung zu begleichen." Mit einer raschen Bewegung zog sie die Schneide des Dolches über seinen Unterarm hinab bis zum Handgelenk, genau entlang der Pulsadern. Während Krastan noch einen Laut von sich gab, der eher von Überraschung als Schmerzen zeugte, wiederholte sie das Ganze an seinem linken Arm, und erhob sich dann.
Im Licht der Fackeln wirkte das Blut, dass aus im gleichmäßigen Rhythmus aus den Wunden quoll und ins Gras sickerte, beinahe schwarz. Krastan betrachtete die Wunden mit weit aufgerissenen Augen. "Ihr... ihr werdet alle sterben", sagte er. "Sterben." Seine Haut wurde langsam immer blasser, während sein Lebensblut vor ihm in den Boden sickerte. "Alle Menschen müssen sterben", sagte Irri leise. "Doch du zuerst."
Darzan hob die Arme. Jahrelang hatte er Menschen auf dem Altar des Großen Dunklen geopfert, bevor er den Weg zurück zu den alten Göttern seines Volkes gefunden hatte. Bevor er erkannt hatte, des der Weg Mordors zum Untergang führte, für alle Menschen, egal auf welcher Seite sie standen. "Götter des Grases, des Windes und des Himmels, nehmt das Opfer an! Wir geben euch das Blut Krastans, des falschen Fürsten, Abkömmling von Königen!"
Krastan lächelte, als er diese Worte hörte. "Das Dunkel... wird euch... verschlingen", brachte er mühsam hervor. Er öffnete noch einmal den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann fiel er vornüber, in das von seinem Blut getränkte Gras. "Beschützt uns vor dem Dunkel, das im Süden lauert, und führt uns den Weg in die Freiheit und ins Licht!", sprach Darzan weiter, während Irri nur Augen für ihren sterbenden Gemahl hatte. "Lasst Balanjar wieder frei sein!"
~~Die Prinzessin~~
Im Osten ging eine blutrote Sonne auf, als Irri die Spitze des großen Turmes erreichte. Es handelte sich dabei um eine uralte Konstruktion hölzerner Streben, die sich über die Zelte von Balanjar erhob. Von der schmalen Plattform an seiner Spitze konnte man in alle Richtungen weit über die sanft gewellten Graslande blicken, doch ihre Augen wurden von dem dunklen Streifen am südlichen Horizont angezogen - dem Aschengebirge. Auch ihr Onkel blickte in jene Richtung, auf einen hölzernen Stab gestützt. Sie wusste, dass er den Stab nicht wirklich als Stützte benötigte, sondern nur, um Eindruck zu schinden. Die Tatsache, dass er ihn bei sich hatte, verriet ihr, dass sie nicht mit ihrem Onkel sprechen würde, sondern mit dem Hohepriester der Götter des Grases, des Windes und des Himmels.
"Du wolltest mich sprechen, Onkel", sagte sie. Darzan nickte, und deutete gen Süden. "Dort liegt das Land des Schattens. So nah, dass wir es mit bloßem Auge sehen können. Nah genug, dass sein Schatten bis hier her fallen könnte." Er wandte sich nach Nordosten. "Und im Norden liegt Gortharia, dessen König Mordor treu ergeben ist. Wir sind auf allen Seiten von Feinden umgeben."
"Dann müssen wir etwas daran ändern", meinte Irri entschlossen. Die letzten Monate hatte sie diesen Teil von sich weggesperrt, und nur existiert, nicht gelebt. Doch jetzt hatte sich alles geändert. "Jetzt, wo ich Fürstin bin, könnten wir..." Ihr Onkel wandte sich ihr mit gerunzelter Stirn zu. "Das bist du nicht." "Ich bin nicht..." Sie schüttelte verwirrt den Kopf. "Ich bin das einzige Kind meines Vaters, und er war das einzige Kind
seines Vaters. Du bis der einzige Bruder meines Großvaters, und du bist ein Priester, kannst also nicht der Fürst werden. Also..."
"Unser Volk ist niemals von einer Frau beherrscht worden", stellte Darzan fest. "Die Götter wissen, wie stolz ich auf dich bin", fuhr er fort, und legte eine faltige Hand auf ihre Wange. "Aber viele in unserem Volk würden dich nicht akzeptieren, und andere werden in dir nur die Frau unseres ungeliebten letzten Fürsten sehen. Es würde unser Volk entzweien, und nichts könnte uns im Augenblick mehr schaden."
Zornig entzog Irri sich seiner Hand. "Bevor ich Krastans Frau war, war ich Arrans Tochter. Nach seinem Tod wäre ich die Fürstin geworden, wenn König Goran nicht anders entschieden hätte." Sie legte die Hand auf den Griff des kurzen Reiterschwertes, das sie heute am Gürtel trug. "Ich kann das Schwert führen, ich kann ein Kriegspferd reiten, und meine Pfeile treffen ebenso gut wie die der meisten Krieger. Mein Vater hat mir alles beigebracht, was er wusste, und er hätte mich zu seiner Erbin erklärt. Wer wäre besser zum Herrschen geeignet als ich?"
"Ein Mann", erwiderte Darzan mit schonungsloser Offenheit. "Du wirst Fürstin werden, sicherlich. An der Seite eines geeigneten Gemahls."
"Meinem letzten Gemahl habe ich letzte Nacht die Pulsadern geöffnet und sein Blut den Göttern des Grases, des Windes und des Himmels geopfert. Und du erwartest, dass ich bald erneut heirate?"
"Wenn du Fürstin sein willst, musst du das tun. Bis du einen geeigneten Gemahl gefunden hast, werden die Priester im Namen der Götter über Balanjar herrschen."
Irri presste die Lippen aufeinander. Sie wusste, dass sie niemals gegen den Willen der Priester die Macht über Balanjar erlangen konnte, nicht nach der Rolle, die sie bei Krastans Sturz gespielt hatten. Also fragte sie: "Und was haben die Priester vor, falls Saurons Horden über uns herfallen?"
"Ich werde verhindern, dass die Nachricht von Krastans Sturz sich verbreitet, so lange wie es möglich ist", antwortete Darzan. "Und wenn Mordor kommt, werden wir uns zerstreuen, über die Ebenen. Im Gras werden sie uns niemals zur Strecke bringen."
Der Plan eines Feiglings, dachte Irri.
Nein, der Plan eines alten Mannes. Auf diese Art und Weise würde ihr Volk mit Sicherheit untergehen.
"Darf ich mich entfernen?", fragte sie, und ihr Onkel nickte, den Blick bereits wieder gen Süden gerichtet.
Nur eine Stunde später verließ sie die Stadt unbemerkt in östlicher Richtung. Eine weitere Stunde später schlug sie im Bett eines Baches einen Bogen nach Norden, und dann nach Westen. Wenn ihr Onkel sich verstecken wollte, sollte er das tun. Währenddessen würde sie etwas anderes tun - Hilfe bei einem uralten Feind suchen.