Milva und Cyneric vom KönigspalastDen Weg vom Königspalast zu Alatars Behausung legten Milva und Cyneric schweigend zurück. Cyneric schien keinen dringenden Redebedarf zu verspüren, eine Tatsache, die Milva nur recht war. Ihre Kopfschmerzen hatten sich durch die letzten Ereignisse noch verschlimmert, und sie fühlte sich mit jeder Minute die verging, unbehaglicher - seit ihrer Befreiung aus Silans Kerker hatte sie weder ihre Kleidung gewechselt noch sich waschen können, und sie fürchtete, den muffigen Kerkergeruch nie wieder aus der Nase zu bekommen.
Erst als sie vor der Tür des dreistöckigen Hauses angelangt waren, wandte Cyneric sich um, öffnete den Mund wie um etwas zu sagen, schloss ihn allerdings sogleich wieder. Er blinzelte überrascht, und fragte dann: "Wo ist Salia?" Milva schüttelte ein wenig verwirrt den Kopf, bevor sie ebenfalls hinter sich blickte. Von der dunkelhaarigen Schattenläuferin war allerdings keine Spur zu entdecken.
"Ich weiß nicht...", sagte Milva langsam. "Ich dachte, sie wäre hinter mir, aber..."
"Wahrscheinlich hat sie sich heimlich abgesetzt, um herauszufinden, was mit Ryltha und Morrandir geschehen ist. Ich hatte noch keine Gelegenheit ihr zu erzählen..." Cyneric unterbrach sich, und machte einen ein wenig unentschlossen Schritt von der Tür des Hauses weg, doch Milva packte seine Hand und hier ihn zurück.
"Du wirst sie ganz sicher nicht finden, indem du einfach durch die Straßen läufst", sagte sie und suchte ein wenig mühsam nach Worten. "Vielleicht will sie auch gar nicht gefunden werden. Oder sie kommt von selbst zurück. Oder... Was
ist denn überhaupt passiert?"
Cyneric fuhr sich mit einer Hand durch die verschwitzen dunklen Haare, die daraufhin noch unordentlicher als zuvor wurden und wie in Stacheln von seinem Kopf abzustehen begannen. "Es... wir..."
Milva unterbrach ihn, indem sie auf die Knie fiel und das wenige, was sich in ihrem Magen befunden hatte, erbrach. Vor ihren Augen flimmerte es, in ihrem Kopf drehte sich alles, und dann wurde es schwarz.
Als Milva zu sich kam, lag sie in einem Bett mit einer weichen Matratze und einer Decke aus einem ihr unbekannten Stoff - Seide vielleicht? Sie rieb sich die verklebten Augenlieder, und richtete sich im Bett auf. Der Kopfschmerz, der sie zuletzt geplagt hatte, war beinahe vollständig verschwunden. Nur ein hartnäckiges Pochen hinter ihrer rechten Schläfe war geblieben, und am Hinterkopf fühlte sie eine Beule, bei deren Berührung sie unwillkürlich zusammenzuckte.
Nach und nach nahm sie mehr von ihrer Umgebung war. Das Bett, in dem sie nun aufrecht saß, stand direkt unter einem Fenster, durch das gerade die letzten goldenen Strahlen der Abendsonne herein fielen. Mit einer zaghaften Bewegung - Milva konnte noch nicht vollständig glauben, dass die Kopfschmerzen vollkommen verschwunden waren - strich sie sich die vom Schlaf unordentlichen Haare aus dem Gesicht. Tatsächlich fühlten sich ihre Haare, obwohl durcheinander und verworren, überraschend sauber an. Das gleiche galt für ihr Gesicht und... den Rest ihres Körpers. Erst jetzt viel Milva auf, dass sie unter der Bettdecke vollkommen nackt war.
Im gleichen Augenblick vernahm sie leise Schritte, Stiefel auf hölzernem Fußboden, von außerhalb des Raumes, und gleich darauf klopfte es sacht an der Tür.
Milva räusperte sich. "Wer... ist da?" In Gedanken fügte sie hinzu:
Und wo bin ich überhaupt? Durch die hölzerne Tür hörte sie ein wenig gedämpft Cynerics Stimme: "Ich bin es, Cyneric. Du bist wach, gut. Also..." Milva glaubte ein etwas unbehagliches Räuspern zu hören. "Darf ich hereinkommen?"
"Nein!", gab Milva sofort zurück, sich ihres Zustandes jetzt vollkommen bewusst. Dann setzte sie sich mit überkreuzten Beinen auf die Matratze, wickelte sich die Decke auf Höhe der Achseln fest um den Oberkörper und ließ sie dann bis zum Bett herunterfallen, sodass nur noch ihre Schultern und Arme entblößt waren. Unsicher, ob Cyneric nicht vielleicht bereits wieder gegangen war, sagte sie laut: "Cyneric? Du kannst hereinkommen."
Die Tür öffnete sich ohne einen Laut, und Cyneric trat ins Zimmer, ein hölzernes Tablett mit mehreren Tonschalen und einem großen Becher unter den Arm geklemmt. Als er Milva sah, glaubte sie ihn unmerklich erröten zu sehen. Sein Gesicht zeigte jedenfalls überdeutlich wie peinlich berührt er war, und er sagte: "Soll ich wieder gehen? Ist... ist das ein schlechter Zeitpunkt?" Milva hätte gerne lässig abgewunken, doch der köstliche Geruch der Speisen, die sich in den Tonschalen befanden, verursachte ihr ein plötzliches Schwindelgefühl. Vor ihren Augen begann es sich zu drehen, also lehnte sie sich stattdessen nur zurück, mit dem Hinterkopf gegen die hölzerne Wandverkleidung, und schloss kurz die Augen.
Währenddessen sagte sie: "Nein, ist schon in Ordnung. Hauptsache... bring dieses Essen hierher, was immer es sein mag." Erst jetzt wurde Milva allmählich bewusst, wie hungrig sie tatsächlich war. Während ihrer Gefangenschaft hatten sie nur eine dürftige Mahlzeit am Tag bekommen, und die letzte musste inzwischen mehr als einen ganzen Tag zurück liegen.
Cyneric kam langsam näher und blieb vor dem Bett stehen, bevor er sich zögerlich auf die Bettkante setzte, wobei er einen Abstand zu Milva hielt, den
wichtige Leute vermutlich als "schicklich" bezeichnet hätten. Da der Schwindel inzwischen vergangen war und Milva die Augen wieder geöffnet hatte, konnte sie das Tablett entgegennehmen und zwischen den Knien festhalten. Als Cyneric sich für einen Moment zu ihr hinüber beugte, nahm sie zwischen dem Duft des Essens seinen Geruch war. Er roch angenehm, sauber und nach trockenem Leder, vielleicht ein wenig nach Metall.
Ohne ein weiteres Wort fiel Milva zuerst über eine tiefe Schüssel mit Suppe her. Sie ignorierte den hölzernen Löffel, hob stattdessen die Schüssel an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck, ungeachtet der Tatsache, dass die heiße Flüssigkeit ihr Lippe und Gaumen verbrannte. Nur zwei Schlucke später hatte sie die Schale komplett geleert, und Milva riss ein Stück von dem weichen, hellen Brot ab, und wischte die Schüssel damit bis auf den letzten Rest sauber. Nachdem sie auch suppengetränkte Stück Brot verspeist hatte, breitete sich eine wohlige Wärme in ihrem Bauch aus, und sie hatte das Gefühl, dass die widerwärtige Schwäche in ihren Gliedmaßen ein wenig nachgelassen hatte. Anstatt sich ohne weiteres auf das Stück Braten - es mochte Hirsch oder Reh sein - dass sich auf einem Holzbrett befand, zu stürzen, griff Milva nach dem großen Becher. Mit Hunger kannte sie sich gut genug aus um zu wissen, dass sie, wenn sie zu viel und zu schnell auf einmal aß, nur erreichen würde, alles wieder zu erbrechen. Sie warf einen Blick in den Becher, in dem sich eine dunkelgelbe, trübe Flüssigkeit befand, und wandte sich dann mit hochgezogener Augenbraue nach links, in Cynerics Richtung.
"Was soll das sein?" Cyneric, dessen Miene nicht verriet, was er dachte, antwortete: "Saft, von einer Frucht aus dem fernen Süden, die ich nicht kenne - jedenfalls sagte der Koch mir das." Auf Milvas misstrauischen Gesichtsausdruck hin lächelte er leicht, und ergänzte: "Ich habe auch etwas davon getrunken. Es ist gut."
Die Antwort genügte Milva, und sie nahm einen kräftigen Schluck. Das Getränk war süß und ein wenig sauer, und prickelte auf der Zunge. Mit einem bedauernden Blick auf den Rest des Essens stellte sie dann das Tablett für den Augenblick beiseite, und wandte sich stattdessen wieder Cyneric zu.
"Ich... habe mir Sorgen gemacht", ergriff dieser die Gelegenheit. "Ich hatte befürchtet, du wärst verwundet worden, aber offenbar waren es nur die Nachwirkungen der Gefangenschaft."
"
Nur", gab Milva zurück, doch nicht ärgerlich. In der Regel gefiel es ihr nicht sonderlich, wenn andere versuchten, sich um sie zu kümmern, oder sich Sorgen um sie machten, doch seltsamerweise störte Cynerics Besorgnis sie nicht weiter. "Ich habe... keine Ahnung wie lange in einem dunklen Kerker verbracht, nur um heute - es ist noch heute, oder?" Cyneric nickte, und Milva fuhr fort: "Nur um heute befreit und dann von diesem Zauberer oder was auch immer mit irgendwelchen Geschichten erschlagen zu werden. Und dann diese Geschichte mit dem König, und dem Dunklen Herrscher der kommt um uns alle zu töten und..." Sie presste die Handflächen gegen die Schläfen, und versuchte ihren Atem zur beruhigen.
Nach kurzem Zögern beugte Cyneric sich zu ihr hinüber und ergriff sanft ihre Hände.
"Es ist... schwierig, dass alles zu verstehen. Alles was hier passiert ist so..." Er lächelte schwach. "Es ist viel. Und eigentlich... eigentlich möchte ich mit alldem nichts zu tun haben, aber..." "... man hat das Gefühl, dass alles viel schlimmer werden könnte, wenn man wegläuft", beendete Milva den Satz für ihn.
Cyneric nickte, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. "Ich wäre viel lieber in Rohan geblieben, bei meiner Tochter. Aber ich..."
Milva unterbrach ihn erneut. "Du hast sie gefunden!" Der Gedanke erfüllte sie mit mehr Freude als sie erwartet hätte. Vielleicht... vielleicht war es doch möglich, dass manche Dinge ein gutes Ende hatten.
"Und viel zu schnell wieder verlassen", erwiderte Cyneric. "Es gab keinen Streit oder ähnliches", erklärte er schnell auf Milvas besorgten Gesichtsausdruck hin. "Déorwyn und ich, wir müssen beide für den Moment unsere eigenen Wege gehen, aber dieses Mal weiß ich, dass wir uns wiedersehen werden."
"Hm", machte Milva. Sie bemerkte, dass Cyneric noch immer ihre Hände hielt, doch sie machte keine Anstalten, die Berührung zu unterbrechen. "Ich nehme an wir sind in... Alatars Haus?"
"Das Konzil der Zauberer, so nennt er es", antwortete Cyneric. "Ja, als du... vor der Tür ohnmächtig geworden warst, habe ich dich hereingetragen."
"Und hast du..." Sie löste eine Hand aus seinem Griff, und deutete mit einer vagen Geste auf Raum und Bett, bevor sie eine saubere Haarsträhne in die Höhe hielt. Die Bewegung machte Cyneric darauf aufmerksam, dass er immer noch ihre linke Hand hielt, und zu ihrem leichten Bedauern ließ er sie los. Als er begriff, worauf sie anspielte, wirkte er ein wenig verlegen und erklärte: "Nein nein, Alatars Diener haben sich um dich gekümmert und in dieses Zimmer gebracht, und..." Er räusperte sich unbehaglich. "Gewaschen, nehme ich an. Ja."
Milva zog eine Augenbraue hoch, biss sich auf die Lippe und beugte sich ein wenig vor, wobei die Decke ein Stück verrutschte. Sie tat als bemerkte sie es nicht. "Und wenn keine Diener dagewesen wären? Hättest du dann..." Cyneric rutschte ein Stück in Richtung Fußende des Bettes, von Milva weg, räusperte sich erneut und heftete den Blick an einen Punkt irgendwo über ihrem Kopf.
"Ähm, die... die Decke ist..." Milva blickte nach unten, doch die Decke war keineswegs weit nach unten gerutscht und hatte nichts entscheidendes freigelegt. Sie verdrehte die Augen, rückte die Decke allerdings nicht wieder zurecht.
"Warum bist du überhaupt nach Gortharia zurückgekommen? Wir hatten noch keine Gelegenheit, darüber zu sprechen." Cyneric fuhr sich unruhig mit einer Hand über den Bart. "Nun, Ryltha, sie..." Er brach ab, als Milva ein unmerkliches Stück näher in seine Richtung gerutscht war.
"Was soll das werden?" Milva ächzte vernehmlich. Sie betrachtete Cynerics Gesicht einen Augenblick lang schweigend, bevor sie eine Entscheidung traf. Sie lehnte sich weiter nach vorne, und sagte leise: "Wie auch immer, ich sollte mich für die Befreiung bedanken." Sie beugte sich noch weiter vor, ganz nah an sein Gesicht heran, und küsste ihn sanft auf die Lippen - nur einen Moment lang, bevor sie sich wieder zurück zog. Zu ihrer Erleichterung hatte Cyneric sich nicht von der Stelle gerührt und sie auch nicht von sich gestoßen. In seinen grauen Augen, die sie intensiv betrachteten, spiegelte sich Unruhe und Nervosität. Schließlich sagte er leise: "Milva, hör zu. Wir können nicht... ich... ich bin..."
Milva unterbrach ihn zum dritten Mal. "Oh nein nein nein. Zu alt? Die Tochter-Masche kannst du bei mir vergessen. Ich hatte einen Vater, ich brauche keinen zweiten. Und überhaupt, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie alt genau du überhaupt bist, du hast dich auf jeden Fall ziemlich gut gehalten." Sie rieb sich die Schläfen. "Oh, bei allen... Ich habe auch keine Ahnung, ob das eine gute Idee ist. Aber, verdammt noch mal, du siehst nun einmal ziemlich gut aus, du hast bewiesen, dass du ein guter Mann bist und obendrein hast du mich gerade aus einem finsteren Kerker befreit. Wie ein tapferer Ritter eine Prinzessin in all den Märchen. Habt ihr diese Märchen in Rohan auch."
Cyneric lächelte. "Die haben wir allerdings."
"Schön. Also sei mein Ritter, Cyneric. Allerdings..." Milva musste unwillkürlich grinsen, auch wenn ihre Hände vor Anspannung zitterten. "Ich gebe vermutlich keine besonders gute Prinzessin ab."
"Ich habe mich ohnehin nie nach einer Prinzessin gesehnt", erwiderte Cyneric sanft. Er griff nach einer Haarsträhne, die sich in ihr Gesicht verirrt hatte, doch anstatt sie ihr einfach aus der Stirn zu streichen, drehte er sie zunächst sanft zwischen den Fingern. "Und zu behaupten du wärst keine, hm... attraktive, junge Frau, wäre sicherlich eine Lüge, und dass ich... mich auf seltsame Weise zu dir hingezogen fühle, doch..." Er verstummte, und schüttelte leicht den Kopf.
"Doch was? Wovor hast du Angst, Cyneric? Dass du das Andenken deiner Frau beleidigst? Ich habe einen Jungen geliebt, vor ein paar Jahren, doch er ist tot, genau wie sie. Wir leben noch. Und ich glaube nicht, dass sie es missbilligen würden, wenn wir ein wenig Freude und... Liebe... mit jemand anderem finden. Und deine Tochter? Hast du Angst, dass sie es missbilligen würde? Wenn es soweit kommt, könntest du dich immer noch entscheiden, wer dir wichtiger es."
"Nur wäre es dann sicherlich schwieriger", meinte Cyneric ruhig, weiterhin ohne den Blick abzuwenden. Milva rang sich zu einem grimmigen Lächeln durch. "Mit Sicherheit."
Cyneric schwieg einen Augenblick, nachdenklich. "Das Risiko gehe ich ein. Wir könnten ohnehin morgen beide tot sein, also..." Er zuckte mit den Schultern, bevor er sich soweit nach vorne lehnte, dass Milva seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte, und seine Stirn fast ihre berührte. "Ich gebe mich geschlagen... Prinzessin." Sie lachte beide, gemeinsam, wie über einen Witz, den nur sie beide verstanden, bevor Cyneric ergänzte: "Also. Lass es uns versuchen, und wir werden sehen, was passiert."
Damit küsste er sie, und dieses Mal lange und ausdauernd, viel länger als eben, als sie ihn geküsst hatte. Milva schlang die Arme um ihn, zog ihn näher an sich heran, bevor sie mit beiden Händen durch die Haare an seinem Hinterkopf fuhr.
Als sie sich schließlich lösten, waren sie beide ein wenig außer Atem, und Milva spürte, dass ihre Wangen gerötet waren. Cyneric stand auf, und nahm das Tablett vom Bett. Das übrig gebliebene Essen war inzwischen kalt geworden, doch im Augenblick verspürte Milva ohnehin keinen Hunger mehr, sondern nur eine behagliche,
sehr zufriedene Müdigkeit.
Cyneric entfernte sich langsam, rückwärts, das Tablett in den Händen, bis er mit dem Rücken gegen die Tür stieß. "Ich denke, für heute solltest du noch ein wenig mehr Schlaf finden."
"Alleine?", versuchte Milva verführerisch zu fragen, doch ein herzhaftes Gähnen unterbrach sie und verdarb jegliche Wirkung. Cyneric lachte leise in seinen Bart hinein. "Alleine."
"Na schön", gab Milva zurück, und als Cyneric die Tür hinter sich geschlossen hatte, fügte sie leise für sich hinzu: "Für heute jedenfalls..."