Córiel, Jarbeorn und Durin mit den Zwergen der Orocarni von den nördlichen GipfelnDie Reise über die unterirdische Straße der Zwerge dauerte zwei Tage, die für Córiel nur wenig Annehmlichkeiten boten. Der nicht enden wollenden Tunnel zog sich schnurgerade unter den Wurzeln des Gebirges dahin, ohne jemals auch nur eine leichte Kurve zu machen. Er war in jahrtausendelanger Arbeit von den unermüdlichen Händen der Zwerge der Orocarni direkt durch den Felsen getrieben worden und wurde, wie der Herr der Kristallhalle seinen beiden bereitwilligen Zuhörern Jarbeorn und Durin nur allzu gerne anvertraute, noch immer stetig erweitert. Die Zwerge hofften, eines Tages alle vier ihrer großen Klanstädte in den Orocarni miteinander zu verbinden, was die oberidrischen Passwege überflüssig machen würde.
Córiel atmete im wahrsten Sinne des Wortes auf, als der Tunnel sie am dritten Tage endlich freigab. Der Ausgang lag am unteren Ende einer langezogenen Felsspalte, deren Verlauf der Reisetrupp nun in ungefährer östlicher Richtung folgte. Das Tor, welches sie an die Oberfläche zurück passiert hatten, war nur eine von mehreren Abzweigungen gewesen. Der Haupttunnel führte unter ihren Füßen stetig weiter nach Süden, unter dem gewaltigsten Berg des gesamten Gebirges hindurch.
"Die altehrwürdige Frostspitze," sagte Garik zufrieden und lenkte ihre Aufmerksamkeit nach Süden hin. Córiel und Jarbeorn mussten die Köpfe in den Nacken legen um das wahre Ausmaß des mächtigen Gipfels überhaupt erkennen zu können. Die eigentliche Bergspitze war von dichten Wolken verhüllt, doch die Flanken der Frostspitze waren vereist und so steil, dass an einen leichten Aufstieg nicht zu denken war.
"Keine Sorge, meine Freunde," lachte der Herr der Kristallhalle. "Ihr werdet nicht wie Eidechsen an den Felswänden hinauf klettern müssen. Es gibt einen von Zwergenhand geschaffenen Pfad, der uns - über viele Treppenstufen - leicht an unser Ziel führen wird."
Die besagte Treppe war rasch gefunden. Am Ende der Felspalte, durch die sie noch immer gingen, öffnete sich ein breites Tal nach Osten hin und die Gefährten sahen, dass sie sich trotz ihrer unterirdischen Reise noch immer in geraumer Höhe über dem Meeresspiegel befanden. Ein fremdes, grünes Land breitete sich unter ihnen aus, das am Horizont von einem tiefblauen, endlosen Band begrenzt wurde.
Das muss das sagenhafte Meer des Ostens sein, dachte Córiel fasziniert. Wie gerne hätte sie jetzt das Gebirge hinter sich gelassen und sich ein Schiff an jenen fernen Gestaden dort unten gesucht oder gebaut, um das Meer zu erkunden, über das es im Westen nicht einmal Gerüchte oder Legenden gab. Doch dies war nicht die Zeit für solche Abenteuer. Denn rechter Hand begann nun die Treppe, von der Garik gesprochen hatte. Steil führte sie über eine der Begflanken der Frostspitze hinauf und verschwand irgendwo zwischen den Wolken. Die Zwerge begannen bereits damit, die ersten Stufen zu erklimmen, und Durin folgte ihnen voller Elan.
Jarbeorn legte Córiel seine schwere Pranke auf die Schulter, doch die Berührung war warm und sanft. Sie wusste, dass er ihr ihre Gedanken am Gesicht abgelesen hatte. Und als sie seinem Blick begegnete, wusste sie, dass sie nichts weiter sagen musste. Der Beorninger nickte sachte, und sie erkannte das unausgesprochene Versprechen in jener Geste. Sie würden hierher zurückkehren und das Land jenseits der Orocarni erforschen... wenn der Drache besiegt und all dies vorbei war.
Córiel gab sich einen Ruck und stapfte los, die Stufen hinauf. Und während sie nun langsam aber sicher in schwindelerregende Höhen hinauf stiegen, durchsuchte Córiel Melvendës Erinnerungen nach allem, was die Tatyar-Elbin einst über den Berg gewusst hatte, der bei den Avari
Ilmarës Wacht genannt wurde. Viel gab es da nicht, außer dass der Legende nach von der Spitze des Berges zu jeder Zeit die Sterne Vardas zu sehen waren, denn sein Gipfel ragte so hoch hinauf, dass selbst das Licht von Sonne und Mond dort oben verblasste. Ilmare, die oberste Dienerin der Sternenentzünderin, die die Hochelben
Elbereth nannten, habe dort einst über die Sterne des Ostens gewacht, noch ehe die ersten Sonnenstrahlen Palisors Wälder berührt hatten. Von den Hwenti hatte Coriel erfahren, dass nach dem Fall Angbands, der alten Festung des Dunklen Herrschers, einer der wenigen überlebenden Drachen zur Frostspitze gekommen sei, welcher dort dem Anblick der Sterne verfiel. Der
Ilcalocë verließ den Berggipfel nur in den seltensten Fällen. Doch in den letzten Jahren hatte sich dies ganz offensichtlich geändert.
Einen halben Tag mühte sich der gesamte Reisetrupp in schweißtreibender Arbeit den Berg hinauf, bis sie schließlich auf ein überraschend flaches Plateau kamen, das sich einigermaßen eng an die Bergkante schmiegte, aber dennoch genügend Platz für ein recht großes Lager bot. Hier waren bereits andere Zwerge zuwerke und die Neuankömmlinge wurden herzlich begrüßt.
"Garik, alter Freund. Wie gut, dich zu sehen," sagte ein Zwerg mit langem, weißem Haar und einer Krone aus schwarzem Metall auf dem Kopf. "Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen."
"Zeit gelassen? Ha! Und das von einem
Khizrik!" lachte Garik. "Wir sind so schnell uns die Beine trugen hergeeilt, als deine Nachricht eintraf, mein guter Hjoltvin. Meine Krieger sagen, die Fremdlinge dort haben uns verlangsamt, aber ich habe sie daran erinnert, dass man uns zur Höflichkeit erzogen hat." Er winkte Córiel, Jarbeorn und Durin herbei. "Freunde, dies ist Hjoltvin, der Herr von Khizrikul, der großen Festung im Herzen des Gebirges. Und dies sind Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, Melvendë von den Tatyar und nicht zuletzt: Durin, Sohn des Thorin, vom Erebor."
"Durin! Beim Barte meiner Ahnen. So, so!" Hjoltvin machte ein abschätzendes Geräusch und umrundete den jungen Zwergenprinz. Dann blieb er vor Durin stehen und schlug ihm fest auf beide Schultern. "Ha! Hast einen guten Stand, mein Junge. Du bist mir willkommen. Und deine Freunde natürlich auch! Oh ja, selbst das Spitzohr." Er grinste in sich hinein und zwinkerte Córiel schelmisch zu, was sie ihren aufsteigenden Ärger wieder vergessen ließ.
"Ich würde mich ja vor Euch verbeugen, Meister Hjoltvin, doch ich fürchte, da käme ich so tief hinuter in den Schnee, dass ich Angst hätte, den Weg nach oben nicht wiederzufinden," gab sie belustigt zurück, einem Instinkt folgend.
"Na sieh mal einer an, das Mädel hat aber eine schnippische Zunge hinter den frostblauen Lippen versteckt!" rief der Herr von Khizrikul und grinste. "Du gefällst mir, Melvendë. Ich bin mir sicher, du wirst der Aufgabe ganz wunderbar gewachsen sein."
"Aufgabe?" wunderte sich Córiel noch, doch Garik ging dazwischen.
"Später," sagte der Zwerg. "Genug geschäkert, ihr beiden. Es gibt viel zu tun. Schlagt das Lager auf und bereitet alles vor!" befahl er seinen Untergebenen, die sich sogleich an die Arbeit machten.
Während die Zwerge in Windeseile ein Zeltlager errichteten und den frischen Schnee beseigtigten, grübelte Córiel darüber nach, was für einen Plan die Zwerge im Bezug auf den Drachen wohl verfolgten. Ihr fiel auf, dass im Zentrum des Lagers eine große Fläche frei gelassen wurde und das von der Bergkante, an der das Plateau angrenzte, mehrere Seile herabhingen. Hölzerne Pfähle waren an mehreren Stellen in den beinahe vertikalen Felsen getrieben worden und das Ganze erinnerte Córiel beinahe an eine Art Lastenaufzug. Gab es etwa noch ein weiteres Lager, weiter oben?
Noch ehe sie eine Antwort auf diese Frage finden konnte, kehrte Garik zu ihr zurück. Sein Zelt, das größte im Lager, war aufgebaut worden und offenbar sollte dort nun eine Lagebesprechung stattfinden, wie der Zwerg der Hochelbin mitteilte. So folgte sie dem Herrn der Kristallhalle ins Innere, wo bereits fünf weitere Zwerge warteten. Auch Durin war anwesend, doch von Jarbeorn fehlte jede Spur.
Mit einem Mal fühlte Córiel sich unbehaglich. Das Zelt war für Zwerge gemacht worden, weshalb die Elbin trotz ihres verhältnismäßig kleinen Wuchses mit dem Kopf beinahe die Zeltdecke berührte. Man wies ihr einen Stuhl zu, der sie auf Augenhöhe mit den zumeist grimmig dreinblickenden Zwergen brachte und dort saß sie, mit dem Rücken zum Eingang des Zeltes und kam sich vor, als wäre sie unerlaubt in eine Versammlung von Kriegern und Königen geplatzt.
Ein steinerner Tisch stand zwischen den sitzenden Zwergen. Durin, der neben Córiel saß, warf ihr einen Blick zu, der vermutlich aufmunternd sein sollte, dabei jedoch eher das Gegenteil bewirkte.
"Gut, nun sind alle hier," sagte Garik bedeutungsvoll. "Dies ist nun also der Tag, auf den wir gewartet hatten, meine Freunde und Gefährten."
"Aye," stimmten ihm die übrigen Zwerge zu. Dann nahm Hjoltvin das Wort.
"Alles ist bereit für unsere Rache gegen diesen räuberischen Lindwurm. Erst gestern haben unsere Kundschafter seine unruhige Gestalt zwischen den Wolken auf dem Gipfel erspäht. Er ist dort, daran besteht kein Zweifel."
"Dann schlagen wir zu," rief ein dritter Zwerg.
"Ja," bekräftigte Garik. "Und da kommst du ins Spiel." Er blickte Córiel direkt ins Auge. "
Córiel."
Mit einem Mal schlug Córiels Herz ihr bis zum Hals. Ihre Hand legte sich auf den Griff ihres Schwertes, das an ihrer Seite hing. Dass Garik sie nicht als Melvendë angesprochen hatte, musste bedeuten, dass...
"Es tut mir Leid," sagte Durin leise und bestätigte damit Córiels Verdacht. "Ich habe es ihm gesagt."
"Du wirst dort hoch gehen und dich dem Drachen stellen," sagte Hjoltvin. "Nur du kannst das tun."
Endlich gelang es Córiel zu sprechen. "Wieso ich?" presste sie hervor.
"Die Luft dort oben ist zu dünn für unseresgleichen," knurrte einer der anderen Zwerge, ein uralt wirkender Graubart, der in seinem Stuhl zusammengesunken war. "Außerdem würde die Bestie uns riechen, ehe wir uns ihm auch nur auf eine Meile genähert hätten. Doch du - du stammst nicht von hier, sondern bist eine Fremde aus dem Westen. Und doch hast du etwas an dir, das mir vertraut vorkommt..."
"Elbenmagie," warf ein weiterer Zwerg ein, ein mächtiger Krieger in voller Rüstung. "Wenn man Durins Worten Glauben schenken darf, ist sie aus den Hallen der Ahnen zurückgekehrt." Sein Tonfall ließ kaum Zweifel daran zu, dass der Zwerg nur wenig von solcherlei Dingen hielt.
"Und doch wird sie sich als ungemein nützlich erweisen," fuhr Garik fort. "Denn dieser Drache ist nicht wie die meisten seiner Art, die nur Schätze horten und Flammen und Verwüstung verbreiten. Er ist... wissbegierig, auf seine eigene verdorbene Art und Weise. Er hat die Sterne über die Jahrtausende genau studiert. Und jetzt versucht er, sich zum Herrscher über ganz Palisor aufzuschwingen. Er wird... neugierig sein, wenn er dich wahrnimmt, Córiel. Ganz gewiss wird er schon bald bemerken, dass mehr in die steckt, als das bloße Auge sehen kann. Und diese Neugierde wird ihn verwundbar machen."
"Ich soll also den Köder für euch spielen," sagte Córiel, die zu verstehen begann.
"Du sollst den Drachen hierher zu uns locken, Mädel," sagte Hjortvin grinsend. "Damit wir ihm hier sein schuppiges Fell über die Ohren ziehen können."
"Wie soll das gehen?" fragte die Hochelbin.
"Sprich mit ihm. Bringe ihn dazu, dir zu folgen. Ein Stückchen unterhalb des Gipfels findest du einen uralten Lastenaufzug, den einst die Windan errichteten, um Opfergaben auf den Gipfel zu transportieren, ehe der Drache sich dort einnistete." Garik reichte Córiel einen schweren Haken aus Metall, der sich mit einem einfachen Hebel öffnen und wieder verschließen ließ. "Hake dies in eines der Seile ein, die an der steilen Bergflanke hinab führen. Keine Angst, es wird immer genügend Raum zwischen dir und den Felsen sein, während du schnell wie der Wind daran hinabgleitest - zu schnell, als dass der Drache dich einholen könnte. Er wird nicht widerstehen können."
"Das ist doch Wahnsinn," rief Córiel. "Ich werde nicht..."
"Oh doch, du wirst ganz genau tun, worum wir dich bitten," sagte der Herr der Kristallhalle, dessen Tonfall eine ungewohnte Kälte angenommen hatte. "Denn weigerst du dich, wird dein Freund Jarbeorn den Preis dafür bezahlen."
"Ihr verfluchten Verräter," stieß Córiel zornig hervor. Die Zwerge waren zu weit gegangen, als sie Jarbeorn bedroht hatten. Doch da legte sich eine Hand auf ihren Arm.
"Bitte, Córiel," sagte Durin leise. "Tu' es für das Volk Erebors. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Ich werde auf ewig in deiner Schuld stehen, und die übrigen Zwerge ebenfalls."
"Mir scheint, das Wort eines Zwerges ist nur noch wenig wert in diesen Tagen," sgte Córiel zwischen zusammengepressten Zähnen. Sie erkannte, dass ihr keine Wahl blieb. Und so stand sie auf und verließ ungehindert das Zelt.
Draußen fand sie Jarbeorn vor, den die Zwerge an einen schneebedeckten Pfahl gekettet hatten. Sie schienen über seine Kräfte bescheid zu wissen, denn drei lange Speere waren direkt auf den Hals des Beorningers gerichtet.
"Halte durch," rief Córiel ihm zu, und entgegen der Umstände schenkte er ihr ein Lächeln.
"Ich werde hier sein," stellte Jarbeorn klar. "Stirb nicht, Stikke. Unsere Reise ist noch nicht vorbei."
Córiel nickte und ließ zu, dass die Zwerge sie davonführten, zur Bergkante im Süden hin. Jetzt erkannte sie, dass die Konstruktion an der Felswand tatsächlich ein Lastenaufzug war, der nicht ganz senkrecht zum Gipfel hinauf verlief. Etwas verborgen zwischen zwei großen Felsen befand sich die Fortsetzung der Treppe, die die Zwerge bis hinauf auf das Plateau geführt hatte.
"Hier geht es zum Gipfel hinauf," erklärte Garik unnötigerweise. "Ich wünschte, dies unter anderen Umständen getan zu haben, Córiel. Doch leider gibt es keine Alternative. Geh und bringe uns den Drachen, damit wir ihn erschlagen können und das Gebirge und ganz Palisor von ihm befreien können."
Die Hochelbin warf dem Herrn der Kristallhalle einen feindseligen Blick zu und wandte sich dann wortlos ab. Es war alles gesagt worden. Jetzt zählte nur noch eines: sie musste den Gipfel erklimmen und sich dem
Ilcalocë stellen, um Jarbeorn und sich selbst zu retten...