Córiel, Jarbeorn und Vaicenya aus dem Tal von DalvarinanDank Vaicenyas Ortskenntnissen war es der Gruppe ohne Probleme gelungen, die mitten im Marschland liegende Ansiedlung der Cuind zu finden. Dort angekommen waren ihnen prompt ihre Waffen abgenommen worden und sie waren der Cuind-Fürstin vorgeführt worden. Córiel hatte damit begonnen, Fürstin Nénsilmë die Botschaft Herions auszurichten, welche wortlos entgegen genommen wurde. Eine hoheitsvolle Ausstrahlung ging von der Herrin der Cuind aus, in deren Halle es so still war, dass man von draußen den leisen Klang ferner Musik zu hören glaubte.
Nachdem Córiel geendet hatte, fixierte Nénsilmë sie mit einem kühlen Blick und sprach zum ersten Mal. Mit kühler Stimme sagte sie ein einzelnes Wort:
"Nein."
Córiel glaubte zunächst, sich verhört zu haben.
Nein? Meint sie das etwa ernst? Nach und nach wurde ihr klar, dass die Fürstin der Cuind Herions Hilfegesuch tatsächlich rundheraus abgelehnt hatte.
"Wie bitte?" entfuhr es Vaicenya.
"Ich sagte Nein," wiederholte Nénsilmë mit fester Stimme. "Wer seid Ihr, meine Entscheidung in Frage zu stellen?" Die dunklen Haare fielen der herrschaftlichen Elbin über beide Schultern und waren so lang, dass sie bis zu den Hüften reichten. Sie trug ein dunkelgrünes Gewand, das mit goldenen Stickereien verziert war, und auf ihrem Haupt ruhte ein Kranz aus weißen Blüten, die vermutlich aus dem See rings um die Ansiedlung der Cuind stammten. Wächter in braunen Rüstungen aus festem Leder standen zu beiden Seiten neben dem erhöhten Sitz ihrer Herrin. Abgesehen davon war die kleine Halle, in die man sie gebracht hatte, leer.
Das fängt ja gut an, dachte Córiel und warf einen verstohlenen Blick zu Jarbeorn hinüber, der ein Stückchen abseits in der Halle der Fürstin stand und ein wenig abwesend wirkte. Das große Herrenhaus, das im Zentrum der Siedlung Néndallin lag, wirkte nun noch weniger einladend als es Córiel ohnehin schon vorgekommen war.
"Verzeiht, Herrin Nénsilmë," hörte Córiel sich selbst sagen. "Es lag nicht in unserer Absicht, Euch geringzuschätzen."
"Und doch tut ihr genau dies," erwiderte die Herrin der Cuind kalt. Sie saß auf ihrem hohen Sitz, hatte die Beine übereinander geschlagen und die Fingerspitzen aneinander gepresst. "Ihr kommt als Fremde hier her, um mein Volk mit vergifteten Worten und respektlosen Behauptungen in große Gefahr zu locken."
Was für eine Anschuldigung! dachte Córiel.
Wie soll ich darauf nur antworten?"Welche Lügen werft Ihr uns vor?" erkundigte sich die Hochelbin vorsichtig. "Ich versichere Euch, dass alles, was ich gesagt habe, der reinen Wahrheit entspricht."
"Ich kenne Herion von den Hwenti gut," sagte Nénsilmë. "Seine Leute haben nur noch wenig Umgang mit Fremden, geschweige denn mit Verrätern wie
dieser dort." Der Blick, mit dem sie Vaicenya streifte, war tödlich. "Niemals würde er
euch zu seinen Boten ernennen und erlauben, in seinem Namen zu sprechen."
Aus den Augenwinkeln nahm Córiel wahr, wie Vaicenya sich mehr und mehr versteifte. Die Hände der Dunkelelbin waren längst zu Fäusten geballt. Córiel war froh, dass man ihnen die Waffen abgenommen hatte.
"Darüber hinaus hast du behauptet, den
Ilcalocë mit eigenen Augen gesehen zu haben, und diese Begegnung überlebt zu haben. Wenn das die Wahrheit ist - worauf du zu bestehen scheinst, Melvendë von den verlorenen Tatyar - dann war es mehr als nur töricht von dir, hier her zu kommen. Dieser Drache, falls er wirklich mehr als nur eine Legende ist, ist imstande, jeden zu wittern, mit dem er gesprochen hat. Längst trägst du das Mal des Drachen auf dir, Melvendë. Und bringst jeden in Gefahr, der in deiner Nähe ist."
Córiel blieb beinahe die Luft weg. So etwas hatte sie zwar selbst schon vermutet, diesen Gedanken jedoch als unbegründete Sorge abgetan. Wenn der Drache sie tatsächlich jederzeit aufspüren konnte... worauf wartete er dann noch?
"Wenn du wahrhaftig dem Sternendrachen begegnet bist, Melvendë von den Tatyar, dann musst du Néndallin auf schnellstem Wege verlassen."
Die Hochelbin fand langsam wieder zu Atem, doch ehe sie sprechen konnte, nahm Jarbeorn das Wort. "Warum hat der Drache dann nicht längst angegriffen?" fragte er.
Nénsilmë musterte den Beorninger einen Moment lang eindringlich. Dann blickte sie auch Córiel genau ins Auge und schwieg eine volle Minute lang, ehe sie weitersprach. "Da ist keine Unwahrheit in deinem Blick," sagte die Herrin der Cuind. "Dann bist du dem Drachen also tatsächlich begegnet, so unwahrscheinlich es auch sein mag." Sie machte eine erneute Pause und begann, langsam den Raum zu durchqueren. "Und du bist ihm entronnen..."
"Mit viel Glück," sagte Córiel, dankbar für die Glaubwürdigkeit, die Nénsilmë ihr im Augenblick zuteil werden ließ. "Der Drache ist schwer verwundet worden. Das ist vermutlich der Grund, weshalb er sich noch nicht wieder gezeigt hat. Es bleibt uns noch etwas Zeit - Zeit, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Nur vereint haben die Elben Palisors eine Chance gegen eine solche Urgewalt. Ich bitte Euch, Herrin Nénsilmë - überdenkt Eure Entscheidung, und geht auf Herions Bitte ein, zu dem Treffen der Stammesführer zu kommen."
Nénsilmë hatte die kleine Halle inzwischen beinahe durchquert, sodass Córiel und Jarbeorn sich nach ihr umdrehen mussten. Die Herrin der Cuind hatte sich von ihnen abgewandt, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt. Vorsichtig trat Córiel etwas näher, während der Beorninger bei Vaicenya im Hintergrund blieb. Die Dunkelelbin war still geworden und ihr Blick war leer, was Córiel mit Besorgnis erfüllte. Doch dafür war nun keine Zeit. Sie blickte zurück zu Nénsilmë, gerade als die Herrin der Cuind Córiel über die Schulter ansah.
"Nur wenig Liebe hege ich für jene, die mit Bitten zu mir kommen, ohne den gebührenden Respekt zu zeigen. Und auch wenn ich nun weiß, dass die Gefahr durch diesen Drachen nicht unbegründet ist..." Erneut ließ sie den Satz unvollendet, wie es ihre Art zu sein schien. Es kam Córiel so vor, als forderte Nénsilmë ihre Gesprächspartner mit dieser Eigenart dazu auf, aktiv mitzudenken und selbst auf Lösungen und Antworten zu kommen.
"Du willst dich also weiterhin vor den Gefahren der Welt da draußen verstecken," sagte Vaicenya mitten in die Stille hinein. "Das ist... enttäuschend. Ich hatte gehofft, dass ich nicht die Einzige wäre, die sich weiterentwickelt hat."
Nénsilmë fuhr herum und ihre bislang makellose Miene war für einen Sekundenbruchteil aus den Fugen geraten, bis sie ihre Züge wieder unter Kontrolle hatte. "Ich habe schon von deiner "Läuterung" gehört, Verräterin. Aber glaube nicht, dass ich deine Verbrechen so leicht vergebe oder vergesse, wie es die Hwenti offenbar tun."
"Meine Taten - oder Untaten - stehen hier nicht zur Debatte," konterte Vaicenya und kam näher. Die Wachen der Cuind rührten sich, aber mit einem raschen Wink von Nénsilmë kehrten sie zu ihrer regungslosen Position zurück. "Es geht hierbei um das Schicksal von ganz Palisor."
Nénsilmës Augen verengten sich gefährlich. "Und was schert mich der Rest von Palisor? Ich bin für mein Volk verantwortlich, nicht für das ganze Land, und die Sicherheit der Cuind wiegt für mich am schwersten. Die Berge, in denen der Drache haust, sind weit weg. Viele Wälder und Flüsse trennen uns von ihnen. Wieso sollte ich mich der Gefahr nähern?"
"Wälder und Flüsse sind kaum ein Hindernis, wenn man fliegen kann," merkte Jarbeorn an.
"Ihr seid hier genauso wenig sicher wie die Zwerge in ihren steinernen Hallen," ergänzte Córiel.
"Wie könnt ihr es wagen?" empörte Nénsilmë sich. "Ich sollte euch alle in den See werfen lassen, allen voran dieses unverschämte Weib dort." Ihr Blick durchbohrte Vaicenya, die keinen Schritt zurückwich. Der silberne Schmuck im Haar der Dunkelelbin glitzerte auf, als Vaicenya den Kopf leicht reckte, um Nénsilmës Anblick zu erwidern.
Wie so oft war es Jarbeorn, der für etwas Entspannung sorgte. "Ich denke, wir sollten nichts überstürzen," sagte der Beorninger kameradschaftlich, ehe er respektvoll vor der Herrin der Cuind das Haupt neigte. "Wir haben Meister Herions Botschaft nun überbracht und sollten der Herrin Zeit geben, um ihre Antwort in Ruhe zu überdenken."
Alle drei Elbinnen betrachteten Jarbeorn mit gemischten Blicken, was ihm ein kleines Lächeln entlockte. "Ich schätze, wenn mehrere so herrschaftliche Damen aufeinander treffen, wiegt wohl jedes Wort noch schwerer als sonst," sagte der Beorninger verschmitzt.
Während Córiel sich noch fragte, ob Jarbeorn mit
herrschaftlichen Damen auch sie gemeint hatte, erregte etwas anderes Nénsilmës Aufmerksamkeit, was die Herrin der Cuind auf den Balkon hinaustreten ließ, der direkt an die kleine Halle angrenzte und einen guten Überblick über die Stadt Néndallin bot. Als Córiel näher kam, hörte sie Nénsilmë murmeln: "Noch mehr Neuankömmlinge, um die ich mich kümmern muss..." Sie hatte die Arme auf das Geländer des Balkons gelegt und blickte hinüber zum Ausgang der Ansiedlung, die aus einer langen Brücke zum Festland hin bestand. Dort war eine größere Gruppe von gerüsteten Elben zu sehen, die sich langsam dem Stadtzentrum näherten.
Ob diese Fremden vielleicht dabei helfen könnten, die Fürstin zu überzeugen? dachte Córiel und trat langsam neben Nénsilmë auf den großen Balkon, um einen besseren Blick auf die neuen Elben werfen zu können. Die meisten von ihnen waren beritten und trugen Rüstungen und Umhänge, die Córiel selbst in ihren uralten Erinnerungen nicht wiedererkannte. Unter den Fremden ritt ein etwas jünger wirkender Elb mit schwarzem Haar, der Córiel dadurch auffiel, dass eine silberne Strähne rechts über seine Stirn fiel.
"Komm schon, Stikke," sagte Jarbeorn, der sich neben sie geschoben hatte. "Wir sollten gehen, so lange man uns noch lässt. Suchen wir uns hier in der Stadt etwas zu essen."
"Eine ausgezeichnete Idee," murmelte Córiel, als sie dem Beorninger aus der Halle hinaus folgte.