Oronêl, Kerry und Gwŷra aus dem Umland des Isen"Du hättest nicht zurückkehren sollen, Gwŷra-graig. Nicht nur, dass dein Fluch uns alle vernichten wird, führst du auch noch Feinde in unser Land. Schande über dich!" Der Sprecher, ein hochgewachsener Krieger mit zotteligen, braunen Locken, spuckte auf den Boden vor Gwŷras Füßen. Oronêl hatte sich den Empfang in Gwŷras Heimat trotz allem etwas freundlicher vorgestellt, und Kerry dachte offenbar ähnlich, denn sie fixierte den Krieger mit verengten Augen.
Gwŷra jedoch ließ sich kein bisschen von dieser unfreundlichen Begrüßung. Sie stemmte die Hände in die Seiten und beugte sich ein wenig vor. "Es gibt keine schlimmere Schande als ein Feigling zu sein, Elgar. Ich lebe mit meinem Fluch seit vielen Mondzyklen, und siehst du mich zittern wie ein altes Weib?" Elgar wich einen unmerklichen Schritt zurück, und Gwŷra wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. "Beim Blutmond, Elgar. Ich habe keine Zeit, mich mit Feiglingen abzugeben. Wo ist mein Vater, der große Myndrag orr Gallayn?"
"Hier!", ertönte eine mächtige Stimme, und ein kräftiger Mann, der Gwŷras dunkles Haar teilte, ihr ansonsten aber kein bisschen ähnlich sah, schob sich durch die Menschenmenge nach vorne. Doch Myndrags Freude, seine Tochter zu sehen, schien nicht ungetrübt. Beinahe glaubte Oronêl, auch in seinen Augen einen Anflug von Furcht zu sehen.
"Meine Tochter ist zurückgekehrt", stellte der Häuptling fest, ohne einen Schritt auf Gwŷra zu zu gehen. "Oder ist sie das nicht?" Kerry wechselte einen verwirrten Blick mit Gwŷra, doch diese zuckte mit den Schultern. Offenbar wusste auch sie nicht, was hier gespielt wurde.
Schon bei der ersten unfreundlichen Begrüßung war Oronêl ein warnender Schauer über den Rücken gelaufen, und Myndrags Worte waren die Bestätigung, dass etwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Er hatte auch eine Ahnung, wer dahinter steckte: Saruman. Der Einfluss der Weißen Hand war lange Zeit stark in Enedwaith gewesen, das wusste er, und Saruman war ein Meister der Tricks und Täuschung.
"Wieso sollte ich nicht ich sein?", fragte Gwŷra. "Ich bin hier, aus Fleisch und Blut - beim Blutmond, was sollte ich sonst sein?"
"Eine Täuschung", gab ihr Vater zurück. "Ein Gespinst aus Lügen, geschickt von arglistigen Göttern, um uns zum Verrat an der Weißen Hand anzustiften. Wir sind gewarnt worden. Meine Tochter steht zur Rechten des Weißen, und offenbart ihm die Ratschläge unserer Götter."
"Was für ein Unsinn." Kerry konnte sich offensichtlich nicht länger beherrschen. "Gwŷra war mit mir gemeinsam in den Verliesen unter Isengard eingesperrt, auf Sarumans Befehl. Sie..." Weiter kam sie nicht, denn Myndrag, der zu ersten Mal jemanden außer Gwŷra bewusst wahrzunehmen schien, unterbrach sie. "Und was ist das? Du bist eine von den Pferdemenschen, nicht wahr?"
Kerry schüttelte empört den Kopf. "Ich stamme aus Rohan, das ist richtig, aber es ist nicht besonders höflich..." Erneut wurde sie unterbrochen, denn Myndrags Blick war auf Oronêl gefallen, und der Häuptling erbleichte.
"
Môrysbryd", stieß er hervor, und wandte sich Gwŷra zu. "Du bringst einen jener, die so viele deiner Verwandten, unseres Volkes, ermordeten, hierher? Das Blut der Glannau Môr klebt an seinen Händen!"
"Das Blut der Glannau Môr klebt an den Händen Sarumans, der Weißen Hand", erwiderte Oronêl ruhig, und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, womit er den Häuptling um einen Kopf überragte. "Er sandte euch in eine Schlacht, die ihr verlieren musstet, gegen jene, die eure Freunde sein könnten - und sollten. Doch sie hatten keine Wahl, als an jenem Tag gegen euch zu kämpfen." Myndrag öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch Oronêl sprach unbeirrt weiter. "Ich selbst habe keinem einzigen eurer Krieger ein Leid zugefügt, denn auch wenn ich die Schlacht mit eigenen Augen gesehen habe, habe ich doch an jenem Tag nicht gekämpft. Ihr könnt mich nicht für Taten verantwortlich machen, die andere meiner Art begangen haben."
Myndrag wich seinem Blick aus, beharrte aber stur: "Das Blut der Glannau Môr..."
Dieses Mal war er es, der von Gwŷra unterbrochen wurde. "... klebt an deinen Händen ebenso wie an denen des Môrs...
Oronêls.
Du hast den Befehl gegeben, Schiffe zu bauen.
Du den Befehl gegeben, sich den Schiffen an der Mündung entgegenzustellen.
Du hast eingewilligt, mich dem Zauberer als Geisel zu geben. Dein einziges überlebendes Kind!" Für einen Augenblick wirkte Gwŷra, als wüsste sie nicht, ob sie in Tränen ausbrechen oder ihren Vater erwürgen sollte. Dann straffte sich ihre zierliche Gestalt, und in ihren Augen flammte ein Feuer auf.
"Beim Blutmond, ich werde beweisen, dass ich keine Täuschung bin. Ich werde tun, was immer nötig ist."
"Das ist gefährlich, Gwŷra-graig", erklang eine neue, weibliche Stimme. Obwohl die Sprecherin alt und gebeugt war, wohnte ihrer Stimme Kraft inne. Verwundert stellte Oronêl fest, dass sie über und über tätowiert war - gepunktete, rötliche Linien durchzogen ihr Gesicht und liefen über ihre Hände zu jeder Fingerspitze. Sie stützte sich auf einen knorrigen Eschenstock, der aussah, als hätten ihn bereits ihre Vorfahren geführt. "Du kennst unsere Götter besser als jeder andere - außer mir, versteht sich." Die Alte gestattete sich ein heiseres Kichern. "Du weißt, was sie verlangen könnten."
Gwŷra war ein wenig blass geworden, doch ihre Miene blieb entschlossen. "Ich weiß, Aelwyd. Doch ich bin bereit."
"Aaaah, Gwŷra. Niemand ist je wirklich zu seiner Prüfung bereit... aber nun ja..." Aelwyd trat, auf ihren Stock gestützt, in die Mitte des Kreises, den die Glannau Môr um Gwŷra, Oronêl und Kerry gebildet hatten. "Männer und Frauen der Glannau Môr, hört was ich euch zu sagen habe! Gwŷra-graig, einzige Tochter des großen Myndrag orr Gallayn, wird sich dem Urteil unserer Götter stellen, um zu beweisen, dass sie ist, wer sie behauptet zu sein. Und ich habe noch etwas zu sagen."
Sie legte eine Pause ein, sichtlich zufrieden mit dem erwartungsvollen Schweigen, dass sich über die Menschenmenge gelegt hatte. "Wenn sie sich als wahrhaftig erweist... werde ich zu den Göttern gehen, und sie wird meinen Platz einnehmen."
Das Schweigen, dass auf diese Worte folgte, erschien Oronêl nun eher schockiert als erwartungsvoll. Schließlich begann Myndrag zaghaft: "Aelwyd, hohe Priesterin, bist du sicher dass..." Die Alte bedachte ihn mit einem Blick, der den Häuptling augenblicklich zum Schweigen brachte. "Ich bin sicher, Myndrag, du junger Narr. Stelle meine Entscheidungen nicht in Frage." Sie wandte sich Gwŷra zu, die trotzig das Kinn hob, und dem Blick der Priesterin nicht auswich. "Und du, meine Schülerin... wenn du es denn bist, he he... Am Tag deiner Geburt flüsterten die Flammen deinen Namen, und von jenem Tag an wusste ich, dass du mir eines Tages nachfolgen würdest. Ebenso wusste ich, dass dein Element das Feuer ist, zum Guten und Bösen zugleich. Deine Probe wird eine Feuerprobe sein. Du wirst den Kelch deines Vaters mit bloßen Händen aus dem Feuer holen, und du wirst ihn sieben Schritte weit tragen." Aelwyd zögerte einen Augenblick, als würde sie eine Anwandlung von Mitleid niederkämpfen, und fuhr dann fort: "Die Wunden, die du davontragen wirst, werden heilen, wenn du die Wahrheit sagst. Wenn sie aber brandig werden... lügst du."
Gwŷra zögerte einen Augenblick - einen Augenblick, den Kerry nutzte um ihrer Empörung Luft zu machen. "So etwas könnt ihr nicht tun! Was seid ihr nur für... für...
Monster! Ihr seid kein bisschen besser als Orks, wenn ihr das tut!"
Aelwyd warf ihr einen markerschütternden Blick zu. "Schweig, Mädchen aus dem fernen Rohan. Dein Schicksal wird sich mit dem Gwŷras entscheiden. Wird sie als Lügnerin überführt, wirst du ihr Schicksal teilen, ebenso wie des Môrysbryd."
Kerry warf Oronêl einen Blick zu, der eindeutig
Tu etwas! besagen sollte, doch es gab nichts, was er hätte tun können. Die Krieger der Glannau Môr waren eindeutig zu viele, um sie im Kampf zu besiegen, und Gwŷra schien fest entschlossen, die Feuerprobe anzutreten.
Wie um Oronêls Eindruck zu bestätigen, sagte Gwŷra leise, aber mit fester Stimme: "Beim Blutmond, wenn das nötigt ist, um mich zu beweisen... Ich werde die Probe bestehen, Aelwyd."
Zum ersten Mal zeigte die alte Priesterin den Hauch eines Lächelns. "Nichts anderes erwarte ich von dir, Gwŷra-graig."
Die Sonne war untergegangen, als die Glannau Môr alles für Gwŷras Probe vorbereitet hatten. Der Kelch des Häuptlings war ein eiserner Trinkpokal, der interessanterweise mit elbischen Runen nach der Art Eregions verziert war. Vermutlich war das Gefäß vor Jahrhunderten aus Eregion nach Enedwaith gelangt - entweder noch vor dem Fall Eregions durch Handel, oder später als Beute von Plünderern oder Schatzsuchern. In jedem Fall versuchte Oronêl sich vorzustellen, wie die Glannau Môr reagieren würden, wenn sie wüssten, dass ihr heiliges Trinkgefäß von den verhassten Môrysbryd gefertigt worden war...
Der Kelch wurde auf einem kleinen Podest aufgestellt, um das herum Holz für ein Feuer aufgeschichtet und dann angezündet worden war. Als der Kelch unheimlich rot zu glühen begann, hob Aelywyd die knorrigen Arme, und sprach: "Mögen die Götter sprechen, und die Unschuld Gwŷra-graigs beweisen... oder sie verdammen." Sie blickte erwartungsvoll zu Gwŷra, die nur wenige Schritte von den Flammen entfernt stand.
"Du musst das nicht tun, Gwŷra", stieß Kerry leise hervor. "Wir... wir finden einen anderen Weg. Darin sind wir gut."
Gwŷra lächelte ein wenig traurig, und im Schein des Feuers glänzten Schweißperlen auf ihrer Stirn. "Es gibt keinen anderen Weg, ich muss es tun. Aber... beim Blutmond, ihr sollt wissen, dass ich euch meine Freunde erachte. Gleich was passiert."
Damit machte sie zwei Schritte auf das Feuer zu, und packte entschlossen zu. Oronêl hörte das Zischen ihrer Haut auf dem heißen Metall über das Knistern des Feuers und das Raunen der Glannau Môr hinweg, und biss die Zähne zusammen. Kerry stieß einen erstickten Schreckenslaut aus, und packte Oronêls Arm so fest, dass es schmerzte.
Gwŷra ging, auf das zweite Podest zu, sieben Schritte vom Feuer entfernt. Ein Schritt. Zwei. Drei.
Im Schein der Flammen wirkte das Gesicht des Mädchens erschreckend bleich, und die hatte die Lippen so fest zusammengepresst, dass jegliche Farbe daraus gewichen war.
Vier. Fünf.
Gwŷra wankte, und Oronêl hielt den Atem an. Doch sie fing sich wieder, und ging weiter.
Sechs. Sieben.
Gwŷra stellte den Kelch ab, und als sie ihre Hand mit einiger Mühe vom Metall löste, blieben Hautfetzen daran kleben, und kleine Rauchfähnchen stiegen in die Luft auf. Kerry sah aus, als wäre ihr schlecht - ein Gefühl, dass Oronêl nur zu gut nachvollziehen konnte.
Gwŷra blickte ihren Vater herausfordernd an, öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch brach dann ohne einen weiteren Laut zusammen.
Aelwyd blickte mit steinerner Miene auf sie herab. "Bringt sie in meine Hütte", befahl sie. "Die Götter werden entscheiden." Bevor einer der Glannau Môr eine Bewegung machen konnte, war Oronêl bereits dort, und nahm Gwŷra auf die Arme. Zu seinem Erstaunen wog sie kaum mehr als ein Kind. Als er ihre verbrannte Hand streifte, stieß sie einen kleinen Laut des Jammers aus, erwachte allerdings nicht aus ihrer Ohnmacht.
Die alte Priesterin blickte ihn missbilligend an, sagte aber: "Na schön. Bring sie in meine Hütte, Môrysbryd." Oronêl folgte ihrem langsamen Gang. Er war sich der Blicke durchaus bewusst, hielt seinen eigenen Blick jedoch stur auf Aelwyds gebeugten Rücken vor sich gerichtet. Er hörte Kerrys leisen Schritt hinter sich, und wusste, dass sie ihnen folgte - nichts anderes hatte er erwartet.
Aelwyds Hütte war ein kreisrundes, niedriges Gebäude am Rand des Dorfes, von dessen Decke getrockneter Kräuter vieler Art herunterbaumelten. Über einer schwachen Glut stand ein großer, kupferner Kessel. "Leg sie dort ab", befahl Aelwyd, und deutete auf ein Lager an der runden Hüttenwand. Oronêl tat, wie ihm geheißen. Als sein Blick auf Gwŷras Hand fiel, wurde ihm unerwartet flau im Magen. Er hatte schon allerhand verschiedener Wunden gesehen, doch das hier war etwas anderes.
Kerry fiel neben Gwŷra auf die Knie, und strich ihr sanft die Haare aus der feuchten Stirn. "Was können wir tun, um zu helfen?"
"Gar nichts", verkündete die Priesterin kalt. "Sie ist in der Hand der Götter. Sie werden zeigen, ob sie schuldig ist, oder nicht. Und du, Mädchen, solltest gar nicht hier sein."
Oronêl kam auf die Füße, und fand sich der gebeugten Priesterin direkt gegenüber.
"Ich möchte eure Götter nicht beleidigen", erwiderte er mit mühsam beherrschter Stimme. "Doch sicherlich weißt du, dass Brandwunden dieser Art sich auch entzünden können, wenn sie gepflegt werden - wenn sich niemand darum kümmert jedoch immer." Aelwyd nickte widerwillig. "Also haben deine Götter selbst dann die Möglichkeit, zu entscheiden ob sie lügt oder nicht, wenn wir die Wunde versorgen. Gwŷra hat jemandem, der mir sehr teuer ist - nämlich Kerry dort - geholfen aus Sarumans Kerkern zu entkommen. Sie hat uns geholfen, den Wolfskönig von Dunland, einen Mann, der euer Freund und Verbündeter sein könnte, vor der Hinrichtung zu retten. Ich bin ihr etwas schuldig, also muss ich für sie tun, was ich kann."
Aelwyd zögerte, bevor sie den Blick abwandte, und leise antwortete: "Ich liebe dieses Kind wie die Tochter, die ich niemals hatte." Davon zeigte sie ziemlich wenig, dachte Oronêl bei sich, sprach es aber nicht aus. "Also schön. Ich werde euch gestatten, euch um sie zu kümmern - die Götter wird es nicht stören, sie werden so oder so entscheiden. Doch es muss geheim bleiben, denn mein Volk würde es nicht verstehen und nicht akzeptieren."
Oronêl nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, bevor er sich Kerry, die noch immer an Gwŷras Seite kniete, zuwandte. "Ich muss bei Gwŷra bleiben, Kerry, doch ich brauche deine Hilfe." Er kniete sich neben sie. "Ich benötigte einige Kräuter - und frische helfen besser als getrocknete. Ich weiß nicht, was du zu dieser Jahreszeit noch finden wirst, doch besser es zu versuchen." Er beschrieb ihr, was er brauchte, und Kerry hörte aufmerksam zu. Dann sagte sie: "Ich werde mir Mühe geben, so viel wie möglich zu finden." Sie blickte auf Gwŷras bleiches Gesicht hinunter. "Sie ist mir oft auf die Nerven gegangen, mit ihrem komischen Gerede. Doch das... das hätte nicht sein dürfen."
Oronêl schüttelte den Kopf. "Nein, das finde ich auch." Er warf einen Blick über die Schulter, doch Aelwyd hatte sich abgewandt und war mit irgendetwas anderem beschäftigt. "Ich habe noch einen Auftrag für dich", fuhr er leise an Kerry gerichtet fort. "Dass Myndrag glaubt, seine Tochter wäre nicht echt, sondern eine Täuschung feindlicher Götter, stinkt geradezu nach Sarumans Ränken. Irgendein Zauber liegt über diesem Ort. Finde heraus, was hier vor sich geht, und wie Saruman dieses Volk kontrolliert." Kerry nickte eifrig, und wollte bereits auf die Füße kommen, doch Oronêl hielt sie an der Hand zurück. "Wenn du es herausgefunden hast, komm zu mir", schärfte er ihr ein. "Stelle dich dem auf keinen Fall alleine. Hast du verstanden?" In Kerrys Augen blitzte ein Funke Unwillen auf, doch sie nickte und erwiderte: "Natürlich. Und jetzt lass mich endlich gehen."
Oronêl blickte ihr hinterher, wie sie aus der Tür der Hütte hinaus in die Nacht trat, und fragte sie, ob sie sich tatsächlich an seine Warnung halten würde...