Aerien vom HafenNachdem das Schiff mit Narissa und Valion aus dem Hafen ausgelaufen war, hatte Aerien wie erstarrt an Ort und Stelle verweilt und der
Falthaleth nachgeblickt, bis das Schiff kaum noch ein Punkt am Horizont gewesen war und sich dann nach Süden gewendet hatte, um den großen Felsen, auf dem Dol Amroth erbaut worden war, in Richtung Umbar zu umrunden. Schließlich war es Faniel gewesen, die Aerien sanft eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, und sie dann mit leisen, beruhigenden Worten vom Hafen fort geführt hatte. So waren sie nach einer kurzen Wegstrecke durch die Straßen der Stadt bei Sonnenuntergang wieder zum Palast des Fürsten gekommen. Aerien hatte in ihren Gemächern übernachtet, die sich nun leer und unheimlich angefühlt hatten. Am folgenden Morgen war sie sehr früh auf den Beinen gewesen und war aus ihr unerfindlichen Gründen wieder zum Hafen spaziert, wie als würde sie die seltsame Hoffnung dazu treiben, dass Narissa vielleicht - so unwahrscheinlich das auch sein mochte - plötzlich wieder dort an den Anlegeplätzen auftauchen würde. Dort war sie jemandem begegnet, den Aerien nicht erwartet hatte: dem Zauberer, Gandalf.
Wie es seine Art war, hatte der Alte recht schnell erfasst, wie Aerien sich fühlte. Und es war ihr so vorgekommen, als wäre ein Teil der Härte in seinem strengen Blick gewichen, als er ihr in die Augen geblickt hatte und gesagt hatte: "Ich wüsste da vielleicht etwas, das dir hilft, deine Gedanken wieder in etwas produktivere Bahnen zu lenken. Folge mir."
So standen sie nun in der großen Eingangshalle der fürstlichen Bibliothek, einem großen Gebäude im westlichen Teil der Stadt. Gandalf wurde der Einlass ohne Nachfrage gewährt, Aerien hingegen musste ein paar misstrauische Blicke der Wächter hinnehmen, die sie jedoch dann passieren ließen.
"Wonach suchen wir, Gandalf?" wollte Aerien wissen, doch dieser gab ihr keine Antwort. Stattdessen begann er, leise murmelnd die einzelnen Regale abzugehen, als wüsste er schon recht genau, wonach ihm der Sinn stand. Nach einiger Zeit blieb der Zauberer vor einem hohen, staubigen Regal stehen und strich sich nachdenklich durch den Bart. Sein Blick war auf eine Reihe Bücher recht weit oben im Regal gerichtet, genauer gesagt auf eine verdächtig leere Stelle dort, wo eigentlich ein weiteres Buch sein sollte.
"Merkwürdig," sagte Gandalf. "Jemand muss es fortgenommen haben."
"Dort fehlt ein Buch in der Reihe," stellte Aerien unnötigerweise fest. "Was steht darin?"
"Es war ein sehr alter Band, der noch aus Westernis stammt, von der Insel Númenor. Die Vorfahren Imrazôrs haben es aus dem Westen mitgebracht. Dass es all die Jahrhunderte überdauert haben soll, nur um nun spurlos zu verschwinden..."
"Wieso suchen wir nach diesem Buch, Gandalf?" wagte Aerien zu fragen.
Der Zauberer drehte sich zu ihr um und musterte sie einen langen Augenblick. "Erinnerst du dich daran, was bei Elendils Grab auf dem Halifirien geschehen ist?"
Aerien überlegte. "Aragorn nahm uns mit zum Gipfel.. und wir erfuhren von der Bedeutsamkeit jenes Ortes. Und... Narissa fand etwas. Eine Botschaft, geschrieben vom Truchsess Cirion..."
"Du hast ein gutes Gedächtnis," lobte Gandalf sie. "Und erinnerst du dich auch daran, was in der Botschaft geschrieben stand?"
"Cirion entschied, Elendils Ruhestätte zu verlegen, vermutlich nach Rath Dínen in Minas Tirith," antwprtete Aerien.
"Wieder richtig, aber du hast das Detail ausgelassen, dass uns heute hierher führt," sagte Gandalf. "Cirion schrieb davon, dass Elendils Gebeine "
im Licht des Vandassars ruhten". Dieses Wort stammt aus dem Hochelbischen der Gelehrten, und es ist mir zuvor nur ein einziges Mal begegnet... in dem Buch, das genau hier stehen sollte."
"Vielleicht kann ich behilflich sein," sagte eine Stimme hinter ihnen, und beide drehten sie sich nach dem Klang um. Im Gang, wenige Schritte entfernt von Aerien und Gandalf, stand ein ergrauter Mensch, der in schlichte, dunkelblaue Roben gekleidet war. In der Hand hielt er ein Buch, das er nun mit einem Lächeln hochhielt. Aber es war nicht der Fakt, dass das Buch nun so plötzlich wieder aufgetaucht war, der Aerien erstaunte. Sie kannte den Mann.
"Einen Moment," sagte sie. "Seid Ihr nicht Thandor? Der Gelehrte, der den Waldläufer Damrod beraten hat?" Gut erinnerte sie sich noch daran, wie die Waldläufer sie verhört und erst nach Thandors Fürsprache freigelassen hatten. Es war der Name von Aragorns Cousine, Erelieva gewesen, der Thandor von Aeriens Aufrichtigkeit überzeugt hatte.
"Sieh mal einer an. Wenn das nicht Aerien Bereneth ist," sagte Thandor und schmunzelte. "So sehen wir uns nun also im Herzen Gondors wieder, nachdem es uns wohl beiden in Ithilien zu ungemütlich geworden ist. Wie ich höre, hast du eine ziemlich außergewöhnliche Reise hinter dir!"
"Das... kann man wohl so sagen," gab Aerien etwas verlegen zu.
Gandalf hatte bislang nichts gesagt, doch nun nickte er und machte einen Schritt auf Thandor zu. "Ich bin froh, dass dieses Buch die Bibliothek nicht verlassen hat. Dürfte ich es bekommen? Ich bin mir sicher, dass es dieser alte Band aus Númenor war, in dem ich das Wort
Vandassar einst gelesen habe..."
Thandor, der bereits den Arm mit dem Buch in Richtung Gandalf hatte ausstrecken wollen, hielt inne. "Sagtet Ihr
Vandassar, Mithrandir?" Seine Augen hatten zu glänzen begonnen und er hielt das Buch fest.
"So ist es," bestätigte Gandalf. "Wisst Ihr etwas darüber?"
"Nun, ich half unlängst einem Bekannten bei einem ... nennen wir es, genealogischem Problem," erklärte Thandor, dann drehte er sich um und deutete auf eine breite Nische, in der ein Tisch mit vier Stühlen ruhte. "Setzen wir uns doch. Ich werde Euch das Buch gerne überlassen! Ich bitte nur darum, bei den Nachforschungen behilflich sein zu dürfen, denn... es ist ein wirklich sehr spannendes Thema." Ohne eine Antwort abzuwarten begab sich der alte Thandor bereits zu der Sitznische und nahm Platz. "Mein Bekannter, der junge Valion, suchte nach Nachfahren eines alten arnorischen Adelshauses, das sich in Gondor niedergelassen hatte. Die Lösung dieses Rätsels war schnell gefunden, aber am Ende der Spur tauchten die Worte
Gilgroth und
Vandassar auf, und meine Neugierde - die Geißel eines jeden Gelehrten, wenn man so will - war geweckt. Seitdem habe ich beinahe jeden freien Tag hier inmitten dieses unglaublichen Schatzes von Wissen verbracht und bin der Meinung, langsam eine genaue Vorstellung davon zu haben, was ein Vandassar wirklich ist."
"Nun," sagte Gandalf und nahm ebenfalls Platz, nachdem auch Aerien sich gespannt gesetzt hatte. "Dann habt Ihr mir womöglich einiges an Arbeit abgenommen, mein guter Thandor. Ich möchte aber zunächst einen Verdacht äußern, ehe Ihr eure These vorstellt."
"Nur zu, nur zu," sagte Thandor gut gelaunt, der regelrecht aufzublühen schien.
"Nimmt man das Wort
Vandassar für sich, kann man es aus dem Quenya heraus als "Stein der Bindung" oder "Schwur-Stein" übersetzen," sagte Gandalf. "Das lässt mich an den Stein von Erech denken. Jeder in Gondor weiß, dass es einst Isildur war, der den Stein aus Númenor mitbrachte und dass das Bergvolk ihm dort schwor, Gondor im Krieg gegen Sauron beizustehen. Als die Bergmenschen ihren Eid brachen, da verfluchte Isildur sie, niemals Ruhe zu finden bis ihr Eid erfüllt würde. Dank Aragorn ist dies vor ein paar Jahren tatsächlich geschehen. Ich denke daher, dass der Stein von Erech ein
Vandassar ist, und dass es neben ihm noch mindestens zwei weitere geben muss."
Thandor nickte zufrieden. "Sechs weitere, um genau zu sein." Er schlug eine Seite im Buch auf, die beinahe leer war, bis auf das hoheitliche Wappen Gondors - der Weiße Baum unter den Sieben Sternen - sowie undeutlichen, kaum sichtbaren Zeichen darunter, die ganz schwach silbrig schimmerten. "Dies sind Mondrunnen," erklärte Thandor. "Ich habe sie erst vorgestern Nacht sichtbar machen können. Hier steht der alte Spruch Gondors, der Euch sicherlich gut bekannt ist, Mithrandir:
Hohe Schiffe und hohe Könige
Drei mal Drei
Was brachten sie aus versunkenem Land
Über das wallende Meer?
Sieben Sterne und Sieben Steine
Und einen Weißen Baum.
So sprechen die alten Verse. Und ich glaube, dass viele sie falsch interpretiert haben. Meist wird angenommen, die Sieben Sterne stehen für die Sterne auf dem Wappen Gondors, und die Sieben Steine stehen für die
Palantíri... ich jedoch glaube nun, dass die Steine die
Vandassari sind, und die
Palantíri die Sterne... Hier, seht, es sind die Namen der Eidsteine verzeichnet worden."
Er deutete auf eine Reihe von Mondrunen, die untereinander geschrieben worden waren, und las sie langsam vor. "Helcessar, Tauressar und Ambossar... die Steine des Nordreiches. Ihre Ruhestätten sind verzeichnet; Helcessar ruhte einst in Annúminas, wurde aber wie ich erfuhr in die verborgene Zuflucht von Gilgroth gebracht. Tauressar, der Stein von Rhudaur, wurde von Angmar korrumpiert und mit seiner Hilfe brachte der Hexenkönig die Bergmenschen Rhudaurs in seine Dienste. Beim Fall Angmars ging der Stein verloren, denn einst hatte er die Festung von Varadhost geziert. Ambossar, der Stein von Tharbad, versank in den Fluten des Gwathló als ein großer Sturm Wellen von Belegaer so weit den Fluss hinauf trieb, dass die Stadt für einige Tage beinahe versank." Thandor reichte des Buch an Gandalf weiter, und der Zauberer sah sich die Runen ganz genau an.
"Ithildin... dass ich nicht selbst darauf gekommen bin, als ich das Buch zuletzt in der Hand hatte..." murmelte er, dann begann er die Namen der restlichen Steine vorzulesen. "Hier steht... Landassar, ein tiefgrüner Stein der in Dorwinion verschollen ging. Orossar, der Schwarze - er ruht im Tal von Erech und ist noch heute dort. Airessar, der Stein von Umbar... ah, ich erinnere mich! Das muss die funkelnde Kugel gewesen sein, die einst auf der großen Siegessäule geruht hatte, die man zu Ehren Ar-Pharazôns und dessen Sieg über Sauron aufgestellt hatte. Sie stürzte in die Fluten der Bucht von Belfalas, als die Haradrim die Säule einrissen nachdem sie Umbar eingenommen hatten. Dann... bleibt noch Naldessar, der silbrig-weiße... das muss der Stein sein, der nun über Elendils Grab auf dem Halifirien wacht."
"Halifirien?" wiederholte Thandor überrascht. "Davon steht dort aber nichts..."
"Wir sind vor kurzem dort gewesen, und haben dies gefunden. Sorgt dafür, dass es sicher verwahrt wird," sagte Gandalf und zog die Botschaft Cirions aus seinem Gewand hervor, die Narissa gefunden hatte.
Thandor überflog den Text und nickt dann. "So ist der Naldessar also einst aus Rhûn heimgekehrt," sagte er andächtig. "Und wir haben eines der größten Geheimnisse Gondors gelüftet. Die Eid-Steine existieren wirklich. Ich frage mich, ob es die Kraft des Steins von Erech war, die dafür sorgte, dass Isildurs Fluch die Eidbrecher noch bis über den Tod hinaus verfolgte..."
"Das wird sich zeigen," sagte Gandalf. "Féanors Werke sind machtvoll, aber auch gefährlich. Sie können gegen uns verwendet werden, wie man bei den Palantíri bereits gesehen hat. Der Feind darf niemals von der Bedeutsamkeit oder gar der Existenz der Eid-Steine erfahren, wenn er sich ihrer nicht bereits gewahr ist."
Mit einem mulmigem Gefühl im Magen blieb Aerien etwas verloren am Tisch mit den beiden Gelehrten sitzen und hörte alles mit an. Sie wusste nicht, was diese Entdeckung zu bedeuten hatte, und doch spürte sie, dass sie sehr bedeutsam sein musste. Doch trotz allem konnte sie nicht aufhören, daran zu denken, was Narissa wohl gerade tat...
Aerien zum Palast des Fürsten