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Ost-in-Edhil

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Fine:
Kerry hatte den Beginn von Faelivrins Ansprache damit verbracht, über Adrienne und Aéd nachzudenken. Ihre Sorge um ihre Freundin war etwas geringer geworden, da es ihr immerhin gelungen war, Adrienne dazu zu bringen, eine Rüstung in den kommenden Kämpfen zu tragen. Dennoch blieb eine große Ungewissheit. Adrienne schien noch immer nicht sonderlich an ihrem eigenen Leben zu hängen. Außerdem war sie offensichtlich verärgert, dass Mathan eine neue Schülerin an seiner Seite hatte. Kerry fragte sich, was es mit der fremden Frau wohl auf sich haben mochte. Ihr waren weder Name noch Gesicht der Kriegerin bekannt, die neben Mathan stand. Kerry beschloss, bei einer passenden Gelegenheit die Bekanntschaft der Fremden zu machen.

Ihr Blick war immer wieder an Aéd hängengeblieben. Wie stark und königlich er an der Seite der Elbenherrscherin wirkte! Kerry hatte zunächst befürchtet, dass Faelivrins Glanz ein schlechtes Licht auf den Wolfskönig werfen und ihn im Vergleich ärmlich und primitiv wirken lassen würde, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Faelivrins Worte erhoben Aéd zu einem mächtigen, nahezu ebenbürtigen Verbündeten, der die Sicherheit seines eigenen Reiches riskierte, um den Elben Eregions im Kampf beizustehen. Standhaft und kriegerisch sah der Wolfskönig aus, wie er mit seiner Wolfskrone auf dem Haupt und mit Schwert und Axt bewaffnet neben der Königin der Manarîn stand und ihr durch seine Anwesenheit seine Unterstützung versicherte. Kerry hatte viele der jungen Krieger in Aéds Wolfsrudel kennengelernt und wusste, welche Leistungen die Dunländer im Kampf zeigen konnten. Sie würden in den kommenden Schlachten eine unschätzbare Verstärkung für Ost-in-Edhils Verteidiger darstellen.

Kerry stellte fest, dass das nachdenkliche Antlitz Helluins, das ihre Gedanken oft begleitet hatte, in jenen Momenten dort im Thronsaal weit in den Hintergrund gerückt war. Mit einem Mal stellte sie ihre Entscheidung in Frage, getrennten Weges von Aéd zu gehen. Zweifel nagten an ihr und wieder einmal stritten Gefühle in ihr miteinander, die sich nicht so leicht vereinbaren ließen. Ein Teil von Kerry war es mittlerweile Leid, sich ständig mit derlei Fragen herumzuschlagen. Ein anderer Teil machte sogar Adrienne Vorwürfe, weil sie die Verwirrung in Kerrys Herzen noch um ein Vielfaches verstärkt hatte. Sollte sie versuchen, Aéd in einem ruhigen Moment nach dem Ende von Faelivrins Ansprache beiseite zu ziehen und offen mit ihm über ihre Gefühle zu sprechen?
Nein, nein, das kannst du nicht machen. Er hat doch Wichtigeres zu tun, sagte sie zu sich selbst.

Sie wäre ohnehin nicht weit gekommen, falls sie ihren Gedanken wirklich in die Tat hatte umsetzen wollen. Aéd wurde gleich nach dem Ende der Rede der Königin zum Kriegsrat gerufen, dem auch Mathan als oberster Kommandant angehörte. Als Kerry, noch immer stark von ihrem inneren Konflikt beeinträchtigt versuchte, sich in Richtung des Hauptausgangs des Thronsaals zu bewegen, lief sie mitten in eine schwarze, weiche Wand.
Stoff? fragte sie sich noch, ehe eine starke Hand sie an der Schulter packte - sanft, aber mit Nachdruck - und davon abhielt, einen ganz und gar Prinzessinnen-unwürdigen Spagat auf dem glatten Saalboden hinzulegen. In ihrer Gedankenverlorenheit hatte sie vergessen, dass sie nun auf Faelivrins Anordnung hin auf Schritt und Tritt von Tárdur, dem Palastwächter und seinen beiden Gefährten begleitet wurde.
"Nicht so hastig, hírilya," ertönte Tárdurs Stimme, aus der Kerry das amüsierte, aber respektvolle Schmunzeln heraushören konnte, auch wenn sein Mund hinter dem schwarzen Stoff verborgen blieb, aus dem auch sein breiter Mantel bestand - in dem Kerry sich verfangen hatte. Wie so oft schoss ihr die Schamesröte in die Wangen. Sie fragte sich, ob wohl viele Augen ihr Missgeschick mitbekommen hatten und war erleichtert festzustellen, dass so gut wie alle Elben in der Halle sich längst ebenfalls in Bewegung gesetzt und dadurch einen so großen Trubel ausgelöst hatten, dass Kerrys Fehltritt wohl nur von den Wenigsten bemerkt worden sein konnte.
Ich frage mich, was diese ganzen hohen Herrschaften - abgesehen von nésas Familie - wohl von mir halten, dachte sie und war mit einem Mal ganz froh, einen kompetenten Beschützer zu haben. Tárdur verlieh ihr eine gewisse Legitimität als Prinzessin der Manarîn - wenn auch nur durch Adoption. Und ihre Begleiter konnten sie vor den meisten Blicken schützen, wenn sie es wünschte. Kerrys Stolz erwachte, wenn auch nur in einem Teil von ihr. Schon verlachte sie sich selbst, als sie merkte, was geschah. Vergiss nicht, wer du bist, sagte sie sich selbst. Eine lächerliche Gestalt inmitten all dieser prunkvollen Elbendamen und mächtigen Krieger. Sie legte eine gedankliche Pause ein, dann gestattete sie sich ein knappes Lächeln. Aber immerhin wichtig genug, um drei Leibwächter verpasst zu bekommen.

"Wir sollten reden," sagte Kerry, nachdem sie sich gesammelt hatte. Der Thronsaal war mittlerweile leerer geworden; nur hier und da strebten noch einige Nachzügler auf die Ausgänge zu.
Ihre drei Begleiter blieben stehen. Sie flankierten Kerry rechts und links, während der dritte Palastwächter einen Schritt hinter ihr ging. Bewaffnet waren sie mit langen Speeren mit breiten Klingen, die sie zweihändig führten. Weitere Waffen hingen an ihren Gürteln - jeweils zwei kurze Schwerter - und über der Schulter war ein Bogen gehängt, dessen Sehne abgenommen und zusammengerollt worden war.
Die Elben blieben stumm, als Kerry ihren Satz beendet hatte. Also sprach sie weiter. "Tárdur, deinen Namen kenne ich bereits. Doch wer sind die beiden anderen? Ich möchte wissen, mit wem ich nahezu jeden Moment meines Lebens in den kommenden Tagen teilen werde."
"Wie Ihr wünscht, hírilya Morilië," sagte Tárdur.
"Kennt ihr ein ruhiges Plätzchen, wo wir vier uns setzen und miteinander unterhalten können?" fragte Kerry in die Runde. "Vielleicht gibt es einen Ort, der so sicher ist, dass ihr nicht ständig auf der Hut bleiben müsst. Dann könnt ihr die Helme abnehmen und mir eure Gesichter zeigen."
"Wenn dies Euer Befehl ist, werden wir uns Euch nicht verweigern," antwortete Tárdur. "Einen vollständig sicheren Ort werden wir nicht finden, und unser Eid und unsere Ehre verbietet es uns, in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Wir haben geschworen, Euch mit unserem Leben zu verteidigen." Als er weitersprach, hörte Kerry wieder dieses typische Schmunzeln aus seiner Stimme. "Und im Vertrauen, hírilya,, ich bin nicht gerade dafür bekannt, mein Wort zu brechen."
"Dasselbe gilt für mich," fügte der zweite Gardist hinzu. Der dritte Elb nickte bestätigend.
Kerry sah sie der Reihe nach an. "Na gut. Aber gibt es vielleicht irgendwo einen Ort, wo wir zumindest halbwegs in Ruhe reden können?"
"Wie wäre es mit Euren Gemächern hier im Palast?" schlug Tárdur vor.
"Ich.. habe hier eigene Gemächer?" fragte Kerry. "Ich wohne doch bei Farelyë, in ihrem Haus."
"Dennoch wurden Euch hier eigene Unterkünfte vorbereitet - für den Fall," meinte Tárdur. "Die königliche Residenz ist der sicherste Ort in der ganzen Stadt. Sollte die Behausung der Herrin Farelyë in Gefahr geraten, habt Ihr hier einen Rückzugsort."
Kerry nickte verstehen. "So ist das also. Da sieht man es mal wieder; Faelivrin denkt wirklich an alles." Sie blickte in die Runde. "Also gut, wer von euch kennt den Weg dorthin?"

Sie brauchten nicht weit zu gehen. In den oberen Stockwerken, die sie über eine gewundene Treppe erreichten, waren viele Gemächer eingerichtet worden nachdem die Bauarbeiten am Palast fertiggestellt worden waren. Kerrys persönliches Gemach lag an der linken Flanke des Gebäudekomplexes und besaß einen kleinen Erker mit runden Fenstern. Türkise Vorhänge filterten das Sonnenlicht, das hereinfiel. Kerry war froh, drei Stühle neben dem Bett zu entdecken, das für sie vorbereitet worden war. Sie bat ihre Leibwächter, Platz zu nehmen, doch sie stieß dabei auf Widerwillen.
"Ich möchte euch dreien keine Befehle geben," sagte sie notgedrungen. "Das passt nicht zu mir. Aber mir wäre es wirklich lieber, wenn ihr mich nicht so auf ein Podest stellen würdet... ich habe wirklich nichts dagegen, wenn ihr sitzt. Ich werde mich aufs Bett niederlassen und ihr stellt die Stühle daneben, in Ordnung?"
"Wie unschwer festzustellen ist, hat die junge Dame noch viel über ihre hohe Stellung zu lernen," scherzte Tárdur, dann tauschte er sich im Flüsterton mit seinen Kameraden aus. Den Quenya-Dialekt, den sie dabei benutzten, konnte Kerry kaum verstehen, doch sie war erfreut festzustellen, dass zwei der Elben schließlich Platz nahmen. Tárdur hingegen blieb stehen. "Ich werde vor der Türe Wacht halten, bis Ihr Eure Neugierde im Bezug auf diese beiden befriedigt habt. Danach werden sie meinen Platz auf dem Flur einnehmen und ich werde mich Euren Fragen stellen, hírilya."
Kerry erkannte, dass sie nicht mehr erreichen würde als das. Also nickte sie und bat dann die beiden Gardisten, ihre Helme abzunehmen und sich ihr vorzustellen.
"Ramatar," sagte der erste.
"Ristallë", sprach die zweite Gardistin, deren Stimme Kerry bislang nicht gehört hatte. Sie war erstaunt, eine Frau hinter der schwarzen Gesichtsmaske vorzufinden.
Beide Krieger stammten aus den Neuen Landen und waren vergleichsweise jung, geboren während der Herrschaft Finuor Mârins. Ramatar war ursprünglich Marinesoldat gewesen und hatte sich in mehreren Seegefechten ausgezeichnet, was ihm seinen Aufstieg zur ehrenvollen Position der Palastgarde ermöglicht hatte. Ristallë stammte von einer der kleinsten Inseln des Seereiches der Manarîn, die immer wieder Ziel von Überfällen durch Piraten gewesen war, die in den Meeren südlich der Neuen Lande ihr Unwesen trieben. Sie hatte von klein auf gelernt, sich und andere zu verteidigen und war dem Weg der Kriegskunst bis zur Ehrengarde gefolgt.

Nachdem Kerry ihre beiden Beschützer eine Weile mit Fragen gelöchert hatte, entließ sie Ristallë und Ramatar schließlich. Sofort setzten die beiden ihre Helme wieder auf und bezogen vor Kerrys Tür Stellung, während Tárdur Kerry damit überraschte, dass er sich neben sie auf das Bett setzte.
"Nun, meinen Namen kennt Ihr bereits," begann der Gardist, ehe er seinen Kopfschutz abnahm. Sein Haar war blond und relativ kurz; eine Seltenheit unter den Manarîn, wie Kerry wusste. "Was möchtet Ihr wissen?"
Kerry überlegte. Sie war mit Tárdur bereits viel vertrauter als sie gedacht hatte. Sie legte den Kopf um eine Winzigkeit schief und sagte: "Erzähl' mir eine unterhaltsame Anekdote aus deinem Leben, Tárdur."
Der Gardist strich sich mit einem Finger über das Kinn, doch er zeigte keinerlei Überraschung hinsichtlich der ungewöhnlichen Frage Kerrys.
"Weißt du, als ich zum Gardisten ausgebildet wurde, passierte mir einmal etwas sehr Peinliches", begann er. "Ich war damals noch sehr unerfahren und hatte Schwierigkeiten, mich an die strenge Ausbildung anzupassen."
Kerry nickte und hörte aufmerksam zu.
"Eines Tages wurden wir aufgefordert, einen Hindernisparcours zu absolvieren, bei dem wir unser Gleichgewicht und unsere Koordination beweisen mussten", fuhr Tárdur fort. "Ich war so nervös und aufgeregt, dass ich auf einer der Herausforderungen stolperte und mit dem Gesicht voran in einem Haufen Stroh landete."
Kerry kicherte, während Tárdur weitersprach.
"Ich war so beschämt, dass ich mich nicht einmal traute, aufzustehen", sagte er. "Aber meine Ausbilder und die anderen Anwärter lachten nicht über mich. Stattdessen halfen sie mir auf die Beine und sagten, dass ich es beim nächsten Mal besser machen würde."
"Das ist schön zu hören", sagte Kerry lächelnd. "Es zeigt, dass die Gardisten eine starke Gemeinschaft sind, die zusammenhält und sich gegenseitig unterstützt."
Tárdur nickte. "Genau das ist es. Und ich bin stolz darauf, Teil dieser Gemeinschaft zu sein."
"Und hast du den Hindernislauf dann im zweiten Versuch erfolgreich abgeschlossen?" hakte Kerry nach. Dass ein so ruhiger und erfahren wirkender Krieger auch einst ein blutiger Anfänger gewesen war, machte ihn umso nahbarer für sie.
"Es hat noch mehr als einen Anlauf gebracht," gab Tárdur zu und zeigte wieder das gewohnte Schmunzeln. "Das habt Ihr nicht erwartet, nicht wahr?"
"N-naja, ich schätze... jeder muss irgendwann einen schwierigen Anfang hinter sich bringen, also, im Leben, meine ich," sagte Kerry etwas holprig.
"Und so ist es bei Euch ebenfalls," sagte Tárdur. "Ihr werdet sehen, die Rolle der Prinzessin wird sich schon bald viel einfacher für Euch anfühlen."
Kerry nickte. Er machte ihr Hoffnung, und das war gut. Ihr fiel auf, dass sie schon die ganze Zeit über weder an Aéd, noch an Adrienne oder an Helluin gedacht hatte. Und das war ihr im Augenblick viel wert.

Curanthor:
Adrienne stand mit verschränkten Armen an einer Säule gelehnt und hatte der Rede der Königin mit gleichmütiger Miene zugehört. Sie hörte die Stimme der Elbe, aber es war so, als ob sie durch einen dichten Schleier zu ihr sprach. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie irgendwelche Krieger hervorgerufen wurden, dann Mathan. Ihr Blick bemerkte die Fremde die neben ihren ehemaligen Lehrmeister in der Menge stand. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Unwohl wechselte sie das Bein, mit dem sie sich an die Säule lehnte.
 Ihr Ersatz hatte lange rote Haare und schien in einem ähnlichen Alter zu sein. Sie wirkte viel kriegerischer als sie selber, allein dadurch, dass sie stets mit gerecktem Kinn und gerader Statur dastand. Adrienne konnte sich dem Gedanken nicht verschließen, dass die Fremde vielleicht doch eine bessere Wahl war als sie selber. Dann sollte es so eben sein, warum gegen das Schicksal ankämpfen, es war sowieso zwecklos.
Ihr Blick wanderte zu Kerry, als die Versammlung aufgelöst wurde. Die Blonde warf ihr zwar einen Blick zu, den Adrienne jedoch nur gleichmütig erwiderte. Ihr war noch immer nicht klar, was sie dazu gebracht hatte sie zu küssen. Nüchtern betrachtet war es nichts als der Wunsch nach einer engen Freundin und etwas Zuneigung gewesen. Zumindest war sie zu dem Schluss gekommen, nachdem sie mit dem Messer in der Hand vor einigen Stunden wieder aufgewacht war. Alles was sie bisher getan hatte, kam ihr so lächerlich unbedeutend vorgekommen. Warum war sie überhaupt hier? Sie ließ sich mit den übrigen Elben aus dem Thronsaal treiben. Ihr Blick hing auf den wolkenverhangen, dunkelgrauen Himmel. Aus dem Augenwinkel sah sie einen kleineren blonden Haarschopf, der von drei in schwarz Gewandten Elbenkriegern in einen großen Westflügel geleitete wurde. Adrienne atmete tief durch, aber das Gefühl von Enge wollte nicht von ihrem Brustkorb weichen. Sie spürte, wie ihre Augen wieder etwas feucht wurden, bis ein dumpfes Pochen in ihrem verletzten Auge sie zum Blinzeln brachte. Irgendjemand legte ihr einen Mantel um die Schultern.


Valena schaute abwartend zu Mathan, als die Versammlung aufgelöst wurde. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz. Der Elb gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen draußen zu warten. Die anfängliche Begeisterung über diesen Ort war bei ihr bereits verflogen, also schritt sie relativ zügig hinaus zu dem großen Portal zur Treppe, die hinaus auf dem Palastvorplatz führte. Niemand sprach sie an, die meisten liefen entweder eilig die Treppen hinunter und verteilten sich, oder warfen ihr einen neugierigen Seitenblick zu. Sie atmete tief durch, als ein Windzug etwas frische Luft mit sich brachte.
Als sie sich wieder umwandte, wurde das Tor zum Thronsaal geschlossen. Inder Vorhalle waren nur ein paar wenige Elben übrig. Etwas verloren stand die verwirrt wirkende Gestalt der anderen Schülerin Mathans in der Mitte der Halle und starrte ins Leere. Valena hatte nur kurz mit ihr zu tun gehabt, aber es hatte gereicht um ihren Geisteszustand anzuzweifeln. Damit war sie offenbar nicht alleine, denn alle die an ihr vorbeigingen, machten einen großen Bogen um sie. Sie seufzte und ging auf sie zu. Die kastanienbraunen Haare der jungen Frau waren durcheinander und eine große Wunde zeichnete ihr Gesicht. Sie musste entweder einen ungleichen Kampf bestritten haben oder eine Menge Glückt gehabt haben. Valena war sich sicher, dass jeder normale Hieb sonst jemanden den Kopf gespalten hätte. Sie löste die Klammern ihres Umhangs und legte sie der Barfüßigen um die Schultern. Erst jetzt, wo sie direkt vor ihr stand nahm sie Notiz von ihr. Ein Anflug von Hass flackerte in den nussbraunen Augen auf, der aber sofort mit Gleichmut ersetzt wurde.
„Ist dir nicht kalt?“, fragte Valena etwas unbeholfen.
Erst starrte die Angesprochene nur an ihr vorbei, bis sich ihr Blick unwillig auf ihr Gesicht fixierte. „Etwas“, entgegnete sie nur knapp.
„Du bist Adrienne, auch eine Schülerin von dem Elbenherrn“, stellte Valena unbeeindruckt fest und nickte dabei zur verschlossenen Türe des Thronsaals, „Hab‘ ich von den anderen gehört.“
Ein knappes Nicken. Adrienne begann etwas auf den Fußballen hin und her zu wippen.
„Vielleicht sollten wir dich einkleiden.“
Sie stoppte und legte fragend den Kopf schief.
Valena stöhnte genervt auf. „Wenn du dich selbst umbringen möchtest…“ begann sie mit einem Blick auf den dunkelroten, verlaufenen Fleck auf Herzhöhe ihres weißen Oberteils, „Da gibt es andere Wege.“ 
„Hmm?“, machte Adrienne überrascht. Ihr trüber Blick wurde plötzlich klar und ihre Augen fixierten sie. „Warum sollte ich so etwas Dämliches tun?“
Valena runzelte die Stirn. „Du hast eben ziemlich selbstzerstörerisches Zeug von dir gegeben, schon vergessen?“
„Oh, das.“ Adrienne schaute wieder über Valenas Schulter in die Ferne, „Warum gegen das Schicksal ankämpfen? Es holt doch sowieso wieder einen ein.“
Valena rollte die Augen. „Schwachsinn. Ich glaube nicht an Schicksal, aber das sei jedem selbst überlassen.“
Adrienne schnaubte leise. „Bist du nur hier um mich zu nerven?“
„Ich mache mir nur Sorgen um dich an der Stelle unseres Lehrmeisters. Er hat im Moment wichtigere Aufgaben.“
„Ja, so ist das mit den feinen Elben. Immer gibt es etwas Wichtiges, oder jemanden anderen. Es gibt immer jemanden an letzter Stelle. Dort habe ich mich selbst hin befördert. Es lieg nicht an dir, das zu korrigieren, dafür ist es zu spät.“
Valena erschauderte unwillentlich. Sie kannte diesen Blick nur vom Schlachtfeld -  oder von den Lagern des roten Auges. In den Tiefen der schwarzen Iris Adriennes brannte ein gefährliches Feuer. Scheinbar hatte sie akzeptiert was geschehen würde, was auch immer es war wovon sie überzeugt war. Es hatte kaum einen Sinn gegen jemanden, der abgeschlossen hatte anzureden. Sie seufzte und antwortete, dass sie von solchen Dingen nicht viel verstand.
Adrienne legte fragend den Kopf schief.
„Ich erzähle dir jetzt nicht meine Lebensgeschichte. Bei uns gab es keine Elben, nur alte Geschichten und andere Bräuche. Jetzt sei nicht so stur.“  Valena verlor allmählich die Geduld und schob sie an den Schultern einfach in die Richtung, wo sie die Rüstkammer vermutete. Adrienne schien sich kurz zu widersetzen, gab dann aber plötzlich nach. Einer der herumstehenden Elben in Schwarz beschrieb ihr einen Raum, in dem behelfsmäßig Ausrüstung ausgegeben wurde. Valena wunderte sich noch immer über ihren Zweck, bedankte sich aber bei dem Mann und ging in den Ostflügel. Mittlerweile musste sie Adrienne auch nicht mehr vor sich herschieben, sondern sie an der Schulter gepackt bestimmt leiten.

Als sie an der unscheinbaren Türe, die aus frischem Holz bestand angekommen waren, befreite sich Adrienne mit einem Schulterzucken von dem Griff und klopfte. Ein Ruf aus dem Inneren ließ die beiden eintreten. Ein dunkelhaariger Elb mit einer breiten Narbe auf der Stirn und einfachen Roben gekleidet blickte von einem kleinen Tisch auf. Rechts und links von ihm türmten sich Truhen, Schachteln und Kisten, aus denen Griffe aller Art und allerlei Ausrüstungsgegenstände ragte. Auf einigen simplen Rüstungsständern hinter ihm hingen mehrere Elbenrüstung unterschiedlicher Machart.
„Valena vom Raureiftal“, stellte sie sich mit einem knappen Nicken vor und deutete auf die leicht bekleidete Adrienne, „Ich denke unser Anliegen ist offensichtlich.“
Der Elb legte eine Zange beiseite, mit der er an einem Kettenhemd gearbeitet hatte. „Und auf wessen Geheiß seid Ihr hier, Dame Valena?“ Er hatte eine sanfte, melodische Stimme, wie fast alle Elben die sie in den letzten Tagen sprechen gehört hatte.
„Mein Lehrmeister ist der ehrenwerte Herr Mathan“, antwortete sie knapp.
Der Elb hob eine Braue. „Ach, tatsächlich.“ Er griff erneut nach seiner Zange und arbeitete einige weitere Ringe in das Kettenhemd. „Und was wünscht Ihr nun von mir?“, fragte er ohne aufzublicken. 
„Eine neue Ausrüstung für meine…“, Valena blickte aus dem Augenwinkel zu Adrienne, die eine unergründliche Miene aus Gleichmut aufgesetzte hatte, „Mitschülerin. Ein Paar Schuhe allen voran.“
„Davon ging ich aus.“ Der Elb legte erneut seine Zange zur Seite und beugte sich nach rechts hinab. Als er sich aufrichtete, warf er ein Paar Lederstiefel quer durch den Raum. Valena und Adrienne fingen jeweils einen Schuh. Es waren Reiterstiefel, die fast bis zu den Knien reichten. Das Leder war sehr weich und dunkelbraun, fast schwarz.  Valena reichte ihn prompt weiter. Adrienne nickte sogar knapp.
„Eben fertig geworden. Neu besohlt. Dürften eine lange Zeit halten“, brummte der Elb. Er deutete mit dem Daumen hinter sich auf zwei etwas kleiner wirkende Rüstungen, die auch schon mit Schulterschutz, Arm- und Beinschienen versehen waren. „Je nach euren Kampfstil. Genietetes Leder für Beweglichkeit, oder ein Stahlkürass für die Schlacht. Für Extrawünsche müsstet ihr zu Herrn Amarin gehen, er hat auch eure Maße genommen.“
„Oh“, machte Adrienne und klang tatsächlich erstaunt, „Danke.“
Der Elb brummte etwas Unverständliches in einer unbekannten Sprache, sagte aber dann etwas unwirsch: „Unterkleidung und dergleichen sind in der Truhe links von den Streithämmern. Hosen und Beinbekleidung in der Kiste links von der Tür. Ich empfehle eine mehrschichtige Lederhose.“
Valena hob überrascht eine Braue und wandte den Kopf langsam zu Adrienne. Wäre sie so verrückt ohne Unterkleidung herzumzulaufen? Eine leise Stimme in ihrem Kopf stimmte dem zu. Valena schloss genervt die Augen, hörte aber wie Adrienne die Truhe öffnete und sich die übrigen Kleidungs- und Ausrüstungstücke zusammensuchte, die der Elb ihr beschrieb wo sie zu finden waren.

Jemand tippte ihr dann nach einer kurze Weile auf die Schulter. Adrienne stand vor ihr, einen Berg Ausrüstung auf beiden Armen, neben ihr der etwas garstige Elb. Erst jetzt bemerkte sie, dass eines seiner Hosenbeine ins Leere ging und er auf einem Bein balancierte. Rasch fixierte sie seine Narbe, den missbilligenden Blick vermeidend.
„Besser Ihr helft ihr, Dame Valena“, brummte der Elb und hielt sich an einer Kiste fest, als er zu seinem Tisch zurückkehrte, „Damit sie wenigstens etwas in Würde herumläuft. Und jetzt lasst mich alleine, ich habe noch sehr viel zu tun.“
Valena kam der Aufforderung gerne nach und verließ recht eilig das Arbeitszimmer des unwirschen Elben. Adrienne folgte ihr auf dem Fuß. Auf dem Korridor tauschten sie einen Blick. Scheinbar hatte auch sie auch noch nie so eine Begegnung gehabt.
„Dann wollen wir dich mal einkleiden“, schlug Valena mit einem Blick auf dem genieteten Lederharnisch vor.
Adrienne brummte zustimmend und nickte zu dem Nachbarraum, dessen Tür einige Schritte weiterlag.
Vielleicht war sie doch nicht so verloren wie sie dachte. Aber stark war sie, fiel ihr auf. Allein das Kettenhemd auf ihren Armen wog einiges, ging es ihr durch den Kopf als sie in einen leeren Raum traten. Er besaß keine Fenster und schien erst vor kurzem fertig gestellt worden zu sein.
Sie wechselten keine weiteren Wörter, während Valena Adrienne half sich anzukleiden und die Rüstung anzulegen. Sie bemerkte drei gewaltige Narben, wobei eine sich quer über den Oberkörper zog. Auch sonst war der Körper ihrer Mitschülerin so sehr gezeichnet, als ob sie hunderte Schlachten erlebt hatte. Überall waren feine weiße Narben von Schnitten, Stichen und anderen alten Wunden.
Als sie fertig waren, blickte Adrienne zweifelnd an sich herab. „Ich würde es schätzen, wenn du das was du gesehen hast für dich behältst.“ Ihr Blick traf Valena und sich wirkte das erste Mal nicht abweisend, „Manche Augen lassen sich leider nicht täuschen. Du hast einen starken Blick.“ Ein Anflug eines Lächelns lag in ihren Augen, der rasch verschwand, als sie ihr den Mantel zurückgab, doch Valena schüttelte den Kopf.
„Behalte ihn. Als Entschädigung für unsere… missglückte erste Begegnung.“
Adrienne legte kurz den Kopf schief, nickte aber dann. „Wenn du es so willst.“ Sie zögerte kurz und setzte nach: „Er wird mir gute Dienste leisten.“ Sie ging an ihr vorbei und öffnete die Tür, „Ich werde dir diesen Dienst erwidern.“ Mit den Worten fiel die Tür wieder zu.
Valena blickte mit einem verwirrten Gesichtsausdruck auf die Tür und schüttelte den Kopf. Eine eigenwillige Art sich zu bedanken, aber der Gedanke zählt. Wer weiß was sie erlebt hat...

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