Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Eregion

Ost-in-Edhil

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Fine:
Weder von Aéd noch von Faelivrin gab es ein Zeichen, seitdem der Wolfskönig den Palast der Herrin der Manarîn betreten hatte - vermutlich dauerte der königliche Empfang den ganzen Tag. Kerry, die gehofft hatte, noch einmal ausführlicher mit Aéd sprechen zu können, war enttäuscht. Sie vertrieb sich die Zeit mit Pippin, der ihr Geschichten aus dem Auenland erzählte und ihr einige hübsche Eckchen in der Stadt zeigte, die er bei seinen bisherigen Streifzügen entdeckt hatte. Am frühen Nachmittag kamen die beiden wieder in den westlichen Teil der Stadt, und der Hobbit bugsierte Kerry in Richtung des Lorbeerblatts. Pippin hatte angedeutet, dass ihm eine gute Idee gekommen war, und damit hatte er Kerrys Neugierde geweckt.

Morlas, der Wirt, begrüßte sie mit einem großen Hallo. Er schien wie immer bei bester Laune zu sein. Als er Pippins Vorschlag hörte, klatschte der Elb begeistert in die Hände.
"Rezepte aus deiner Heimat, Meister Peregrin? Nur her damit, nur her damit! Wir beiden werden jetzt die Köpfe zusammenstecken, und heute Abend bringen wir die ersten Neuheiten auf die Speisekarte. Ich bin mir sicher, die Gäste werden es lieben. Man sagt, dass die Halblinge hervorragende Feinschmecker sind."
"Das sind sie," bestätigte Pippin zufrieden. "Ich selbst bin zwar kein besonders begabter Koch, aber..."
Morlas winkte ab. "Es genügt, wenn du mir die Geschmäcker und Eigenheiten der Gerichte des Auenlandes beschreibst und mir beim Zubereiten ein wenig zur Hand gehst. Oh, und du, vintári;" er ergriff Kerrys Hand und zog sie einige Schritte mit sich, "Du kannst dich ebenfalls nützlich machen, wenn du möchtest - es lohnt sich, denn du darfst von allem als Erste probieren!"
"Nenn' mich nicht so," sagte Kerry etwas verstimmt. Sie wollte nicht als Herrin oder Prinzessin bezeichnet werden. Im Vergleich zu den würdevollen Elben im Palast kam sie sich klein und unbedeutend vor. "Ich heiße doch Kerry."
"Oh, deinen Namen habe ich nicht vergessen," sagte Morlas amüsiert. "Wusstest du nicht, dass es der Elben Art ist, den Dingen neue Namen zu geben?"
"Wenn dir mein Name nicht gefällt, dann nenne mich eben Ténawen, oder Morilië," hielt Kerry dagegen.
"Schluss damit!" mischte sich Pippin ein. "Mir wurde auenländische Küche versprochen. Du bist doch ein Ehrenmann, nicht wahr, Morlas? Fangen wir an!"
Morlas lachte und führte sie in seine Küche. Schon bald waren sie zu dritt bei der Arbeit.

Kerry staunte darüber, wie viele Gerichte an diesem Nachmittag ausprobiert wurden, und wie geschickt Morlas die ausführlichen Beschreibungen Pippins in die Tat umsetzen konnte. Kurz nachdem sie mit der Arbeit begonnen hatte, war eine schwarzhaarige Elbin zu ihnen gestoßen, die Morlas knapp als seine Gemahlin Nityel vorgestellt hatte. Zu viert war es beinahe zu eng in der kleinen Küche, doch irgendwie gelang es ihnen, Morlas nicht bei seinem Werk zu behindern. Kerry war beeindruckt davon, wie mühelos dem Schankwirt die Umsetzung gelang, selbst von Dingen, die er laut eigener Aussage noch nie gesehen hatte. Die Krönung war eine feine auenländische Torte (in Hobbit-Größe), die mit Himbeeren belegt war und deren Duft Kerry beinahe um den Verstand brachte. Sie vergaß für einen Augenblick sogar ihre ständige Sorge um Helluin und Oronêl, die irgendwo im Norden Eregions in lebensgefährlicher Mission unterwegs waren.

"So," sagte Morlas schließlich, als die ersten goldenen Sonnenstrahlen der Abendröte durchs Fenster fielen. Der Schankwirt wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Ich denke, da waren wir doch recht erfolgreich, nicht wahr?"
"Unbedingt," stimmte Pippin ihm mit vollem Mund zu. Die Himbeertorte war zur Hälfte verschwunden; der Hobbit rieb sich zufrieden den Bauch.
Nityel war bereits in den Schankraum gegangen, wo die ersten Gäste eingetroffen waren. Als sie zurückkehrte, blickte sie recht erstaunt drein. "Es ist voller als wir es gewohnt sind," erklärte die dunkelhaarige Elbin. "Hast du herumerzählt, dass es heute etwas Besonderes auf der Speisekarte geben soll?" fragte sie ihren Gatten.
Morlas blickte unschuldig auf seine Finger. "Oh, nun, du weißt doch, die Leute reden eben. Vielleicht habe ich heute einigen von ihnen wissen lassen, dass es heute echte auenländische Küche geben wird... vielleicht gibt es aber auch eine vollkommen andere Erklärung. Viele der Manarîn sind weitsichtig, nicht wahr? Ob einer von ihnen gewusst hat, dass sich unser kleines Küchenabenteuer heute ereigen wird?"
Nityel zog die dunklen Brauen zusammen, ein gefährlicher Blick trat in ihre Miene. Kerry und Pippin duckten sich instinktiv; sie spürten, dass mit dieser Elbin nicht zu spaßen war. Doch Morlas ließ sich nicht einschüchtern. "Wir dürfen die Gäste nicht warten lassen," sagte er ungerührt. "Wenn es jetzt schon so voll ist, werden sie uns in spätestens einer Stunde die Bude einrennen."
"Dann brauchen wir mehr Schankmaiden, alleine schaffe ich das nicht," sagte Nityel und ihr Blick fiel auf Kerry.
Kerry brauchte einen Augenblick um zu verstehen, doch dann nickte sie. "Ich weiß, wie das geht," sagte sie. "Ich helfe gerne!"
"Aber zuerst musst du dich umziehen, Kleines," sagte Nityel und deutete auf den teuren Stoff, den Kerry trug. "Meisterin Nivim in Ehren, aber das Kleid wäre viel zu schade, um mit Morlas' Spielereien bekleckert zu werden. Im Nebenraum der Küche solltest du etwas Passendes finden."

Kerry fand nach kurzer Suche einige Kleider, die gewöhnlicher aussahen als das feine Gewand, das Nivim für sie gemacht hatte. Der Stoff war dünner, und etwas rauer; das Kleid, das Kerry wählte, war tiefblau und hatte kurze Ärmel, die oberhalb der Ellbogen endeten. Es war etwas tiefer ausgeschnitten als es ihr recht war, doch Kerry hatte jetzt keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen. Sie band sich eine hellbraune Schürze um und begab sich in den Schankraum. Dort war bereits eine Menge los. Eine Gruppe Zwerge saß in den Sitznischen an den Fenstern und rief nach Morlas, der mit wippenden Schritten herbeigeeilt kam. Elben standen nahe des Eingangs und am Tresen, viele unterhielten sich in einem Avarin-Dialekt mit Nityel, wovon Kerry kaum ein Wort verstand. Andere Gäste saßen an einem der länglichen Tische im hinteren Teil des Schankraumes, wo ein großer Ofen in Gang gebracht worden war, der die Kälte von draußen vertrieb. Da hob ein Elb die Hand und winkte Kerry zu sich, und sogleich schaltete sie innerlich in einen geschäftigen Zustand um, den sie sich nach all der Zeit gar nicht mehr zugetraut hatte. Sie hatte in Bree ein Jahr gekellnert, und der Fuchs war eine viel schlimmere Spelunke als das Lorbeerblatt gewesen, mit unangenehmen, mürrischen Gästen. Die meisten Elben waren freundlich und geduldig, aber beinahe alle von ihnen waren zu Späßen auf Kerrys Kosten aufgelegt. Ein jeder schien zu wissen, in welcher Verbindung sie zur Königin stand, und vor allem von den Avari musste sich Kerry einige bissige Sprüche gefallen lassen. Dennoch war niemand offen unfreundlich und jeder Gast bedankte sich bei ihr, wenn sie die bestellten Speisen und Getränke brachte. Selbst die Zwerge waren bei guter Laune und einer raunte Kerry zu, sie sei der hübscheste Anblick, den er seit seinem neulichen Abstecher in die Kristallminen von Gundzanar gesehen hätte. Sie wurde rot und machte einen artigen Knicks, dann riefen die nächsten Gäste nach ihr.

Es wurde ein fröhlicher, wenn auch anstrengender Abend. Kerry kam mächtig ins Schwitzen, aber irgendwie machte ihr die Arbeit wirklich Spaß. Sie fühlte sich zugehörig, als wäre ihr das Blatt wie zu einer neuen Heimat geworden. In all dem Trubel dachte sie weder an Aéd noch an Helluin. Es tat ihr gut, ihre Sorgen zumindest für einige Zeit zu vergessen. Und als schließlich einige Gäste - es waren Hwenti, die mit Morlas verwandt zu sein schienen - sie fragten, ob sie nun öfter hier in als Schankmaid arbeiten wollte, bejahte Kerry die Frage, ehe sie darüber nachgedacht hatte. Sie hielt für einen Moment inne, änderte aber nicht ihre Meinung. Sie war gerne hier, wie sie feststellte. Und als der Schankraum sich nach und nach leerte, lehnte sie sich erschöpft, aber glücklich gegen den Tresen und sah Morlas an, der gerade über das glatte Holz strich und einige Tropfen dort verschütteten Weins wegwischte.
"Ich... würde das gerne wieder tun," sagte sie sachte.
Morlas sah sie nicht an, aber er lächelte. "Dann müssen wir über deine Bezahlung sprechen," merkte er an.
"Ich brauche keine," sagte Kerry sofort und stellte sich ihm gegenüber. Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. Seine linke Braue wanderte nach oben. Kerry nickte zur Bekräftigung. "Ich mag diesen Ort," fuhr sie fort. "Sehr sogar. Ich möchte Nityel und dir helfen, ihn so wundervoll zu erhalten, wie er ist."
Nityel, die besonders scharfe Ohren zu haben schien, kam aus der Küche und musterte Kerry, dann lächelte sie. Kerry sah sie in diesem Augenblick zum ersten Mal mit einer solchen Miene, denn die Schwarzhaarige war als Einzige den Abend über meist ernst geblieben. "Wir würden uns freuen, dich hier arbeiten zu lassen," sagte Nityel.
Morlas nickte, dann lachte er schallend. "Und ob!" stimmte er seiner Gattin zu. "Aber um einen guten Lohn kommst du nicht herum, ob du willst oder nicht." Er zwinkerte ihr zu. "Wir werden uns etwas Besonderes für dich ausdenken."
Kerry, die glücklich und müde zugleich war, um genauer nachzuhaken, nickte einfach. Sie verabschiedete sich von den beiden Elben und Pippin begleitete sie zu ihrer Unterkunft zurück.

Kerry fiel rasch in einen tiefen Schlaf, nachdem es ihr gelungen war, sich in ihr Bett zu legen, ohne Haleth oder Elea dabei aufzuwecken, denn die beiden Dúnedain schliefen bereits. Sie hatte einen lebhaften Traum, an den sie sich so gut erinnern konnte, als wäre er Wirklichkeit gewesen. Kerry fand sich im belagerten Fornost wieder, auf dem Höhepunkt der Kämpfe. Der große Turm, auf dem sie gestanden hatte, war eingestürzt und nun klaffte eine mit Bruchstücken und Felsen übersäte Lücke in der Verteidigungslinie. Schon näherten sich die ersten Gestalten aus dem Nebel im Süden. Eine schlanke, hochgewachsene Silhouette mit einer langen Klinge in der Hand schälte sich hervor, und für einen Augenblick fiel vor Erleichterung die Anspannung von Kerry ab. Oronêl war hier, und würde die Turmruine verteidigen.
Sie sah genauer hin und erkannte zu ihrem Schrecken, dass sie sich getäuscht hatte. Dies war nicht ihre Erinnerung. Es war nicht Oronêl, auch wenn die spitzen Ohren verrieten, dass es sich um einen Elbenkrieger handelte. Kerry fuhr es eiskalt den Rücken hinunter, als sie das bösartige Antlitz Laedors erkannte - Oronêls altem Feind, der sein Ende in den Gruften unter Carn Dûm gefunden hatte. Sie spürte die Angst in sich aufsteigen, aber da war noch etwas anderes. Kerry stellte fest, dass sie sich an alles erinnern konnte, was bis zu ihrer Rückkehr nach Eregion geschehen war. Sie war nicht mehr das wehrlose Mädchen, das fehl am Platz in der Belagerung von Fornost gewesen war. Sie hatte Ozeane und Flüsse bereist, Gebirge und Wälder durchquert und mehrere Schlachten überstanden. Mathans Lektionen, die sie widerwillig an Bord der Naicanga erhalten hatte, kamen ihr wieder in den Sinn, und Kerry hob das Schwert eines gefallenen Waldläufers auf. Sie war von Entschlossenheit erfüllt. Sie würde Laedor aufhalten, selbst wenn es ihr Leben kostete.
Wie ein tödlicher Blitz raste der Feind auf sie zu. Ihr Schwert glühte auf, als sie es zur Parade erhob, und Funken stieben davon, als Laedors Klinge abprallte. Kerry drehte sich um die eigene Achse, den Schwung in einen zielsicheren Schlag lenkend, der Laedors Schultern von seinem Kopf befreien sollte. Doch als die leuchtende Klinge auf ihn zuschnellte, veränderte sich ihr Gegner. Die Augen strahlten eisblau auf, die Züge verzerrten sich zu einer ungetümen Fratze, die Gliedmaßen verrenkten sich unmenschlich und Flügel breiteten sich hinter seinem Rücken aus. Ein eiskaltes Monster ragte drohend über Kerry auf und ihr Schwert fiel nutzlos zu Boden. Dann packte sie eine Hand am Arm und riss sie fort, in die Dunkelheit hinein, die sich rings um den Turm ausgebreitet hatte. Sie hörte Farelyës Stimme rufen: "Es ist noch nicht an der Zeit!", dann wachte sie schwer atmend auf.

Es dauerte lange, bis Kerry wieder Ruhe fand und weiterschlafen konnte. Sie wusste weder, was ihr Traum bedeuten könnte, noch ob er überhaupt etwas zu bedeuten hatte...

Fine:
Die Sonne war noch nicht ganz über die in der Ferne aufragenden Gipfel des Nebelgebirges geklettert, als Kerry aus dem Schlaf hochfuhr. Eine Hand hatte ihren Arm berührt und ein eiskalter Blitz schoss Kerry durch die Glieder. Sie blickte sich um, zunächst etwas disorientiert. Dann erkannte sie Farelyës scharf geschwungene Gesichtszüge, die auf Kerry herabblickten. In diesem Moment bemerkte Kerry, dass alles Kindliche aus dem Gesicht der Cuventai-Elbin gewichen war. Die Augen gaben ein silbriges Leuchten von sich, das wie von fernen Sternen durch einen vom Zwielicht verhüllten Nachthimmel hervorsickerte. Sofort musste Kerry an ihren Traum denken, der sie in der vergangenen Nacht gequält hatte.
"Ich bin nicht wegen deines Traumes hier," sagte Farelyë, als hätte sie Kerrys Gedanken gelesen.
Kerry rieb sich die Augen, dann suchte sie Farelyës Blick. "Und weshalb weckst du mich dann um so eine unangebrachte Uhrzeit? Wie spät ist es?"
"Spielt das denn eine Rolle?" fragte Farelyë ruhig. "Der Feind rückt nahe, und mit ihm der drohende Untergang dieser Stadt und all jener, die hinter ihren Mauern Zuflucht suchen. Wir müssen uns eilen." Sie trat einen Schritt von Kerrys Bett weg und sah zum Fenster, durch das nun die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer drangen. "Ich brauche deine Hilfe."
Kerry setzte sich auf, gähnte herzhaft und kletterte dann aus dem Bett. Dass sie Farelyë helfen würde stand für sie außer Frage. Rasch zog sie sich ihre Reisekleidung an. "Und wie kann ich dir helfen?" fragte sie, als sie fertig war.
"Als ich dich inmitten des Schneesturmes fand, südlich des Sirannon, umzingelt von Wölfen, da blieb mir keine Zeit, die seltsame Aura zu ergründen, die dir damals anhaftete. Und danach trennten sich unsere Wege für einige Zeit. Beinahe hätte ich jenen Augenblick vergessen, als ich den schwachen Eindruck wahrnahm, dass du mit etwas in Berührung gekommen sein musstest, das ... den Hauch der Altvorderen Künste an sich trug."
Kerry, die Farelyë mittlerweile aus dem Haus heraus und auf die Straßen der Stadt gefolgt war, zog verwundert die Brauen zusammen. "Wovon sprichst du?" wollte sie wissen.
Farelyë hatte ein eiliges Tempo eingeschlagen und führte Kerry nach Südwesten, in Richtung jener Stadtviertel, die bislang noch nicht vollständig fertig gestellt worden waren, denn sie lagen nahe am Fluss im Rücken der Stadt und wären bei einem Angriff aus dem Norden oder Osten, wo die feindlichen Streitmächte vermutet wurden, am wenigsten in Gefahr, weshalb die Baumeister der Manarîn sich zunächst auf die Mauern und Befestigungen anderer Stadtteile konzentriert hatten.
"Was auch immer es war, das du berührt oder mit dir getragen hast," fuhr Farelyë im Gehen fort, "du brachtest es bei deiner Rückkehr nach Eregion nicht mit dir und die Aura jenes Gegenstandes war längst verblasst. Ich hatte sie nicht vergessen, doch es gab wichtigere Dinge, die meine Aufmerksamkeit erforderten."
"Und was hat sich geändert?" hakte Kerry nach.
"Gestern," sagte Farelyë, blieb stehen und sah Kerry in die Augen, "habe ich sie erneut gespürt."
Kerry brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was Farelyë damit andeuten wollte. "Warte... du willst damit sagen, dieses Ding, das Oronêl aus den Wäldern der Geisterküste mitgebracht hat, ist hier?"

Farelyë packte Kerry am Arm und zog sie weiter, bis sie an die leerstehende Ruine einer alten, riesigen Elbenhalle mit mehreren Flügeln kamen, zu der noch kein Handwerker der Manarîn vorgedrungen war. Das Dach, das einst aus einer großen Kuppel bestanden hatte, war eingestürzt, gemeinsam mit dem Großteil der Rückwand. Pflanzen hatten sich in dem Gebäude breit gemacht und hatten Säulen und Statuen überwuchert. Die Schritte der beiden Frauen klangen hohl auf dem gesprungenen, marmornen Boden, ehe Farelyë neben einem umgestürzten Podest stehenblieb.
"Zunächst einmal musst du mir alles erzählen, was du über jenen Gegenstand weißt," sagte sie dringlich, aber mit so gedämpfter Stimme, dass Kerry sich anstrengen musste, um ihre Worte zu verstehen. "Worum handelt es sich? Wie ist er beschaffen? Wie kamst du damit in Berührung?"
Kerry erzählte so leise sie konnte von ihrem Abenteuer mit Oronêl und Gwỹra im Land der Glannau Môr an der Geisterküste, und ihrer geisterhaften Begegnung mit der Erscheinung Sarumans im Hain der Hexen. Sie berichtete Farelyë davon, wie sie den geheimnisvollen Stein von der Lichtung mitgenommen und zu Elrond in Bruchtal gebracht hatten, welcher die Vermutung aufgestellt hatte, es handelte sich dabei um einen Versuch Sarumans, einen den Palantíri ähnlichen Sichtstein zu erschaffen.
"So," sagte Farelyë, als Kerry ihre Erzählung beendet hatte, und ihre Stimme verhallte zwischen den bewachsenen Mauern der uralten Halle. "Dann hat entweder jemand diesen Stein aus Imladris gestohlen und hierher gebracht, oder..."
"...oder es gibt mehr als einen davon," ergänzte Kerry.
"Und ich vermute, Zweiteres ist der Fall," meinte Farelyë mit Sorge im Tonfall. "Nach allem was wir wissen, sind es Sarumans Horden, die nun aus dem Gebirge herab strömen und Eregion bedrohen. Sollte einer dieser Steine hier in der Stadt sein, in Ost-in-Edhil, öffnet er dem Zauberer ein Einfalltor, von dem niemand etwas ahnen wird, bevor es zu spät sein wird."
"Was?" entfuhr es Kerry erschrocken. "Du meinst, er könnte... hierher kommen?"
"Nicht er selbst," antwortete die Elbin. "Aber sein mächtigstes Werkzeug: seine Stimme. Wenn jemand den Stein hierher gebracht hat, dann hat Sarumans Einfluss Ost-in-Edhil bereits infiziert und wird sich nur noch weiter ausbreiten, wenn wir nichts unternehmen."
"Das dürfen wir nicht zulassen!" stellte Kerry entschlossen dar. "Kannst du... spüren, wo dieses Ding sich befindet?"
"Nicht weit von hier, wenn mich die Sternsicht nicht täuscht," sagte Farelyë. "Seinetwegen sind wir in diese Ruine gekommen. Hilf mir, sie zu durchsuchen... aber sei' vorsichtig. Die Diener des Weißen Zauberers könnten in der Nähe sein."

Zwei der drei Flügel der alten Halle, die einst die Noldor von Mathans Volk erbaut hatten, fanden die beiden Frauen vollkommen verlassen und ohne jegliche Spuren vor. Um den dritten, südlichsten Flügel zu erreichen, mussten sie den großen Schutthaufen ersteigen, der beim Einsturz der Dachkuppel entstanden sein musste. Nach einigen Mühen gelangten sie so in einen langen Gang, der beinahe vollständig von Pflanzen überwuchert war. Sie kamen nur mühsam voran, denn weiterhin bemühten Farelyë und Kerry sich sehr, so leise wie möglich zu sein. Als sie den Gang betraten, blieb die Elbin stehen.
"Wir sind am richtigen Ort," wisperte sie nahezu lautlos.
Der Gang endete in einer schmalen Wendeltreppe, die sie offenbar in einen Turm führte. Es gab keine Fenster, weshalb sie nur schätzen konnten, wie viele Stockwerke sie erstiegen. Licht schenkte ihnen dabei nur der fahle Schein, den Farelyë mit ihren Fingern erzeugte, so wie sie es einst in den finsteren Verliesen unterhalb von Carn Dûm getan hatte. Kerry kam der Aufstieg über die vielerorts brüchigen und zersprungenen Treppenstufen schier endlos vor. Sie konnte sich nicht erinnern, beim Betreten des alten Gebäudekomplexes einen so hohen Turm gesehen zu haben. Sie fragte sich bereits, ob sie nicht wieder träumte, als Farelyë ohne Vorwarnung stehen blieb und Kerrys Hand ergriff. Ein festes Drücken übermittelte Kerry die lautlose Nachricht: Dort vorn ist etwas.
Farelyë ließ das Licht an ihren Fingerspitzen ersterben und das Letzte, was Kerry sah, war der Funken in den Augen der Elbin, der zu Finsternis erlosch. Als sich Kerrys Wahrnehmung an die Dunkelheit gewöhnt hatte, bemerkte sie einen schwachen Schein, der von oben kam. Farelyë bewegte sich darauf zu und Kerry folgte ihr. Sie erreichten das obere Ende der Wendeltreppe. Über ihnen sickerte fahles Sonnenlicht durch die dicht überwucherten Überreste einer schlank zulaufenden Turmspitze, die nach Süden hin auf einen kleinen Balkon hinauslief. Dort stand eine dunkle Gestalt, gehüllt in einen langen Umhang, der Kopf und Gesicht verdeckte. Die Hände schienen etwas zu halten, was Kerry von ihrer Position unterhalb der vorletzten Treppenstufe nicht erkennen konnte. Sie fragte sich, was sie nun tun sollte, als sich Farelyë neben ihr aufrichtete.
"Er wird nicht antworten," sagte sie im ruhigen, aber gut hörbaren Tonfall, offenbar an die Gestalt auf dem Balkon vor ihnen gerichtet, keine drei Meter von ihr entfernt.
Die Gestalt fuhr herum, zwar eindeutig überrascht, aber nicht so sehr, dass von Schock oder Schrecken die Rede sein konnte. Dabei rutschte die Kapuze nach hinten und enthüllte rabenschwarzes, langes Haar und graue, vor Verlangen aufblitzende Augen, die Kerry und Farelyë mit festem Blick begegneten. Die beiden Hände waren um einen Gegenstand geklammert, der der geheimisvollen Kugel, die Oronêl von der Lichtung an der Geisterküste mit nach Bruchtal gebracht hatte, zum Verwechseln ähnelte. Kerry war sich sicher, dass es eben jener Stein war, den sie selbst im Land von Gwỹras Volk in Händen gehalten hatte. Sie starrte das Ding an, dann erst fiel ihr Blick auf das Gesicht, welches sich ihnen offenbar hatte. Ihr wurde es eiskalt, als sie Elronds Tochter erkannte, während Arwen nur Augen für Farelyë zu haben schien und ihr Blick beinahe feindselig wurde...

Curanthor:
Niemand hatte ihr gesagt, dass Stille so dröhnend sein kann. Lärmende Stille, gibt es das überhaupt? Sie schüttelte unmerklich den Kopf und blickte auf die geschlossene Fensterlade. Zwischen frisch eingeölten Birkenbrettern kroch sanft ein Lichtstrahl herein. Adrienne atmete unmerklich auf und lauschte angestrengt. Es war still in dem Haus der Ruhe, nur das Blut in ihren Augen rauschte kaum vernehmbar. Ruhig und gelassen pochte ihr Herz in der Brust, so als ob die Tortur vor einiger Zeit gar nicht stattgefunden hatte. Der stechende Schmerz als sie blinzelte erinnerte sie aber, dass das alles kein Böser Traum gewesen war. Adrienne leckte sich über die trockenen Lippen und berührte dabei den verkrusteten Schnitt. Ein leichtes Brennen an der Wange, dort wo die Klinge ihrer ärgsten Feinde ihr fast den Kopf gespalten hatte, ließ sie scharf einatmen. Ihr verletztes Auge tränte schon wieder. Zum Glück hatte sie einen Schlaftrunk für die Nacht bekommen. Der Gedanke, dass sie ohne das Zutun dieser Spitzohren erst gar keine Pflege nötig gehabt hätte, ließ ihre aufkeimende Dankbarkeit ersticken. Niemand hatte sich wirklich interessiert wie es ihr geht. Und ihr Bruder war schon lange von ihr getrennt. Was es überhaupt ihr Bruder? Sie erinnerte sich an sein Gesicht, aber auch wenn sie sich konzentrierte, ihr fiel kein einziges Bild aus ihrer gemeinsamen Kindheit an. Alles vor ihrer Flucht aus Gondors Hauptstadt existiert nicht, nur vage Schemen die ein undeutliches Bild zeichnen. Wenn sie träumt, sind es mehrere Bilder. Dinge voller Blut und Asche. Schemen die wie in Trance umhertaumeln, begleitet vom immerwährenden Flüstern zahlloser Stimmen. Der Traum endete aber stets damit, dass ein Paar große, vernarbte Hände grob nach ihr griffen und ihren Kopf unter Wasser drückte.
Ein leises Knirschen ließ ihren Blick kurz zur Tür fliegen, doch da war niemand. Zumindest niemand auf den sie gewartet hatte. Eine der Heilerinnen war eingetreten und öffnete die Fensterläden, womit das vormals düstere Zimmer mit dem Licht der aufgehenden Sonne durchflutet wurde. Sie blinzelte mit ihrem unverletzten Auge. Ein Wispern zog an ihrem Ohr vorbei. Inzwischen wusste Adrienne, dass niemand einfach da sein kann. Sie hatte mehrfach einfach in den Raum gesprochen, da sie diese Stimmen nie richtig verstehen konnte. Sie meinte sogar dabei einmal Kerrys und Mathans Gesicht gesehen zu haben. Adrienne kaute nachdenklich auf der Lippe, zuckte jedoch vor Schmerz und zischte leise.  Die Heilerin bemerkte nun, dass sie wach war und trat sogleich an das Bett heran. Sie wechselten kein Wort miteinander, doch Adrienne konnte spüren, wie die dunkelhaarige Elbe sie erwartend, fast schon nach Gefahren abschätzend musterte. Offenbar war Adrienne es nicht wert vorsichtig zu sein, zumindest beugte sich die Heilerin nun zu ihr herab, um eine Art Salbe auf die Wunden aufzubringen. Adriennes Blick fixierte den ungeschützten Brustkorb. Ihre verkrustete Hand zuckte. Mit einem Dolch könnte sie ihr von unten zwischen die Rippen sofort ins Herz stechen. Vor ihren Augen quoll helles Blut über ihre Hand. Adrienne blinzelte. Ihre Hände waren feucht und umklammerten etwas Hartes. Es roch nach Blut. Als sie ihren Blick senkte, erkannte sie einen schmucklosen Dolch. Zu ihren Füßen lag eine schlanke Gestalt mit dunklen Haaren, ein rasch größer werdender blutiger Fleck breitete sich auf dem weißen Kleid aus. Sie hatte spitze Ohren, doch einen leeren Blick. Ihre zitternden Finger gaben den blutigen Dolch frei, der klirrend zu Boden fiel.
„Estamíri!”, hallte eine gellende Stimme eines Mannes hinter ihr.
Adrienne hob den Blick und starrte in das Gesicht einer Fremden. Sie hatte wundervoll hochgesteckte kastanienbraune Haare, mahagonibraune Augen und eher kindliche Gesichtzüge. Ein Paar spitze Ohren zeichneten sich unter der Haarpracht ab. Seltsam angezogen von dieser Erscheinung betastete Adrienne ihr eigenes, gespaltenes Gesicht. Ihr Gegenüber spiegelte die Bewegung. Die eleganten Finger waren nicht so zerschnitten wie ihre eigenen und auch ihr Gesicht war wunderschön und nicht entstellt. Plötzlich quoll Blut unter den Fingernägeln der Fremden hervor.

Eine kurze, kühle Berührung im Gesicht brachte sie zur Besinnung. Die Heilerin beugte sich immer noch über sie, hatte diesmal aber einen besorgten Gesichtsausdruck. Fein säuberlich und mit großer Vorsicht bestrich sie Adriennes Gesichtswunde. Dann wandte sie sich zum Gehen, an der Tür stoppte sie nur kurz und sagte leise, dass sie vielleicht etwas gegen diese Albträume machen sollte. Adrienne blieb stumm, bis die Tür mit einem leisen Klicken schloss. Erst dann blinzelte sie die aufkommenden Tränen fort. Sie hoffte, dass niemand sie so sehen würde. Ihr Gefühl sagte aber, dass es dafür schon zu spät war. Dass einer ihrer wirren Träume etwas an Wirklichkeit beinhaltete. Sie hoffte, dass es der mit Mathan war, zu groß waren die Emotionen die sie überrollten, wenn sie an Kerry dachte. Scham, dass sie am liebsten die Decke über den Kopf ziehen wolle für das was sie getan hatte; Wut, die sie in die Welt hinausbrüllen wollte darüber, dass jemand so naives und blauäugiges ihr etwas bedeuten kann und Hass. Sie hasste sich selbst am dem Abend getrunken zu haben, sie hasste sich dafür, dass sie in Fornost sich aus einer lächerlich kindischen Laune heraus von einem erfahrenen Elben die Schwertkunst erlenen wollte; dass sie nicht mitbekommen hatte, wie ihr Vater gestorben war und dass sie nicht ihre Mutter hatte retten können. Sie hatte nichts zu der Rettung von Kerry beigetragen. Und selbst gegen ihre ärgsten Feinde hatte sie jämmerlich versagt. Adrienne schluckte den dicken Brocken im ihren Hals hinunter. Zornig blinzelte sie ihre Tränen fort. Ihr verschwommener Blick ging zu ihrem Nachttisch. Es war einer ihrer selteneren klaren Momente. Sie atmete durch und hob den rechten Arm. Sie tastete eine Weile über das polierte Holz und bekam es endlich zu fassen. Das Messer, mit dem ihre Nachtverbände geschnitten wurden. Ihre Finger umschlossen den Griff aus Kiefernholz. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Es war, als ein Aufschrei von Stimmen im Kopf explodierte, als sie zitternd die blanke Klinge über ihre Brust hielt. Die Spitze auf das Herz zielend. Wenn sie dem Ganzen nicht Einhalt gebot, würde sie sich nicht mehr wiedererkennen, schoss es ihr durch den Kopf. Aber es gab nur diesen Weg. Ihre freie Hand umklammerte nun ebenfalls den Griff. Alles andere war nur ein Pfad des Leidens und der Qualen für sie und alle um sie herum. Wenigstens ihren Bruder musste sie schützen, egal ob sie blutsverwandt waren oder nicht. Doch das war aussichtslos, das hatte sie nun begriffen. Sie schloss die Augen und rief sich noch einmal mit großer Mühe die Gesicht vors innere Auge. Ihre Eltern zusammen glücklich auf einem Feld in den westlichen Lehen, Acharnor stolz im Gewand der Schwanenritter auf einem Pferd zu Besuch bei ihnen. Sie winkten ihr zu. Ihre Lippen erhoben sich zu einem Lächeln, als sie zurückwinkte, ohne Schmerzen. Bald würde sie bei ihnen sein. Kurz blitzten Mathans, Halarîns und Kerrys Gesichter der Reihe nach auf. Dann stießen ihre Hände hinab.


Mathan ruckte aus seiner leichtem Dämmerzustand auf und setzte sich kerzengerade auf das Bett. Halarîn war bereits wach. Ihre Augen hatten einen silbernen Schimmer. Er fasste sich an die Brust. Ein klammes Gefühl hatte sich dort eingenistet, das er nicht ganz zuordnen konnte.
„Ich habe es auch gespürt“, wisperte seine Geliebte und tupfte sich über die Augen, „Etwas ist geschehen…“
Laut pochte es an der Tür. Ivyns Stimme ertönte auf der anderen Seite, ohne Aufforderung trat sie ein. Die Erste blickte ernst drein und trat sofort zu Halarîn an das Bett. Rasch wurde Herzschlag und Körpertemperatur überprüft. Schließlich atmete Ivyn auf und nickte knapp.
„Ein Schatten hatte sich dieser Stadt genähert“, erklärte sie knapp, „Etwas Böses, aber das ist noch nicht alles.“ Sie legte leicht den Kopf in den Nacken. „Der Himmel ist bedeckt.“
„Und… woher kam dieses… Wesen?“, fragte Halarîn vorsichtig.
Mathan legte ihr beruhigend eine Hand auf den Bauch, die sie sofort umklammerte. Die Erste vermutete indessen, dass das wohl ein fauler Zauber gewesen war. Sie machte eine Pause und blickte zu Mathan, der sich sofort an Oronêls Erzählung erinnerte. Ohne sich abzusprechen hatten sie beschlossen Halarîn nichts genaueres von diesem Dämon zu erzählen.
„Nun“, wechselte Mathan das Thema und nickte in Richtung Decke, „Den Himmel zu bedecken ist eine bewährte Taktik.“
„Der Krieg klopft an unseren Toren“ bestätigte Ivyn, „Noch heute. Oder die nächsten Tage.“
Halarîn wurde eine Spur blasser, woraufhin Mathan sie damit zu beruhigen versucht, dass ein Angriff auf die Stadt schon frühzeitiger entdeckt werden würde.
„Das erinnert an Fornost“, murmelte sie leise, fast schon atemlos, „Nur das wir sicherlich nicht das Glück haben werden, dass die Armee einfach abzieht.
„Nein, das werden wir nicht“, bestätigte Ivyn düsterer als sonst, „Hier wird sich das Schicksal unseres Volkes entscheiden. Wir stehen an einem Wendepunkt und Dinge werden ins Rollen geraten, die man nie wieder aufhalten kann.“ Ihr Blick ging ins Leere und es war klar, dass sie weiter sah als alle anderen, „Halarîn, du bleibst die nächsten Tage immer an meiner Seite, besonders wenn Mathan nicht da ist, ganz gleich was geschieht.“
Seine Gattin nickte nur knapp, woraufhin sich Ivyn zur Tür bewegte, aber kurz ins Stocken geriet. Mathan runzelte die Stirn, das einengende Gefühl in seiner Brust wollte einfach nicht weichen.
„Sie sind hier“, sagte die Erste schließlich und öffnete die Tür, vor der gerade ein Laufbote eilig zum Stillstand kam, „Wappnet euch.“, mit dem Worten verließ sie das Gemach.
Der Bote räusperte sich und sagte, dass die Späher eine verdächtige Gruppe mit weißer Flagge einige Meilen vor dem Nordtor gesichtet haben und die Königin die Stadt in Alarm versetzt hat. Kurz darauf ertönte der laute Schlag von einem Hammer auf Holz. Regelmäßig und vor allem drängend. Eine Glocke mischte sich darunter. Wie ein Messer durchschnitt sie die Stille. Mathan sprang auf und sagte, dass er sofort zum Thronsaal eilen würde. Der Bote nickte und rannte davon. Aus dem Korridor hörte man eilige Schritte. Erste Rufe ertönten, dass der Feind sich näherte. Er half Halarîn aus dem Bett und trat an seinen Rüstungsständer. Seine eigene Schmiedekunst streifte er nur mit einem Finger und legte stattdessen die mittelschwere Rüstung der Manarîn an. Halarîn half ihm wo sie konnte und befestigte zum Schluss den rot-goldenen Mantel an seiner Rüstung. Er seufzte und gürtete sich ihr Schwert um. Ihre Blicke begegneten sich. Ein Funken Furcht schwamm in ihrem Blick, der aber vom unerschütterlichen Vertrauen in ihn übermächtig überschattet wurde. Mathan hob das Kinn und würde alles tun, um sie zu beschützen, solange sie selbst es nicht tun konnte. Niemals würden sie ihr ungeborenes Kind in Gefahr bringen. Gemeinsam verließen sie schließlich ohne große Worte das Gemach. Sie mussten nichts sagen.
Auf dem Weg zum Thronsaal holte Valena zu ihnen auf. Sie schloss sich wortlos an. Mathan warf ihr einen Seitenblick zu.  Auch sie trug Rüstung der Art der Manarîn – wenn auch weniger schwer und fein gearbeitet – an ihrer Hüfte hing ein Schwert, eine Axt und auf ihrem Rücken ein Schild. In ihrer Hand ein Kurzspeer. „Noch kämpfen wir nicht“, brummte er, als sie seinen Blick bemerkte.
„Ich bin mit Waffen groß geworden, ohne fühle ich mich nackt“, erklärte sie gleichgültig, schulterte den Speer aber dann lockerer und sagte zu Halarîn „Ich bin Valena Bjornstochter vom Raureiftal.“
Sie bogen um die Ecke in die große Eingangshalle, in denen schon mehrere Dutzend Elben und Menschen warteten, auch die drei Zwerge konnte Mathan auf einer Bank erkennen. Die Tore zum Thronsaal waren noch verschlossen. Auf der Treppe vor dem Palast standen ebenfalls Elben, sowohl Avari als auch Manarîn. Ein Bote eilte die Stufen gerade hinauf, ein weiterer lief quer über dem Platz. Dichtes Stimmengewirr schwirrte durch den Raum. Die Alarmglocke verklang. Erste gerüstete Truppen sammelten sich auf dem Vorplatz. Halarîn winkte ihre Zofe zu sich, die am Rand der Halle etwas verloren dastand und bat um etwas Wasser.
„Also geht bald los… Ich habe gehört Ihr habt eine Schülerin…ist-“, begann Valena, doch Mathan unterbrach sie: „Verwundet. Sie… sollte …“ Er brach ab, als er zum Eingang sah. Aufgeregtes Getuschel folgte seinem Blick. In dem großen doppelflügeligen Tor stand eine blasse Adrienne, zumindest glaubte er, dass sie es ist. Ihr Gesicht war von einem langen Schnitt noch immer gezeichnet, doch war auf der Wunde bereits eine dicke Kruste. Ihr verwundetes Auge bereitete ihm jedoch Unbehagen, die Iris war schwarz, selbst das Weiße wirkte dunkelgrau. Adrienne ging barfuß, bis auf ein weißes Leinenkleid trug sie nichts weiter. Ein roter Fleck auf Höher ihrer Brust ließ ihn die Stirn runzeln. Aus dem Ostflügel des Palastes kam Istime, die Hofmeisterin mit einem Umhang geeilt. Die Elbe fragte, ob sie sie zurück zu den Heilern bringen sollte, während sie ihr den Mantel umlegte, doch Adrienne schüttelte den Kopf. Sie ging gemächlichen Schrittes auf Mathan zu und blieb vor ihm stehen.
„Danke für Euren Besuch“, sagte sie mit tonloser Stimme, ihr Blick huschte zu Valena, ihren Waffen dann zu Halarîns Klinge, „Wo bekommt man hier eine Waffe? Mein Ersatz ist ja schon da, also kann ich jetzt im Kampf sterben. Und das würde ich gern mit einer Klinge in der Hand.“ Jedes Wort klang gleichgültig und kühl, als ob da gerade eine Andere vor ihnen stünde als die etwas grüblerische aber kämpferische Adrienne, mit denen sie wochen- oder monatelang umhergereist sind. Mehr als vierzig Augenpaare waren auf sie gerichtet. Selbst einige neugierige Dunländer konnte Mathan aus dem Augenwinkel wahrnehmen. Er holte Luft um zu antworten, doch seine Gattin war schneller.
„Was redest du da?!“, fauchte Halarîn empört, „Niemand wird dich ersetzen. Solch ein Unsinn!“
Valena musterte Adrienne scharf, die den Blick herausfordernd begegnete.
Mathan wusste nicht was geschehen war, aber so ein Verhalten konnte er nicht dulden. „Genug. Beide“, sagte er leise und bestimmt. Er machte einen Schritt zwischen den beiden jungen Frauen und wandte sich leise Adrienne zu, „Was hat das hier zu bedeuten?“ Eines ihrer Augenlieder zuckte, dann hoben sich kurz ihre Mundwinkel unmerklich, „Nun“, sagte sie, „Mich kann sowieso keiner hier ausstehen, also schadet das nicht. Ich möchte eine Waffe. Wenn Alarm geschlagen wird droht Gefahr und die muss man beseitigen.“
Er blinzelte. „Wie wäre es dann mit einer Rüstung… und Fußbekleidung?“
Seine Bemerkung zeigte Wirkung, denn ihre Augen blitzten amüsiert. Ihre verkrustete Wunde verzog sich und etwas Blut tropfte über ihren Mundwinkel, als sie grinste. Adrienne zuckte darauhin mit den Schultern. „Ja gut, ich wollte eben meiner miesen Laune Luft machen… Und mich für den Kampf bereit machen. Ich weiß aber nicht wo meine Sachen sind…“
„Und anstelle wie ein normaler Mensch einfach zu fragen“, mischte sich Valena ein, „Platzt du hier wie eine Bettlerin rein und redest selbstmörderischen Schwachsinn. Der Ersteindruck ist dir gut gelungen.“
Halarîn, die offenbar gerade mit ihrer Zofe gesprochen hatte, packte die junge Kriegerin sanft an der Schulter und führte sie bestimmt in die andere Richtung außer Hörweite. Nicht ohne dass Adrienne noch hinterhersagen konnte: „Mir ist es egal was andere von mir denken, allen voran du.“
„Also kannst du wieder laufen?“, unterband Mathan ein weiteres Geplänkel, auch wenn sein Gefühl ihm sagte, dass die beiden eher sich so kennenlernten als stritten.
Adrienne grunzte belustigt, „Gut beobachtet. Irgendjemand hat mir so ein merkwürdiges Getränk eingeflößt, dann ging es mir besser.“ Sie wischte sich den Blutstropfen vom Mundwinkel, „Ich war aber ziemlich weggetreten… weil vorher-“ Adrienne verstummte, als die Tore zum Thronsaal aufschwangen. „Vielleicht bekomme ich ja jetzt ein Schwert.“ Mit den Worten marschierte sie an ihm vorbei. Mathan runzelte die Stirn und machte sie ernsthafte Sorgen um sie. Er hoffte, dass Kerry bald eintreffen würde und Adrienne wieder beruhigen könnte, denn er hatte keine Ahnung was er sonst mit ihr tun sollte, da ihm wahrscheinlich bald ziemlich viele Leben anvertraut werden würden, um die er sich kümmern musste. Mathan hoffte, dass es nicht so kommen würde, aber wenn seine Tochter ihn bitten würde, bliebe ihm keine andere Wahl, schließlich steht seine Familie über allem.

Fine:
Für einen langen, schrecklichen Augenblick schien die Zeit rings um Kerry still zu stehen. Ihr Blick war auf Arwen gerichtet, die Sarumans Stein gestohlen und nach Ost-in-Edhil gebracht hatte, und deren Hände das Artefakt fest umklammert hielten.
Wieso hat sie dieses Ding hierher gebracht? Was hat sie damit vor? schoss es Kerry durch den Kopf. Ist sie... eine Verräterin? Nein, nein, das kann nicht stimmen... es muss Saruman sein, der sie verzaubert hat. Aber... wie konnte er...?

Farelyë war Arwens Reaktion mit einer kalten Ruhe begegnet. Die Cuventai-Elbin wartete beinahe regungslos ab, ob Elronds Tochter ihr antworten würde. Kerry wagte kaum, einen Atemzug zu tun, doch der Moment zog sich für sie immer länger und länger dahin, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie musste einfach etwas unternehmen.
"Warum hast du diesen Stein mit dir gebracht?" fragte sie, darum bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten.
Kerrys Frage hatte eine sonderbare Wirkung auf Arwen. Ihr Kopf ruckte, wie als müsste sie sich von Farelyës Blick gewaltsam losreißen, und die grauen Augen richteten sich mühsam auf Kerry. Doch die Feindseligkeit verblasste, und ein Finger nach dem anderen löste sich von der Kugel aus dunklem Stein, bis Arwen das Artefakt nur noch locker auf der Handfläche balancierte.
"Anfangs wollte ich ihn an jene übergeben, die gefahrlos davon Gebrauch machen könnten," sagte sie, nun ebenso ruhig wie Farelyë.
"An die Dúnedain des Südens," bemerkte die Cuventai-Elbin an, als wäre es ein Fakt. Ein Nicken Arwens bestätigte das.
"Weiß... Meister Elrond davon?" fragte Kerry. Erneut gab es ein knappes Nicken Arwens.
"Ich hatte nie vor, den Stein selbst zu benutzen," sagte sie, die Stimmlage etwas leiser als zuvor. "Doch nachdem ich von Eleas Sohn erfuhr, dass - "
Arwen hielt für einen Augenblick inne, dann fuhr sie fort: "Dass Gondors König wieder in Freiheit ist, da überkam mich das Verlangen, ihn zu sehen... denn wir alle sind nun Gefangene dieser Mauern, gegen die der Feind bald schon anstürmen wird. Nichts wäre mir lieber als auf schnellstem Wege gen Süden zu reiten, doch die Gefahr ist zu groß."
"Also habt Ihr den Stein verwendet, und seid Saruman begegnet, anstelle von jenem, den Ihr zu sehen erhofftet," sagte Farelyë.
"Ja," bestätigte Arwen.
"Hast deshalb nur heimlich hineingesehen?" wollte Kerry wissen. "Du hättest es uns doch sagen können..."
"Und damit den Herren dieser Stadt einen Grund gegeben, mich in Ketten legen zu lassen? Nein, Kerry... ich weiß, dass es vermutlich nicht weise war, in den Stein zu blicken, doch es ist nicht nur Schlechtes daraus erwachsen. Ich weiß, wo sich der Weiße Zauberer befindet."
"Hat er dies preisgegeben?" hakte Farelyë nach.
"Freiwillig nicht," antwortete Arwen. "Doch es gelang mir, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Er sprach aus dem Turm von Dol Guldur zu mir. Die Heere Mordors haben ihn dort eingeschlossen und auch wenn die Mauern der Festung noch standhalten, wird es nicht ewig so bleiben. Dies ist eine Gelegenheit für Gondor, Saruman zu retten. Er wird in ihrer Schuld stehen und seinen Angriff auf Eregion abbrechen. Wenn ich nur Aragorn erreichen könnte... aber der Stein ließ sich meinem Willen nicht weit genug unterwerfen."
"Es gibt andere Wege, um Nachrichten in die Ferne zu senden," sagte Farelyë. "Ihr hättet dies nicht alleine versuchen dürfen." Sie sah sich um, dann nickte sie langsam. "Immerhin ist der Einfluß von Sarumans Stimme nicht bis in die Stadt vorgedrungen. Der Stein darf nicht erneut verwendet werden."
"Das sehe ich ein," sagte Arwen. "Aber er muss nach Gondor gelangen, um dort entweder verwahrt oder vernichtet zu werden."
"Sobald der Weg nach Süden frei ist, könnt Ihr den Stein dorthin bringen. Doch solange muss ich darauf bestehen, dass er von mir verwahrt wird."
Arwen hielt inne. Sie musterte Farelyë einen langen Augenblick, dann jedoch nickte sie und reichte der Cuventai-Elbin das Artefakt. "Einverstanden."

Kerry atmete tief durch. Sie war froh, dass - soweit sie es verstanden hatte - alles noch einmal gut ausgegangen war. Als sie Arwen und Farelyë durch die alten Ruinen zurück auf die Straßen der Stadt folgte, fragte Kerry sich, was Oronêl wohl von all dem halten würde. Sie wünschte sich, er wäre wieder in der Stadt, und noch mehr wünschte sie sich, dass die Dinge zwischen ihnen besser stünden. Sie waren nicht direkt im Streit auseinander gegangen, aber die einstige Harmonie zwischen ihnen war durch einige Streitigkeiten belastet worden - insbesondere durch das Thema Helluin.
Warum kann er nicht verstehen, dass Helluin nicht mehr der Dúnadan ist, der den Goldenen Wald untergehen ließ, dachte sie. Ein Teil von ihr kannte die Antwort auf diese Frage natürlich, doch Kerry wollte sie nicht hören. Je länger sie über Oronêl nachdachte, desto mehr ersetzte die Sorge um ihren Freund ihren Ärger über seine Ansichten über Helluin. Arwen und Farelyë hatten einander darin zugestimmt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Ost-in-Edhil von Feinden umringt sein würde, und Eregion war bereits jetzt nicht mehr sicher. Oronêl war irgendwo dort draußen, keinen Tag nachdem er einem namenlosen Schrecken in den Minen von Moria entkommen war, und Kerry fürchtete um sein Leben, wie sie feststellte. Sie wünschte sich nicht zum letzten Mal, dass der Waldelb in die Stadt zurückkehren würde - in Begleitung Helluins, den Kerry ebenso vermisste.

Noch bevor sie die Unterkunf der kleinen Gemeinschaft, die von Bruchtal aufgebrochen war, erreicht hatten, erfuhren sie von den in Richtung der Mauern eilenden Stadtwachen, dass tatsächlich die ersten Feinde vor der Stadt gesichtet worden waren. Kerry beschloss, sofort zum königlichen Palast zu gehen. Sie verabschiedete sich von Arwen und Farelyë, dann lief sie los.

Am Palast waren so viele Elben versammelt, wie sie Kerry schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie wäre vermutlich gar nicht bis zu den großen Toren der königlichen Residenz durchgedrungen, wenn nicht plötzlich eine kräftige Stimme "Macht Platz für Hírilya Morilië!" gerufen und ihr damit einen Weg durch die Massen gebahnt hätte. Es handelte sich um den Hauptmann der Palastgarde, der Kerry ein breites Lächeln schenkte, während er dafür sorgte, dass sie unversehrt die breiten Stufen erreichte, die zum Eingang des Palastes hinaufführten.
"Zu Euren Diensten," sagte er und deutete eine Verneigung an.
Kerry - die es ja eigentlich eilig hatte - blieb stehen und sah ihn an. Sie stand auf der zweiten Stufe der Treppe, dennoch überragte er sie mit seinem von einem prächtigen Helmbusch gekrönten Helm. "Ich kenne deinen Namen nicht," sagte sie. "Danach wollte ich schon länger mal fragen."
"Eure Aufmerksamkeit ehrt mich, hírilya,," erwiderte der Gardist. "Ihr könnt mich Tárdur nennen."
Sie nickte. "Ich danke dir, Tárdur. Ich muss-"
"Ich weiß," sagte er gelassen, was Kerry erstaunte. Wurde nicht jeder verfügbare Soldat nun auf seinem jeweiligen Posten gebraucht? Aber Tárdurs Gelassenheit beruhigte sie und half ihr, ihre Gedanken zu ordnen. Sie nickte, dann eilte sie die Stufen hinauf. "Viel Glück!" rief ihr der Gardist noch hinterher, und Kerry nahm es sich zu Herzen.

Im Inneren des Palastes herrschte beinahe noch ein größerer Aufruhr. Kerry sah, wie sich die Tore des Thronsaales öffneten, und sie bewegte sich darauf zu. Als sie näher heran gekommen war, entdeckte sie Mathan und Halarîn, die etwas abseits standen. Halarîn winkte Kerry hektisch zu, als sie sie bemerkt hatte, doch sie schien auf etwas zu deuten, oder... auf jemanden? Kerry, die nicht stehen geblieben war, sah genauer hin. Da war eine Frau, die kaum Kleider am Leib und keine Schuhe trug...
"Adrienne?" entfuhr es ihr. Als die Angesprochene sich umdrehte, erstarrte Kerry vor Schreck. Das Antlitz ihrer Freundin war von einer grausamen Wunde entstellt, die die gesamte rechte Gesichthälfte bedeckte. Als Kerry Adrienne zuletzt gesehen hatte, war die Verletzung unter den Verbänden verborgen gewesen. Es verschlug Kerry beinahe die Sprache. So eine große Narbe würde sich nicht verstecken lassen. Mit Anstrengung rief sich Kerry in Erinnerung, weshalb sie hier war und schloss zu Adrienne auf.

Kerry kam neben ihr zum Stehen, direkt vor den geöffneten Toren des Thronsaales. Adriennes Zustand verschlug ihr erneut die Sprache. Instinktiv griff sie nach der unverletzten Hand Adriennes.
Ihre Freundin schien Kerry erst jetzt so richtig zu bemerken. Der Blick, den Adrienne ihr fast schon entgegenschleuderte ließ Kerry erbleichen. Sie sah den Tod in den Augen Adriennes.
"Ich brauche eine Schwert," sagte Adrienne mit fester Stimme. "Der Feind ist da und ich werde ihn bekämpfen."
Das brachte Kerry zurück auf den Boden der Tatsachen. "Du willst kämpfen? In deinem Zustand?" Sie zerrte Adrienne ein wenig beiseite, in Richtung Mathan und Halarîn, und war erstaunt, dass ihr nur geringer Widerstand entgegen schlug.
"Ich muss," beharrte Adrienne. "Ich muss..."
"Du hast nicht einmal Schuhe an," sagte Kerry. "Adri, wenn du wirklich kämpfen willst, dann brauchst du eine Rüstung!"
"Was macht es denn für einen Unterschied, ob ich damit in der Schlacht ein wenig länger lebe?" hielt Adrienne stur dagegen. "Ich brauche nur etwas, mit dem ich den Feind töten kann, mehr nicht."
"Was es für einen Unterschied macht?" Kerry konnte kaum glauben was sie da hörte. "Ich will nicht, dass du dein Leben wegwirfst! Und du bist nicht nur mir wichtig, das weißt du..."
"Pah! Mathan hat mich bereits durch eine neue Schülerin ersetzt!" schnaubte Adrienne. "Und du rennst einem dahergelaufenen Waldläufer hinterher... oder war es ein Dunländer? Oder beiden?"
Kerry biss die Zähne zusammen. Ihr kam wieder in den Sinn, was Adrienne mit ihr gemacht hatte, doch sie schob ihre Gefühle darüber für den Augenblick beiseite. "Ich bitte dich," sagte sie und legte Adrienne die Hände auf die Schultern. "Wir können ... gemeinsam herausfinden, wie... es mit uns weitergeht. Aber nur, wenn du am Leben bleibst und dich nicht in den Tod stürzt..."
Zum ersten Mal sah sie ein Zögern in Adriennes Blick. Kerry legte nach. "Versprich mir, dass du am Leben bleiben und auf dich aufpassen wirst, wenn die Kämpfe losgehen."
Eine lange Pause trat ein. Adrienne kniff die Augen zusammen und sah Kerry an. „Versprechen…. Es sind nur Worte, aber….“, Sie hielt inne, doch dann gab sie sich geschlagen. Der Hauch eines Nickens. "Meinetwegen. Ich ... werde mir eine Rüstung geben lassen."
Kerry atmete auf. "Bitte sei vorsichtig, ich... will dich nicht verlieren," fügte sie hinzu. Was Adrienne darauf antworten würde, wusste sie nicht.
Sie konnte es nur geschehen lassen.

Curanthor:
Mathan bemerkte aus dem Augenwinkel wie Kerry den Thronsaal erreichte und verlangsamte seine Schritte. Valena sah sich indessen staunend um und musterte die Kuppel der Decke mehrfach. Halarîn flüsterte ihm zu, dass alle wichtigen Personen anwesend waren. Mit halbem Ohr hörte er dem etwas verkühltem Gespräch der beiden jungen Frauen zu. Wenigstens hatte Kerry seine Schülerin überreden können eine Rüstung zu tragen.
„Was kümmert es dich, ob du mich verlierst?“, flüsterte Adrienne am Ende des Gesprächs leise, während sie sich von Kerry abwandte.
Er wusste nicht, ob sie es gehört hatte und konnte auch nicht nachsehen, denn ein lautes Pochen vom Podest ließ seinen Blick nach vorn wandern. Faelivrin stand vor dem Thron, rechts neben ihr überragte Ivyn alle anderen und blickte in weite Ferne. Links von seiner Tochter stand die Hofmeisterin, die einen langen, schmucklosen Metallstab in der Hand hielt. Erneut stieß sie mit dem Ende auf den Boden und das Geflüster im Saal verstummte, während König Aéd das Podest betrat und sich neben Ivyn stellte.
Faelivrin sparte sich eine Einleitung und verkündete: „Der Wolfskönig der Dunländer und ich haben ein Bündnis geschlossen!“ Sie musterte dabei vor allem die Vertreter der Avaristämme scharf, „Sie werden uns bei der Verteidigung der Stadt und in dem aufkommenden Krieg unterstützen. Ich erwarte, dass sie als Verbündete angesehen werden. Sollte das für einige von euch befremdlich sein, so seht sie als hilfreiche Gäste.“ Ihre Augen blitzten dabei kurz auf und schien jeden zu durchbohren, der etwas anderes sagen wollte. Es regte sich kein Widerstand unter den Elben, nur zustimmendes Gemurmel mit unterschiedlicher Intensität an Zurückhaltung oder Zerknirschtheit. Mathan blickte vor allem die Kinn-Lai an, von denen aber die meisten mit verschränkten Armen dastanden und sich nichts anmerken ließen. Sie alle wussten, dass die Manarîn zuerst in Eregion – vor allem in Ost-In-Edhil waren und somit bei fast allem was die Stadt betraf das letzte Wort hatten.
 Faelivrin nickte Istime knapp zu, die daraufhin verkündete: „Unsere Wachposten haben eine Gruppe von Feinden mit einer weißen Flagge ausgemacht. Sie werden in Kürze vor dem nördlichen Toren eintreffen. Unsere Späher beobachten sie.“
„Und warum lassen wir unsere Feinde bis an die Tore herankommen?“, fragte Merolon von den Kindi, den Mathan anhand dessen tiefen Stimme in der ersten Reihe ausmachte.
Istime antwortete auf diese Frage, als ob sie mit einem Kind sprach: „Weil jede Stunde Zeit, die wir gewinnen unsere eigene Verteidigung erstarken lässt. In dieser Stunde werden hunderte Pfeile, dutzende Speere, Schwerter und andere Waffen gefertigt. Alles Dinge, die wir dem Feind bei einem verfrühten Angriff nicht entgegenbringen können. Auch unsere Anzahl wächst stetig, da die verstreuten Manarîn hierher eilen und…“ Sie verstummte, als Faelivrin sacht eine Hand hob.   
„Die Avari, die in dieser Stadt weilen haben die Wahl: Entweder sie laufen davon, um bei einer gnadenlosen Treibjagd durch die Hände minderer Kreaturen vernichtet zu werden, oder sie kämpfen mit ihren Brüdern und Schwestern für eine neue Zukunft.“ Seine Tochter hatte mit ruhiger und verständnisvoller Stimme gesprochen, was aber umso bedrohlicher wirkte. „Und rächen sich für die Vernichtung ihrer Siedlungen.“ Vor allem das zeigte Wirkung, denn die Kinn-Lai waren die ersten, die eine kämpferische Zustimmung aussprachen. Die übrigen Stämme folgten, nicht jedoch ohne zu betonen, dass es dauern würde alle Stammesmitglieder zu versammeln. Das schien Faelivrin jedoch zu genügen. Sie nickte zufrieden und deutete hinaus in die weite Ferne. Inzwischen hatten sich hunderte Elben versammelt und standen dicht gedrängt im Thronsaal, der Eingangshalle und sogar auf der Palasttreppe. „Der Feind steht irgendwo da draußen!“, rief Faelivrin nun lauter, „Er baut darauf, dass wir schwach und uneins sind! Sie werden versuchen uns Angst zu machen! Sie werden versuchen uns weiter zu entzweien! Sie werden versuchen unsere zarten Bande, die gerade erst zueinander finden zu zerschneiden! Sie werden versuchen alte Freundschaften zu zerstören! Sie werden versuchen jeden von uns abzuschlachten, wenn sie die Chance dazu erhalten!“, sie machte eine kurze Pause und musterte jeden einzelnen in dem Saal. Mathan hörte ihr gebannt zu. Der gesamte Saal hing an ihren Lippen. Seine Tochter ergriff einen kunstvoll verzierten, mit Rubinen und Bernstein besetzten Speer den Istime ihr reichte. Es war offenbar das Königsssymbol, Finuors Speer, wie manche umstehenden Manarîn mit Ehrfurcht und Bewunderung flüsterten. Faelivrin hob den Speer etwas in die Höhe, dass ihn jeder sehen konnte. „Doch das werden wir nicht zulassen!“ Sie machte erneut eine kurze Pause und richtete die Speerspitze auf jeden in dem Saal, „Wir zeigen ihnen, dass wir standhaft bleiben, ganz gleich was sie uns entgegenschleudern. Zeigt ihnen, dass wir nicht weichen, ganz gleich was sie aufbringen werden! Zeigt ihnen, ganz gleich was ihr voneinander haltet: heute werden wir nicht weichen und morgen auch nicht. Tut es nicht für mich, tut es für euch selbst, für eure Kinder und unsere Zukunft.“ Sie machte erneut eine Pause und atmete hörbar durch, dann sagte sie etwas leiser „Und für unser Volk.“ Sie legte kurz die Stirn an die flache Seite des Speers, übergab ihn dann an Istime. Mathan war sich sicher, dass dies ein Traum Finuors gewesen war, dass die Elben wieder Seite an Seite kämpften. Vielleicht war dies der erste Schritt dafür.
Unterdessen stampfte jemand im Saal mit dem Fuß auf dem Boden. Rasch folgten weitere, manche schlugen sich gegen den Brustharnisch oder den Schild. Nach einigen Augenblicken war der Thronsaal erfüllt vom zustimmenden Dröhnen.
Ein erleichtertes Lächeln huschte Faelivrin über das Gesicht, ehe sie knapp eine Hand hob und der Tumult rasch verebbte. Sie berief einige Elben zu Kommandanten von Mauerabschnitten, die meisten kannte Mathan jedoch nicht.
Nammanor wurde zum kommandierenden General von Faelivrins Leibgarde berufen – wie der Befehlshaber der Garde in Kriegszeiten genannt wurde. Der Krieger in prunkvoller Rüstung marschierte wie alle anderen vor dem Podest – ging jedoch kurz auf ein Knie und bedankte sich. Nachdem der Krieger sich an die Seite des Podests gestellt hatte, wanderte Faelivrins Blick durch den Saal und erfasste Mathan. Er ahnte etwas, da er diesen Blick seiner Tochter kannte. Diesen Anflug von Schalk, den sie meisterlich verbarg würde er immer erkennen.
„Heermeister Eregions“, sagte sie nun lauter, „Diesen Titel verleihe ich Kraft meines Amtes dem Mann, der so viele Leben – aber vor allem meine Tochter bei Rómen Tirion gerettet hat. Mathan, ich berufe Euch.“
Einige Köpfe wandten sich zu ihm und es  wurde eine breite Gasse vor ihm gebildet. Halarîn verbarg rasch ein Grinsen und klopfte ihm stattdessen auf die Schulter. Er seufzte unmerklich und ließ sich nichts anmerken. Mathan schritt durch die Reihen und trat vor das Podest, wo er einen winzigen Augenblick zögerte. Er wusste von einem vorherigen Gespräch mit Isanasca, dass sie als Kronprinzessin den gleichen Rang im Kriegsfall inne hatte, weshalb es ihm etwas merkwürdig vorkam, doch er straffte sich und antwortete trotzdem: „Ich folge der Berufung.“ Er deutete eine Verneigung nur ganz knapp an und schritt hinüber zu Nammanor.
Der Krieger brummte nur, dass er ihrer beider Berufung geahnt hatte und zupfte missmutig an seinem Mantel.
Mathan unterdrückte ein Grinsen anstelle einer Antwort, da dutzende Augenpaare auf ihnen ruhten.
Indessen rief Istime zwei Elben auf und Faelivrin ernannte sie zu Beschützern der Krone, woraufhin er aufhorchte. „Euch unterstehen zwanzig Krieger meiner Leibgarde. Ihr seid für den Schutz des Prinzen und seiner Familie persönlich verantwortlich.“ Die beiden Krieger, die Mathan unbekannt waren, verneigten sich tief und marschierten zackig an die gegenüberliegende Seite des Saals.
„Tárdur“, rief Istime einen weiteren Elben auf. Einer der Palastwachen am Tor ruckte mit dem Kopf herum, setzte sich dann sofort in Bewegung. Der schwarze Mantel strich wehend über den Boden, sein prunkvoller schwarzer Haarbusch auf dem Helm wippte bei jedem Schritt. Der Blick der knapp über dem Mundtuch aus dunkelbraunen, fast schwarzen Augen hervorstach sprühte vor Loyalität und Ruhe. Faelivrin bedeutete ihm stehen zu bleiben, als er niederknien wollte. „Euch gebe ich zwei der besten Krieger meiner Leibgarde.“ Ihr Blick wanderte zu Kerry, wie Mathan es sich schon fast gedacht hatte, „Ihr werdet für die Sicherheit meiner Schwester sorgen, solange wir Feinde von bedroht werden. Sorgt dafür, dass der Prinzessin kein Haar gekrümmt wird.“
Der Krieger ging trotzdem auf ein Knie und legte eine Hand auf den Brustharnisch und sagte mit wohlklingender Stimme: „Bei meinem Leben“ und senkte dabei den Kopf. Als er nach einem kurzen Moment keine Anstalten machte aufzustehen, wurde er von der Hofmeisterin zum Sprechen aufgefordert.
„Verzeiht meiner Dreistigkeit, die Entscheidung meiner Königin in Frage zu stellen“, hob er respektvoll an und wandte knapp den Kopf zu der Stelle, wo er Kerry in der Menge vermutete und fuhr fort, als er nicht unterbrochen wurde: „… und doch sorge ich mich darum, dass nur drei Krieger womöglich zu wenige sind, um die junge Prinzessin ausreichend zu beschützen.“
Faelivrin wirkte für einen Moment amüsiert und bedeutete ihm aufzustehen. „Es sei Euch verziehen, Hauptmann. Wie ich meine Schwester kenne, würde sie nicht erfreut über einen Begleiter sein, der ihr keinen Augenblick von der Seite weicht.“ Im Saal hörte man vereinzeltes, amüsiertes Flüstern.
„Ständig? Also, egal wohin ich gehe? Na das kann ja heiter werden…“, hörte Mathan Kerrys Stimme kaum vernehmbar, was bei den Umstehenden für ein Schmunzeln sorgte. Sie klang trotz der Worte erleichtert.
Faelivrin tat so als ob nichts wäre, auch wenn ihr Mundwinkel kurz zuckte und antwortete dem Hauptmann der Palastwache: „Gemessen an Euren Fähigkeiten sind drei genug – zumal sie auch meines Vaters Schutzes genießt und die Gunst einiger guten Krieger.“
Tárdur verneigte sich noch einmal und verschwand in der Menge. Istime berief indessen einige Soldaten in führende Positionen, die sich nach dem Kampf um Rómen Tirion besonders hervorgetan hatten. Danach wurde die gesamte nördliche Stadtmauer bemannt und in Alarmbereitschaft versetzt, woraufhin ein gutes Dutzend Elben den Saal verließen, allen voran die frisch beförderten Kommandanten der jeweiligen Mauerabschnitte. Die Königin nannte einige weitere Befehlshaber und forderte sie auf, nach der Versammlung zu verweilen. Mathan war nicht darunter, dafür aber Isanasca. Er war sich sicher, dass er den Posten des Heermeisters hauptsächlich bekommen hatte, um seiner Enkelin beratend und unterstützend beizustehen, was ihm aber ganz recht war. So konnte er seine große Erfahrung weitergeben.
Faelivrin wandte sich noch einmal an die versammelte Menge, diesmal so ruhig wie ein Fels in der Brandung: „Wir werden noch einmal geordneter zusammenkommen, wenn die Situation an dem Nordtor geklärt ist.“ Sie lächelte Mut machend. „Habt Zuversicht und bewahrt Ruhe. Wappnet euch, schärft eure Klingen und stählt eure Herzen, damit dort das Feuer der Hoffnung unermüdlich brennen kann. Gemeinsam werden wir diese Herausforderung bewältigen, denn nach jeder finstern Nacht geht die Sonne wieder auf.“

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