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Draganhrod

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Curanthor:
Beschreibung: Draganhrod ist die Hauptstadt des Fürstentums Govedalend im östlichen Teil von Rhûn. Sie ist Sitz des Fürsten Govedalends, Vakrim Castav.

Die Stadt besitzt eine gut ausgebaute Stadtmauer mit mehreren Toren. Durch die Hauptstraße, die mitten hindurch direkt zum Fürstenpalast im Zentrum Draganhrods verläuft, wird sie in zwei Teile geteilt: Im Westen das reiche Kaufmannsviertel, in dem Händler und der niedere Adel hauptsächlich wohnen und handeln, hier befinden sich auch die meisten Brunnen. Im Osten befindet sich die ärmlichere Bevölkerung, eine der zwei Kasernen und ein alter Tempel.

Abgesehen von der großen Hauptstraße gibt es ein wahres Labyrinth an Gassen und kleinen Sträßchen. Die meisten Häußer sind aus Holz gebaut und haben ein steinernes Fundament. Bis auf einige Wachtürme, dem Fürstenpalast, den alten Tempel und den Turmgarnisonen der Stadtwache gibt es keine hohen Gebäude in der Stadt.




Dragan mit Kenshin, Tiana, Nerassa und Ukko aus Gortharia

 „Aufgewacht, die Sonne lacht… naja hier unten wohl eher nicht.“ Metall rasselte. Das leise Klacken, von Holz, das auf Steinboden gestellt wurde, ertönte knapp vor seinem Gesicht. „Die tägliche Portion. Essen würde ich das nicht nennen.“ Ein hämisches Lachen ertönte, dann fiel eine schwere Tür laut polternd ins Schloss. Ein Riegel wurde davor gelegt. Das Rasseln entfernte sich. Ein unappetitlicher Duft stieg ihm unter die Nase. Es war warm, anders als der kühle, steinerne Boden, auf dem er die meiste Zeit des Tages verbrachte. Mühsam zog er die Beine an. Leise rasselte dabei die Kette über den Boden. Er öffnete mühsam die Augen und erkannte die übliche Holzschale mit dem unaussprechlichen Eintopf darin. Angewidert rümpfte er die Nase, doch der Hunger siegte. Im Licht des fahlen Sonnenaufgangs, das durch ein fingergroßes Loch in die Zelle fiel, tastete er nach dem Löffel. Mit angehaltener Luft begann er sich den Eintopf reinzuschaufeln. Als das überstanden war, lehnte Dragan sich wieder an die Wand und begann an den Eisenring zu rütteln, der in der steinernen Wand eingelassen war. Er vermisste das leckere Essen, dass er in der Taverne von Tiana gegessen hatte.
Seine Gedanken kreisten dabei wieder zurück in die Vergangenheit. Irgendwo war ihnen ein Fehler unterlaufen. Eigentlich war alles anfangs nach Plan gelaufen. Sie hatten Gortharia ohne Probleme mit der großen Karawane nach Govedalend verlassen. Nerassa hatte sogar mit den Wachen am Tor gescherzt, dass sie Waffen schmuggelten. Dragan war klar geworden, warum sie als Fuchs bezeichnet wurde, auch wenn sie es eigentlich nicht mochte. Sie konnte einem offen ins Gesicht lügen und gleichzeitig dabei die Wahrheit sagen. Eine gefährliche Frau. Und erstaunlich geschwätzig. Auf der Reise, hatten sie viel miteinander geredet. Nera - wie er sie später genannt hatte – schwelgte gerne in glückliche Erinnerungen über ihre gemeinsame Heimat. Dabei war es ihm immer wieder wunderlich vorgekommen, wie so eine eigentlich liebenswürdige Frau zu den Waffen greifen konnte. Egal wie oft er unauffällig das Gespräch in die Richtung ihrer Vergangenheit gelenkt hatte, machte sie Ausflüchte, oder suchte direkt das Weite. Am dritten Tag ihrer Reise hatte Ukko, der – wie sich später rausstellte - eigentlich ein Rüstungsschmied gewesen war, sich zu ihm gesellt und gefragt hatte, ob er Interesse an dem Fuchs hätte. Das Lachen und das anschließende Männergespräch hatte sie kurz das gefährliche Ziel ihrer Reise vergessen lassen. Aber eben nur kurz. Dragan und seine Gefährten hatten sich am Mittag des fünften Tages bereits in Govedalend befunden, als ein großer Trupp Soldaten ihnen entgegenkam. In dem Moment hatte er bereits gewusst, dass es vorbei war. Tiana und Kenshin bestanden aber darauf, dass ihre Tarnung fehlerfrei war. Das war sie, aber offenbar gab es irgendwo eine undichte Stelle. Deswegen saß er nun hier fest. Kenshin hatte sich wie ein Wilder auf die Wachen gestürzt, doch die Übermacht konnte auch ihn niederringen. Dragan schwor sich den Krieger als Erstes zu befreien, der sich noch selbst in Fesseln mit den Soldaten geprügelt hatte. Wütend riss Dragan an dem Ring aus Eisen, der sich einen Fingerbreit bewegte. Er knurrte zufrieden und gönnte sich eine Pause, in der er einige Liegestütze machte. So ging es wahrscheinlich schon seit einigen Tagen. Nach den Kraftübungen begab er sich wieder an den Eisenring und begann daran zu rütteln, in der Hoffnung, er würde sich irgendwann aus dem Mauerwerk lockern.

Der Lichtspeer fiel nun in voller Stärke durch das Loch. Wahrscheinlich hatte er den halben Tag an dem Eisen gearbeitet. Ein Rasseln ließ ihn die Ohren spitzen. Er schätzte, dass es Mittag war. Um die Zeit hatte man noch nie die Zelle geöffnet. Hastig schob er die kleinen Steinchen, die sich um den Ring herum gelöst hatten hinter sich. Dumpfe Schritte, begleitet von dem typischen Rasseln von Schlüsseln ertönten. Sie verstummten vor der Zellentür. Der Riegel wurde zurückgeschoben, der Schein von einer Fackel erleuchtete die Zelle. Dragan kniff die Augen etwas zusammen und stierte durch das Gitter.  Vor der Zelle stand der fette Zellenmeister, dessen schweineähnliches Gesicht diesmal nicht hämisch grinste. An seinem Gürtel baumelte der große Ring mit den Schlüsseln. Dragan erkannte einen vermummten Kerl, der die schwere Rüstung der rhûnischen Soldaten trug. Der Krieger gab dem Zellenmeister einen auffordernden Schubs. Hastig schloss dieser die Gittertür auf und kniete sich vor Dragan nieder. Aufmerksam beobachtete er, welcher Schlüssel in den wurstigen Fingern lag. Es war einer mit gezackten Bart und einer Kerbe an der Spitze. Mit einem Klicken öffnete sich das schwere Schloss an der Fußfessel.
„Der Fürst will dich sehen, Verräter!“, bellte der Soldat, „Solltest du dich weigern, sterben deine Mitverschwörer. Du sagst nur etwas, wenn du dazu aufgefordert wirst.“ Er wandte sich an den dicken Zellenmeister, „Auf die Füße mit ihm!“
Der dicke Kerl griff Dragan grob unter die Arme und boxte ihm dabei unauffällig gegen die Rippen. Er schwor sich dieser fetten Kröte eigenhändig den Hals umzudrehen. Leise knurrte Dragan den Zellenmeister an, der sich neben die Tür stellte und auf ihn wartete. Der Soldat hatte die Zelle schon mit einem ungeduldigen Schnauben verlassen. Dragan folgte ihm und trat den Zellenmeister im Vorbeigehen mit dem Stiefelabsatz auf die Zehen. Der Dicke keuchte und schubste ihn von sich. Der Soldat, der das wohl aus dem Augenwinkel gesehen hatte, drängte zur Eile und unterband eine Schlägerei. Dragan funkelte den Dicken seinerseits hämisch an und trat in den Gang. Rechts und links von ihm lagen noch mehr Zellen. Er fragte sich, ob Tiana, Nera und Ukko ebenfalls in einer von ihnen gefangen waren, ohne Licht und nur das absolute Minimum an Wasser und Nahrung. Wütend ballte er die Fäuste und folgte dem Soldaten, der ihn schließlich die Treppe nach oben schubste. Dragan überlegte kurz die Flucht anzutreten, aber dann würden seine Gefährten den Preis dafür zahlen. Er straffte sich und trat in die Wachstube. Er kniff kurz die Augen zusammen um sich an das Licht zu gewöhnen. Vier Wachmänner blickten ihn mit einer Mischung aus Neugierde, Feindseligkeit und Verachtung an. „Los weiter“, brummte der Soldat hinter ihm und gab ihm einen relativ harmlosen Stoß in den Rücken. Dragan stolperte durch die offene  Tür ins Freie. Die Sonne blendete ihn, sodass er eine Hand hob um seinen Blick gegen die Strahlen abzuschirmen. Er befand sich in einem Innenhof einer Kaserne, auf dem ein Trupp Soldaten mit ihren Lanzen Formationen übten. Die Gebäude kamen ihm vage bekannt vor. Sie befanden sich in einer der zwei Kasernen von Draganhrod. Er konnte aber nicht sagen wo genau, zu lange war er nicht mehr hier gewesen und in den fünf Jahren hatte die Stadt sich gewandelt. Rasch warf er einen Blick zurück auf das Gefängnis, das wohl einer der neuesten Gebäude war. Ein unscheinbarer, strohbedeckter Bau, kaum größer als ein Bauernhaus. Es war so unscheinbar, dass man normalerweise keine Kerker darunter vermuten würde. Der Soldat schubste ihn ungeduldig weiter. Am großen Tor zur Kaserne warteten drei weitere Soldaten, die sich ihnen wortlos anschlossen. Dragan wurde von ihnen in die Mitte genommen, sodass jeder Fluchtweg versperrt war. Sorgsam prägte er sich den Weg durch die verwinkelten Gassen ein, die sie nahmen. Ihm fiel der jämmerliche Zustand der Stadt auf. Viele Fenster und Türen waren zugenagelt, dutzende Häuser standen leer. Einige von ihnen waren wohl niedergebrannt worden. Ein hölzernes Schild, auf dem ein rotes Auge gemalt wurde, lag meistens in oder an der verkohlten Ruine. Sie kamen an einem Waisenhaus für Mädchen vorbei, dem er einst einige Goldstücke gespendet hatte, doch auch dieses schien verlassen. Auch hier war ein Holzschild mit rotem Auge achtlos auf die schwere Eichentür genagelt worden. Er ballte unmerklich die Fäuste. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie dutzende Blicke hinter vernagelten Fenstern ihnen folgten.

Schließlich kamen sie in das ehemalige Brunnenviertel. Es war das Älteste von Draganhrod und hier befand sich auch der Fürstensitz, der den Brunnenplatz beherrschte. Wenn man Wasser wollte, musste man dies immer unter den Augen des Herrschers tun, zumindest bis einer der Vorgänger seines Vaters neue Brunnen hatte graben lassen. Dragan erkannte die Straßen wieder und wollte langsamer werden, als sie auf den Platz traten. Viel hatte sich nicht verändert, doch der Westflügel verfügte nun über eine große Empore, von der man den ganzen Platz beobachten konnte. Eine steile Treppe, die hinaufführte wurde von sechs Wächtern scharf bewacht. Einige Bewohner eilten über den Platz, manche holten Wasser, doch die meisten hielten den Blick gesenkt und wagten es nicht zum Fürstenpalast zu blicken. Dragan ballte erneut wütend die Fäuste, als sie schließlich die breite Treppe zum Haupttor hinaufstiegen. Er hasste es. Er haste den Gedanken, dass die Menschen, die er langsam seine Freunde nennen konnte gefangen waren. Er hasste es, dass sie gegen ihn als Druckmittel genutzt werden, doch am meisten hasste er einen einzigen Mann. Der, der dafür verantwortlich war. Nach einer schweigsamen Marsch durch sein altes Elternhaus wurde die doppelflügelige Tür zum Thronsaal aufgestoßen. Grob wurde er nach vorn geschubst. Dragan hielt den Blick gesenkt und trat in den Saal. Etwa in der Mitte wurde ihm der Schaft einer Lanze gegen die Beine geschlagen. Dragan nahm all seine Kraft zusammen und blieb stehen. Mit mörderischer Wut hob Dragan langsam den Blick. Auf einer neu gebauten Empore saß der Mann, den er fast genauso sehr hasste wie seinen eigenen Vater.
Vakrim Castav saß auf demselben vergoldeten Stuhl und blickte mit einer Mischung aus Verachtung und Häme auf ihn hinab. „Sieh da“, sagte der (falsche) Fürst höhnisch, „Der verlorene Sohn kehrt zurück… aber mein unfähiger Vorgänger ist nicht mehr da. Hmmm… was machen wir nur mit dir?“
Dragan musste an sich halten, um den gut gebauten Mann nicht an die Kehle zu springen. Vakrim wirkte jedoch absolut gelassen. Er hatte aristokratische Gesichtszüge, war glatt rasiert und wirkte äußerst gepflegt, seine blutunterlaufenen Augen funkelten jedoch bösartig. „Ah“, machte der Fürst überspitzt und winkte zur Seite, „Fragen wir doch jemanden, der sich damit auskennt.“
Er verstand erst nicht, bis hinter dem Thron eine bekannte Gestalt die Empore betrat. Vakrim grinste überheblich und ließ die schlanke Frau auf seinem Bein Platz nehmen. „Was meinst Ihr, werte Dame?“ Er spielte mit einer von Tianas brünetten Strähnen im Gesicht und strich ihr demonstrativ über den Schenkel.
Irgendwas setzte in seinem Kopf aus. Dragans Hand war so schnell, dass keine der Wachen reagieren konnte. Der Dolch flog so schnell aus der Gürtelscheide des Soldaten wie ein Vogel im Sturzflug. Mit einem Pochen nagelte die Klinge Vakrims Kragen an die Lehne des Throns. Ein dünner Blutfaden sickerte aus einem leichten Schnitt am Hals in den blütenweißen Stoff. Die Soldaten traten Dragan sofort in die Kniekehlen und verdrehten ihm grob die Arme auf den Rücken. Einer der dreckigen Sandalen eines der Wächter trat ihm in den Nacken und damit sein Gesicht flach auf den Boden .Es war still, dann ertönte ein schallendes Lachen. Der Druck auf seinem Kopf verschwand, als die Soldaten ihn überraschend losließen. Dragan hob den Blick. Vakrim grinste breit und klatschte laut in die Hände. „Bravo! Wirklich ausgezeichnet!“ Dann wurde er wieder ernst, ein gefährliches Lächeln legte sich auf seine schmalen Lippen, „Und das war deine einzige Chance, mich umzubringen. Ich muss sagen, dieses kleine Spielchen war doch ganz lustig. Niemand kommt sonst an mich heran, wenn ich es nicht will. Du nicht, sie nicht...“ Er blickte zu Tiana, die auffällig Dragans und Vakrims Blicke mied, „Oder irgendeine dieser Witzfiguren von diesen Kreiseln, Zirkeln, Dreiecken oder was auch immer.“ Der Fürst lachte erneut schallend und ließ seine Hand von ihrem Knie ihren Schenkel hinaufwandern, „Als ob ich meine Feinde nicht beobachte, vor allem den Spross meines Vorgängers. So blöd kann man doch nicht sein, aber das hat sich ja nun erledigt. Damit ist meine Herrschaft ab heute unangefochten.“
Dragan schwieg. Ihm war das Geschwätz dieses Trottels egal, auch wenn ihm bewusst wurde, dass Vakrim durchaus ein erfahrener Krieger war, so wie die meisten des Hochadels. Sein Blick galt Tiana, die ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Ihre Augen schimmerten feucht, dann wandte diese sich wieder an Vakrim, der sich gerade mit einer weißen Serviette den Schnitt betupfte. „Warum sich weiter noch mit ihm befassen? Lass uns etwas essen gehen“, bat sie mit einer samtig-säuselnden Stimme, ohne jede Spur von Furcht oder Abneigung. Würde er sie nicht kennen, hätte er es ihr glatt als Ergebenheit abgekauft. 
Der Fürst überlegte kurz, grinste aber dann und leckte sich begierig über die Lippen. „Wenn du heute nach dem Abendessen bei mir bleibst, vielleicht.“ Etwas Unheilvolles blitzte in den Augen des Fürstens auf, eine Art dunkle Begierde.
Dragan konnte sehen, wie auch Tiana es verspürte und einen Augenblick zu lange zögerte. Offenbar war sie nicht freiwillig dort… oder sie spielte ein gefährlich perfides Spiel. Schließlich verlor Vakrim das Interesse und entließ sie mit einem gelangweilten Handwedeln. „Eines Tages wirst du mir erliegen und meine Kinder austragen. Und dir wird es wie eine Ehre vorkommen meine Linie zu sichern. Immerhin bin ich dein Fürst. Dein Herr und Meister. Jeder in Govedalend hat mir zu gehorchen. “
Ekel überkam Dragan bei den Worten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie einer der Soldaten kaum merklich unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Ihm wurde bewusst, dass er mit einer Abneigung nicht alleine war. Vielleicht ließe sich das nutzen.
„Das ist nicht korrekt, Fürst Castav“, mischte sich eine neuerliche, gebrechliche Stimme ein. Ein Mann in einer schwarz-roten Robe trat aus einem der Schatten und stütze sich schwer auf eine großen, reich mit Gold verzierten schwarzen Eschenstab, „Der einzige dem jeder gehorchen muss ist unser Herr und Meister, Sauron der Große, Herr der Erde und Gott über allem Leben.“
Vakrim verzog kurz das Gesicht – offenbar genervt durch die Störung -, nur für den Bruchteil eines Augenblicks, dann lächelte er ergeben. „Aber natürlich! Ihm haben wir all das hier zu verdanken. Niemals würde ich es wagen unseren Gott in Frage zu stellen.“
„In der Tat. Das wäre äußerst unklug“, erwiderte der Alte und schlug die Kapuze zurück. Dragan erkannte einen Greis mit weißem Bart, eingefallen Wangen und tiefen Falten im Gesicht, der sich ein flammendes, liedloses Auge auf die Stirn tätowiert hatte, „Der Herr und Meister sieht alles.“
Dragan unterdrückte den Drang dem Greis dessen Stab in den Rachen zu schieben. Sauronisten waren eine Plage. Sein Vater hatte viele Jahre damit zu kämpfen gehabt ihren Einfluss zu mindern, doch der Kult um den Dunklen Herrscher war wie Unkraut. Er selbst war zum Glück nicht mit diesem Glauben aufgewachsen, was er wohl seiner Mutter zu verdanken hatte. Ivailo hatte den Kult nur aus machtpolitischem Interesse in die Ecke gedrängt, da die Kultisten mehr und mehr an dem Machtgefüge im Fürstentum zu rütteln begonnen hatten. Dragan musterte den Greis mit Abscheu. Offenbar war dies einer der Hohepriester oder so etwas. Menschenfresser, wurden sie von den „Ungläubigen“ genannt, da sie Menschenopfer verlangten und sehr oft dafür junge Frauen auswählten. Was genau mit ihnen geschah, war ein gut gehütetes Geheimnis, doch sie tauchten nie wieder auf. Ein weiterer Grund, warum Ivailo sie verdrängt hatte, da er das sinnlose Blutvergießen als Stratege und Pragmatiker nicht nachvollziehen konnte. Beim einfachen Volk war der Kult Saurons jedoch schon immer Teil des Alltags gewesen, bis sich der Krieg immer weiter in die Länge zog und mehr Blut forderte.
„Nun“, riss ihn Vakrim wieder aus dem Gedanken. Er sprach gedehnt und nahm einen großen Schluck aus einem Weinpokal, „Der Tempel wird eine großzügige Spende erhalten.“ Es blieb offen, was für eine Art von Spende gemeint war.
Der Alte wirkte dennoch zufrieden und wollte noch etwas sagen, doch die Ankunft eines Boten unterbrach sie. Vakrim winkte ihm gönnerhaft zu sich. Der junge Bursche eilte mit käsigem Gesicht die vier Stufen hinauf und beugte sich mit gebührendem Abstand zu dem Fürsten hinab und flüsterte etwas in sein Ohr. Dragan konnte leider kein Wort verstehen, egal wie sehr er seine Ohren spitzte. Vakrim wirkte nun weniger gelassen, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Nach einem kurzen Moment des Überlegens nickte er, wobei sein Blick auf Dragan fiel.
Mit einem Handwedeln schickte er ihn fort und sagte wieder hämisch: „Wenn es mir irgendwann passt, werde ich Euch in eine angenehmere Unterkunft bringen. Das hängt ganz davon ab, was Eure Begleiter tun werden und einem anderen Umstand…" Er wirkte einen Moment nachdenklich, so als ob er gerade eine teuflich gute Idee hatte, "Vielleicht kann ich ja doch noch etwas mir Euch anfangen… wir werden sehen.“
Ihm war aufgefallen, dass Vakrim wieder formale Töne anschlug und weniger selbstsicher wirkte. Einer der Soldaten packte Dragan an Arm und führte ihn aus dem Saal hinaus. Der Grund für den Verhaltenswandel des Fürsten begegnete ihm sogleich im Flur, denn eine hochgewachsene Gestalt mit zwei vermummten Begleitern versperrte ihnen den Weg. Sie überragte Dragan um mehr als einen Kopf. Vor ihm stand eine schwer gerüstete Frau, deren silberweißes Haar in langen Strähnen auf ihrem dunkelgrauen Mantel fiel. Ihr Oberkörper steckte in einem fein gearbeiteten, stählernen Brustpanzer, ihre Schultern in kunstvollen Schulterpanzer und Arme wurden von schweren Schützern umhüllt. Zwei stahlgraue Augen starrten ihn mit einer Mischung aus Kälte und Abscheu herablassend an, als ob sie gerade ein Insekt in ihrer Suppe entdeckt hatte. Der Blickkontakt hielt nur kurz, doch Dragan beschloss sofort mit ihr keinen Ärger zu suchen. Eine der Wachen riss ihn grob am Arm aus dem Weg. Er erhaschte einen Blick auf das Langschwert, dass die fremde Kriegerin lässig in der rechten Hand trug. Es steckte in einer ledernen Scheide, der Griff hatte ein metallisch-bläulichen Schimmer. Der Knauf erregte jedoch am meisten seine Neugierde. Für einen winzigen Augenblick funkelte dort die Reflektion des Fackelscheins in einem türkis-blauen Saphir. Dragan bemerkte, dass auch die Soldaten der Kriegerin mit einer seltsamen Mischung aus Angst, Ehrfurcht und Abneigung begegneten. Es war das erste Mal, dass Dragan eine Elbenkriegerin begegnete. Anders als in den Geschichten, wirkte diese so gar nicht lieblich, sondern auf eine unbeschreibliche Art und Weise grausam-schön. Ihr Blick war mit einer Finsternis erfüllt gewesen, die ihm sofort klar gemacht hatte, dass sie keine Skrupel hatte, jedem, der ihr in die Quere kam den Kopf abzuschlagen.
Sie beobachteten noch, wie einer der vermummten Begleiter der Elbenkriegerin laut klopfte. Ein kurzer Moment verging. Die Anführerin hatte offensichtlich andere Pläne als zu warten und verschaffte sich mit einem krachenden Fußtritt Zutritt. Dragan blickte verdutzt zu den Soldaten, die ebenfalls perplex wirkten.
„Ah, Frau Rámalin“, ertönte Vakrims Stimme laut in einem schmeichelnden Tonfall, „Verzeiht meinen Dienern…“ Das Geräusch von Stahl, der aus einer Schwertscheide fuhr ertönte und ließ den Fürsten verstummen. Es folgte das dumpfe Poltern von einem Körper, der auf die polierten Holzdielen aufschlug. Dragan wechselte einen raschen Blick mit einem der Soldaten, der seine Lanze so fest umklammerte, dass seine Köchel weiß wurden. Doch niemand rührte sich.
Dann erklang die Stimme der Elbenfrau, die melodisch, aber scharf sagte: „Nutzlose Untergebene und elende Versager sind mir zuwider. Entschuldigt die Sauerei, Fürst von Govedalend, mein Temperament ging mit mir durch.“ Sie sprach ruhig, so als ob sie gerade eine Tasse Tee verschüttet hatte und gar nicht, als ob ihr irgendetwas leid tat, „In Eurem Schreiben habt Ihr von einem lohnenden Geschäft gesprochen.“
Die Antwort von Vakrim bekamen sie nicht mehr mit, da die ramponierte Doppeltür geräuschvoll ins Schloss fiel. Damit erwachten auch die Soldaten aus der Starre und schoben ihn etwas sanfter als zuvor in den Flur, wieder in Richtung Ausgang und brachten ihn diesmal auf direktem Wege zurück in seine Zelle.

Curanthor:
Die Tage flossen zäh wie Honig dahin, abgesehen von einem dauerhaften Kratzen und den gelegentlichen Mahlzeiten blieb die Zellentür verschlossen. Dragan verlor nach einer Zeit das Zeitgefühl, aber er wusste, dass die Wachen ihm etwa alle zwei Tage eine Schüssel Broteintopf vor das Gitter setzten. Anfangs war es kaum herunterzubekommen, aber sein Hunger hatte schließlich gesiegt und auch sein Tagesablauf hatte er erst anpassen um nicht verrückt zu werden. Wenn Dragan wach wurde, stählte er seinen Körper mit Liegestütze, Kniebeugen und anderen Übungen, bis zur Erschöpfung, dann legte er sich flach auf den Boden und lauschte. Wenn sein pochendes Herz sich wieder beruhigte und er sich konzentrierte, konnte von oben das Stimmgemurmel der Wachen in der Baracke hören. Dragan konnte nie genau verstehen, was sie sagten, aber er konnte nach geschätzt einer Woche an den Schritten erkennen, wenn sich jemand die enge Treppe hinunter in die Kerker schleppte. Es waren immer drei Wachen, die sich abwechselten. Zwei hatten schlurfende, unmotivierte Schritte, der dritte Wächter hingegen hatte es immer eilig. Er war es auch, der die Schüssel mit einem Stock durch die Klappe in der Türe bis an das Gitter heranschob, sodass Dragan ohne sich zu strecken und zu recken an sie herankam. Und er war es auch, der immer darauf achtete, dass Dragan immer den hölzernen Löffel wieder mit in die Schüssel legte. Einmal hatte er bei einer der anderen Wachen versucht den Löffel zu behalten, aber die eiligen Schritte von oben hatten ihm verraten, dass sein Plan missglückt war. Die Wächter hatten sich Tücher vor dem Mund geschlungen und Kieselsteine in dicke Leintücher eingewickelt. Die Schmerzen von der Prügelorgie hatten ihn noch mehrere gefühlte Tage begleitet. Dragan stemmte sich wieder vom Boden auf, seine Muskeln an den Oberarmen traten hervor und begannen zu zittern. Ausatmen. Dann wiederholen. In seinen Gedanken sprach er immer mit sich selbst. Dann war es wieder da, das Kratzen. Stellenweise ging es gefühlte Stunden. Wenn er aß, selbst wenn er schlief kratzte es ununterbrochen. Vielleicht waren es die Wachen – auf Befehl Vakrims, um ihn zu foltern? Er presste sein Ohr auf dem Boden. Das Kratzen übertönte die Schritte von oben. Dragan fluchte und hieb mit der Faust gegen die steinerne Wand. Putz und kleine Steinchen rieselten auf den Boden. Das Kratzen verstummte. Dragan horchte auf. Erneut schlug er gegen die Wand. Zwei Kratzer hintereinander antworteten ihm. Sein Herz klopfte vor Aufregung. Das Kratzen kam aus der Zelle rechts neben ihm! Anfangs hatte er an Ratten gedacht, oder anderen Nagetieren. Seine Ohren spitzten sich unwillkürlich, als er Schritte vernahm, sie kamen von oben, gingen über seinen Kopf, an das Ende der Zelle. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sollten sie nur kommen, dachte er sich kämpferisch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Schritte verstummten kurz, das taten sie immer, wenn der Wächter die Treppe hinabschritt. Dragan hörte die schweren Stiefel vor seiner Zellentür, dann das Rasseln der Schüssel. Seine Knöchel wurden weiß, so fest ballte er die Fäuste, doch die Schritte gingen weiter. Zu der Zelle rechts neben ihm. Der Riegel wurde zurückgeschoben. Metall quietschte, dann hörte er plötzlich die gedämpfte Stimme einer Frau. Einen kurzen Moment lauschte er gebannt mit klopfenden Herzen. Sie kam ihm unbekannt vor. Dragan atmete erleichtert aus, spitze aber seine Ohren und legte seinen Kopf an die Wand, in der Hoffnung etwas zu erlauschen. Die Wand der Zelle war unsäglich kalt und unfreundlich, und doch hatte die Stimme der Frau aus der anderen Zelle eine warme Färbung, die ihn das vergessen ließ. Sie erinnerte ihn an Cheydan. Er spürte, wie seine Augen etwas feucht wurden. Die Diskussion in der Nachbarzelle wurde etwas lauter – aber war dennoch undeutlich. Die Frau stritt sich mit dem Wächter! Dann schrie sie auf, wieder und wieder. Dragans Körper bebte vor Zorn. Er biss sich auf die Lippen, lief im Kreis und fragte sich was er tun sollte. Gleichzeitig hatte er Angst davor wieder von den Wachen verprügelt zu werden. Dann steigerten sich die Klagerufe der Frau zu einem einzigen, hohen Kreischen. In seinem Kopf platzte etwas.
Dragan brüllte laut auf und tat gegen das Gitter. „Kommt hier her, ihr Schweine!“. Erneut trat er gegen das Zellengitter. Staub prasselte aus Löchern, in denen die metallenen Verstrebungen in der Decke verschwanden. „Seid ihr nicht Manns genug? Müsst ihr euch an Frauen vergreifen!?“ Seine Tritte hallten laut wieder. „He! Ihr da drüben! Kommt her, und ich reiß dir den Kopf ab!“ Sein Kopf dröhnte wie eine Kriegstrommel, doch es zeigte Wirkung. Das Kreischen seiner Zellennachbarin verstummte. Laute Schritte erklangen von oben. Es waren mehr als zwei. Das Fußgetrappel verstummte kurz, dann waren sie die Treppe heruntergekommen. Er verharrte am Ende der Zelle, die schützende Wand im Rücken.

„Was soll dieser Lärm!“, donnerte eine unbekannte, tiefe Stimme im Zellenkorridor mit einem autoritären Tonfall „Ruhe verdammt!“

Dragan atmete flach. Er könnte hören, wie auch aus den anderen Zellen ein Tumult zu hören war. Der Wächter brüllte mehrfach, drohte Peitschenschläge an und Kürzungen der Essensrationen. Letzteres zeigte Wirkung, das Dröhnen, Rufen und Protestieren der Gefangenen verstummte langsam.
Dragan konnte das Gespräch vor seiner Zellentüre belauschen, als die tiefe Stimme wutentbrannt die benachbarte Zellentür aufriss und donnerte: „Was zum Himmel denkst du, was du da tust?!“
Dragan konnte die Erwiderung nicht verstehen, doch die polternde Antwort des vermeintlichen Anführers der Wachen: „Schwachsinn! Sie ist eine persönliche Gefangene des Fürsten, die Tochter eines einflussreichen Bojaren des Fürstentums, du Idiot! Raus da, sofort!
Dragan atmete erleichtert aus. Scheinbar war der Anführer der Wachen ein fairer Mann.
„Abführen. Und schneidet das da durch. Werft ihn in den trockenen Brunnen, das wird ihm eine Lehre sein.“ Dragan nahm seinen ersten Eindruck zurück, der Kerl war skrupellos.
„Nein!“, flehte der Wächter, „Ich habe doch nur… bitte, nein!“ Ein dumpfer Schlag war zu hören.
„Weg mit diesem Abschaum!“, keifte der Wachführer, dann war seine Stimme plötzlich näher an Dragans Zellentür, „Also er war das, ja?“ Eine unverständliche Bestätigung ertönte. „Gut, aufmachen.“ Eine ebenfalls unverständliche Erwiderung war zu hören. „Wie war das? Willst du dem da draußen etwa Gesellschaft leisten? Nein? Gut, jetzt schwing' deinen Arsch hier her und mach auf.“ Dragan fluchte leise und rückte in die Ecke der Zelle. Der Schlüssel zu seiner Zellentür wurde ins Schloss gesteckt, dann war sie auch schon offen. Blendender Fackelschein leuchtete ihm ins Gesicht. Dragan kniff die Augen zusammen. Im Durchgang stand eine massige Gestalt.
„Ugh, wann habt ihr das letzte Mal die Zelle sauber gemacht?“, wandte sich der Anführer an seine Untergebenen, ohne eine Antwort abzuwarten „Unglaublich, unfähiges Pack. He, du. Steh‘ gefälligst auf, wenn du Besuch hast.“
Dragan drückte sich an der Zellenwand in die Höhe. Ihm kam die Stimme entfernt bekannt vor. Der Mann trat nun vor, nah an das Zellengitter heran. „Du siehst scheiße aus“, befand der Anführer, ein zahnlückiges Grinsen blitzte auf. Dragan blinzelte, bis sich seine Augen endlich an das helle Licht gewöhnt hatten. Das Erkennen durchzuckte ihn wie einen Blitz. Cheydans graue Augen blickten ihn an.
„Du?!“, keuchte Dragan ungläubig und umfasste die Gitterstäbe mit beiden Händen, „Bist du’s Marek?“
„Kapitan Marek für dich jetzt“, antwortete er mit einem bellenden Lachen und wandte sich an die übrigen Wachen, „Verzieht euch.“  Eilig machten sich die übrigen Wächter davon. Dragan musterte seinen alten Freund. Sein Gesicht sah aus, als ob er gegen einen Stier gekämpft hatte. Seine Nase mehrfach gebrochen, so krumm war sie. Sein Mund hatte einen fast tödlichen Hieb abbekommen, die Lippen gespalten und durch das Grinsen konnte man sehen, dass er nur durch Glück nur ein paar Zähne verloren hatte. Viel hätte nicht mehr gefehlt um ihn den Kopf zu spalten.
„Du siehst auch nicht besser aus“,  befand Dragan und nickte zu seinem Gesicht.
Marek lachte noch einmal, wirkte aber dabei etwas düsterer. „Der verfluchte Feldzug gegen den Erebor. Dadurch bin ich jetzt dort, wo ich jetzt bin.“ Er deutete zu seinem Gesicht, „Das da ist ein Andenken aus Thal, die haben wirklich interessante Hellebarden.“
„Und wie kommt es, dass du jetzt meinen Kerkermeister spielst?“, fragte er skeptisch und rüttelte ein wenig am Gitter, „Mach‘ das Ding auf, und wir können reden.“
Marek verzog das Gesicht, durch seine Narben wirkte es besonders grotesk. Etwas leiser sagte er: „Ich würde ja gern, aber noch nicht. Wir sind noch nicht so weit.“
Dragan horchte auf und trat näher an seinen alten Freund heran: „Wir?“
„Der Widerstand. Vorher müssen aber noch ein paar Handlanger verschwinden“, wisperte Marek und schaute sich rasch um, „Mein ehemaliger Kapitan - Hauptmann der Stadtwache, Velibor. Der, der dabei war, als du damals fortgingst. Der Kerl ist jetzt Heerführer des Fürstentums - hat viele von uns verraten, um befördert zu werden. Dann der Stadtvogt Bogna. Steuereintreiber und Richter, entscheidet immer für Sauronanbeter und lässt sich bestechen. Von den hohen Abgaben gar nicht angefangen. Dann noch ein paar im Bojarenrat und andere Amtsträger.“
„Du hast es ihnen nicht vergeben oder?“, stellte Dragan unnötig fest.
Mareks Augen flammten vor Zorn auf, „Niemals. Meine Schwester… sie alle haben sie verkauft und verschachert wie billiges Viech. Sie alle werden dafür bluten.“ Seine gepanzerte Hand bebte, „Allem voran Vakrim Castav, dieses elende Schwein. Doch der versteckt sich hinter einer…“ Marek wurde eine Spur blasser und schaute noch einmal über seine Schulter und wisperte, „Eine Schwarzelbe.“
Dragan blinzelte verwirrt. „Und das soll mir jetzt was genau sagen?“
Marek wirkte unsicher und flüsterte weiter: „Nicht so laut! Sie sind skrupellos und grausam. Genau das Gegenteil von Elben. Sie sind böse, ihre Herzen schwarz wie die Nacht. Wenn du einen von ihnen begegnest, sieh‘ zu Boden und rede nicht mit ihnen.“ Von oben ertönten Schritte und Marek wirkte plötzlich getrieben. „Ich kann dich nicht hier rausholen, noch nicht, aber das Leben einfacher machen. Ein paar Stunden im Palast arbeiten und-“
Dragan schnaubt und ließ die Zellengitter los, „Du erwartest ernsthaft, dass ich mir für dieses elende Schwein die Finger schmutzig mache?!“
Marek packte ihm erstaunlich schnell durch die Gitterstäbe hindurch am Kragen und rammte ihn gegen das Gitter. Dragan keuchte, ihm blieb kurz die Luft weg. „Hör‘ mir jetzt ganz genau zu, du kleiner Scheißer“, zischte Marek, „Du bist der einzige, der meine Schwester finden kann. Ich bin in der Armee, ich kann nicht weg. Gefangene können sich ihre Strafe abarbeiten. Doch du bist eine Ausnahme, Vakrim wird dich niemals freilassen, aber er kann sich nicht gegen den Bojarenrat stellen – noch nicht. Sie verlangen, dass jeder Gefangene sich seine Haft mit Arbeit erleichtern kann. Auch du.“ Marek funkelte ihn einen Moment noch wütend an, dann ließ er ihn endlich los, „Also hör‘ auf mit deinem Unfug und tu‘ endlich was für deine Mitmenschen. So wie du es für die nebenan gemacht hast… was ungewöhnlich großmütig von dir war.“
Dragan rieb sich den Hals und spuckte aus. „Sie hat mich nur an Cheydan erinnert…“, murmelte er leise.
„Du bist viel zu besessen von ihr. Lässt dich mit Geheimbünden ein und was weiß ich.“ Marek schüttelte den Kopf, doch seine Mundwinkel wanderten nach oben. „Ich kann dafür sorgen, dass sie gleichzeitig mit dir Schicht hat.“
Dragan hob eine Braue, doch sein Freund lachte und sagte, dass ihm etwas Ablenkung nicht schaden wird. Ihm war der Gedanke, sich auf andere Frauen einzulassen fremd, aber gleichzeitig sehnte sich ein Teil ihn ihm nach Nähe – auch körperliche Nähe. Es war ein zerreißendes Gefühl.
„Hm, wenn du es einrichtest, kann ich sowieso nichts dran ändern…“, brummte er gleichgültig, „Wie kommt es eigentlich, dass du jetzt erst hier bist?“
Marek schien seinen Gedanken zu erraten, denn er ging nicht auf seine Frage ein: „Ihr wart nicht verheiratet und ich denke, sie wird es dulden, wenn du noch eine hast. Sie hat mir mal im Vertrauen erzählt, dass sie dein Herz nicht an sich ketten will.“
Dragan blickte überrascht auf. „Das hat Cheydan erzählt? Wann?“
Sein Freund zuckte mit den Schultern und antwortete nur ausweichend, dass es irgendwann war, bevor sie geholt wurde. Auf Dragans Bemerkung, dass es eine etwas ungesunde Einstellung für eine Frau war, erwiderte Marek, dass es in anderen Ländern normal war, mehrere Frauen zu haben. „Auch ich habe zwei, wobei eine meine Frau ist, die andere nur eine Liebhaberin.“
„Und beide wissen davon?“, hakte Dragan skeptisch nach, „Mutig.“
Marek lachte laut auf, „Sie sind aus Minzhu, das ist da in manchen Provinzen normal. Es war ihre Idee, nicht meine, aber unser Gesetz erlaubt nur eine Frau… glaube ich. Hat mich nie groß gekümmert.“ Ein lautes Klirren von oben erregte seine Aufmerksamkeit, sodass Dragans Freund sich umwandte. „Morgen fängst du an die Böden im Palast zu schrubben, mit ihr.“, Marek deutete mit den Daumen zur Nachbarzelle, „Und keine Sorge, die Gesichter der Gefangenen sind bedeckt. Niemand wird dich oder sie erkennen während ihr arbeitet – und ihr werdet euch auch nicht erkennen, solltet ihr hier rauskommt.“ Er wandte sich ab, hielt aber noch einmal inne: „Oh, und die Wächter stehen bis auf einen unter Vakrims Kontrolle, also sei vorsichtig.“
Dragan hielt ihn noch zurück und fragte, warum er nicht mehr tun konnte, doch Marek winkte hastig ab und sagte, dass er bei dem Fürsten erwartet wurde. Dabei zog er eine Grimasse und versprach ihm, dass es sich bald ändern würde. „Du hast mein Word, alter Freund.“ Marek lächelte entschuldigend, dann schloss er mit zusammengekniffen Lippen  die Kerkertür. Dragan atmete tief aus und ließ sich an der kalten, rauen Wand zu Boden gleiten. Er hätte nie gedacht, noch einen Menschen aus seinem alten Leben zu treffen. Marek war ihm immer nur flüchtig im Palast als Wache begegnet, aber sie hatten schon oft zusammen mit Cheydan in einem Brauhaus gegessen und getrunken. Und vor allem getrunken. Marek hatte Bier saufen können wie ein Pferd. Cheydan hatte sich oft pikiert zurückgezogen, nur um sich dann etwas Wein zu holen. Dragan lächelte versonnen. Sie hatte immer unschuldig getan, dabei hatte sie ordentlich Feuer gehabt. Er blickte auf seine Zehenspitzen und fragte sich, ob Marek tatsächlich Wort halten würde. Ein Kratzen unterbrach seinen Gedanken. Nun störte es nicht mehr. Er musste lächeln, zufrieden durch seine Tat und suchte etwas, mit dem er ebenfalls an der Wand kratzen konnte. Seine Augen flogen über den dunklen Boden. Ein dünnes, längliches Stück nahe am Gitter fiel ihm sofort auf. Er tastete danach und zog es schließlich in die Zelle. Es war der Dorn einer Gürtelschnalle. Dragan grinste in sich hinein. Marek, du alter Gauner, dachte er sich und kratzte mit dem Metallstift ebenfalls an der Wand.

Dragan wachte durch das bekannte Klirren von einem Schlüsselbund auf. Hastig drückte er den Gürteldorn in das kleine Loch, das er in die Wand gekratzt hatte und stellte den Eimer, in dem er sonst seine Notdurft verrichtete davor (während er sich die Nase dabei zu hielt). Keinen Moment zu spät, denn die Tür öffnete sich und die Wachen traten ein. Dragan richtete sich ohne Aufforderung auf und suchte mit dem Blick nach Marek, doch sein Freund war nicht dabei. Es waren drei Wachen, alle mit harten Gesichtern. Einer von ihnen trat an das Zellengitter und schloss es auf. Hinter ihm trat ein anderer vor und hob ein braunes Leintuch. Dragan erinnerte sich an die Worte seines Freundes und trat vor. Er hob die Hände, für Handfesseln, doch die Wachen schüttelten nur den Kopf. Jemand wickelte etwas grob das Tuch vor Dragans Gesicht, sodass nur seine Augen frei waren. Ein anderer stülpte ihn einen schäbigen, abgewetzten Lederhut auf den Kopf und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Nur Geduld“, wisperte der Mann hinter Dragan, der das Leintuch ordentlich verband. Dann gab er ihm einen leichten Stoß in den Rücken. Zwei der Wachen führten ihn hinaus auf den Korridor. Rechts auf dem Gang erblickte er das erste Mal die Frau in der anderen Zelle. Sie trug ein weites, schmutziges Kleid aus grauen Leinen. Sie war zierlich gebaut, doch waren ihre nackten Beine und Arme von dünnen Narben übersäht, sichtbare Muskeln schlangen sich um ihren Körper, sodass sie wie eine durchtrainierte Kriegerin aussah. Ihre Haare wurden von einem Ledertuch zusammengehalten, sodass man nicht sehen konnte, welche Farbe sie waren. Ebenso wie bei seinem Gesicht, hatte man ihr ein dunkelbraunes Leintuch umgebunden, um ihre Züge zu verbergen. Ihre strahlend blauen Augen musterten ihn jedoch eindringlich. Zwei Wachen waren auch bei ihr und schubsten sie in seine Richtung. Mit einer Aufforderung wurde auch Dragan nach vorn geschubst, ihr Blickkontakt riss ab. „Denkt dran“, sagte einer der Wachmänner laut, „Spricht mit niemanden da draußen. Benutzt nicht eure Namen. Manche Bürger mögen es nicht, wenn Gefangene für den Fürsten arbeiten.“ Jemand stach Dragan in den Rücken. „Du bist jetzt Oleg.“ Der Wächter wandte sich an die Frau: „Und du Boleg.“ Die übrigen Wächter lachten schallend. Dragan wechselte einen Blick mit der Gefangenen, die wütend die Fäuste ballte. Auch der Wortführer bemerkte es. „Was? Gefällt er dir nicht?“ Sie schüttelte den Kopf, woraufhin einer der Wächter einen hölzernen Prügel zückte. Unbeeindruckt stierte sie den Mann an. Der Wortführer zögerte,  zischte aber dann wütend „Verdammt.“ Er bedeutete den Mann mit dem Prügel die Waffe zu senken, „Dann eben Danica. Ihr könnt froh sein, dass Kněz Kapitan Marek noch in der Stadt ist. Bewegung jetzt!“
Dragan beschwerte sich besser nicht über seinen Namen und folgte den Wächtern mit Danica hoch in die Baracke der Wachen. Kurz darauf standen sie in dem Gemeinschaftsbad. Dragan tauschte einen überraschten Blick mit Danica. „Los, ausziehen und waschen. Passt auf eure Kopfbedeckungen auf.“, forderte einer der Wachen barsch.
Dragan gehorchte, da er sich seit Wochen schon nach einem Bad sehnte. Er ging in die Mitte des Bads, wo ein steinernes Becken mit Wasser, vielleicht zwei Mal drei Schritte maß. Er wandte Danica den Rücken zu, die es ihm ebenfalls gleichtat. Rasch wuschen sie sich, ohne sich anzusehen, sehr zu Belustigung der Wachen – die aber erstaunlicherweise so viel anstatt hatten, nur Dragan zu nerven. Danica schien tatsächlich eine wichtige Gefangene zu sein, denn erst, als sie in ein Tuch eingewickelt aus dem Becken stieg, wandten sich die übrigen Wachen ihr zu und führten sie hinaus. Dragan war überrascht, dass sie so schnell fertig war, auch wenn ihm klar war, dass man als Frau wohl äußerst ungern mit einer Horde Männern im Bad sich Zeit ließ.

Nach seinem Bad wurde er in einen angrenzenden Raum geführt, in dem einfache Arbeitskleidung auf schäbigen Bänken lag. Es war ein enger Raum, die Wachen warteten vor der Tür, als sie ihn feixend hineinschubsten. Danica blickte kurz auf und hielt sich ihre Hand vor die Brust. Ihre blauen Augen funkelten bösartig. Dragan murmelte eine Entschuldigung und bedeckte seine Augen, während sie sich rasch eine Hose anzog. Den Anblick würde er trotzdem nicht so schnell vergessen. Mit größter Mühe unterdrückte er ein Grinsen und den Kommentar, dass selbst ihr Hinterteil durchtrainiert war. Damit wollte er eigentlich seine Bewunderung ausdrücken, dass eine Frau so viel trainiert hatte, dass so mancher Mann neidisch werden konnte. Er hörte leise Schritte, dann tippte sie ihm auf die Schulter. Dragan wartete, bis die Tür ins Schloss fiel. Draußen hörte man das anzügliche Gelächter der Wachen. Jemand pochte heftig gegen die Tür und rief, er solle sich beeilen, sonst würden sie ihn nackt durch die Stadt laufen lassen. Dragan fluchte und packte die Bundhose, das Wams und die schäbigen Lederstiefel. Eilig zog er alles an und trat hinaus. Die Wachen lachten und machten Witze darüber, dass er wohl Angst hatte. Danica vermied es ihm in die Augen zu sehen.

Auf dem Weg durch die Stadt wurde nicht gesprochen. Die Wachen achteten darauf, dass immer zwei ihrer Männer zwischen Danica und Dragan waren. Sie ermahnten beide noch einmal, mit niemanden im Palast zu sprechen, den Blick stets gesenkt zu lassen und niemals ihr Gesicht zu zeigen. „Und wenn einer der adligen oder der Fürst selbst euch etwas befiehlt, tut ihr es ohne es zu hinterfragen. Klar?“
Sie nickten so knapp wie nur möglich. Jemand trat ihm schmerzhaft gegen das Schienbein, Danica kassierte einen schallenden Schlag auf den Po der sie zusammenzucken ließ. „Was? Ich habe nichts gehört. Macht mal die Zähne auseinander, sonst schlag‘ ich sie euch aus.“ Dragan konnte sehen, wie sie die Fäuste ballte und sagte für sie beide etwas lauter: „Verstanden.“
Danica brachte kein Ton über die Lippen, doch schien Dragans Antwort den Wachen zu genügen. Sie führten sie beide aus der kleinen Nebengasse, über den Brunnenplatz hinauf zum Palast. Das alte Holzgebäude weckte viele Erinnerung in Dragan, die er absolut nicht gebrauchen konnte. Die dunklen Tore des Fürstensitzes öffneten sich. Überrascht blieb der Tross kurz vor der Treppe und dem Mann, der hervorgetreten war stehen. Er trug einen breitkrempigen Lederhut, an dem eine grüne Feder steckte, ansonsten trug er eine bronzefarbene Rüstung und braunem Wappenrock.
„Kapitan“, sagte einer der Wachen offensichtlich überrascht und nervös. Die Wächter machten einen unbeholfenen Knicks oder eine Verneigung.
„Sind das die Zwei für heute?“, fragte Marek gebieterisch und würdigte sowohl Danica als auch Dragan keines Blickes.
„Jawohl, Kněz, sie sind für den Thronsaal und die Gästezimmer eingeteilt“, antwortete eine der Wachen pflichtbewusst.
Mareks Blick huschte über Danica und blieb für einen winzigen Augenblick an Dragan hängen. Ein Augenlied seines Freundes zuckte unmerklich. „Ich weiß. Sie sollen zuerst im Gästezimmer anfangen, der Boden hat es dort nötiger. Im Thronsaal hält der Fürst gerade Hof mit Würdenträgern und dem Bojarenrat.“
Die Wachen blickten sich unsicher an, nickten aber dann. „Wie Ihr befiehlt, Hauptmann.“
Sie schoben sich eilig an Marek vorbei, der die beiden Gefangenen dabei eindringlich musterte. Dragan musste an sich halten, nicht einen Dank zu murmeln, den sowohl Danica, als auch die Wachen gehört hätten. Wäre sein Freund nicht gekommen, würde er noch immer Wochen in diesem Kerker verbringen. Nun hatte er die Chance direkt unter der Nase Vakrims herumzuschnüffeln. Sein Blick wanderte zu Danica. Ob sie wohl heimlich für ihn arbeitete – so wie Tiana? Tat sie dies freiwillig? War das alles nur ein Trick? Dragan wusste es nicht, doch er vertraute ihr erstmal nicht. Selbst Marek war nicht einfach so zu trauen. Zu viel Zeit war vergangen. Dennoch hätte dieser die Tatsache, dass Vakrim gerade mit Würdenträgern und den Bojaren Hof hielt nicht erwähnen müssen – was ein wenig Hoffnung schafft. Er schmunzelte unter seinem Mundtuch und nahm sich vor, so schnell wie möglich mit den Gästezimmern fertig zu werden.


Kapitan dt.= Hauptmann
Kněz  Anrede dt. = Herr
Bojaren = Großgrundbesitzer | Niederer Adel

Curanthor:
Als Dragan mit Danica von den Wachen in eines der Gästezimmer geschoben wurde, bot sich ihnen ein Anblick eines Schlachtfelds. Die Einrichtung war bis auf das Bett in Trümmern, Holz- und Glassplitter lagen auf dem Boden verstreut. Doch am meisten fielen ihnen die zahlreichen Blutspritzer auf den dunklen Holzdielen auf. Von der großen, halb getrockneten Blutlache vor dem Bett gar nicht zu reden. Hier hatte offenbar ein heftiger Kampf stattgefunden, den jemand offensichtlich haushoch verloren hatte – eine lange Schleifspur aus der Blutlache heraus zur Tür deutete darauf hin. Eine vermummte Gestalt tauchte hinter Dragan und Danica auf. Die Wachen kontrollieren kurz die beiden Eimer, die Lappen und das Mundtuch der anderen Bediensteten. Sie hielt den Blick gesenkt, während Danica und Dragan sich einen fragenden Blick zuwarfen. Die Wachen bedeuteten ihnen die Sachen entgegenzunehmen und schlossen danach die Tür. Dragan blickte in den Eimer in seiner Hand. Es war ein kristallines, weiß-hellrotes Zeug, das er schon einmal gesehen hatte. 
„Salz“, murmelte Danica leise und hielt eine Kartoffel in der Hand, „Als Frau weiß man, wie Blut zu beseitigen ist.“
Ohne viel Federlesens nahm sie einen lädiert aussehenden Leinenlappen in die Hand und begann das frische Blut damit aufzuwischen. Dragan wunderte sich, dass sie gar keine Abscheu zeigte. Er vermutete, dass sie nicht zum ersten Mal menschliches Blut sah. Normale Menschen hätten schon beim ersten Anblick wieder kehrt gemacht, doch Danica schien sich nicht daran zu stören. Sie stopfte den blutigen Lappen in den Eimer Wasser und versuchte ihn so gut es ging zu säubern, dann wrang sie ihn aus und machte sich daran, mehr von der Blutlache zu entfernen. Dragan bemerkte, dass sie ihm hin und wieder missmutige Blicke zuwarf, woraufhin er sich in Bewegung setzte. Den Eimer mit Salz stellte er an die Seite und begann damit, die Scherben, Splitter, Holzstücke und andere Kleinteile, die unter seiner Sohle knirschten zusammenzufegen. Der Reisigbesen dafür hatte schon in einer Ecke gestanden. Er vermied es darüber nachzudenken, was in dem Raum geschehen sein könnte. Er kannte die Gemächer noch aus der Zeit, wo er in dem Fürstensitz gelebt hatte. Dies waren eigentlich die Gemächer der Bediensteten gewesen, genauer gesagt, die Zimmer der Küchenmägde. Einen Ort, den er eher selten besucht hatte, anders als sein Vater. Seine Hand umklammerte den Besen fester. Jemand tippte ihn auf die Schulter. Dragan fuhr herum. Danica stand genau vor ihm, ihre eisblauen Augen starrten ihn ungeduldig ab.
„Oleg“, sagte sie noch einmal und ihre Stimme schien kurz zu wanken. Verkniff sie da gerade ein Lachen? „Um das Blut kümmere ich mich. Stapel du die zerschlagenen Möbel in eine Ecke, jemand anderes wird sie fortschaffen, wenn wir hier fertig sind. Und lasse das Bett wie es ist…“ Dragan stutzte und wollte einen Schritt darauf zu gehen, doch ihre Hand schnellte vor und packte ihn wie einen Schraubstock am Unterarm. „Lass‘ es“, zischte sie plötzlich ernst.
Dragans Hand wurde taub, bis er schließlich nickte und sie ihn frei gab. Mit einem leisen Fluchen rieb er sich den Arm. „Du packst zu wie ein…“ Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, woraufhin er sich rasch räusperte, „Hrm, ich meine, du hast einen festen Griff. Beeindruckend.“
Danica warf ihm einen weiteren, abfälligen Blick zu und klatschte den nassen Lappen auf die blutigen Dielen. „Abstoßend. Sag‘ es doch gleich. Das denken alle Männer von mir, wenn sie mich sehen. Das macht mir nichts aus.“
Dragan, der gerade verstohlen das zerwühlte Bett musterte spürte, dass es ihr eben nicht ‚nichts ausmachte‘. Er kannte sie aber nicht gut genug, um es sicher zu wissen und zog es vor zu schweigen. Sie war ihm was Körperkraft betraf überlegen und das genügte ihm, um vorsichtig zu sein. Außerdem wusste er auch nicht, wo ihre Loyalität lag. Gleichzeitig musste er sich stark an sich halten, um sie nicht irgendwie zu veralbern oder irgendwelche Witze zu reißen. Es war anstrengend. Dragan atmete seufzend aus, als er einen zerschlagenen Stuhl zusammensuchte. Ein zerborstenes Holzbein erregte seine Aufmerksamkeit, das er halb unter dem Bett hervorfischte. Es war zersplitterte, als ob ein Riese es als Zahnstocher benutzt hatte.
„Passiert das hier öfters?“, fragte er seine Mitleidende und schwenkte das zerborstene Stuhlbein vielsagend umher.
Danica atmete entnervt auf, erhob sich und kam rasch auf ihn zu. Grob rupfte sie ihm das Holzbein aus der Hand und warf es auf den kleinen Haufen, den er bereits aufgeschichtet hatte. „Du stellst zu viele Fragen, Oleg.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich wieder ab und schrubbte mit einer Bürste und dem Salz das eingetrocknete Blut von den Dielen.
„Bitte, dann eben nicht, Frau Gorilla“, brummte Dragan. Etwas kam in seinem Augenwinkel angeflogen. Seine Hand schnappte das Geschoss aus der Luft, das ihn sonst am Kopf getroffen hätte. „Aber, aber, wer wird denn gleich gewalttätig“, tadelte er, mit der gefangene Bürste in der Hand wedelnd.
Danica erhob sich, ihr Blick schien ihn zu erdolchen. Ihre blasse Haut hatte eine rötliche Färbung angenommen, die Dragan dazu riet nicht zu weit zu gehen. Sein Blick wanderte zu ihren narbenüberzogenen, geballten Fäusten. Die Knöchel waren beinahe weiß. Er schluckte unmerklich. Danica kam gemächlichen Schrittes zu ihm herüber und erst jetzt hatte Dragan Gelegenheit sie genauer zu betrachten, denn das breite Kreuz und die trainierten Schultern waren nun bedrohlich angespannt. Sie stoppte zwei Schritt vor ihm und reckte herrisch eine Hand. Die andere blieb trotzdem geballt. Dragan verstand erst nicht, beeilte sich aber dann, ihr die Bürste zu reichen. Sie packte seine Hand zusammen mit dem Holzstück und drückte zu. Überrascht von dem plötzlichen Schmerz keuchte er leise, während Danica zischte: „Ich bin nicht zu solcher Art Scherze aufgelegt. Ist das klar?“
Dragan nickte und antwortete rasch: „Verstanden. Verzeiht, mein Fehler… auch wenn das eher davon kam, dass ich den Namen Oleg nicht sonderlich mag – und ich generell gerne Scherze.“
Danica ließ los und schien besänftig, denn ihre Haltung wurde wieder lockerer. Sie drehte ihm den Rücken zu und machte sich wieder an den blutigen Boden. Etwas verdutzt von dem plötzlichen Gesinnungswandel blinzelte Dragan mehrmals und schaute ihr einen Moment bei ihrer Arbeit zu. Sein Blick wanderte dabei unwillkürlich zu dem Bett. Seine Neugierde ließ nicht locker, doch er wollte nicht noch einmal mit ihr aneinander geraten. Es wäre wohl klüger, erst einmal die Arbeit hier soweit zu erledigen, dachte er sich und ließ dem Gedanken auch Taten folgen. Ohne weitere Zwischenfälle räumte er weiter das Zimmer auf, fegte Bruchstücke zusammen und schob unter Danicas scharfen Blick das Bett an seinem Platz. Sie hatte inzwischen den Boden soweit von dem meisten Blut befreit, auch wenn noch eine dunklere Färbung des Holzes darauf hindeutete, was hier geschehen war. Während ihrer Arbeit tauchten die Wachen in unregelmäßigen Abständen auf und kontrollierten, ob sie auch fleißig waren. Dragan vermutete, dass einer von ihnen durchgehend vor der Tür stand. Mehrmals hörten sie kurze Gespräche durch das Holz, die meist sehr knapp gehalten waren. Auf einmal hörte man sehr deutlich die Stiefelabsätze von jemand, der auf den Gang vor der Tür entlangschritt. Dragans geübtes Gehör erkannte es als eine Frau, die einen recht langen Schritt hatte, also wohl ziemlich lange Beine besaß. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Danica in der Bewegung erstarrte. Die dumpfen, regelmäßigen Schritte auf dem Dielenboden wurden langsamer, je näher sie der Türe kamen. Dragan blickte abwechselnd auf das Schloss und auf Danica. Offenbar wusste sie, wer dort auf dem Flur war, denn sie war zur Salzsäule erstarrt. Es war das erste Mal, dass Danica eine Schwäche zeigte. Furcht. Dragan schluckte unmerklich und blickte wieder hastig zur Tür. Die Schritte verstummten. Direkt vor dem Holz. Ein unangenehmes Kribbeln kroch ihm über den Rücken. Plötzlich kam ihm die Eichentüre so vor, wie dünnes Papier. Selten hatte er so etwas gespürt. Nur zu einer Zeit, in der er in der Welt der Schatten gelebt hatte. Ein Moment war er dennoch froh, dass dieses dünne Stück Holz zwischen ihm und dem, was auch immer auf dem Flur zwischen ihnen war. Dann ertönten wieder die Schritte auf dem Holz. Sie entfernten sich zügig. Dragan schüttelte sich, um das Kribbeln loszuwerden und atmete unmerklich aus. Danica gab ebenfalls ein hörbares Keuchen von sich.
Noch einmal blickte er zu Tür – um sicher zu gehen, dass die Person weitergegangen war, dann ging er zur Danica und fragte leise: „Du weißt, wer das war?“
Die Kriegerin blicke auf, dann zur geschlossenen Türe und schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nicht was es ist, aber ich bin dem Ding nur knapp entkommen.“ Sie schaute sich noch einmal um, so als ob noch wer im Raum sein könnte, „Als ich hier herkam, reiste ich mit einer Karawane. Wir machten Rast auf einer Seebrücke. Diese Schritte, der durchdringende Geruch von Blut und die Schreie der Sterbenden in der Nacht. Das werde ich nie vergessen…“ Danica schüttelte sich und blickte wieder zur Tür, „Es waren genau die gleichen Schritte. Da bin ich mir absolut sicher.“ Sie atmete tief aus, um sich zu beruhigen. „Vielleicht ist es ein Nachtmahr.“
Dragan runzelte die Stirn. „Heißt es nicht, dass ein Nachtmahr die Gestalt wechseln könnte?“
Danica zuckte mit den Schultern und wollte etwas darauf erwidern, doch Stimmen vor der Tür ließen sie beide aufspringen. Dann würde die Eichentür aufgezogen und ein untergesetzter Mann trat herein, auch wenn seine stämmige Statur eher von seinem hohen Gewicht kam. Er hatte kleine, wässrige Augen, unter denen dunkle Ränder lagen. Er trug einen schmutzigen rostbraunen Bart und fettige, schulterlange Haare. Dragan kam ihn vor wie ein fetter, scheinheiliger Schmierendarsteller.
„Sind sie das?“, fragte der fremde Mann, dessen Körper in einem zu kleinem Wamst steckte. Ein Gürtel unter gehöriger Spannung hielt die weite Hose oben. Dessen Stimme war irgendwie zu hoch und quakte misstönend.  Eine Wache stand ebenfalls in der Tür – das kantige Gesicht zu einer stählerneren Grimasse verzerrt. Irgendwo zwischen der Beherrschung nicht amüsiert zu wirken und Abscheu.  Der Wachmann bestätigte knapp und nannte den Kerl „Herrn Branko“. Diesem gefiel das ganz und gar nicht, denn er wandte sich der Wache zu und forderte diese auf, ihn bei seinem Bojaren-Titel zu nennen.  Dragan blickte flüchtig zu Danica, die den dicken Bojaren mit offenem Hass entgegenstarrte. Er rückte etwas näher an sie heran, den Bojaren immer noch im Blick. Dragan musste sich hüten, nicht angewidert den Kopf zu schütteln. Zu den Zeiten seines Vaters hätte es niemals so fette und offensichtlich arbeitsunwillige Bojaren gegeben. Offenbar verschenkte Vakrim nun Adelstitel, um sich beim Volk beliebter zu machen, mutmaßte Dragan im Gedanken und verfolgte die Diskussion, die sich plötzlich um sie beide drehte, als Bojar Brankos wurstige Finger auf Danica deutete. Angestachelt von Mareks Worten – endlich nicht nur an sich selbst zu denken, wollte er einen Schritt vor die Kriegerin machen, doch sie hielt ihn zurück. Er schnaubte kaum hörbar und zischte: „Also gut, selber schuld.“
„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, giftete sie wispernd zurück.
„Die da“, verkündete Branko nun laut und gebieterisch, „Nehme ich jetzt mit in mein Gemach.“
„Der Hauptmann - “, wollte die Wache entgegnen, doch Branko unterbrach ihn rasch: „Siehst du ihn hier irgendwo? Soweit ich weiß, ist Hauptmann Marek nach Velgorod unterwegs und wird erst in zwei Tagen zurückkehren.“ Der Bojar leckte sich anzüglich über die Lippen, „Und was er nicht weiß…“
„Sie wird Ihnen vorher die Nase brechen“, hielt die Wache dagegen und sprach beim aufkommenden Prostest des Bojaren lauter, aber deutlich unwillig weiter, „Es hat fast fünf Männer gebraucht sie zu fangen. Zwei können noch immer nicht richtig laufen.“
Doch Branko schien das nur noch weiter zu reizen, denn er blickte Danica fasziniert in einem neuen Licht an und murmelte: „Vielleicht kann ich dafür meinen Gefallen bei Fürst Vakrim einfordern…“
Ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, ertönte ein Ruf aus dem Flur. Etwas von einer Versammlung. Der Bojar fluchte laut und trat gegen den Türrahmen, nur um leicht humpelnd davonzustürmen. Der Wachmann atmete hörbar auf und murmelte: „Verdammter Idiot, ich hoffe er erstickt bei seinem nächsten Mahl.“ Er blickte sie beide noch einmal an abschätzend an und sagte dann: „Geht hier nach euch was in der Küche zu essen holen. Da dürfte noch etwas vom Mittagsmahl über sein. Kommt danach zum Gästezimmer nebenan. Ihr habt eine Stunde, nicht mehr.“
Die Tür fiel ins Schloss. Dragan sah aus dem Augenwinkel, wie Danica ein spitz zulaufendes Stück Holz sinken ließ. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie da ran gekommen war. Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu und warf das Stück auf den Haufen zerbrochener Möbel, während sie zu dem Eimer mit dem Salz ging. Im Vorbeigesehen sagte sie ihm leise, dass sie schon Erfahrung mit solchen Situationen hatte und keine Hilfe nötig hätte. Sie verteilte das Salz auf den Dielen, den Blutspuren entlang. „Trotzdem danke“, murmelte sie fast kaum hörbar nach einigen Augenblicken. Es ging fast unter dem Scharren des Eimers auf dem Holz unter, sodass Dragan fast nachgefragt hätte. Er brummte nur zustimmend und kratzte sich verlegen am Kinn. Warum er ihr hatte helfen wollen, war ihm selber noch nicht ganz klar. Ihn störte es einfach, wenn Frauen so behandelt wurden, redete er sich selbst ein. Damit konnte er fürs Erste ganz gut leben. Sie räumten die letzten Reste zusammen, wischten das restliche Blut auf, dabei redeten sie wie zuvor kein Wort. Dennoch fiel Dragan auf, dass Danica ihn ab und an beobachtete, wenn sie glaubte, dass er nicht hinsah. Nach einigen hin und her ging ihm auf, dass er ebenfalls hinsah, wenn sie nicht schaute. Er schüttelte den Kopf und packte den schweren Schrank, der an der Wand neben der Tür zur Seite gekippt war. Mit aller Kraft stemmte er den schweren Eichenschrank wieder aufrecht, doch war das Teil verflucht schwer. Plötzlich ging es leichter und der Schrank landete polternd an seinem Platz. Danica stand ihm gegenüber und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine blonde Strähne rutschte unter dem Ledertuch hervor, das ihre Haare bedeckte. Ihre hellblauen Augen musterten ihn, dann schob sie eilig die Strähne wieder unter das Tuch.  „Sowas macht man besser zusammen“, murmelte sie kaum hörbar und nickte zum Schrank, „Sonst verhebt man sich leicht.“
„Du hast Recht, ich wollte nur fertig werden“, stimmte er ihr zu und änderte rasch das Thema, „Mein Magen knurrt schon.“
Danica antwortete nicht, sondern starrte ihm unvermindert in die Augen. Etwas unangenehm berührt räusperte sich Dragan. Sie blinzelte und machte eine entschuldigende Geste, während sie etwas auf Abstand ging. „Oh, ich … es ist nichts.“
„Ah“, machte Dragan, „Meine Augen“, stellte er fest. Ein leidliches Thema, auf das er schon oft angesprochen wurde. Sonderling, hatte man ihn genannt, manchmal auch Bastard oder Hexer, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Danica nickte ziemlich verzögert - offenbar tief im Gedanken und schien nicht recht zu wissen, ob sie sich entschuldigen oder ihre Neugierde stillen sollte. Dragan nahm ihr die Entscheidung ab und drängte darauf, endlich etwas zu essen. Das schien Danica aus ihrer Starre zu wecken und sie stimmte mit hörbarer Motivation zu. In Begleitung mit einer Wache, die vor der Küche warteten würde, begaben sie sich in den Teil des Fürstensitz, der von den Bediensteten bewohnt wurde.
 

Curanthor:
Die Küche war verlassen, als Dragan mit Danica die doppelflügelige Tür öffnete. Ein Wachmann räusperte sich und drängte sich ungehalten an ihnen vorbei. Er setzte sich an den langen Tisch links von der Tür, zog ein Stück Holz und begann daran mit einem kleinen Messer zu schnitzen. Der Duft von einem kräftigen Eintopf lag in der warmen, rauchigen Luft. Auf der Anrichte stand ein großer Topf, aus dem es noch dampfte. Über den Feuerstellen, wo es noch glühte, hingen mehrere kleinere Töpfe. Eine Köchin kam aus einem der angrenzenden Räume, einer der Gesellschaftsräume, wie Dragan aus seiner Erinnerung wusste. Die etwas stämmige Frau warf ihnen nur einen flüchtigen Blick zu. Die Küche maß dreißig mal vierzig Schritt und bot genug Platz, um die Mahlzeiten sämtlicher Bewohner der Fürstensitz zuzubereiten. Zwei Mägde eilten der Köchin hinterher und stockten kurz, als sie die zwei vermummten Arbeiter in Gesellschaft einer Wache sahen. Die stämmige Köchin fauchte eine leise Aufforderung und die drei Frauen begaben sich gemeinsam an die Feuerstellen. Dragan nahm sich etwas Eintopf, Danica musterte den Inhalt des Topfes erst misstrauisch, füllte sich aber dann auch ihre hölzerne Schale. Sie setzten sich am anderen Ende der Tafel, sodass sie außer Hörweite der Wache war, die ihnen hin und wieder gelangweilte Kontrollblicke zuwarf. Eine Magd legte ihnen Löffel auf den Tisch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Dragan musterte sie flüchtig, doch er erkannte sie nicht. Sein Blick blieb an Danica hängen, die neben ihm saß und halb ihm halb den Rücken zugedreht hatte. Sie aß gekonnt mit dem Tuch im Gesicht, doch hatte sie sich genauso postiert, dass er keinen Blick auf ihr Kinn oder Wangen erhaschen konnte. Etwas enttäuscht wandte er sich seiner eigenen Schüssel zu. Es war schwieriger als gedacht mit dem blöden Leintuch im Gesicht. Zweimal hatte er den Löffel in die Schüssel fallen lassen müssen, um zu verhindern, dass seine Mahlzeit zur Hälfte in dem Tuch landete. Wenigstens war der Kartoffeleintopf mit ausgelassenem Speck genießbar. Im Gegensatz zu der abscheulichen Brotsuppe war dies ein Festmahl.
Als sie beide fertig gegessen hatten, sammelte eine der Mägde die Schüsseln und Löffel ein. Es war die andere der beiden, doch auch sie würdigte sie keines Blickes. Dragan fragte sich indessen, warum Danica neben ihm saß, wo doch der zweite Tisch auf der anderen Seite der Küche leer war.
„Warum seid Ihr eigentlich hier?“, ertönte ihre Stimme, die sie zum einem Flüstern gesenkt hatte.
Dragan schaute sich kurz um, die Mägde kochten an der Feuerstelle, der Wachmann schnitzte gähnend an einem Stück Holz. Er lehnte sich etwas zu ihr herüber: „Ich denke, das wisst Ihr schon.“
Danica schwang ihr Bein über die Bank und wandte sich ihm zu: „Was soll das bedeuten?“ Ihre eisblauen Augen funkelten gereizt.
„Nun, dass Vakrim sicherlich Spaß hat, wenn er Euch in meiner Nähe platziert und Ihr mir vorgaukelt, wir hätten etwas gemeinsam. Aber ich bin kein Narr. Keine Sorge, so langsam bin ich es gewöhnt, verraten zu werden – es wird nicht überraschend kommen.“ Er ballte unwillkürlich eine Hand zur Faust. Sein Vater hatte ihn damals verraten – in mehrfacher Hinsicht. Die Sache mit Cheydan würde er ihm niemals vergeben. Dann erst kürzlich mit Tiana und dem Zirkel, oder was auch immer das für ein Schauspiel gewesen war.
Ihre Augen verengten sich indessen, ein leises Schnauben war zu hören. „Das glaubt Ihr also?“
Dragan schnaubte ebenfalls. „Etwas schwach, als Rechtfertigung zu dem Vorwurf mich verraten zu wollen.“
„Ihr seid paranoid“, befand Danica kopfschüttelnd und blickte kurz zur Wache, „Und dumm.“
Er beugte sich etwas vor und näherte sich ihrem vermummten Gesicht. „Ach? Bin ich das? Und was ist mit Euch? Ihr seid ebenfalls hier gefangen und schuftet für Eure Kerkermeister für etwas Komfort, genau wie ich. Also wärt Ihr mindestens genauso dumm.“
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, dann zischte sie, dass er keine Ahnung von ihr, oder was sie durchgemacht hatte. „Also maßt Euch nicht an über mich zu urteilen.“
Dragan lachte leise abfällig und ging wieder auf Abstand, da die Wache ihnen aufmerksame Blicke zuwarf. „Ist das jetzt ein Wettbewerb, wer es schwerer hatte? Was kümmert mich es, was Ihr alles erlebt habt? Einen Dreck.“ Er zog rasch eine Hand an seinen Körper, nach der Danica gerade schlug. „Jeder hat seine Last zu tragen, egal wie sehr sie nach der Scheiße stinkt, die man erlebt hat“, sagte er dabei und schüttelte den Kopf, „Ihr wisst doch genauso wenig über mich. Und als Tochter eines Bojaren hat man auch als Gefangene nicht viel zu befürchten – anders als bei mir.“
Danica zog ihre ausgetreckte, flache Hand zurück und stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. „Eure Wortwahl ist genauso mangelhaft wie Euer Umgang mit Frauen.“ Sie schien kurz eine Grimasse zu ziehen und sagte dann verträglicher: „Trotz der fäkalen Metapher, habt Ihr Recht. Ich weiß genauso wenig über Euch, wie Ihr über mich und jeder hat seine eigene Last zu stemmen.“
Überrascht von dem plötzlichen Wechsel ihrer Wortwahl und Art zu sprechen blickte er sie eine Weile an. Man könnte es sogar als versteckte Entschuldigung verstehen, aber dafür kannte er Danica nicht gut genug.
Sie schauten schweigend den Mägden bei der Arbeit zu, dann fragte sie leise: „ Wie habt Ihr das gemeint, dass ich als Bojarentochter nicht viel zu befürchten habe?“
Dragan wandte ihr halb den Kopf wieder zu, doch sie schaute weiterhin den Mägden bei der Arbeit zu. „Nun, die Bojaren haben in Govedalend schon immer viel Einfluss gehabt. Da sie am meisten Land besitzen, stellen sie einen Großteil der Soldaten und deren Verpflegung. Und man verscherzt es nicht mit einem Bojaren, der sonst vielleicht nur die Hälfte an Regimentern schickt, oder mal vergisst die Handelswege in andere Provinzen zu sichern. Oder er verweigert die Kornlieferungen in die Städte vor dem Winter.“ Er stoppte und atmete tief durch. Eigentlich hatte er das Wissen nicht mehr gebrauchen wollen, das ihm sein Vater eingebläut und dutzende Lehrer ihm in stundenlangen Vorträgen vorgekaut hatte. Dragan wollte weitersprechen, stockte aber dann, als ihm auffiel, dass Danica durchgehend neugierig genickt hatte. „Warum habe ich den Eindruck, dass das etwas Neues für Euch ist?“
Sie zögerte und gab dann ein kurzes, abwertendes Lachen von sich. „Was? Nein, das wusste ich schon. Ich meinte nur, dass Ihr ja gehört habt, was die eine Wache in der Zelle versucht hatte.“
Dragan hob skeptisch eine Braue und murmelte, dass das nicht gerade half Vertrauen aufzubauen. „Und ich bin mir mittlerweile nicht sicher, ob Ihr überhaupt Hilfe nötig hattet, so wie Ihr gebaut seid.“ Danica wollte offenbar empört etwas erwidern, doch Dragan war schneller und sagte rasch, dass er es gut fand. „Ihr könntet Euch verteidigen, da bin ich mir sicher. Ihr zeigt keine Angst oder Einschüchterung gegenüber den Wachen und das was ich von Euch sehen konnte, war beeindruckend muskulös.“ Dragan hatte das eher nur gesagt, um sie aus der Fassung zu bringen, was auch funktionierte.
Danicas Gesicht, das nicht von dem Tuch verdeckt wurde, nahm eine leicht rötliche Färbung an. Sie tippte grob mit einem Finger gegen seine Brust. „Wenn ich auch nur ein weiteres Wort darüber jemals aus deinem, oder irgendeinen anderen Mund höre, dann Gnade dir wer auch immer. Dann mach‘ ich dich fertig.“ Sie funkelte ihn noch einige Augenblicke nachdrücklich an, ließ dann aber von ihm ab. Dragan rieb sich seinen schmerzenden Brustkorb. Ihr Finger war fast wie ein Nagel gewesen, doch das war es wert gewesen. Danica hatte ihren govedalischen Akszent der Allgemeinsprache bei ihrer Drohung abgelegt und somit seinen Verdacht bestätigt.
„Ihr seid nicht von hier, oder?“, konfrontierte er sie damit. Die Reaktion war, dass sie verblüfft ihre Augen aufriss, ihre Hände ruckten hoch zu seinem Hals, bereit ihm den Kehlkopf zu zerquetschen. Sie beherrschte sich im letzten Moment mit Blick auf den Wachmann und beschränkte sich damit, ihm heftig gegen die Schulter zu boxen.
„Mein Unwissen über die Bojaren hat mich verraten oder?“, fragte sie leise und gab einen ziemlich vulgären Fluch von sich, „Und ich hatte mir vorgenommen gehabt, nicht darüber zu reden, um sowas zu vermeiden… verflucht!“
Dragan konnte ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken, das sie aber zum Glück nicht sehen konnte. Sonst hätte er sich eine Tracht Prügel eingefangen, da war er sich ziemlich sicher. Er räusperte sich leise und antwortete wahrheitsgemäß: „Ihr habt Euch zu gewählt ausgedrückt. Metapher? Im niederen Adel?“ Er schüttelte den Kopf, „Solche Wörter benutzen nur Gelehrte.“
Sie nickte langsam und verstand. „Und das hat Euer Misstrauen geweckt. Deswegen habt ihr mich gereizt und darauf gesetzt, dass ich dabei unvorsichtig werde und einen Fehler mache.“
„Der govedalische Akzent ist schwer aufrechtzuerhalten, wenn man nicht mit ihm aufgewachsen ist – vor allem wenn man emotional wird“, nickte Dragan, „Und Ihr betont die Kehllaute manchmal nicht ausreichend genug, aber das ist mir am Anfang auch nicht aufgefallen.“
Danica wirkte mit dem letzten Satz etwas besänftigter, auch wenn nach wie vor die Fäuste geballt waren. Dragan versicherte ihr, dass er darüber schweigen würde. „Wenn Ihr mir verratet, woher Ihr kommt.“
Sie vermied seinen Blick und schien zu überlegen. Schließlich seufzte Danica tief, dann sie sagte leise, dass sie eigentlich jeden tötete, der ihre Deckung durchschaute. Sie blickte ihm in die Augen. Ihr Blick war hart wie Stahl und Dragan war sich sicher, dass sie schon Leben genommen hatte. „Dann verratet Ihr mir, warum Ihr eingesperrt wurdet“, bot sie einen Handel an.
Dragan war sich nicht sicher, ob sie ihr Wort hielt, nickte aber dann und sagte knapp: „Durch Verrat. Vakrim hat ein besonderes Interesse an mir.“
Danica legte fragend den Kopf schief und beschwerte sich, dass das keine richtige Antwort war und mehr Fragen aufwarf. Auf sein Achselzucken hin, sagte sie knapp, dass sie aus dem Osten kam, jenseits der Weite. Fast war er sich sicher, dass sie dabei ein gemeines Grinsen im Gesicht trug und beließ es dabei. Offenbar vertrauten sie sich beide noch nicht genug für mehr.
„Genug mit Euren Getändel! Da wird einem ja schlecht“, unterbrach die tiefe Stimme des Wachmannes die kurze Stille zwischen ihnen, „Die Stunde ist rum. Marsch in den Thronsaal. Der Fürst will euch beide sehen.“
Danica warf Dragan einen alarmierten Blick zu. Ihre Augen huschten über die mit hauchdünnen Holzstreifen bedeckte Rüstung der Wache und blieb an seinem Waffengürtel hängen, am dem Schwert und Dolch befestigt waren. Dragan schüttelte unmerklich den Kopf. Die Wache bemerkte ihren Blick und fragte blaffend, was es da zu glotzen gab. Sie erwiderte gelassen, dass er sich vielleicht abklopfen wollte, bevor er sie zum Fürsten brachte. Der Mann zischte leise und scheuchte sie von der Bank und hinaus aus der Küche. Dragans Schulterblick verriet ihm, dass die Wache sich hastig die Reste seiner Schnitzarbeit von seiner Kleidung klopfte. Vor den Türen tauschte er einen vielsagenden Blick mit Danica. Sie kamen stumm darüber ein, dass niemand etwas unnötiges über den anderen sagte. In ihm brannte die Frage, wie sie sich als Bojarentochter ausgeben konnte und es nicht aufflog, doch musste er sich gedulden. Es gab noch viele ungeklärte Dinge, doch der Weg zu Vakrims Saal war gepflastert von bösartigen Blicken von Bediensteten, dass er sich immer wieder wunderte, warum man sie so behandelte. Er hoffte, dass es die Unzufriedenen waren, die den momentanen Fürsten und Leute, die für ihn arbeiteten verabscheuten.

Nach einigen Momenten waren sie vor der inzwischen reparierten Tor des Thronsaals des Fürsten. Die Wache klopfte, wartete bis eine Bestätigung ertönte und öffnete. Dragan und Danica wurden wie gehabt vor die Stufen des Throns geführt. Vakrim saß weiter hinten auf der Empore an einem Tisch und blätterte durch einige Pergamente. Ein gefülltes Glas Wein und eine große Kristallkaraffe standen ebenfalls darauf. Dragan versteifte sich. Zu Vakrims Rechten saß Tiana! Sie las ihm gerade eine Auflistung der eingezogenen Soldaten aus einer Provinz vor. Der Wachmann trat vor und räusperte sich laut, obwohl es offensichtlich war, dass man sie bereits bemerkt hatte. Vakrim trank einen Schluck aus seinem Weinglas und hob die Hand. Tianas Stimme verstummte. Sie bickte auf und musterte die Neuankömmlinge. Ihr Blick glitt teilnahmslos über Dragan, der hoffte eine Spur von Reue, Erkennen oder zumindest Abscheu darin zu erkennen. Doch da war gar nichts. Er musste an sich halten. Sein Herz raste, das Blut rauschte in seinen Ohren.
„Sind das die Neuen?“, fragte Vakrim schließlich gelangweilt und  stützte seinen Kopf mit einem Arm auf den Tisch, „Verfluchte Bojaren… Immer fordern und fordern, aber durchsetzen muss ich es.“
„Mein Herr“, sagte Tiana leise – fast schon in einem mahnenden Tonfall und wandte sich lauter an den Wachmann: „Wie kommt es, dass Ihr alleine seid? Wo sind die anderen Wachen?“
Der Mann erwiderte knapp, dass die Gefangenen keine Anstalten gemacht hatten zu fliehen und deswegen nur einer zur Beobachtung dabei sein musste, wenn sie draußen waren. Das schein Tiana zu genügen, denn sie wechselten das Thema: „Also, wie war die erste Schicht bisher?“
„Ausgezeichnet“, antwortete die Wache zu ihrer beider Überraschung, „Oleg und Danica haben gewissenhaft gearbeitet und das Gästezimmer ohne Beanstandung wieder hergerichtet.“
Vakrim gab ein unterdrücktes Prusten von sich und senkte sein Weinglas. Tiana reagierte sofort und tupfte ihm den Wein vom Kinn. Feixend musterte der Fürst die beiden Gefangenen. „Interessante Namen. Nun, selbst ich weiß nicht, wer sich hinter der Maskerade versteckt.“ Er zuckte mit den Schultern, „Wenn es nach mir ginge, ist das unnötig aber es hält die Bojaren still. Sie sind der Meinung, dass man seine Strafe abarbeiten muss. So viele Kerker haben wir nicht.“ Er schnaubte, „Unfähige Idioten. Dann baut man eben Neue… aber ich schweife ab. Wo war ich?“ Tiana wisperte ihm etwas in das Ohr.
„Starr‘ sie nicht so mörderisch an“, zischte Danica leise neben Dragan hastig, „Bleib ruhig.“
Er atmete tief durch. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er seinen ganzen Körper angespannt hatte und bereit war die Stufen hinaufzustürmen, die Karaffe in Vakrims Gesicht zu werfen und ihm mit den Splittern den Hals durchzuschneiden. Dann würde er Tiana ihrer gerechten Strafe zukommen lassen. Lange und blutig. Dragan atmete mehrfach aus, während seine ehemalige Weggefährtin unvermindert in das Ohr Vakrims flüsterte.
Schließlich räusperte sich der Fürst großspurig und verkündete aufgeplustert: „In Anerkennung für eure harte Arbeit, werdet ihr nicht mehr in die Kerkerzellen zurückkehren müssen. Ich, Vakrims Castav wandle Kraft meines Amtes als Herrscher von Govedalend unter seiner Gnaden König Goran, eure Kerkerstrafe in strengen Hausarrest im Dienste der Fürstenkrone um.“
Dragan brauchte einen Moment um die Worte Vakrims zu verdauen – sie waren viel zu umständlich und hochtrabend formuliert. Ein Mundwinkel des Fürsten zuckte. Bevor einer von ihnen etwas sagen, oder zu lange darüber nachdenken konnte, setzte Vakrim nach: „Ich hoffe, ihr werdet Gefallen an dem Zimmer finden. Tiana, zeige es ihnen und erkläre die Regeln.“
Die Verräterin erhob sich sogleich aus ihrem bequemen Stuhl und verneigte sich. „Natürlich, wie Ihr wünscht.“ Sie strich sich ihre Haarsträhne aus dem Gesicht und stieg von dem Podest hinab, „Folgt mir.“ Erneut würdigte sie Dragan keines Blickes. Wie auch, ging es ihm plötzlich auf, selbst Vakrim erkannte ihn nicht. Auf dem Weg erklärte Tiana ihnen die Regeln. Sie mussten sich angeblich ein Zimmer teilen, weil die Bojaren und anderen Würdenträger noch am Fürstenhof weilten. Dragan vermutete eher, dass Vakrim diese Art von Scherzen amüsant fand. Sie schwadronierte weiter und  widerholte in etwa die Regeln, die sie schon kannten, allerdings mit der Erweiterung, auch wenn sie unter sich waren die Gesichter zu verbergen. Danica warf säuerlich an, dass man das nicht kontrollieren konnte. Tiana gab ein falsches Lachen von sich und sagte, dass die Wachen, die ihre Gesichter schon kannten das kontrollieren würden und in den Knoten ein Band einknoteten. Wenn man den Knoten öffnete, konnten nur die Wachen ihn wieder knoten. „Es klingt simpel und einfach zu umgehen, das ist es aber nicht, „mahnte die Verräterin streng, „Die Wachen kennen als einige diese Art zu knoten. Öffnet man ohne Erlaubnis diesen, muss man dann einen Helm tragen, der von einem Schmied verschlossen wird. Nur so können wir die Gesichter unserer Gefangenen schützen.“
Dragan hatte selten Helme getragen, doch wusste er, dass die Dinger verflucht schwer sein konnten. Tag und Nacht gegen seinen Willen so ein Ding zu tragen, konnte schon als Folter verstanden werden. Danica hatte inzwischen die Frage gestellt, warum man so einen Aufwand betrieb die Gesichter zu verbergen.
Tiana stoppte kurz im Korridor und schaute sich um. „Es gibt viele Verschwörungen am Hof“, sagte sie leise und Dragan war sich fast sicher, dass sie schauspielerte, „Und besonders Fehlgeleitete, die Herrn Vakrims Anspruch auf die Fürstenkrone nicht anerkennen. Sie hassen jeden, der in seinen Dienst steht. Besonders Gefangene, die für ihn arbeiten – da sie vermuten, dass sie sie verraten haben, oder es tun werden.“
So wie du mich verraten hast, schrie Dragan im Gedanken. Danicas Stimme brachte ihn wieder zu Gesinnung: „Schöne Geschichte. Sagt doch einfach, dass Ihr die Gefangenen versucht auf Eure Seite zu ziehen, mit Zuckerbrot und Peitsche.“
Tianas bisher gleichgültige Züge nahmen einen düsteren, fast schon niedergeschlagenen Ausdruck an. Es war das erste Mal, dass sie eine so starke Gefühlsregung zeigte. „Führt sie zu ihrem Zimmer“, befahl sie der Wache knapp und wandte sich abrupt auf den Hacken ab.
„Na großartig“, murmelte Dragan und wusste jetzt gar nicht mehr, was er von ihr halten sollte. Hatte sie ihn wirklich verraten? Hatte sie den gesamten Zirkel auffliegen lassen? Wofür? Was sollte das Gesicht gerade? Was war mit Ukko, Nerassa und vor allem Kenshin? Fragen über Fragen, auf die er sich keinen Reim machen konnte. Sein Blick huschte zu Danica, die ebenfalls ein Mysterium war. Was wollte sie hier? Woher kam sie? Ihr Blick traf den seinen. Rasch schaute sie nach vorn. Dragan schnaubte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Gefühl riet ihm aber, dass sich die drängendsten Fragen sehr bald beantworten würden. Sie stoppten vor einer unscheinbaren Eichentüre.
„Wir sind da“, sagte der Wachmann und zog ein Stück Kordel aus einem Beutel an seinem Gürtel, „Oleg, du kommst kurz mit. Danica, du wartest hier. Eine deiner Wachen kommt gleich.“ Der Mann zog einen großen Ring mit Schlüsseln hervor und fand nach einigen Versuchen den Richtigen. Er schloss auf und schob Dragan durch die Tür. Es war ein relativ geräumiges Zimmer ohne Fenster. Eine kleine Feuerstelle mit Rauchabzug war in einer Ecke gebaut. Rechts und links von der Tür stand jeweils ein simples Bett. Eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Wand erregte seine Aufmerksamkeit.
„Wohin geht’s da?“, fragte Dragan, während der Mann sein Mundtuch neu verknotete.
„Ein Waschraum, da gibt es eine Waschschüssel und sogar einen Holzbottich. Das Wasser müsst ihr euch aber selber holen. Oh, und natürlich eine Ecke als Abort, den ihr ebenfalls selbst sauber machen müsst.“
Dragan brummte, dass er verstanden hatte. Der Wachmann klopfte ihm auf die Schulter und sagte, dass er fertig war. „Kapitan Marek lässt ausrichten, dass er einen Verbündeten holt. Einen Markis. Solltet Ihr eines der Ziele vorher finden – ihr wisst welche, dann zögert nicht.“
Er fuhr herum, doch der Wachmann war bereits vor die Tür getreten. Danica stand vor ihm und blickte sich aufmerksam in dem Zimmer um. Sie ging an ihm vorüber und schaute in den angrenzenden Waschraum. Dragan konnte sehen, dass auch sie bereits eine Kordel in ihrem Knoten im Mundtuch hatte. Der Knoten sah tatsächlich ziemlich kompliziert aus, doch es kümmerte ihn nicht großartig. Er muss nicht ihr Gesicht sehen, so neugierig war er auch wieder nicht. Es besteht noch immer die Möglichkeit, dass sie ein falsches Spiel spielt, dachte er sich, während Danica das Bett von der Tür aus rechts in Beschlag nahm. Dragan hatte das erwartet, so musste er in dem Bett schlafen, auf das man direkt blickte, wenn man das Zimmer betrat. Danica wirkte zufrieden und verkündete, dass sie etwas Wasser holen ging, um sich zu waschen. „Das solltet Ihr auch mal versuchen, wenn Ihr nicht im Waschraum schlafen wollt“, verkündete sie, als sie mit einem großen Eimer in der Hand an ihm vorbeiging, „Und dass Ihr Eure Finger bei Euch lasst liegt auf der Hand, sonst breche ich sie.“
Ohne dass Dragan etwas antworten konnte, fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss. Er schüttelte nur den Kopf und machte sich daran ein kleines Feuer in der Feuerstelle zu entzünden. Immerhin war er nun im Fürstensitz. Die Anlage war zwar riesig, aber es war besser als in einer Zelle zu sitzen, selbst wenn er hin und wieder die Visage von Vakrim ertragen musste. Und er konnte wirksamer herumschnüffeln - genau im Herzen der Schlangengrube und unter der Nase sämtlicher Würdenträger. Nach und nach hatte er sich selbst überzeugt, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, dennoch vertraute er noch niemanden, den er bisher getroffen hatte.

Markis russisch,wörtl: Markgraf. Hoch angesehener Titel, direkt unterhalb des Fürsten angesiedelt.

Curanthor:

Der restliche Tag verlief ereignislos. Dragan langweilte sich in dem Zimmer, dass er sich mit Danica teilte, während er hörte, wie sie sich in dem Bottich ausgiebig wusch. Er hatte sich nach etwa einer Stunde auf das Bett gelegt, dessen Füllung nur aus Stroh bestand – so lange hat es fast gedauert, bis sie genug Wasser herangetragen hatte. Es war hart und unbequem, aber viel besser, als der nackte Boden der Kerkerzelle. Hier und da pickte ihn ein Strohhalm, doch das kam nur davon, dass es noch frisch war. Sein Blick suchte den Raum ab, auf der Suche nach irgendeiner Waffe. Ihm stand nicht der Sinn danach, noch Monate lang für Vakrim zu schuften und dafür wollte er bereit sein. Schon vorher hatte er sich gefragt, wo sie wohl seine Waffen und die gesamte Ausrüstung von ihm und seinen Gefährten lagerten. Sein Blick blieb unbewusst an der verschlossenen Tür hängen, hinter der Danica gerade ein Bad nahm. Er konnte sie schlecht einschätzen, aber ihre Geschichte über den Nachtmahr und die Angst, die sie zuvor gezeigt hatte, war ziemlich überzeugend gewesen. Ein lauteres Plätschern ließ ihn aufhorchen, rasch schaute er nach oben an die Decke. Die Türe öffnete sich und Danica trat eingewickelt in ein großes Tuch in den schmalen Raum. Mit knappen Worten sagte sie ihm, dass er jetzt baden könnte. Erst wollte er irgendwas antworten, doch kein Wort kam ihn über die Lippen. Die Aussicht auf ein Bad schnürte ihm den Hals zu, doch Danica verstand sein Zögern falsch. Sie war offensichtlich nicht mehrere Wochen ohne die Möglichkeit sich zu waschen eingesperrt gewesen.
„Keine Sorge, es ist nicht mein Monat“, fauchte sie und trat gegen den Bettpfosten, „Beweg‘ dich, du Bauer. Du hast es nötig, sonst kriege ich von dem Stechen in der Nase kein Auge zu.“
Dragan gab ein amüsiertes Prusten von sich und sprang vom Bett auf. Danica schüttelte den Kopf und wartete, bis er in dem Waschraum gegangen war und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Neben dem großen Bottich entdeckte er einen polierten Topf. Neugierig nahm er ihn und erst als er sein Spiegelbild vage erkannte, wusste er, warum er hier lag. Rasch entkleidete er sich und musterte seinen Körper. Er hatte etwas Gewicht verloren, die Muskeln traten deutlicher hervor. Seine Hand tastete über die breite, lange Narbe an seinem Hals, vom Ohr, bis zum Schlüsselbein.  Den brennenden Schmerz der glühenden Klinge würde er nie vergessen. Und den Gestank von verbranntem Fleisch. Dragan schüttelte sich und die aufkommenden dunklen Erinnerungen von sich, dann stieg er endlich in das erstaunlich lauwarme Wasser.

Das Bad war wohltuend und Dragan schrubbte sich ausführlich, bis seine Haut einen feuerroten Ton angenommen hatte. Als er fertig war, entleerte er den Bottich und zog sich widerwillig seine alten Kleider an. Gähnend warf er sich auf das harte Bett. Danica saß mit geschlossenen Augen und im Schneidersitz ebenfalls auf ihrem Bett. Dragan fragte, ob sie schon schlief, da es gerade erst Nachmittag. Sie zischte ungehalten und funkelte ihn kopfschüttelnd an. Einige Momente vergingen und Dragan wurde klar, dass es sinnlos war mit ihr zu sprechen. Stattdessen beobachtete er sie aufmerksam. Eine Tatsache, die sie offenbar spürte. Nach einigen Momenten atmete sie genervt aus und gab ihre Haltung auf. Danica lehnte sich an die Wand und nickte ihm zu: „Also, was willst du?“
Er lächelte und nickte zurück: „Das wollte ich dich fragen. Vielleicht kann ich dir helfen.“
Sie schnaubte und verschränkte ihre muskulösen, narbenbedeckten Arme: „Du? Sicher. Als Gefangener.“ Sie verdrehte die Augen, „Was soll‘s. Ich suche jemanden. Zufrieden?“
Dragan runzelte die Stirn und fragte, warum der plötzliche Gesinnungswechsel. Sie zuckte mit den Schultern und sagte, dass Vakrim irgendwas im Schilde führte und es besser wäre eine Absicherung zu haben, sollte sie sein Ziel sein.
Sie nickte zu seinem Gesicht: „Du solltest vorsichtiger sein mit deinen Augen. Sowas ist sehr selten und einfach wiederzuerkennen. Ich selbst kenne nur drei Menschen damit und ich bin sehr viel herumgekommen.“
Dragan verzog das Gesicht, so wie immer, wenn jemand seine Augen ansprach. „Keine Sorge, ich bin mir dessen sehr wohl bewusst. Deswegen lasse ich niemanden nahe an mich heran, halte mich im Schatten auf so oft es geht und vermeide Blickkontakte, falls es dir nicht aufgefallen ist.“
„Klingt wie ein Attentäter, aber ja, das habe ich gemerkt“, warf sie mit einem amüsierten Tonfall ein.
Eine kurze Stille trat ein, in der Dragan mit sich haderte. Niemand hatte bisher so direkt das Thema angesprochen. Es war eine schmerzhafte Angelegenheit. Danica spürte, dass sie einen Nerv getroffen hatte. In ihren Augen funkelte brennende Neugierde, doch sie schwieg vorsichtshalber. Dragan hatte Mühe seine widerkehrenden, mörderischen Impulse zu unterdrücken. Seine Hände hatten sich unbewusst an die Bettkante gekrallt, die er erst mühsam lösen musste.
Er atmete stattdessen aus und fragte eher plump: „Und wie kommt Ihr darauf, dass Vakrim etwas im Schilde führt?“
Danica bemerkte den Wechsel zur höflicheren Anrede und antwortete im gehobenen, govedalischen Akzent: „Ich war erst einige Tage im Kerker, aber kaum macht Ihr etwas Radau, setzt sich eine Kette von Ereignissen in Bewegung. Meint Ihr nicht, dass das etwas… unnatürlich wirkt?“
Er überlegte und musste zugeben, dass das plötzliche Auftauchen von Marek tatsächlich etwas merkwürdig erschien. Dragan musste seinen alten Freund wohl oder übel zur Rede stellen.  Wenn, dann war es ein sehr großer Zufall, dass er genau dann, wenn sich eine der Wachen an Danica vergreifen wollte in der Nähe war. Und wenn das alles kein Zufall war, hatten sie beide ein gewaltiges Problem. Dragan behielt den Gedanken für sich und kaute nachdenklich auf der Lippe. Ein kurzer Blick zu der Kriegerin verriet ihm, dass sie aber einen ähnlichen Gedanken hatte.
„Vielleicht sollten wir ihnen einen Strich durch die Rechnung machen“, sagte sie plötzlich und wollte von ihrem Bett aufstehen.
Dragan hielt sie eilig mit einer Geste zurück und setzte sich auf. „Wovon redet Ihr?“
Sie schaute kurz zur Tür und sagte, dass sie den Hauptmann – also Marek – noch nie gesehen hatte. „Ich bin mir sicher, dass Vakrim oder einer der Adligen irgendwas eingefädelt hat…“ Sie ballte die Fäuste, „Und ich lasse mich nicht gern als Werkzeug benutzen.“ Ihre blauen Augen fingen seinen Blick ein. „Vielleicht sollten wir tatsächlich einander helfen. Entweder machen wir damit genau das, was sie von uns wollen, oder etwas vollkommen Unerwartetes.“
Dragan hob skeptisch eine Braue und fragte, wie sie ihm helfen konnte. Sie wusste doch gar nicht, was er vorhatte, oder warum er hier überhaupt eingesperrt war.
„Ich habe Euren Blick gesehen“, erinnerte sie ihn, „Als Ihr diese Hu-…“ Danica räusperte sich hastig, „Dieses Weib an Vakrims Seite gesehen habt.“ Da er nicht antwortete, sprach sie es aus: „Sie hat Euch verraten.“
Dragan blickte sofort auf. Er wollte widersprechen, doch sein Mund öffnete sich und schloss sich. „Ich weiß es nicht“, murmelte er nach einer Weile. „Ihr habt Tiana gesehen, als Ihr gesagt habt, dass man die Gefangenen auf ihre Seite zieht. Vielleicht haben sie das Gleiche mit ihr gemacht?“
Danica schnaubte jedoch nur. „Ihr glaubt das, was ihr glauben wollt. Vielleicht hat sie Euch verraten und es tut ihr Leid, aber es ändert nichts an der Tatsache. Verrat bleibt Verrat. Verräter kann man nie wieder vertrauen. Niemals.“ Sie ballte ihre Fäuste und legte den Kopf in den Nacken.
Er spürte, dass sie aus leidlicher Erfahrung sprach, doch er konnte, oder wollte er Tiana nicht so einfach aufgeben: „Und wenn sie gezwungen wurde?“
„Bei den Göttern“, fluchte Danica und hieb gegen die hölzerne Wand, „Sagt was Ihr wollt! Redet es Euch ein! Aber seht es ein: Sie hat Euch verraten! Menschen könnten sterben wegen ihr – oder sind es schon! Ihr werdet ebenfalls sterben, solltet Ihr Euren Zweck erfüllt haben. Nur wegen ihr.“ Sie massierte sich ihre Hand, „Es gibt nur sehr wenig, das so etwas rechtfertigt.“
„Ihr habt Recht“, stimmte Dragan leise zu, „Meine Gefährten. Ich weiß nicht was mit ihnen ist und…“
„Gut“, unterbrach Danica ihn und klatschte in die Hände, „Endlich etwas, bei dem ich helfen kann.“
Er blinzelte verwirrt, woraufhin sie sagte, dass es vorhin ihr ernst war. „Und Ihr scheint Euch auszukennen. So wie Ihr Euch bewegt, kennt ihr diesen Fürstensitz wie Eure Rückhand.“
Ertappt senkte Dragan denk Blick. Sie hatte eine verflucht gute Beobachtungsgabe. „Also, wo müsst Ihr hin?“, hakte er nach, in der Hoffnung, endlich mehr aus ihr herauszubekommen.
Sie kratzte sich etwas verlegen an der Stirn und gab zu, dass sie in die geheimen Archive des Fürsten musste. Dort würde etwas sein, mit dem sie ihre Suche endlich ernsthaft beginnen konnte.
Dragan brach unvermittelt in schallendes Gelächter aus, sodass Danica erschrocken zusammenzuckte. Mit einem breiten Grinsen neigte er sich nach vorn. „Das ist verrückt! Und es klingt toll!“, er lachte noch einmal, „Etwas aus dem Archiv direkt unter Vakrims Arsch zu klauen klingt ganz nach meinem Geschmack.“ Er wurde wieder ernst. „Aber besagtes Archiv lagert in einer geheimen Schatzkammer irgendwo in dieser Stadt. Um da hinein zu kommen benötigen wir fünf Schlüssel, die der Fürst unter seinen loyalsten Getreuen verteilt hat – den sechsten trägt er stets bei sich. Immer noch Interesse?“
Danica lehnte sich ebenfalls nach vorn sagte in einem kämpferischen Tonfall, „Ich habe keine Furcht. Allerdings würden wir Hilfe benötigen, um besagte Getreuen aus dem Weg zu räumen.“
„Hmm, das würde das Fürstentum wahrscheinlich ziemlich destabilisieren“, überlegte er laut und fügte rasch hinzu, „Natürlich nur, wen wir Hilfe hätten. Und ich wüsste da schon ein paar – falls wir den Verräter unter ihnen finden.“
Danica erhob sich von ihrem Bett und streckte eine Hand aus. Dragan tat es ihr gleich und schlug ein. Sie hatte einen bärenstarken Griff und er konnte die dünnen Narben auf ihrer sonst weichen Haut spüren. Doch es hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn.
„Ich vertraue Euch dennoch nicht komplett“, sagte er und ihre blauen Augen blitzten dabei.
„Gleichfalls“, entgegnete Danica knapp. Ihre Hände lösten sich voneinander. „Also, wie gehen wir es an?“
Dragan setzte sich wieder auf seine Bettkante, sie tat es ihm gleich, sodass sie sich gegenüber saßen. Er schlug vor, zuerst in Erfahrung zu bringen, was mit seinen Gefährten geschehen ist. Nebenbei fragte er, ob sie ebenfalls in Begleitung gekommen war, was sie rasch verneinte. Dragan nickte knapp und erzählte ihr von dem einen Wachmann, mit dem er sprechen könnte. Die Kriegerin schien kurz zu überlegen und schlug vor, ihn gemeinsam zu überwältigen und zu verhören. Auf seinen abweisenden Blick hin fügte sie hinzu, dass sie nicht wissen konnten, ob gerade dieser eine Wachmann nicht ein Spion war, der ihre Pläne direkt weitergab. Den Einwand konnte Dragan schwerlich entkräften, auch wenn ihm nicht wohl dabei war. Immerhin zweifelte er damit direkt an Mareks Wort, der in zwei Tagen zurückkehrte. Trotzdem könnte sich sein Freund in den letzten Jahren verändert haben – vor allem der Krieg veränderte Leute. Einen Fakt, den auch Danica zu seiner Überraschung bestätige, als er laut überlegte.
„Ihr habt in einem Krieg gekämpft?“, fragte er überrascht.
„Mehr als ich an einer Hand abzählen kann“, bestätigte sie knapp und machte deutlich, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte.
Dragan wechselte rasch das Thema und beschrieb grob seine Gefährten, die sie retten mussten. Ukko und Nerassa sagten ihr gar nichts, bei Kenshin blickte sie interessiert auf, winkte dann aber ab. Schließlich beschrieb er ihr Weiß – den mysteriösen weißen Krieger, der sich ihnen in Tianas Taverne kurz vor Aufbruch angeschlossen hatte. Danicas Augen weiteten sich vor Staunen und Dragan verstummte.
„Unglaublich“, murmelte sie, „Du hast einen der Weißen Geister getroffen?“, fragte Danica interessiert und setzte sich kerzengerade auf, „Wie? Wann? Was wollte er?“
„Weiße Geister?“, widerholte Dragan verwirrt 
Danica schnalzte ungeduldig mit der Zunge. So aufgeregt hatte er sie noch nie erlebt. „Die mythischen Begründer der Ishantar. In Kushan bedeutet ish Sonne. Es heißt, sie beschützen eine heilige Flamme der Sonne, doch eines Tages verschwanden sie. Sie hatten sieben sterbliche Getreue als Zöglinge aufgenommen, jeder für einen der Weißen Geister“, erzählte sie hastig und machte eine kurze Pause, um seine Reaktion abzuwarten. Tatsächlich regte sich bei der Nennung der Ishantar etwas in seinem Gedächtnis. Und die zerstreuten Stücke, die er über den Zirkel erfahren hatte, ergaben endlich einen Sinn. Dragan schluckte unmerklich und bedeutete ihr weiterzusprechen.
Etwas enttäuscht von seiner milden Reaktion fuhr sie wieder ruhig und bedacht fort: „Als eines Tages die sieben Geister verschwanden, ging auch das Wissen um den Standort der heiligen Flamme verloren. Die Getreuen erinnerten sich aber an die Lehren, stets dem Wohl der Menschen zu dienen und ihnen ein Licht in der Dunkelheit zu sein. So gründeten sie Geheimbünde, um stets für das größere Wohl der Menschen zu kämpfen – suchten aber überall wo sie konnten nach Spuren ihrer verehrten Meister.“
Dragan verstand endlich, was die sieben Zirkel der Hoffnung für einen Hintergrund hatten. Also war Niwa Kenshin einer der Nachfahren der ersten sieben Getreuen der Geister. Nun war ihm auch klar, warum sein Vater ständig mit dem Zirkel zu tun haben wollte. Es ging ihm schon immer um Macht. Er ballte eine Faust und schnaubte leise. Das passte zu Ivailo, andere an der Nase herumführen und sich Einfluss zu verschaffen, wo er nur konnte. Da er nicht mehr Fürst war, wollte er sich offenbar mit dem Zirkel seine alte Position zurückholen. Natürlich nur zum Wohle des Volkes. Dragan hieb wütend mit der Faust auf sein Bett. Schon wieder benutzt und verraten worden vom eigenen Vater. Er hatte sie wie seine Schachfiguren herumgeschoben. Vielleicht hatte er auch den Falken auf sie gehetzt, um die Sache zu beschleunigen und sie aus Gortharia zu treiben. Dragans Gedanken begannen zu rasen.
„Ich bring‘ ihn um“, knurrte er wutentbrannt und mahlte mit den Zähnen, „Ich schwöre es, wenn ich ihn nochmal sehe, schneide ich ihm die Kehle durch.“
Danica blickte ihn überrascht an und fragte, wen er meinte. Dragan beruhigte sich mit Mühe und atmete langsam tief aus. Wahrscheinlich konnte er ihn sowieso nicht töten, wenn er die Möglichkeit dazu hätte und schüttelte nur den Kopf.
„Nicht so wichtig.“ Er wechselte rasch das Thema: „Mich wundert es eher, woher Ihr das wisst?“
Danica nahm eine abweisende Haltung an und sagte nur knapp, dass sie viel herumgereist war. „Im Osten habe ich gute Kontakte“ Auf seinen fragenden Blick hin seufzte sie, „Die Geschichte – dort eher ein mythenbehaftetes Märchen, ist jenseits der Weite gut bekannt. Also in den Mondlanden, Minzhu und selbst Kushan. Falls das Euch etwas sagt. “ Danica blickte sich in dem Zimmer um, „Hier hört man eher Geschichten von… Sauron und seiner göttlichen Macht und das bedenklich oft.“
 Dragan verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die Danica wohl nicht sehen konnte, also schüttelte er nur den Kopf. Erleichtert stimmte zu, dass sie auch nichts davon hielt. Das Gespräch verlief sich und sie versanken in Schweigen. Dragans Gedanken schweiften um die sieben Zirkel, den Weißen Geistern und was sein Vater mit alldem zu tun hatte. Danica beschwerte sich indessen, dass sie wieder Hunger hatte. Eine Bemerkung, die er zustimmen musste. Früher hätte er sich einfach sein Essen zusammengestohlen, aber im Moment ging das ja nicht, wie er frustriert feststellte. Er hasste es, keine Kontrolle über sein Leben zu haben. Sein Blick wanderte zu Danica, die wieder im Schneidersitz dasaß und die Augen geschlossen hatte. Er seufzte und streckte sich auf seinem Bett aus.

Nach ein paar Stunden klopfte es und man brachte sie ohne viele Worte zum Abendessen. Es gab Brot, Käse, Schinken, leichtes Bier und für jeden eine Hälfte Räucherwurst. Die Wache, die Dragan als Mareks Verbündeten vermutete, war nicht dabei, also vertagten Danica und er ihren Plan ihn zu überwältigen. Stattdessen wurde ihnen der Tagesablauf für morgen kurz und knapp vorgetragen, während man ihre Knoten kontrollierte. Dragan bemerkte, dass heute eine Ausnahme gewesen war. Morgen würden sie den ganzen Tag von morgens bis abends auf den Beinen sein. Es stand eine Grundreinigung des Thronsaals und den anliegenden Empfangsgemächern an. Auf den Weg zurück in ihr Zimmer, bemerkten sowohl Dragan als auch Danica, dass die Bediensteten, Wachen und Würdenträgern im Fürstensitz ziemlich aufgeregt wirkten. Oft sahen sie kleine Grüppchen von Menschen, die miteinander tuschelten. Im Vorbeigehen schnappten sie auf, dass es Gerüchte gab, dass einer der beiden Markgrafen bald nach Draganhrod kommen würde. Und es war nicht irgendeiner.
Dragan verlangsamte seine Schritte, als er eine der Hofdamen, die eilig aus den Weg gingen flüsterte: „Ganz sicher, es ist Drazan von Remedà. Mein Schwäger, dessen Vetter ist bei der Wache und einer von seinen Kameraden schwört darauf Stein und Bein.“
„Etwa der Drazan Blutfinger? Der Streiter der Ostmark?“
„Von Remedà, ja. Vojaměsta ist sein Sitz.“
Die umstehenden Damen gaben sowohl bewundernde, als auch ehrfürchtige Laute von sich und Dinge wie „Nein“ und „Ist nicht wahr.“ 
„Ich habe gehört, er ist schon im Greisenalter, aber so stark und jung wie ein Hengst“, wisperte eine blonde Dame hinter vorgehaltener Hand und kicherte, „Und er sei Witwer, also könnte eine von uns…“
Eine der Wache schubste Dragan weiter, der fast stehen geblieben war. Zum Glück konnte gerade niemand sehen, wie ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen war. Die Hofdamen bemerkten, dass Zwangsarbeiter langsamer wurden und verzogen vor Ekel das Gesicht, ehe sie eilig davonstolzierten. Drazan war ein Name, den Dragan gehofft hatte, nie wieder zu hören. Geistesabwesend wurde er und Danica in ihr Zimmer geführt. Sie fragte einmal, ob alles in Ordnung war, doch er winkte ab und ging früh zu Bett. Sie respektierte seinen Wunsch und legte einen einzelnen Scheid ins Feuer, damit es nicht über die Nacht ausging. Kurz verschwand sie im Waschraum und kehrte in einem langen Nachthemd wieder. Sie warf ihm nochmal einen Blick zu, doch Dragan wandte ihr den Rücken zu und sein Gesicht zur Wand. Ihm standen nicht der Sinn nach Unterhaltungen, oder anzüglichen Witzen. Wenn es einen Mann gab, der schlimmer war als der Falke und Ivailo zusammen, dann Drazan von Remedà, der heldenhafte Streiter der Ostmark, der die großen Vorstöße der wilden Völker und Plünderer aus der Weite gegen das Königreich Rhûn schon seit fast einem Jahrhundert aufhielt. Der Mann, der nur mit seinen bloßen Fingern seine Feinde töten konnte. Dragan fluchte noch einmal leise darüber, dass man sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen konnte. Und falls dies Mareks Werk war, hatte Danica Recht gehabt und alles, was bisher geschehen war, einem perfidem Plan gefolgt, in dem er wie ein dummer Trottel perfekt mitgespielt hatte. Dragan blickte über die Schulter zu Danica, die inzwischen fest schlief. Ihre Silhouette erinnerte entfernt an Cheydan, auch wenn sich ihr Körperbau grundlegend von Danica unterschied. Letztere war drahtig aber kräftig und hatte etwas von einer Katze, eine grimmige, durchtrainierte Katze. Cheydan hingegen war sanft und eher zurückhaltend, selten fordernd, aber willensstark gewesen. Dragan wälzte sich wieder um, und blickte an die Decke, wo die kleinen Flammen aus der Feuerstelle unstete Schatten zeichneten. Noch immer hoffte er, dass seine Flamme noch irgendwo in dieser verfluchten Stadt war. Mit dem Gedanken schlief er endlich ein.

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