Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

Draganhrod

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Curanthor:
Dragan blinzelte. Die Nachtruhe war kurz gewesen, seine Augen schmerzten. Unscharf sah er in der steinernen Feuerecke ein kaum sichtbares Glühen. Irgendwas hatte ihn geweckt. Er spitzte die Ohren und lauschte, ohne sich zu bewegen. Von dem Bett nebenan hörte er die tiefen, regelmäßigen Züge von seiner Mitgefangenen, die Danica genannt wurde. Seine Instinkte klingelten, der Kopf schmerzte. Dann nahm er endlich das Geräusch wahr, dass ihn aufgeweckt hatte: Ein Kratzen an der Tür. Genauer gesagt, an dem Schlüsselloch. Rasch wandte er den Kopf zu Danica und zischte etwas lauter. Sie rührte sich nicht. Dragan fluchte im Gedanken und wollte sich erheben, doch sein Körper wollte ihm nicht gehorchen. Seine Arme waren bleiern. Je wacher er wurde, umso dröhnender wurden die Kopfschmerzen. Er fluchte leise. Das Bier! Irgendjemand hatte ihnen etwas in das Bier gemischt. Ehe er sich darüber ärgern konnte, oder weiter darüber nachdenken, gab mit einem leisen Klick das Schloss dem Eindringling nach. Dragan schloss rasch die Augen und tat so, als ob er schlief. Ein Kribbeln lief ihm den Rücken hinab. Dann begannen seine Finger zu kribbeln. Langsam aber stetig kehrte wieder Gefühl zurück. Das leise Knarzen der Scharniere an der Tür ertönte. Ganz vorsichtig linste Dragan durch ein Auge. Es war fast stockdunkel, nur die fast verbrannte Glut zeichnete schwer zu erkennende Schemen in die finstere Nacht. Die Eindringlinge kamen ohne Fackel oder Laterne. Ein Stiefel auf Holz ertönte. Eine dunkle Gestalt schälte sich aus dem gähnenden Schwarz des Flurs. Leder knirschte. Dann machte der Eindringling einen weiteren Schritt, direkt zwischen Danica und Dragans Bett. Eine zweite Gestalt, deutlich gewandter, perlte sich lautlos aus dem Schatten des Flures. Das erste Mal vernahm Dragan eine geflüsterte Stimme, eindeutig weiblich. Sie fragte, ob der Schlafmohn wirkte. Die zweite Stimme, ein Mann brummte zustimmend. Es war der erste Eindringling. Die Frau stand hinter ihm. Dragan achtete auf seine Atmung und versuchte so locker wie möglich zu wirken. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die schwarze Gestalt der Frau sich über das Bett von Danica beugte. Nur einige Momente, dann legte sie ihren Kumpanen eine Hand auf die Schulter. Das Kribbeln in Dragans Händen arbeitete sich zu seinen Armen vor, bis zu seinen Schultern hinauf. Er musste an sich halten, den aufkommenden Juckreiz zu unterdrücken. Seine Sicht verschwamm hin und wieder. Dragan fluchte im Gedanken. Schlafmohn wurde zur Betäubung von Schmerzen und als Schlafmittel eingesetzt. Er selbst hatte ihn in seiner Zeit bei den Schatten beinahe wöchentlich verwendet. Schlafende Opfer waren einfacher auszuschalten.
Sein Blick raste wieder zu Danica, die gerade von dem in offenbar schwarzen Roben gehüllten Mann auf den Rücken gedreht wurde. Dragans Hände ballten sich unter seiner Decke. Seine Gedanken waren schon davongaloppiert. Er ahnte, was man mit ihr vorhatte. Das, was viele Frauen in Gefangenschaft erwartete. Verdammt, fluchte er im Gedanken. Erneut blinzelte er. Kann ich mich noch als Mann sehen, wenn ich bei etwas einfach zuschaue? Die Antwort war nein, als er sah, wie die Frau ein Messer zückte und offenbar Danicas Nachthemd bis zum Bauch aufschnitt. Der Stoff knirschte leicht. Dragan brummte hörbar und wälzte sich auf die Seite. Die beiden Eindringlinge zuckten erschrocken zusammen. Die Schleicherin fluchte, während ihr Kumpan aus Reflex gegen Dragans Bettpfosten trat.
„Sicher, dass das Zeug wirkt?“, zischte seine tiefe Stimme, „Was ‘n los?“
„Hab‘ sie geschnitten“, fluchte die Frau und entfernte sich von Danica. 
Der Mann riss die Tür ganz auf. „Das wird dem Bojaren nicht gefallen.“
„Das weiß ich selbst“, fauchte die Frau, „Hol‘ ihn, solange das Zeug wirkt.“
Dragan schoss rasch die Augen, als der Eindringling sich an der Frau vorbeizwängte, ganz nah an seinem Bett vorbei. Er hätte nur seine Hand ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Noch immer hatte er kein Gefühl in den Beinen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein langer Dolch blitzte in dem schummrigen Licht der Glut auf. Beide waren offenbar bewaffnet. Glücklicherweise verklangen die Stiefelschritte des Eindringlings rasch im finsteren Flur.
„Ich habe kein Mitleid mit dir“, murmelte die Fremde und hob erneut ihren Dolch, „Also werde ich nicht um Verzeihung bitten.“
Der restliche Stoff des Nachthemds knirschte zerreißend. Dragan musste an sich halten, um nicht aus dem Bett zu kriechen und sie mit bloßen Zähnen zu zerfleischen. Wie konnte eine Frau einer anderen so etwas antun?! Er hasste es! Er hasste die Ungerechtigkeit, die sich gerade vor seinen benommen Augen in den unsteten Schatten der fast verlöschten Glut abspielte. Es war ein Spiel der Schatten. Und er wollte mitspielen – aber bewaffnet, selbst wenn es nur seine Zähne waren. Sein Körper spannte sich an. Dragan war sich fast sicher, dass sein Mund schäumte, doch auch er war noch schwer und trocken wie ein Stein. Schritte auf dem Flur ertönten und er erstarrte. Seine Gedanken stoppten abrupt. Es waren mehr als zwei Stiefel. Vier. War das der Bojar? Die schwarz gekleidete Frau trat indessen von Danicas Bett zurück und stellte sich an Dragans Fußende. Er konnte förmlich ihren Blick auf sich spüren. Rasch schloss er das Auge, mit dem er gelinst hatte, obwohl er nur einen Haarbreit sehen konnte.
Nur ein paar Herzschläge später, drang ihm der Geruch von saurem Wein in die Nase. Und das angestrengte Keuchen eines Mannes in die Ohren. Abscheu wallte in ihm auf. Und brennender Hass. Eine hohe Stimme erkundigte sich in einem gierigen Tonfall, ob wirklich alles geklappt hatte. Der Saum eines Mantels strich Dragan über das Gesicht. Dann waren die beiden in ihrem Zimmer. Jemand schloss die Tür. Das gequälte Schloss klickte leise. Dragan hörte wie eine Gürtelschnalle geöffnet wurde. Scheiß drauf. Er linste mit seinem linken Auge. Eine massige Gestalt beugte sich über Danica. Rechts von ihm, direkt vor Dragans Stirn stand der männliche Schleicher. Sein Gürtelbeutel war fast auf Augenhöhe. Ein Band Kordel baumelte daraus hervor und strich über sein Haar. Ein abwehrendes, hohes Keuchen ertönte. Es war ein laut, der durch Mark und Bein ging. Und er kam von Danica. Dragans Beherrschung zerriss wie sein Geduldsfaden. Unvermittelt fuhr seine Hand hoch, packte das Stück Kordel und ruckte es aus dem Beutel. Ein Poltern ertönte von Danicas Bett. Die Schleicherin fluchte, während Bojar Branko ein schmerzerfülltes Heulen von sich gab. Sie eilte zu Danicas Bett. Dragan stemmte sich mit purer Willenskraft in die Höhe. Seine Beine wackelten wie morsche Stelzen. Er biss die Zähne zusammen. Rasch wickelte er das Stück Kordel um beide Hände. Der Mann wollte sich umdrehen, doch es war zu spät. Dragan knurrte hasserfüllt und legte die Kordel um seine Kehle. Der Schleicher japste. Dann zog Dragan zu, drehte sich mit dem Rücken zu ihm. Das Japsen wurde zu einem abgeschnittenen, erstickten Laut. Er spürte das Gewicht des Mannes, der panisch um sich schlug auf seinem Rücken. Den Hals überstreckt und die Luftröhre zerquetscht. Das Zappeln steigerte sich. Dragan knurrte weiterhin, bis seine Kehle wund wurde. Dann war es vorbei. Er löste die Kordel. Der Schleicher sackte zur Seite, doch Dragan fing ihn geistesabwesend. Sein Blick raste zu Danica. Sie war wach! Sie wehrte sich wie eine Löwin und rang mit der anderen Schleicherin, die ihre Arme festhielt. Branko hockte zwischen Danicas Beinen und versuchte sie auseinander zu zwängen. Es war zu dunkel um etwas zu erkennen, doch offenbar war es noch nicht zu spät! In dem Moment registrierte die Schleicherin, was geschehen war. Der kurze Moment genügte Danica. Ihr Ellbogen krachte der schwarz gehüllten Frau mitten ins Gesicht. Sie taumelte vom Bett. Dragans Beine gaben nach und er fiel ihr entgegen. Fluchend packte er die Schleicherin. Gemeinsam rangen sie um Gleichgewicht. Ihre Hände krallten nach seinem Hals. Dragan war geschwächt und konnte nicht verhindern, dass sie seinen Kehlkopf quetschte. Im verschwimmenden Hintergrund sah er, wie Danica Branko die Faust ins Gericht rammte. Sie rief etwas. Seine Sinne schwanden rasch. Alles wurde merkwürdig dumpf und kam ihm weit entfernt vor. Dann war der Druck plötzlich weg. Die Schleicherin polterte laut gegen die Tür. Dragan wurde auf sein Bett geschubst. Benommen sah er Danicas schlanke, trainierte Figur, die einen perfekt ausgeführten Drehtritt mit der Hacke gegen den Kopf der Schleicherin ausführte. Es klang, als ob ein Knüppel gegen eine Holzplanke krachte. Laut und scharf. Er konnte den Aufprall förmlich spüren. Die Schleicherin landete dumpf der Länge nach auf den Planken. Damit war es vorbei. Der Raum war erfüllt von angestrengtem Keuchen und dem Jammern von Branko. Dragans Sinne kehrten langsam wieder. Danica beugte sich zu ihm hinab. Ihr Haartuch verrutschte. Ein Wasserfall an vielen, vielen dunkelblonden Strähnen ergoss sich. Sie waren lang, fiel ihm als erstes auf. Sehr lang. Dann klatschte etwas gegen seine Wange. Er blinzelte. Sie hatte ihm eine Backpfeife verpasst.
„Gut, bleib wach“, befahl Danica, „Und sieh‘ zu“. Ihre Stimme klang rau und zitterte noch immer leicht.
Dragan wollte etwas erwidern, doch sie wandte sich ab. Es war so dunkel, dass er nichts erkennen konnte, nur ihre Silhouette. Sie trat zu ihrem Bett.
Branko hielt in seinen Lamentieren inne und bellte: Ihr.. ihr könnt mir nichts tun! Ich bin ein Bojar!“
„Oh, und wie ich es tun werde“, erwiderte Danica kalt, „Das, was du versucht hast, verdient nur eines...“ Sie zückte ein zerbrochenenes der Messer der Schleicher. „Einen qualvollen Tod.“
Dragan wollte aufspringen und sie davon abhalten. Doch nur ein Krächzen kam zwischen seinen Lippen hervor, seine halb betäubten Beine zuckten. Einen Bojaren zu töten war ein schweres Verbrechen. Er wollte sie vor diesem Fehler bewahren. Nicht um ihretwillen, sondern weil er sonst ebenfalls bestraft werden würde. Er zischte laut, doch das ging in einem gellenden Schrei des fetten Bojaren unter. Dragan konnte nicht sehen, was sie mit ihm machte. Es war zu dunkel und ein Teil von ihm war froh drum. Brankos zweiter Schrei war sehr gedämpft. Offenbar wurde ihm das Maul gestopft. Die gedämpften Laute ertönten mehrmals. Es roch nach Pisse und Schweiß, als der Bojar die sämtliche Kraft verloren hatte um zu jammern, betteln oder zu schreien. Dragan hatte inzwischen aber genug Kraft gesammelt, um sich an der Wand in eine sitzende Position empor zu drücken. Danica hielt in ihrem blutigen Werk inne. Sie hatte sich ihre Decke unterhalb der Achseln um ihren Oberkörper gewickelt. Ihr stummer Blick forderte sie zum Sprechen auf. Zumindest vermutete er das, da er sie nur als Schatten in der Dunkelheit sehen konnte.
„Du…“, keuchte er, „Solltest ihn nicht töten.“
Sie brummte zustimmend, „Sonst wäre er schon tot“, In der Dunkelheit konnte er sehen, wie sie das Messer sinken ließ, „Um deinetwillen.“ Klappernd landete die Waffe auf den Dielen.
Er atmete seufzend aus. Das Schlimmste war abgewendet, auch wenn die Strafe für das, was hier geschehen war, nicht gering ausfallen würde. Danica erhob sich von ihrem Bett. Unvermittelt rammte sie Branko die Faust gegen das Kinn. Der Bojar sackte bewusstlos zusammen. Auf Dragans verwunderte Frage, was sie da tat, antwortete sie nur: „Den Unrat aus unserem Zimmer schmeißen.“

Und das tat sie ebenfalls alleine. Sie packte die Bewusstlosen nacheinander und zerrte sie ruppig an den Stiefeln, oder Armen aus dem Raum, raus auf den Flur. Branko schaffte sie als letzten vor die Tür. Als Dragan auf ihn deutete, murmelte sie nur, dass sie nur ein paar Schnitzübungen gemacht habe, er würde nicht verbluten. Mit dem Fuß schloss Danica die Tür und zögerte, dann nahm sie ihr Kopfkissen und warf es Dragan an den Kopf. Ungefragt setzt sie sich neben ihm auf sein Bett und krabbelte an ihm vorbei. Sie packte ihr Kopfkissen und legte sich an die Wand, den Rücken daran pressend. Wortlos ließ er sie gewähren. Es würde sich sowieso nicht lohnen.



Dragan sollte Recht behalten. Mit dem Ruf des Hahns, hatte man sie aus dem Zimmer gezerrt. Sie leisteten keinen Widerstand – auch wenn Danica erst aufgab, nachdem sie sich angekleidet hatte. Zehn Wachen umringten sie und brachten sie zum Thronsaal. Auf dem Weg dahin standen dutzende Bewohner in ihren Türen, meist noch in Nachthemden und tuschelten aufgeregt. Selbst einige der Soldaten der Armee folgten ihnen. Im Thronsaal angekommen, hatte sich eine große Meute hinter ihnen gebildet. Leises Getuschel erfüllte den Raum. Man erzählte sich, dass zwei Zwangsarbeiter zwei Wachen und einen Bojaren überfallen hatten. Dragan konnte sehen, dass eine Ader an Danicas Schläfe pulsierte. Natürlich wurde die Geschichte rumgedreht. In der Mitte des Saals, weit vor den Stufen des Throns zwang sie man auf die Knie.

Fürst Vakrim saß offenbar leicht angetrunken auf dem Fürstenthron und schaute tadelnd auf sie hinab, „Kaum gibt man euch etwas Freiheiten, nutzt ihr das schamlos aus, was? Wie enttäuschend“, er strich sich über sein rasiertes Kinn, „Wie überaus enttäuschend…“, plötzlich trat rasender Zorn in seine Züge. Sein Gesicht nahm eine purpurrote Farbe an. „Was glaubt ihr eigentlich, wer ich bin?!“, donnerte er und erhob sich halb aus seinem Thron, „Vielleicht haltet ihr alle mich für einen Witz, aber Haus Castav ist es nicht!“, seine wutentbrannte Stimme hallte laut durch den Saal. Dutzende Augenpaare wanderten zu Boden, einige sanken sogar das Knie. Das Getuschel verstummte schlagartig. Betretendes und furchterfülltes Schweigen trat ein.
„Wenn ich wollte“, fuhr Vakrim mit seiner Triade fort, „Könnte ich allen Gefangenen sofort die Kehlen durchschneiden lassen!“ Nun blickten alle Zwangsarbeiter zu Boden oder fielen auf die Knie. Speichel flog umher, als er weiterschrie: „Und wenn einer meiner Männer eine Gefangene flachlegen will, so ist das sein verdammtes Recht!“, er stierte in die Menge, die aus Bediensteten, Adligen, Wachen, anderen Zwangsarbeitern bestand, „Ein Recht, dass ich ihm verliehen habe! Ich, Vakrim aus dem Hause Castav!“ Einen Moment blickte er heischend durch die Menge, darauf lauernd, dass irgendeiner auch nur falsch atmete oder eine unangebrachte Regung zeigte. So plötzlich, wie sein Zorn gekommen war, so schnell verflog er. Vakrim ließ sich wieder auf seinem Thron nieder und räusperte sich. Er schnippte mit einem Finger und eine Magd eilte mit einem Krug Wein heran. Sie verneigte sich tief, während sie ihm das Getränk darbot. Vakrim grabschte es und entließ sie mit einem ärgerlichen Handwedel, als ob er eine lästige Stubenfliege verscheuchen wollte.
In einem Zug leerte der Fürst den Krug und warf ihn achtlos über der Schulter.
„Vogt von Draganhrod!“, bellte er plötzlich, „Schwingt Euren Arsch hier her, aber sofort!“
Die Menge teilte sich, als ein sehniger, abgehalfterter Mann in seinen Vierzigern seine Hand hob. Er trug eine dunkelblaue Robe, die mit einigen roten Stickereien. Darunter vielen Augen. Der Vogt hatte eine Glatze und einen mächtigen, hellbraunen Schnäuzer und Backenbart. Er trat mit den Rücken vor Dragan und Danica und ging vor Vakrim auf ein Knie. Seine etwas heißere Stimme verkündete, dass er ihm zu Verfügung stand.
„Ihr richtet über die Sache hier“, befahl der Fürst und hakte nach, „Wenn Ihr im Bilde seid.“
Der Vogt, von dem Dragan wusste, dass er Bogna hieß, blickte kurz auf und antwortete: „Aber mein Herr, dies geschah in Eurem Heim also-„
„Wie war das?“, knurrte Vakrim leise und kniff die Augen zusammen.
„Aber nein, verzeiht mein hoher Herr“, beeilte sich Bogna zu sagen, „Natürlich würde ich mich geehrt fühlen und mit Freuden mich dieser wichtigen Aufgabe widmen und-“
„Dann tut das und schwafelt nicht so viel“, schnitt der Fürst ihm das Wort ab, sein Blick glitt durch den Raum, als er lauter sagte: „Heute zur Mittagsstunde. Auf dem Brunnenplatz. Alle die kommen können, sollen dabei sein.“
Einer der Berater, die sich hinter Vakrims Thron fast gekauert hatten, wagte es hervorzutreten. Seine leise Stimme war kaum zu hören als er fragte: „A-Alle, mein Herr? Aber das sind tausende-“
„Habe ich um euren Rat gefragt?“, blaffte Vakrim, halb den Kopf gedreht, „Natürlich nicht alle", er blickte wieder nach vorn, „Verkündet, dass eine Gerichtsverhandlung für den Angriff auf einen Bojaren stattfinden wird. Die, die kommen werden, erhalten jeweils zwei zusätzliche Rationen Korn. Stellt genug für ein großes Publikum bereit.“
Die Augen des Fürsten wanderten zu Dragan. Der Berater verneigte sich indessen tief und trat eilig wieder in den Hintergrund.  Einen kurzen Moment musterte er ihn nachdenklich, doch Vakrim schaute dann zu Danica. Mit ruhiger Stimme wollte er wissen, wer den Bojaren so zugerichtet hatte. Dabei blickte er wieder zu Dragan. Hatte er ihn erkannt?
„Ich war das“, ertönte Danicas melodische Stimme selbstbewusst zu seiner Überraschung und unterbrach seine Gedanken.
Lautes Gemurmel ertönte hinter ihnen. Einzelne, wütende Rufe erfüllten den Saal, „Hure“ und „Mörderin“ waren noch die freundlichsten Bezeichnungen.
„Und den Wachmann?“, hakte Vakrim nach, die Augen abwartend auf ihn lauernd.
„Ich“, sagte Danica erneut, diesmal so schnell wie eine Pfeilsehne schnappte. Dragan unterdrückte einen bösen Seitenblick. Was trieb sie da? Doch Vakrim lachte kurz laut auf und schüttelte den Kopf.
„Kein Grund zur Lüge, meine Liebe. Euch fehlen die Male an den Händen von dem Faden“, offenbarte der Fürst mit einem wissendem Grinsen und seine stechenden Augen lagen auf Dragan, „Euer Freund war das… oder Liebhaber?“ Er lachte noch einmal kurz und murmelte leise kopfschüttelnd: „Nur mit einem Faden meine Wache töten…“, Bewunderung lag in seiner Stimme. Getuschelt verbreitete sich in der versammelten Menge.
„Unsinn“, blaffte Danica gleich und nickte zu Dragan, „Er ist ein Schwächling. Was soll ich mit dem?“
Vakrim hob den Kopf, die raubtierartigen Augen blitzten auf. „So? Dann steht ihr zusammen vor dem gleichen Gericht. Beide Vergehen wiegen gleich schwer“, er winkte mit der Hand, offensichtlich des Themas überdrüssig, „Abführen.“
Stärke Hände packten und zwangen sie auf die Beine. Unter verhaltenen Beifall wurden sie aus dem Saal geführt. Vakrims Stimme hallte noch hinter ihnen: „Und gebt ihnen ein neues Zimmer für die Gnadenfrist. Wir wollen ja gütig sein.“
Dragan blickte finster zu Danica. Sie erwiderte ihren Blick stumm. In ihren blauen Augen lag Trotz. Er selbst würde einen Weg finden zu fliehen, egal ob sie dabei war oder nicht. Sobald er diesen Fürstensitz verließ, würde er sich endlich befreien. Sollte sie sich doch ohne den ‚Schwächling‘ selber befreien. Vorsichtig schob er mit der Zunge die abgebrochene Klinge der Schleicherin in seinem Mund zwischen eine Zahnreihe und hielt sie mit einem leichten Biss dort. Dragan stierte zu Boden und ließ sich teilnahmslos in ein neues Zimmer führen.

Fine:
Aus der Sicht des Fuches Neras Vanaras

Mit einem tiefen, langgezogenen Grunzen sackte der Bojar spürbar in sich zusammen und regte sich für einen langen Augenblick nicht mehr. Endlich rollte er sich zur Seite und gab Vanara frei - ihr war es beinahe wie eine Ewigkeit vorgekommen. Der untersetzte, beleibte Adelige hatte nicht sehr lange durchgehalten bis ihm die Puste ausgegangen war, genau wie sie erwartet hatte. Mehr tot als lebendig lag er auf der weichen Matte, und wenn sie nicht seinen schnaufenden Atem gehört hätte, hätte Vanara ihn wohl für tot gehalten.
Es war unangenehm gewesen, und doch notwenig, um ihr Ziel zu erreichen. Der Bojar traute ihr nun zumindest so weit, dass er sie ohne Wachen in seine privaten Gemächer ließ. Schon bald würde sie hier ein- und ausgehen können soviel sie wollte. Dann würde es nicht mehr lange dauern, bis ihr alle Türen - und somit ein Weg aus dem schwer bewachten Bojarenanwesen hinaus - offen standen.

Sie hatte aufgehört die Tage zu zählen, die sie mit mühseliger Überzeugungsarbeit verbracht hatte. Nach ihrer Gefangennahme am Stadttor von Draganhrod war sie vom Rest der Reisegruppe des Zirkels getrennt und prompt auf dem nächsten Sklavenmarkt verkauft worden. Der Bojar, der den Zuschlag erhalten hatte, hatte sie ursprünglich als gewöhnliche Dienerin erworben, die hier und da etwaigen hochrangingen Gästen des Anwesens zur Verfügung stehen sollte. Vanara war es allerdings gelungen, ihren neuen Herrn nach und nach davon zu überzeugen, sie näher bei sich selbst zu behalten. Ein tiefer Blick hier, ein errötetes Lächeln dort, und die richtigen Worte zur richtigen Zeit hatten sie schließlich bis in sein privates Schlafgemacht gebracht. Es wäre ein Leichtes, sich seiner Schlüssel zu bemächtigen, das wusste sie. Der Bojar war mittlerweile entweder eingeschlafen oder in Ohnmacht gefallen, ganz sicher war sie sich da nicht. Aber ihr war klar, dass die Schlüssel sie nicht zur Freiheit führen würden. Die Wachen kannten sie und würden sie nicht passieren lassen, selbst wenn sie bis zum Tor kam. Es wurde Tag und Nacht pausenlos bewacht. Und selbst wenn sie tatsächlich aus dem Anwesen entkommen könnte, würde sie dennoch nicht weit kommen. Der Bojar war ein jähzorniger, rachsüchtiger Mann, der niemals aufhören würde, sie zu jagen - oder jagen zu lassen, verbesserte sie sich. Seine Reichtümer schienen unermesslich zu sein, nach allem was Vanara bisher gesehen hatte. Sie fragte sich, ob das an seinen Verbindungen zum Sauronskult lag.

Vanara hatte schon früh herausgefunden, dass der Bojar entweder selbst ein hochrangiges Mitglied des Kultes war oder zumindest enge Verbindungen zu dessen Führungsebene besaß. Immer wieder wurden Sklaven als offensichtliche Opfer inmitten der Nacht zum sogenannten Badehaus geschickt, welches eine sonderbare Mischung aus Freudenhaus und Sauronstempel darzustellen schien. Jedesmal wenn Vanara daran dachte, ballten sich ihre Hände zu Fäusten. In Gortharia und Umgebung war es Tiana und ihr gelungen, den Einfluss des Kultes in der Abwesenheit Khamûls so weit zurückzudrängen, dass er nur noch eine mindere Rolle einnahm. Aber hier in Govedalend war die Lage eine andere. Unter Fürst Vakrim hatte sich der Kult des Auges ungehindert ausbreiten können. Soweit Vanara wusste, waren viele der Wachen des Anwesens nicht nur selbst Kultisten, sondern besaßen auch frische Kampferfahrung vom Feldzug gegen den Erebor, wo sie unter dem Ringgeist persönlich gedient hatten. Mit denen wollte sie sich keinesfalls anlegen - jedenfalls nicht ohne eine gute Klinge in der Hand. Sämtliche Waffen waren ihr bei der Gefangennahme abgenommen worden, und einige Tage später hatte Vanara erfahren, dass man ihre Gefährten aufgrund von Hochverrat hingerichtet hatte.

Noch immer fiel es ihr sehr schwer, sich damit abzufinden dass Dragan, Tiana und die anderen tot waren. Vanara hatte sich auf die Reise nach Draganhrod gefreut - es war unglaublich befreiend für sie gewesen, aus Gortharia heraus zu kommen. Weg von der Gilde der Messer, fort von Iltas Einfluss. Sie hätte die Zeit in der sie verloren gewesen war einfach hinter sich lassen können, und in Tianas Gesellschaft wieder aufleben können. Doch nun war Tiana fort, ermordet durch Fürst Vakrims Befehl. Alles was Vanara nun tat - ihr Plan, aus den Klauen des Bojaren und aus dessen Anwesen zu entkommen - diente nur noch einem Zweck. Der Rache. Vakrim würde einen grausamen Tod erleiden, koste es was es wolle, das hatte Vanara sich geschworen. Was danach geschehen würde war ihr egal.

Vanara glitt lautlos vom Bett herunter. Der Vollmond schien durch die dünnen Vorhänge vor dem Fenster herein und tauchte das Zimmer in ein blasses Zwielicht. Sie hatte das starke Bedürfnis nach einem Bad. Zu ihrem Glück besaß das Privatgemach des Bojaren ein eigenes beheiztes Becken, das sich gleich nebenan befand. Wie so oft fühlte sich ihre Hand seltsam leer an. Es war zu lange her, dass sie eine Klinge gehalten hatte, geschweige denn Blut vergossen hatte. Ein Teil von ihr hasste sich dafür, dass sie sich im Dienst der Gilde selbst vergessen hatte. Ilta war es gelungen, Vanara ihre Loyalität zum Zirkel vergessen zu lassen, indem sie ihre Angst schürte. Angst vor Khamûl und vor dessen Meister. Vanara zwang sich, jeglichen Gedanken daran zu unterdrücken. Sie war nun weit fort von all dem. Langsam ließ sie sich in das wohlig warme Wasser gleiten und wusch sich gründlich ab. Sie widerstand der Versuchung, zu lange im Becken zu verweilen und beendete das Bad bereits nach einer Viertelstunde, um dann ins Bojarengemach zurückzukehren. Sie wusste, dass sie an seiner Seite bleiben musste, bis er aufwachte. Dennoch gestattete sie es sich, für's Erste in halbwegs erholsamen Schlaf zu sinken.

Der folgende Tag war zunächst einer wie jeder andere zuvor. Vanara erfüllte ihre Pflichten so gut sie konnte. Mit jedem Handgriff war sie bestrebt, das Vertrauen des Bojaren in sie zu vergrößern. Sie würde sich für ihn unentbehrlich machen, bis er sie nahe genug an Fürst Vakrim heran bringen konnte. Weiter reichte ihr Plan nicht. Bis auf Vakrims Tod zählte für sie nichts anderes. Sie würde Tiana rächen. Danach würde sie weitersehen - wenn es für sie danach überhaupt noch weitergehen würde.
Der Bojar war ein Mann, der Schönheit und Ästhetik sehr zu schätzen wusste. Vanara vermutete, dass das vor allem an seiner eigenen Unansehnlichkeit lag. Ihr Herr konnte das Äußerliche von Menschen (und insbesondere von Frauen) bei seinen Schwärmereien sehr genau beschreiben und besaß ein Auge für's Detail. Es war gegen Mittag, als der Bojar von einem Besuch im Fürstenpalast in sein Anwesen zurückgekehrt war und sein Mittagsmahl einnahm. Wie so oft wünschte er dabei Vanaras Gesellschaft, und wie so oft erging er sich in einem langen Monolog über das Aussehen einer hübschen Frau, die er im Palast gesehen hatte.
Vanara hörte aufmerksam zu. Ihre Zeit beim Zirkel und bei der Gilde hatte sie gelehrt, dass ein offenes Ohr immer nützlich sein konnte, selbst wenn der Großteil der aufgeschnappten Informationen nutzlos sein würde konnte es immer sein, dass sich darunter doch noch etwas Entscheidendes finden ließ. Vor ihrem inneren Auge formte sich nun, während sie den Worten des Bojaren lauschte, das Portrait einer braunhaarigen Dame mit wallendem Haar und schlankem Körperbau, nicht allzu groß gewachsen. Rosige Wangen und volle Lippen, eine leicht gebogene Nase, dunkelbraune Augen. Die Brauen dünn wie zwei Federkiele, die Fingernägel kunstvoll bemalt. Vanara stutzte. Das klang exakt nach Tiana - aber hatte man ihr nicht ausrichten lassen, dass alle ihre Gefährten hingerichtet worden waren? Sie war so überrascht, dass selbst der Bojar es ihr anmerkte. Vanara beschloss, ihr erworbenes Vertrauen auf die Probe zu stellen.
"Herr?" fragte sie mit gut einstudierter Stimmlage: Oberflächlich unterwürfig, aber unterschwellig verführerisch.
"Mh? Ja, was ist denn? Du bist heute etwas sonderbar, mein Rehlein." Vanara hasste diese Spitznamen, aber sie hatte schon schlimmere erdulden müssen.
"Die Frau von der Ihr sprecht. Konntet Ihr ihren Namen in Erfahrung bringen?"
"Namen interessieren mich nicht. Außerdem ist sie die Geliebte des Fürsten Castav."
"Nun, aber..."
Der Bojar besah sie mit einem Blick, der zunächst aufkeimende Neugier bezeugte, doch unter dessen Oberfläche sich eine schwelende Wut verbarg, die jederzeit in Brand geraten konnte. Venara wusste, wie schnell ihr Meister explodieren konnte. Sie musste ihre Worte mit Bedacht wählen, denn viele würde er ihr nicht mehr gewähren, ehe seine Geduld am Ende sein würde. "Was, aber?" äffte er sie nach, als sie ihren Satz nicht beendete und sein Blick verhärtete sich.
Jetzt oder nie. "Würde es Eurem Eindruck von ihr nicht vervollkommnen, wenn Ihr den Namen der Dame kennen würdet? Kunst lebt von Titeln, nicht wahr? Jedes Gemälde hat eine Bezeichnung, jede Statue einen Namen..."
Sie schwieg. Sie hatte ihre Karten ausgespielt, und nun würde es sich zeigen, was Vanaras Hand wert sein würde. Der Bojar sah sie durchdringend an, und Vanara war sich beinahe sicher, seine Gedanken arbeiten zu hören, wie Zahnräder, die sich ineinander verkeilt drehten. Langsam drehten.
"Ein... Titel, eh?" wiederholte er schließlich, schwerfällig. Da wusste Vanara, dass sie gewonnen hatte. "Hmm. So habe ich das noch gar nicht betrachtet... vielleicht hast du Recht. Aber... wie kommst du auf so einen gescheiten Einfall? Das passt nicht zu dir. Oh! Aber natürlich: Du musst es von mir haben. Ich habe gewiß im Schlaf geredet. So war es doch, Rehlein, nicht wahr?"
Vanara nickte. Mehr war gar nicht notwendig. Zufrieden klatschte der Bojar in die Hände. "Ich werde sogleich den Namen der Dame in Erfahrung bringen lassen!"

Am folgenden späten Abend saß Vanara auf der Bettkante im Gemach ihres Meisters, die Hände unters Kinn und die Ellbogen auf die Knie gestützt. Ihr Herr schnarchte neben ihr. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie hatte nun Gewissheit: Tiana war am Leben und lief frei wie ein Vogel im Palast des Fürsten umher, als dessen Gespielin. Alles deutete darauf hin, dass sie den Zirkel - und Vanara - verraten hatte...

Curanthor:

Das Zimmer, in das man sie für die Dauer der Gnadenfrist gesteckt hatte, war kleiner als ihr vorheriges. Nur ein klappriges Holzgestell ohne eine Art Matratze oder Unterlage stand in einer Ecke. Erst auf dem zweiten Blick hatte man erkennen können, dass es mal ein Bett gewesen war. Auch hier gab es kein Fenster, oder irgendeine Löchlein nach draußen. Danica hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt und auch Dragan hatte geschwiegen. Er stand an der Tür, setzte sich davor auf dem Boden oder ging die zwei Schritte, die das Zimmer an Platz bot auf und ab. Niemand sagte ein Wort. Hin und wieder warf er Danica finstere Blicke zu. Was auch immer sie vorhin da versucht hatte, es war auf seine Kosten gegangen. Und sie hatte ihn als Schwächling dargestellt. Dachte sie wirklich so von ihm? Offenbar schon, denn sie vermied angestrengt seinen Blick. Sie verloren das Zeitgefühl, zumindest dachte Dragan, dass es ihr auch so ging.

Ein Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt und der Riegel entfernt. Es war nur eine Wache. Dragan erkannte ihn sofort und machte einen kurzen Schritt zurück. Es war der Wachmann, den Marek erwähnt hatte. Der Mann hatte einen stoppeligen Dreitagebart und ein kantiges Gesicht. Dragan hörte, wie Danica rasch von der Bettkante sprang. Er musterte den Wachmann rasch genauer und suchte nach Waffen. Etwas Weißes an dem Gürtel des Mannes erregte seine Aufmerksamkeit. Dragan hob beschwichtigend den Arm, um Danica zurückzuhalten, die sich gerade auf die Wache stürzen wollte. Er erkannte das, was an dem Gürtel des Mannes hing. Eine weiße Lederscheide, in der ein Dolch steckte. Verschlungene Muster waren in das Leder geprägt. So eine Arbeit hatte er nur ein einziges Mal gesehen. Bei dem geheimnisvollen Krieger, Weiß. Der Mann blickte rasch zu Danica, die Hand schwebte in der Nähe seines Gürtels, dann schaute er zu Dragan und nicht kaum merklich. Dieser atmete erleichtert aus. Sie entspannten sich etwas.
„Es ist so weit“, informierte der Wachmann sie knapp und senkte die Stimme, „Zwei der Ziele werden anwesend sein. Etwa vierhundert Schaulustige. Wartet auf das Signal. Kümmert Euch nicht um die Folgen, tut es einfach.“
Ehe einer der beiden etwas antworten konnte, blickte der Wachmann nach rechts und hob eine Hand. Zwei weitere Wachen traten in das Zimmer und trugen Handfesseln aus Leder. Man legte sie um ihre Handgelenke und zog fest zu, dann wurde es verknotet. Dragans Finger kribbelten ein wenig. Er dehnte den Knoten, doch das Leder gab kaum etwas nach.  Er nickte nur knapp und biss etwas fester auf die abgebrochene Klingenspitze in seinem Mund. Einmal hatte er sich damit schon leicht in die Wange geritzt. Ihm fehlte die Übung, früher wäre das nicht passiert, stellte er frustriert fest. Man führte Dragan und Danica schließlich aus dem Zimmer, hinaus auf den Flur.
„Warum macht man das? Man weiß sowieso nicht, wer wir sind. Es hat keinen Effekt“, sagte Danica, an deren Stimme man hören konnte, dass es sie mehr nervte, als besorgte.
Eine der Wachen antwortete barsch, dass Gefangene keine eigenen Namen hatten und kein eigenes Gesicht. Die Verhandlung diente dazu, um die anderen daran zu erinnern, wo ihr Platz war. „Und das Volk braucht etwas Ablenkung“, fügte Mareks Vertrauter knapp hinzu, wobei seine Stimme dazu aufforderte, still zu sein.

Dragan und Danica schwiegen, während man sie durch den Fürstensitz führte. Erst in der Eingangshalle kamen ihnen andere Menschen entgegen. Durch die offenen Tore, konnte man sehen, dass auf dem Platz Bänke aufgestellt waren, die gut besetzt waren. Am Ende des Platzes, gegenüber dem Fürstensitz war eine kleine Bühne zusammengezimmert worden, sodass man sie von überall her sehen konnte. Ein Rednerpult stand in der Mitte der Bühne, davor eine Feuerschale, in der einige Flammen züngelten. Vier vermummte Männer, die eher an Henker erinnerten, standen weiter hinten, hinter dem leeren Rednerstand. Ihre breiten, vor Muskeln strotzenden Oberkörper waren nackt. Ein breiter Gürtel hielt eine schwarze Lederhose.
 Lautes Gemurmel und Gesprächsgewirr empfingen sie. Die Geräuschkulisse schwoll an, als sie die Treppen heruntergeführt wurden. Dragan blickte sich rasch um. Viele Stadtwachen waren anwesend und sicherten den Platz und jeden Zugang. Sie trugen meist leichte Rüstungen und ein Schwert an der Seite. Soldaten der Armee hingegen sah er nur zwei, doch sie waren voll gerüstet, bewaffnet mit Hellebarde und Schwert. Man führte sie durch die breite Lücke zwischen den Sitzbänken. Hunderte Augen folgten ihnen. Die Gespräche verstummten nur kurz, wenn sie die Schaulustigen passierten. Dragan merkte, dass viele von ihnen direkte Blickkontakte mieden. Offenbar waren sie nur wegen dem Korn gekommen.
 Etwa auf der Hälfte des Weges kamen sie offenbar an den Speichelleckern Vakrims vorbei, denn sie spuckten ihnen vor die Füße, oder riefen wüste Beschimpfungen. Einer versuchte sogar Danica zu erreichen, doch eine ihrer Wachen hatte ein Schwert gezogen und dem Kerl den Knauf ins Gesicht gerammt. Der aufkommende Tumult verstummte daraufhin. Dragans Blick wanderte zur leicht erhöhten Bühne. Was für ein Schauspiel.
 Gerade plusterte sich der Vogt von Draganhrod vor dem Rednerpult auf und deutete auf sie: „Da kommen die Beschuldigten. Sobald sie die Bühne betreten, verlange ich absolute Ruhe“, verlangte er gebieterisch und konnte einen befriedigenden Gesichtsausdruck nicht vermeiden, als es bereits leiser wurde.
Dragan fragte sich, wie Bognas Gesicht aussehen würde, wenn er einen Dolch in der Kehle stecken hatte. Insgeheim musste er aber zugeben, dass Vakrim und Bogna es verstanden, den einfachen Leuten ein Schauspiel zu bieten. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie die zwei hölzernen Stufen. Der Platz war inzwischen bis auf gelegentliches Husten und Geflüster still. Dragan blickte sich rasch um, dann trat er auf die Bühne. Danica folgte ihm sogleich. Ihre Wachen trennten sie aber, Danica links vom Rednerstand, er wurde rechts daneben gestellt. Mareks Vertrauter stand zu Dragans Linken.
 Vogt Bogna eröffnete die Verhandlung mit eine Räuspern und einer theatralischen Geste, indem er beide Arme streckte und auf sie deutete: „Diese Gefangenen haben es gewagt, ihre Herren anzugreifen, eine Wache und einen der edlen Bojaren.“ Gemurmel wurde laut,  „Freilich wissen alle, dass die Verhüllten nicht ihr Gesicht entblößen dürfen – das wird auch dieses Gericht respektieren.“
Kurzer Prostest von Vakrims Speichellecker ertönte, doch Bogna hob herrisch eine Hand. Ein Trupp Stadtwachen rückte drohend näher an die Sitzreihe heran und sie verstummten.
 Der Vogt deutete auf Dragan und rief: „Diesem Mann wird vorgeworfen, hinterhältig und hinterrücks mit einem Stück Kordel einen Wachmann von Bojar Branko erdrosselt zu haben. Da er diese Tat gemeinsam mit seiner Mitgefangenen begangen haben soll, werden wir es als eine Gemeinschaftstat werten.“
Zustimmende Rufe ertönte. Dragan warf Danica einen kurzen Seitenblick zu, an Bogna vorbei, der nun auf sie deutete: „Diese Frau…“, eine Mischung aus Erstaunen und Hohn ging durch die Reihen. Dinge wie, dass sie gar keine richtige Frau sei, ein Mannsweib und dergleichen wurde gerufen. Bogna kläffte laut um Ruhe, was erst einige Momente später Wirkung zeigte. Dragan wusste, dass das einen wunden Punkt der Kriegerin berührte, doch sie zeigte keine Regung. „Ihr wird vorgeworfen, den ehrenwerten Bojar Branko mit ihrem Komplizen überfallen zu haben. Sie hat die beste Wache ausgeschaltet, während ihr Komplize den anderen Mann erdrosselte. Die niedergeschlagene Wache ist wieder bei Bewusstsein und hat bereits eine Aussage gemacht.“ Der Vogt macht eine bedeutende Pause, bei dem ihm sein Publikum gespannt an die Lippen hin. Er genoss den Augenblick, aber fuhr im richtigen Moment weiter fort: „Eine der besten Wachen der Hvalamark wurde nur mit einem Fußtritt ausgeschaltet – ganz ohne Waffen“, rief Bogna laut und ließ erneut seine Worte wirken. Die Reaktionen waren noch gemischter als vorher, denn viel Empörung war zu hören, doch auch genauso viel Bewunderung.
 Offenbar passte das dem Vogt nicht, denn er sprach rasch weiter: „Und als die beiden Wachen ausgeschaltet waren, nahm sich diese Frau ein Messer und fügte dem ehrenwerten Bojar Branko über vierzig Schnitte mit einem Messer zu.“ Jetzt überwogen die wütenden Rufe, sodass Bogna wieder für Ruhe sorgen musste. Er verkündete, dass beide Verbrechen gleich gewertet wurden und er in dieser Sache freie Hand durch Fürst Vakrim hatte. Er blickte zum großen Holzpalast und verneigte sich tief, dann trat er hinter seinen Rednerstand.
 „Im Namen des Fürsten von Govedalend, Fürst Vakrim Castav, unter seiner Gnaden König Goran von Gortharia, eröffne ich hiermit dieses Gericht.“ Er schaute sich rasch um. „Gibt es irgendjemanden, der für die Beschuldigten sprechen möchte?“ Eine drückende Stille trat ein. Wahrscheinlich blickte gerade jeder auf dem Platz umher, dabei war es nur eine Frage für die Protokollschreiber. Auch Dragan suchte mit seinen Augen den Platz hab – doch es war sinnlos. Eine Bewegung ganz am Rande des Platzes, ließ ihm kurz den Atem stocken. Aufgeregtes Geredete und überraschte Laute ging wie eine Springflut durch die Menge. Einer der Soldaten der Armee hatte die Hand gehoben. Ein Seitenblick verriet Dragan, dass das nicht geplant war. Bogna starrte fassungslos auf den einsamen Soldaten, der seine Hellebarde schulterte und den langen Weg zwischen die Sitzbänke nahm. Bis der unerwartete Fürsprecher die Bühne erreichte, hatte sich der Vogt aber wieder gefangen.
Er räusperte sich und fragte laut: „Wie ist Euer Name?“
Der Soldat drehte den Kopf der Hellebarde zu Boden. „Tar“, kam knapp die Antwort. Die Stimme war unmöglich zu unterscheiden, ob es ein Mann, oder eine Frau war, da er den Helm der Soldaten Rhûns trug und sich einen weinroten Schal vom Hals bis über die Nase gewickelt hatte. Dennoch war sie etwas tief, für eine Frau.
„Nur… Tar?“, hakte Bogna verwirrt nach, räusperte sich aber rasch und sagte: „Ihr wisst, Tar, dass ich zuerst eine Strafe anordnen werde, bevor Ihr zu Wort kommt. Die sofort ausgeführt wird, denn den Verhüllten ist es streng untersagt, solch einen Aufruhr auszulösen. Erst danach wird über das eigentliche Vergehen verhandelt.“
Der Soldat nickte knapp. Für Dragan klang es eher nach einer simplen Machtdemonstration. Er musterte den Soldaten, der mit dem Rücken zu ihm stand, während der Vogt die vier kräftigen Männer auf die Bühne winkte. „Für das Vergehen, öffentlichen Ärger ausgelöst und die Regeln der Verhüllten gebrochen zu haben, ordnete ich zehn Peitschenschläge an.“
 Jubel ertönte unter den Schaulustigen. Danica zeigte das erste Mal eine Regung und schnaubte hörbar: „Das nennt sich Gerechtigkeit, Bastard? Ihr erfindet einfach irgendwelche Regeln. Ihr seid nichts anderes als feiger und widerwärtiger Haufen Scheiße.“
Dragan blinzelte erstaunt. Er hätte nicht gedacht, dass sie den Vogt reizen würde. Bogna schlich sich ein schmieriges Grinsen auf die Lippen. „Nun, da Ihr nicht nur kämpft wie ein Mann und auch so redet, sollt Ihr wie einer bestraft werden.“ Er winkte drei Männer heran, „Zehn Hiebe mit der Holzplanke!“, rief er laut, „Auf Bauch und Rücken!“ Die Menge tobte vor Häme und Sensationsgier, vor allem die Männer. Zwei der Muskelprotze traten vor und packten Danica an den Armen. Mit roher Gewalt zogen sie sie auseinander, sodass sie rechts und links von ihr standen. Ein Dritter trat heran und zerriss mit einem Ruck ihr Oberteil vom Kragen bis zum Saum. Anstelle von lechzenden Rufen über die entblößte Brust, hörte man nur Getuschel – abgesehen von einigen anzügliche Pfiffen. Dragan wagte einen raschen Blick und verstand: Danicas Körper war bedeckt von Narben, manche fein und verblasst, andere leicht gerötet und wulstig. Sein geübtes Auge erkannte mindestens dreißig Schnitte und Stiche am Bauch und Rücken; mehr als zehn Pfeilwunden, davon drei auf ihrer linken Brust, knapp am Herzen. Ein sternförmiger Krater klaffte unter dem linken Rippenbogen, der offenbar ausgebrannt wurde. Er erinnerte sich, dass sie in mehr als fünf Kriegen gekämpft hatte und es schien wahr zu sein. Die meisten der Narben schienen jedoch nicht willkürlich beigebracht – dafür waren sie zu präzise neben- und untereinander beigebracht worden. Er vermutete ein unmenschliches Training. War sie bei den Barbaren im Osten untergekommen? Stammt sie von ihnen ab? Fragen über Fragen türmten sich in seinen Gedanken. Er konnte spüren, dass viele Menschen unten auf den Sitzbänken ähnliches dachten. Sie rätselten, was Danica alles durchgestanden hatte. Dragan ahnte, dass er nur einen kleinen Teil ihrer Geschichte kannte.
„Worauf wartet ihr?“, bellte Bogna die zögernden Handlanger an, „beginnt.“
Die muskulösen Männer reagierten nun gefasst und einer nahm Danicas Arme. Zur allgemeinen Überraschung schüttelte sie ihn ab und breitete selbstständig die Arme aus. Die anderen zwei hatten indessen lange, glatt geschliffene, handbreite Bretter in der Hand. Danica spannte sämtliche Muskeln in ihrem Leib an, denn man konnte sehen, dass die Muskulatur am Bauch deutlich hervortrat. Selbst die Muskeln in der Leiste waren zu sehen. Dragan hörte leises Geflüster, dass sie ein Monster sei. Dann schlugen die Handlanger zu. Es war ein dumpfer Ton, als das Holz auf offenbar harten Widerstand stieß. Danica gab kein Ton von sich und nickte knapp. Die Männer schlugen erneut zu, ohne Bognas Aufforderung. Dem Vogt stand indessen der Mund leicht offen. Er hatte wohl nicht erwartet, dass die Bestrafung so anders verlief. Bogna konnte sie auch nicht einfach unterbrechen, das wusste er offenbar auch selbst. Als noch vier Schläge übrig waren, hatte er sich wieder unter Kontrolle. Rote Streifen hatten sich an Danicas Körpermitte gebildet, wo das Holz sie getroffen hatte, doch sie gab noch immer keine Schmerzenslaute von sich. Dragan gab sich unbeeindruckt, auch wenn er sich fragte, durch was für eine Hölle sie gegangen sein musste, dass ihr die Schläge nichts ausmachten. Er bemerkte, wie Bogna ihm indessen vermehrt Seitenblicke zuwarf. Dragan vermutete, dass der Vogt überlegte, die Strafe auch bei ihm durchzuziehen oder nicht – immerhin konnte er es sich nicht leisten, nach Danicas tapferer Standhaftigkeit noch einmal die Kontrolle über die Verhandlung zu verlieren.
Es waren noch zwei Schläge übrig, bis Vogt Bogna schließlich knapp die Hand hob und sagte, dass es genügte. Die Menge gab ein Raunen von sich. Einige Männer pfiffen und johlten, als Danica ihren Arm vor ihre Brust legte, andere protestierten, dass sie mehr sehen wollten.
 „Ruhe!“, bellte Bogna und breitete die Arme aus, „Tapferkeit soll belohnt werden, selbst für Verbrecher. Wir sind schließlich keine unzivilisierten Wilden, wie sie es jenseits der Weite sind.“ Zustimmendes Gelächter ertönte, was der Vogt rasch nutzte, um die restliche Strafe zu erlassen. Nur vereinzelt wurde dagegen gemurt, doch brannten die meisten für die Hauptverhandlung, die Bogna nun einleitete.
„Ich berufe einen Diener unseres Gottes als meinen Beistand, auf das ich stets nach der Wahrheit suchen werde, und die Gerechtigkeit am Ende obsiegt.“ Es war kaum an Theatralik zu überbieten. Dragan musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass ein Hohepriester die Bühne betrat. Ein Mann, gekleidet in schwarz-roten Roben trat vor den Rednerpult. Eine spitze Kapuze verbarg sein Gesicht. Saum und Borte der Robe waren mit goldenen Flammen bestickt – wahrscheinlich Goldgarn. Der Hohepriester verneigte sich tief vor der Flammenschale, dann erhob er sich. Er trug eine bronzene Gesichtsmaske, die vage ein menschliches Gesicht darstellte. Die Augen waren jedoch geschlossen und der Träger blickte nur durch zwei schmale Schlitze. Ein stilisiertes, drittes Auge prangte in der Mitte der Stirn. Die behandschuhten Finger steckten in weißen Leder und umklammerten einen reich verzierten goldenen Stab. Auf dem Platz herrschte Grabesstille. Niemand wagte es lauter zu atmen als nötig. Ehrfurcht und Angst lagen in der Luft. Dragan wusste, dass ein Hohepriester niemals ohne Eskorte seinen Tempel verließ. Und die Tempelgarde des flammenden Auges war das Schreckgespenst des gesamten Landes. Niemand kehrte lebendig zurück, wenn sie einen holten. Niemand sprach über sie, wenn es nicht nötig war. Er wusste auch, wer hinter ihnen stand und in Wahrheit die Fäden zog. Ein Geheimnis, das ihn sicherlich noch einholen würde. Dragan war plötzlich heilfroh um das etwas muffig riechende Tuch vor seinem Gesicht und vermied jeden Blickkontakt.
 Der Hohepriester wandte sich indessen zu Bogna um. Seine Stimme klang blechern, als er begleitet von einem knappen Nicken sich für die Einladung bedankte.
 „Nicht doch, Kněz Mórval“, erwiderte der Vogt ergeben, „Es ist eine Ehre, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beglückt.“
„Eine Ehre, die der Gebieter erst ermöglicht“, sagte Mórval streng und trat zur Feuerschale, in der kleine Flammen loderten, „Seht her, ihr Zweifler!“ Die kalte Stimme Mórvals durchdrang jeden Anwesenden und ging durch Mark und Bein. Einige der Schaulustigen schüttelten sich unangenehm berührt. Selbst Dragan lief es kalt den Rücken hinab. Danica warf ihm einen warnenden Seitenblick zu. „ Die Macht des Herrn der Erde ist unter euch!“ Daraufhin half einer von Bognas Schläger dem Hohepriester einen Handschuh auszuziehen. Dragan schob das Klingenstück in seinem Mund nach vorn. Zwei der Ziele standen in direkter Reichweite. Seine Augen suchten eilig den Platz ab, doch kein Signal war zu sehen, oder etwas ähnliches. Seine Augen verharrten auf den Soldaten Rhûns, der anfangs vorgetreten. Tar rührte sich jedoch kein Stück. Indessen kamen aufgeregte Laute, erschrockenes Gemurmel und vereinzelte Rufe aus dem Publikum. Dragan blickte rasch zu Mórval, der seine marmorbleiche Hand mitten in die Flammen der Feuerschale hielt. Ein schmaler Eisenring ohne Fassung an seinen Daumen begann nach einer Weile rötlich zu glühen, doch Mórval gab keinen Ton von sich. Dragan sah genauer hin, als der Hohepriester seine Hand aus dem Feuer zog. Er hatte fest damit gerechnet, verbranntes Fleisch zu riechen und geschmolzene Haut zu sehen, doch nichts war geschehen. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Ein leises Stimmchen aus dem dunkelsten Teil seines Gedächtnisses flüsterte eine eindringliche Warnung, die Dragan bewusst ignorierte. Es war unmöglich, beruhigte er sich, niemand auf dem Brunnenplatz wusste, wer er wirklich gewesen war. Das waren nur die Geister der Vergangenheit, die seinen Verstand nicht zur Ruhe kommen ließen und ihn Dinge sehen ließen.
Mórval hob seine unverletzte Hand und rief: „Mit dem Segen und der göttlichen Macht des Chernubogs, dem Herrn der Erde, wohne ich diesem Gericht bei und sorge für Gerechtigkeit!“ Er wandte sich plötzlich um, und stellte sich zwischen Rednerpult und Dragan. Kaum hörbar flüsterte Mórval: „Nicht wahr, Jener, der in den Schatten wandelt?“. Er zog sich gelassen seinen weißen Handschuh wieder an. „Nun, besser gesagt ehemaliger Nachtwandler.“ Die Menge jubelte indessen laut auf, manche aus blanker Furcht, andere aus tiefster Ergebenheit. Einige gingen sogar auf die Knie und beteten. Mórval hob lässig seine Hand, deren totenbleiche Haut wieder von dem weißen Handschuh bedeckt wurde. Sofort kehrte Stille ein. „Diesmal sind keine der Weißen Streiter da, die Euch retten werden.“ Der Schatten hinter der Maske lachte leise.  „Nicht erneut. Und nie wieder.“ Der Hohepriester streckte die Brust heraus, verschränkte die Arme hinter den Rücken. Seinen Stab stellte er mit einem Pochen auf die Holzplanken. „Genießt das Schauspiel, falls Ihr dem etwas abgewinnen vermögt. Ich werde jeden einzelnen Augenblick davon voll auskosten, wie eine unberührte Jungfer auf dem Altar, Gurgof.“

Dragan ballte seine bisher entspannten Hände zu Fäusten. Er hatte es ja heraufbeschwören müssen. Die Fehler der Vergangenheit holten einen immer ein, dachte Dragan sich, während Bogna einen verfälschten Ablauf des Kampfes herunterleierte. Sein Blick ging zu Danica, die ihn mit einer Mischung aus Unbehagen und Wut anblickte. Es war der Blick eines Menschen, in dem ein heftiger Kampf zwischen Fluchtinstinkt und hasserfüllten Blutdurst tobte. Ihre Blicke galten aber nicht ihm, oder Mórval, sondern Bogna. Dragan erinnerte sich leise, dass sie aus dem Osten kam. Und der Vogt hatte sich erst kürzlich über sie und alles jenseits der Weite amüsiert. Offenbar fehlte nicht mehr viel und Danica würde vor Zorn platzen. Von dem was er bisher von ihr gesehen und beobachtet hatte, würde die Verhandlung in einem Blutbad enden, sollte es dazu kommen. War dies etwa das Signal? Wenn Danica ausrastete? Sein Blick ging zu Tar, der verdächtig nahe an der grob gezimmerten Bühne stand. Würde der Soldat Rhûns ihr dann sein Schwert zuwerfen? Die im Schatten des Helmes liegenden Augen waren nicht zu sehen. Tar wirkte tiefenentspannt, die Hellebarde unverändert gen Boden gerichtet. Dragan biss sich auf die Lippen. Es war zu vage und er klammerte sich an Dinge, die nicht waren – nur sein könnten. Sein Blick huschte nach links, wo Mareks Vertrauter wachsam in das Publikum stierte. Der Mann gab jedoch keine Regung von sich, auch wenn er sicherlich Dragans Blick bemerkt hatte. Er fluchte innerlich und wandte sich wieder Vogt Bogna zu, der endlich mit seiner Schilderung des Vorfalls endete, bei dem die Menschen je nach Intensität der Erzählung erschrockene, schockierte oder aufgeregte Laute von sich gegeben hatten. Natürlich war es nur ein stinkender Haufen Mist aus Lügen und verdrehter Wahrheit gewesen. Jetzt ging es endlich daran, die Aussagen gegeneinander aufzuwiegen. Und Tar rührte sich endlich, um seine erwählte Pflicht als Fürsprecher nachzukommen. Dragan schaute sich noch einmal rasch um, den Blick auf die umliegenden hölzernen Dächer konzentriert, doch kam kein Signal. Sein Blick blieb an Mórval hängen. Jede Faser in Dragans Körper schrie danach, den Hohepriester zu töten. Seine Hände wurden taub, als er sich gegen das Leder seiner Fesseln stemmte. Niemand durfte wissen, was er getan hatte, ganz gleich wer. Koste es, was es wolle. Zu tief war die Wut auf sich selbst, die das auslösen würde. Er hatte zu hart gekämpft, um jetzt von den Schatten seiner Schuld wieder eingeholt zu werden.

Curanthor:

Dragan atmete tief aus und versuchte seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. So wie er es einst gelernt hatte. Danica wurde neben ihm geschubst. Mareks Vertrauter  wechselte einen kurzen Blick mit ihnen. Ganz langsam schüttelte er den Kopf. So unmerklich, dass es Dragan fast gar nicht aufgefallen war. Er entspannte sich und schob das Stück Metall in seinem Mund wieder etwas zurück. Mórval war indessen vor den Rednerpult getreten und musterte Tar scharf, der inzwischen ebenfalls auf die Bühne  getreten war. Der Soldat blieb nur kurz stehen, marschierte dann aber zu Dragan und Danica, nur um sie beide mit dem Schaft seiner Hellebarde etwas in den Hintergrund zu schieben. Makres Vertrauter wich ihnen nicht von der Seite. Dragan meinte kurz ein Flüstern zu hören, dass sie ruhig bleiben und Geduld haben sollten. Vogt Bogna, der die Anklage vertrat, blieb an dem Rednerpult und schaute indessen über seinen Rücken, wo hinter der Tribüne die Protokollschreiber saßen. Es waren sechs, jeder für einen der Anwesenden. Ihre Federkiele kratzten unablässig über das kostbare Pergament. Hohepriester Mórval diente als Gerichtsleiter und versuchte sich wohl neutral zu geben. Der Soldat Tar baute sich inzwischen schützend vor Danica und Dragan auf. Die beiden wechselten einen Blick, doch selbst Dragan kannte diese Art Verhandlung nicht. Das war eine Neuerung, die erst eingetreten war, nachdem er seine Heimat vor Jahren verlassen hatte. Und nun brachte seine damals begonnene Suche nach seiner Liebe wieder zurück, dorthin wo alles begonnen hatte. Das Schicksal hatte Geschmack für Ironie - oder einer der Strippenzieher.
„Die Vorwürfe haben wir vernommen“, begann Mórvals blecherne Stimme sanft und machte eine einladende Geste zu Tar, „Hören wir, was der Fürsprecher zu der Verteidigung der Beschuldigten zu sagen hat.“
Bestimmt nicht viel, dachte sich Dragan. Sie hatten keine Möglichkeit gehabt mit dem Soldaten zu sprechen. Noch nicht einmal mit den Männern, die sie aus dem verwüsteten Zimmer gezerrt hatten. Niemand kannte die wahre Geschichte.
Tar pochte mit seiner Hellebarde laut auf das Holz, um das aufgekommene Gemurmel zu unterbinden. „Wir danken dem Gericht, dass es die Identität der Verhüllten bewahrt“, begann der Soldat freundlich und neigte sich leicht zu Bogna. Erstauntes Getuschel war zu hören. Der Soldat war wortgewandt, stellte Dragan überflüssig erstaunt fest und erlaubte sich etwas mehr Zuversicht. „Sonst wäre die Integrität dieser Verhandlung untergraben. Dennoch muss ich anmerken, dass die übereilte Bestrafung der Gefangenen einen Verstoß gegen den Erlass der Bojaren darstellt.“ Empörte, aber auch zustimmende Rufe wurden laut. Mórval hob eine Hand und es kehrte Ruhe ein, während Bogna eine Spur rot vor Zorn wurde. Tar sprach unablässig weiter und zitierte: „Niemand sollte für etwas bestraft werden, wenn die Schuld nicht bezeugt wurde.“
„Anerkannt“, sagte der Hohepriester knapp.
 Das Getuschel erstarb augenblicklich. Bogna wirkte etwas perplex. Dragan grinste verstehend hinter seinem Tuch. Sie waren gut! Mórval machte den Eindruck fair zu sein und zog das Volk auf seine Seite. Bognas Stellung war geschwächt, aber auch ihre eigene. Es gab keine Zeugen, nur eine Wächterin Brankos, die mit einem Fußtritt Danicas fast getötet wurde.
Tar war jedoch nicht fertig und wandte sich an den Vogt: „Ich vermute, es gibt Zeugen?“
 Bogna antwortete erwartungsgemäß, dass die damals bewusstlos geschlagene Wächterin der Hvalamark eine Zeugin war.
Der Soldat Rhûns schnalzte mit der Zunge. „Bewusstlos?“, wiederholte er laut und deutlich und deutete auf Dragan und Danica, „Und die Beschuldigten werden nicht befragt? Aber man nimmt das Wort einer Bewusstlosen für bare Münze? Die was genau gesehen hat? Bewusstlos, wohlgemerkt.“
 Zustimmendes Gemurmel war auf dem Platz zu hören. Vogt Bogna  blickte eindringlich zu dem Hohepriester, der fürchtete, dass ihm die Kontrolle entglitt. Ihm schien erst jetzt aufzugehen, wie dünn das Eis war, auf dem er sich bewegte. Vakrim Castav war schlau – zu schlau, um sich mit solch einem Desaster nicht zu befassen.
Wie erwartet sprang Hohepriester Mórval dem Vogt zur Hilfe und erinnerte Bogna, das die Wächterin bereits von den Heilern seines Tempels versorgt worden war. Wenn nötig, könnte sie ihre Aussage vor Gericht wiederholen. Er wandte sich nun an Tar und sagte, dass sein Tempel einige erfahrene Heiler hatte, die alle bezeugen konnten, das eine Bewusstlosigkeit durch einen Schlag nie länger als einige Momente dauerte.
 Der Soldat nickte und antwortete ruhig: „In der Tat. Ich selbst habe in mehreren Schlachten gekämpft und wurde auch ab und an mal bewusstlos geschlagen.“ Dragan verzog das Gesicht, dass sein Fürsprecher ihren Gegnern zustimmte. „Dennoch stellt sich dann die Frage, warum die Wache dann auf dem Zimmerboden liegen blieb. Und ihren Herrn auf dem Bette Danicas der Klinge ihrer Feindin schutzlos auslieferte.“ Er machte eine kurze, bedeutungsschwangere Pause. „Ist es nicht ihre oberste Pflicht gewesen, das unter allen Umständen zu verhindern? Schaden von ihrem Herrn abwenden?“
 Lauter Protest und Zustimmung breitete sich durch die Sitzreihen aus. Tar hatte ganz nebenbei der Version von Bogna widersprochen. Der Vogt hatte nämlich behauptet, Dragan und Danica hätten den Bojar in ihr Zimmer gelockt und die Wachen vor der Tür überwältigt – und sie eben nicht das Zimmer betreten hatten.
Mórval hob seine Hand und sofort kehrte Ruhe ein. „Ein berechtigter Punkt, der Zweifel aufkommen lässt“, stimmte der Hohepriester überraschend zu, „ Dennoch dürfen sich die Verhüllten eventuellen Annäherungen nicht widersetzen.“
 „Der ehrenwerte Bojar Branko wollte in der Tat eine private Unterhaltung mit der Verhüllten führen“, räumte Vogt Bogna schließlich ein, der damit wieder alle Karten in der Hand hielt, „Doch es wäre unschicklich gewesen, das offen zuzugeben. Schließlich wird kein Manne von gewissen Stande einfach verkünden, er gehe in ein Badehaus.“
 Die Reaktionen waren erwartet heftig. Die Menge begann sofort brodeln und rief aufgeregt durcheinander. Man konnte merken, wer sich vehement dagegen aussprach und diese Art der Zwangsarbeit als absolut unwürdig und als ohne Ehre empfand. Dragan wusste, dass Govedalender die eigene Ehre und die der Familie sehr wertschätzten. Eine Eigenschaft, die vor allem die neueren Adligen überhaupt nicht verstanden, oder als hinderlich erachteten – Vakrim Castav allen voran. Auf der anderen Seite waren jene, die ihre Privilegien verteidigten, oder die, die sich an jedes bisschen Überlegenheit klammerten, die sie in ihrem erbärmlichen Leben hatten. Ein einfacher Bauer war mehr wert als ein Verhüllter. Und das führte zu einer tiefen Spaltung. Die Stimmung heizte sich merklich auf und auch Vogt Bogna hatte Mühe die Menge unter Kontrolle zu halten. Erst als die Stadtwachen zwischen die Sitzreihen rückten und die Hände an die Schwertgriffe legte, wurde es langsam stiller. Hohepriester Mórval griff die ganze Zeit über nicht ein, offenbar genoss er das Chaos. So wie alle seiner Art, dachte sich Dragan und war erleichtert darüber, dass es offenbar doch viele aus dem Volk gab, die unzufrieden waren, wie dieses Land geführt wurde.

 „Also kann ein Adliger mit einem Verhüllten tun und lassen, was er will“, fasste Tar schließlich zusammen, als die Menge sich nach einer Weile beruhigt hatte.
Vogt Bognar bestätigte dies und setzte rasch nach: „Darauf baut dieses Land auf.“ Er breitete die Arme aus, als ob der den Brunnenplatz umfassen wollte. „Der Adel führt das Land. Wir wissen, wo man Brunnen anlegen kann, wo gutes Land ist und wem es gehört.“ Dann klopfte er sich auf die Brust. „Wir verwalten es und erledigen alle Arbeiten, die komplizierte Berechnungen benötigen, Diplomatie benötigen, interne Absprachen und Angelegenheiten innerhalb des Königreiches betreffen. Nichts, was ein einfacher Bauer verstehen, gar erledigen könnte! Noch weniger ein Sträfling, der unsere Gesetze bricht!“ Der Vogt deutete auf sie beide, „Und wenn man unsere Gesetze bricht, wird man nicht von ihnen geschützt, so einfach ist das.“
 Eingelullt von den Worten Bognas schwang die Stimmung wieder zu seinen Gunsten, doch der Soldat Tar hatte offenbar damit gerechnet. Er lachte leise und spielte wohl seine entscheidende Karte.
„So einfach ist das“, wiederholte Tar, woraufhin Mórval aus seiner Starre erwachte und um Klarheit bat. Offenbar spürte der Hohepriester, dass Tar etwas zur Sprache bringen wird, das die gesamte Anklage zusammenfallen lassen würde. Er konnte die Verhandlung aber nicht einfach abwürgen, ohne seinen Tempel an Gesicht verlieren zu lassen.
 „Natürlich, Mórval“, entgegnete der Soldat höflich und zuvorkommend, dann wandte er sich wieder zu Vogt Bogna, „Dann stellt sich die Frage, warum die beiden überhaupt zu Verhüllten wurden.“ Dragan blinzelte überrascht. Tar drehte sich zu ihnen um, „Sind es nicht jene Verbrechen, die dem Volk, dem Adel und den Beschuldigten selbst schaden? Warum waren sie überhaupt in dieser Situation?“
 Nun lachte Vogt Bogna leise und grinste selbstsicher. „Wie bereits gesagt, wird das Gericht die Identität der Verhüllten bewahren.“ Das Grinsen währte nur kurz und er wurde todernst. „Und das ist nicht verhandelbar.“
 Dragan blickte durch den Schlagabtausch zwischen dem redegewandten Soldaten und den sich windenden Vogt hin und her. Tar wirkte selbstsicher wie ein Fels in der Brandung – nichts schien ihn erschüttern zu können, Bogna hingegen mehr und mehr wie ein zappelnder Aal. Eine Tatsache, die nicht nur Dragan auffiel. Mórval wirkte deutlich rastloser. Seine Finger schlossen und öffneten sich, fast unmerklich, um seinen goldenen Priesterstab. Mehr erlaubte er sich nicht. Dragan fiel aber auch auf, dass Bogna unter allem Umständen geheim halten wollte, wer sie wirklich waren. Vielleicht wusste er, dass hier der eigentliche Erbe der Fürstenkrone stand? Sein Blick wanderte zu Danica. Oder war sie jemand, vom hohen Stand? Jemand, mit dem man es sich besser nicht verscherzte? Es war selten, dass ein Hohepriester des Tempels ungeduldig wurde… oder war dies aufkommende Nervosität?
 „Ha!“, machte Tar plötzlich und Bogna zuckte kurz zusammen, selbst das Publikum war erstaunt von dem plötzlichen Ausruf des sonst so ruhigen Soldaten, „Tatsächlich weiß ich, wer sich unter diesem Tuch verbirgt.“

 Dragans Herz klopfte wild in seiner Brust. Seine Ohren wurden heiß, die Wangen warm. Würden nun alle erfahren, dass der verlorene Sohn des Wolfes nach Hause gekommen war? Dass die alte Blutlinie der Herrscher Govedalends ihr altes Recht einfordern würde? War er bereit dafür? Er begann unter den Achseln zu schwitzen. Nein, bereit war er nicht. Dragan atmete tief aus, aber er würde sich dem stellen. Dann blickte er auf den ausgestreckten, gepanzerten Finger Tars. Und er deutete auf Danica. Dragan schluckte einen großen Brocken Aufregung und Erleichterung herunter. Neugierde ersetzte ihn, während sich ein bitterer Geschmack der Enttäuschung dazu mischte. 
 Der Soldat senkte seine Stimme, sodass man ihn nur auf dem Podium hörte: „Seid Ihr sicher, dass Ihr dem Jadethron erklären wollt, wie es hier zu kommen konnte? Selbst König Goran und all seinen Beratern wird das schwer fallen.“ Seine Stimme floss ihnen  wie Honig um die Ohren, umschmeichelte sie und brauchte erst einige Herzschläge, um zu ihnen durchzudringen.
 Ein Dutzend Dinge geschahen auf einmal: Vogt Bogna wurde kreidebleich und machte einen Schritt vom Rednerpult zurück – sehr zum allgemeinen Missfallen. Das Publikum begehrte laut auf und verlangte eine Erklärung oder ein schnelles Urteil. Hohepriester Mórval wandte sich Tar zu und hob mit einem Zischen drohend seinen Stab. Dragan blickte verwirrt umher zu Danica, die sich gerade mit aller Macht gegen ihre Lederfesseln stemmte. Ihr entblößter Oberkörper war ihr vollkommen egal. In ihren Augen loderte blinde Wut. Sein Körper kribbelte vor Instinkt. Er machte unwillkürlich einen Schritt von ihr zurück. Eine Hand packte Dragan an der Schulter und zog ihn grob zurück. Es war Mareks Vertrauter. Ein leises Zischen, ein Lufthauch an seiner Wange, dann folgte ein allgemeiner Aufschrei auf dem gesamten Brunnenplatz. Wachen brüllten los, Schwerter wurden gezogen. Ein rascher Blick verriet ihm, dass Bogna nach hinten taumelte, einen weißen Pfeil mitten in der Brust. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Ein scharfes Schnappen und sein Blick raste zu Danica. Sie hatte ihre Fesseln gesprengt. Wie ein wild gewordenes Tier sprang sie vor und einen der kräftigen Schläger Bognas  an, die auf die Empore stürmten. Ihre Finger gruben sich unter einem markerschütternden Schrei in dessen Augen. Der Wachmann drehte Dragan grob um, dann kribbelten seine Finger, als das Gefühl in die Hände zurückkehrte. Der Druck auf seine Handgelenke war fort. Er blickte den Mann nur an, der nur knapp nickte. Dann schloss er sich den übrigen Stadtwachen an, die die Hälfte der Menschenmenge daran hinderte, die Bühne zu stürmen. Dragan erfasste die Situation rasch. Tar und Mórval belauerten sich, Stab und Hellebarde aufeinander gerichtet. Bogna wurde von seinen drei übrigen Schlägern beschützt, während einige der Protokollschreiber versuchten die Blutung zu stoppen. Danica saß inzwischen auf dem Nacken des Schlägers, ihre blutigen Finger in seinem Gesicht, den Arm um dessen Kopf gegriffen. Mit einem Ruck und scharfen Knacken brach das Genick. Leblos fiel der schwere Körper auf die Planken, das Holz erzitterte unter dem massigen Gewicht. Elegant rollte sie sich ab. Ihre Augen rasten zu Dragan. Es war eine Aufforderung: Komm‘ mir nicht in die Quere. Blonde Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr wild vor den Augen, ihren irren Blick fast verdeckend. Mit einem Schrei wich sie einem Speerstich aus, packte den Schaft und zerbrach ihn mit ihrem Knie. Sie drehte sich an dem Schläger vorbei und rammte ihm mit einer fließenden Bewegung den abgebrochenen Schaft in die Kniekehle. Der zweite Schläger schwang inzwischen eine schwere Henkersaxt nach ihr. Sie duckte sich darunter und rollte sich ab, außerhalb seiner Reichweite. Der verwundete Schläger wollte zur Seite humpeln, doch war das verwundete Bein erlahmte. Zu langsam. Die Axt seines Kumpanen grub sich knirschend in den Brustkorb. Der Hüne schrie kehlig auf. Danica kam flink auf die Beine.
 Dragan erwachte aus seiner Starre, als plötzlich eine bronzene Maske, umgeben von rot-schwarzem Stoff vor ihm in die Höhe wuchs. „Stirb, Verräter“, zischte eine Stimme krächzend. Dragans schlummernder Instinkt erwachte. Wie eine Bestie, die unsanft aus dem Winterschlaf geweckt wurde, hob er den Kopf. Eine Hand Dragans packte die feindliche Hand mit dem zustechenden Dolch, die Klinge genau zwischen seinen Fingern. Die andere fing die ausgespuckte Klingenspitze der Schleicherin. Dass sie dabei seine Lippen schnitt, merkte er nicht. Das gebrochene Stück Metall beschrieb einen blitzenden Bogen. Warme Tropfen sprühten ihm über die Finger. Ein ersticktes Gurgeln unter der Maske war zu hören. Der Tempelknecht sackte zuckend zur Seite, die Hände verzweifelt auf die Kehle gepresst. Dragan trat ihn mit einem Fuß von der Tribüne. Sein Blick erhaschte am anderen Ende des Brunnenplatzes einen großen Tumult, der den Großteil der Stadtwachen beschäftigte. Banner waren zu sehen, die auf den Platz drängten. Ein schwarz-weißer Turm auf rotem Grund, gekreuzter Hammer und Stielaxt in Gold darunter. Ein wütender Schrei rief ihn wieder zurück auf das Podest. Dragan machte einen Schritt zurück. Seine Hand fuhr zu seinem Gürtel, wo normalerweise ein Dutzend Messer und Wurfdarts waren. Doch er war unbewaffnet. Die Tempelgarde stürmte  indessen die Treppen zum Podest und schob grob die Menschen zur Seite. Sie trugen schwere Bronzerüstungen, wallende rote Mäntel und eher zeremonielle Waffen, die dennoch tödlich waren. Ihre Helme besaßen Vollvisiere. Er fluchte leise. Veteranen, das erkannte er daran, wie sie sich gegenseitig mit ihren breiten Schilden in alle Richtungen Deckung gaben. Plötzlich erschien Danica neben ihm, ein blutiges Kurzschwert in der Hand, ihre blonden Haare getränkt vom Blut, ebenso wie ihr entblößter, vernarbter Oberkörper. Sie schien jedoch unverletzt. Die Tempelgarde des flammenden Auges stoppte kurz, als sie auf dem Podest angekommen waren. Mareks Vertrauter erschien hinter ihnen. Ein zweiter Pfeil sauste heran. Er war so schnell, Dragan hätte ihn fast nicht gesehen. Sein Blick flog mit ihm. Zu Mórvals Rücken, der gerade einen Stich der Hellebarde Tars abwehrte. Ein helles Pling ertönte. Der Hohepriester hatte den Pfeil mit seinem goldenen Stab pariert. Das weiße Geschoss landete klappernd auf dem Holzboden. Die Tempelgarde senkte die Waffen und setzte zum Sturm an.
„Genug!“, rief Mórval und parierte erneut die zustoßende Hellebarde. Tar machte daraufhin einen Schritt zurück. „Stopp!“, brüllte der Hohepriester nun mit unmenschlicher Lautstärke. Das Chaos, die Panik und das Lärmen auf dem Brunnenplatz verebbten langsam. Nur das Stöhnen der Verwundeten und das Keuchen der Umstehenden waren noch zu hören. Ein seltsamer Moment der Ruhe kehrte ein. Sie alle blickten sich rasch um. Dragan bemerkte einige leblose Körper auf dem Weg zur Tribüne. Der Kleidung nach waren es einfache Bürger, stellte er bitter fest. Auf dem Podest selbst lagen die drei übrigen Schläger Bognas ebenfalls tot auf den Planken. Einer hatte alle viere von sich gestreckt, ein zerbrochenes, blutiges Holzstück ragte über seinem Schlüsselbein aus seiner Brust. Ein anderer lag gekrümmt am Rednerpult, den Schädel mit einer Henkersaxt gespalten. Der Letzte hatte sein Ende durch einen Stich in die Halsschlagader gefunden. Bogna lag weiter hinten, umringt von vier Protokollschreibern, alle jeweils mit einem weißen Pfeil in der Brust. Der Vogt starrte erstaunt und angsterfüllt in den Himmel – für immer, eine Hand an eine Manteltasche gekrallt.
 Die Pause währte nur kurz. Ein Tross schwer bewaffneter Krieger drängte sich entschlossen durch den chaotischen Platz. Die kurz verebbte Panik flammte wieder auf. Menschen drängten in alle verschiedene Richtungen.
„Macht Platz!“, wurde laut gerufen, „Macht Platz für den Markgraf von Remedà!“
Einige hielten Inne. Die Tempelgarde machte prompt kehrt, wieder hinab auf den Brunnenplatz. Auch Mórval wirkte verärgert. Er schaute zwischen Tar, Danica und dem großen Tross hin und her, dann wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Die Krieger aus Remedà drängten samt Banner die Treppe zum Podest hinauf und gerieten mit der Tempelgarde aneinander. Es waren wild aussehende Krieger, alle gekleidet in Bronzerüstungen und Wildleder, bewaffnete mit großen Äxten, schweren Hämmern und exotischeren Waffen. Es wurde geschoben, geflucht und geschubst. Ein Tumult auf dem Podest brach aus, zu seinem Glück jedoch ohne, dass sich jemand um Dragan kümmerte, wie er feststellte. Rasch sah er sich nach einem Fluchtweg um. Eine Hand auf seiner Schulter machte den Gedanken zunichte.
 „Kommt, rasch“, flüsterte Tars Stimme und zog ihn nach hinten, „Ihr auch“, zischte der Soldat an die widerwillige Danica. Die beiden wechselten einen raschen Blick. Mareks Vertrauter tauchte in ihren Blickfeld auf. Er hatte die weiße Dolchscheide in der Hand und ließ sie spielerisch durch seine Finger wandern. Der Blickkontakt hielt nur kurz, dann räusperte der Wachmann sich und deutete scheinbar aufgeregt auf ein Dach am anderen Ende des Platzes. Zwei Dutzend Stadtwachen stürmten los, alle Blicke wendeten sich in die gedeutete Richtung. Dragan und Danica hechteten kurzentschlossen hinter Tar her, der an dem toten Bogna vorbei von der Bühne sprang. Die zwei überlebenden Schreiber kauerten sich ängstlich unter ihren blutbesprenkelten Tischen. Aus einer der dunklen Gassen kam eine Stadtwache. Tar schmetterte ihr im Vorbeilaufen den Schaft der Hellebarde gegen die Stirn. Danica fing den Mann im Fallen auf und Dragan packte ihn rasch an den Stiefel. Eilig verschwanden sie hinter einem Stapel Fässer und warfen die bewusstlose Stadtwache in den übelriechenden Matsch der Gosse. Erst jetzt erlaubte sich Dragan tief auszuatmen und beugte sich nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt. Was bei den Sternen war da gerade geschehen? Ihm schwirrte der Kopf. Ein leises Sirren von Stahl alarmierte ihn. Als Dragan aufblickte, sah er, wie Danica ihr Schwert auf Tars Hals gerichtet hatte. Ihre blauen Augen funkelten hinter ihrem blutig-blonden Vorhang aus Haaren vor Zorn.
„Wenn Ihr keine Zeit verschwenden wollt, solltet Ihr von unten durch den Mund in den Kopf stechen“, empfahl der Soldat ruhig, „Oder ich führe uns an einen ruhigen Ort.“ Er blickte auf den Gasseneingang zum Brunnenplatz, von dem noch immer lauter Tumult zu hören war. „Entscheidet Euch rasch, wir haben nur ein sehr, sehr kurzes Zeitfenster für einen Plan, der euch beiden helfen wird.“
Dragan wusste nicht ganz, ob er etwas sagen sollte, sie erschien ihm Momentan unberechenbar. Die Wahl war jedoch offensichtlich. Danica sah mehrmals so aus, als ob sie jeden Augenblick zustechen würde. Schließlich entschärfte Tar die Situation und packte die Klinge mit zwei spitzen Fingern. Die Kriegerin ließ schließlich die Waffe sinken. Der Soldat nickte knapp und bedeutete ihnen zu folgen. Im Gehen rupfte er einen Überwurf von einer Wäscheleine und warf ihn nach hinten. Danica fing ihn auf und bedeckte sich. Schweigend eilten sie die enge Gasse entlang, begleitet von dem lautstarken Stimmengewirr des Brunnenplatzes. 

Curanthor:
Weit entfernten sie sich nicht von dem Platz. Sie bogen in einen schäbigen Hinterhof ein, der nur durch einen verrotteten Zaun von der schmutzigen Gasse getrennt wurde. Das laute Stimmengewirr vom Brunnenplatz wurde von dem Wind in einem unablässigen Gemurmel zu ihnen getragen. Der Hinterhof war zur Hälfte mit staub verkrusteten Fässern und Kisten vollgestellt. Ein löchriges, morsches Tuch diente als Dach. Tar blieb vor dem Zaun stehen und winkte Dragan und Danica hinein. Sie blickten ihn misstrauisch an, dann ging Danica vor, das blutgetränkte Schwert wachsam erhoben. Dragan folgte ihr und stieß fast mit ihr zusammen. Zwei Gestalten in langen Kapuzenmänteln warteten im Schatten in einer Ecke des Innenhofes, hinter einem Stapel Fässer. Offenbar hatte man sie erwartet, denn die beiden erhoben sich langsam. Tars Stimme hinter ihnen ertönte, dass alles in Ordnung war. Dragan machte einen Schritt zur Seite, um Danicas möglichen Rückzug nicht zu blockieren.
 „Keine Sorge“, sagte die Kleinere der beiden Fremden, die hohe Stimme ließ eindeutig auf eine Frau schließen, „Wir sind Verbündete.“ Dann schlug sie die Kapuze zurück. Ein wunderschönes, ebenmäßiges Gesicht blickte sie an. Die Haut so glatt und makellos als ob einer kunstvollen Marmorbüsten in der Sammlung seines Vaters lebendig geworden war. Die langen, dunkelblonden, fast schon hellbraunen Haare kompliziert geflochten. Drei dünne Zöpfe hingen ihr von der rechten Schläfe herab und lagen ihr auf der Brust. Einige Eisenklammern hielten sie aus ihrem Gesicht.
Dragan erstarrte. Er kannte die Stimme. Danica wirkte erstaunt und schien nicht so recht zu wissen, was sie tun sollte. Das Erste, was er tat war, sich knapp zu verneigen und Danica zu bedeuten das Schwert zu senken. Sie zischte ihn daraufhin an, was er vorhatte.
 „Bitte, wir wollen euch helfen“, sagte die Elbe mit einem bezaubernden Lächeln, das kurz verschwand, als sie an ihnen vorbeischaute. Dann rief sie etwas lauter in einer melodisch klingenden Sprache. Dragan verstand nur den Namen, Tár. Die Elbe lächelte ihnen dann wieder zu und schien auf etwas zu warten. Ein leises Poltern vom Stapel der Fässer war zu hören. Danica riss das Schwert hob, Dragan drückte die Klinge jedoch mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck herunter. Das erste Mal bei seiner Ankunft in Draganhrod fühlte er sich erleichtert. Von ganzem Herzen. Danica erkannte sofort ihren Fehler und ging hastig auf ein Knie, den Matsch auf dem Boden ignorierend.
 „Verzeiht, Weiße Geister“, murmelte sie und senkte den Kopf, „Ich habe nie gedacht Euch zu treffen.“
Weiß sprang leichtfüßig von dem Stapel Fässer und verstaute in einer Kiste seinen Bogen aus hellem Holz. Der Krieger war unverändert, fiel es Dragan auf, als er seinen Köcher mit weißen Pfeilen ebenfalls in die Kiste legte. Fast vollständig in weiß gekleidet, ein Tuch vor dem Gesicht, nur die Augen glitten unablässig umher. „Wir haben nicht viel Zeit“, murmelte Weiß nur rasch und drängte sich zwischen ihnen vorbei. Er tauschte mit Tar und hockte sich an den Zaun, die Gasse hinab zum Brunnenplatz spähend. Der Soldat stellte sich neben die Elbe, und strich ihr kurz über die Schulter.
 „Ihr gehört zu ihnen“, stellte Danica erstaunt fest und schien auf einmal deutlich unwohl. Dragan hatte noch die Szene in Kopf, wie sie dessen Kehle mit dem Schwert bedrohte.
Ehe sie sich dafür entschuldigen konnte, hob der Soldat eine Hand. Der Dritte der Weißen Streiter kletterte geschwind auf die Fässer und verschwand und blieb somit vollkommen unerkannt. Dragan blickte ihn kurz hinterher, als der Saum des grauen Umhangs über eines der Dächer strich, dann war er fort.
 „Nun“, begann Tár und schaute kurz zu der Elbe, dann zu Dragan und Danica, „Mich düngt, ihr beide habt viele Fragen.“ Sie nickten nur knapp, woraufhin er noch einmal betonte, dass sie keine Zeit hatten für Erklärungen. „Wir haben schon lange mit Sorge beobachtet, was sich im Schatten dieses Landes bewegt.“ Der Blick Társ lag auf Dragan, „Und erlaubten es uns, gelegentlich eingegriffen.“
 „Ihr wart das“, traute sich Dragan endlich zu flüstern und starrte die bildhübsche Elbe an. Ihre grauen Augen funkelten erfreut. „Ihr habt mich aus diesem Albtraum befreit… ich…“ Er verstummte, als sie nur sacht den Kopf schüttelte und dann zu Tar nickte. „Verzeihung.“
 „Eine Entschuldigung ist unnötig, ebenso Euer Dank“, erwiderte Tar freundlich, „Ihr müsst um Euren Platz kämpfen, doch diesmal im Licht. Das ist der Preis für Eure Rettung, damals und heute.“ Dragan erinnerte sich noch gut und wollte noch mehr sagen, doch die namenlose Elbe hatte eine Hand gehoben und bedeutete Danica näher zu treten.
„Kommt“, forderte sie die Kriegerin mit sanfter Stimme auf, „Ihr werdet Hilfe brauchen, wenn ihr diese Schlüssel finden wollt. Befreien die Hilfe.“
 Dragan blickte sie überrascht an. „Woher-“ Er stockte. Es gab wichtigeres. „Ihr meint… meine Freunde?“
Sie lächelte und nickte. „Ja, deine Freunde. Wir beide werden zwei von ihnen befreien.“ Die Elbe wandte sich an Danica, „Den Schlüssel, bitte.“
Alle Blicke lagen auf Danica. Ihr Körper war erstarrt, ihre Hand umklammerte das  gesenkte Schwert fest. Offenbar rang sie mit sich, ob sie den Fremden trauen sollte, oder nicht. Auch Dragan fragte sich kurz, warum die Weißen Streiter den Schlüssel brauchten. Was hatten sie vor?
„Selbst eine kleine Geste kann den Unterschied machen, und genauso fordernd sein, wie eine Schlacht“, sprach Tár nun bedächtig und wandte sich an die Elbe, „Anel, wir sollten ihr Zeit geben, um Vertrauen zu fassen.“
Danica erwachte aus ihrer Starre und zog einen blutigen Schlüssel aus ihrem Hosenbund. Es war einer der Sechs. Dragan spürte, dass dies ein wichtiger Schritt für sie war. Auch die Elbe schien es zu spüren, denn sie wartete geduldig, bis das Metall in ihrer Handfläche lag und erst dann verneigte sie sich mit einem dankbaren Lächeln. Dragan wusste, dass der Schlüssel aus Bognas Manteltasche stammte. Er war sich aber nicht sicher, ob Mórval auch einen besaß. Die Elbe führte Danica etwas weiter fort und nickte ihm unmerklich zu – wohl um ihn zu beruhigen. Dragan tat es nur mit einem Achselzucken ab und wandte den Kopf. Tár öffnete derweil eines der Fässer und zog eine rot-schwarze Robe hervor. Dragan macht einen Schritt zurück. Er erkannte die aufgestickten, goldenen Flammen sofort.
„Um Euren rechtmäßigen Platz einzunehmen“, begann Tár und legte die Robe über ein kleineres Fass, „müsst Ihr hinter die Kulissen dieser Stadt blicken – nein, in die Schatten dieses Fürstentums.“ Mit spitzen Fingern zog er eine silberne Maske aus dem Fass. Sie war fast identisch mit jener, die Mórval trug. „Und am besten tut man dies, indem man in die Höhle des Löwen geht.“ Der wahrscheinlich falsche Soldat fischte als letztes ein kunstvoll verziertes, gebogenes Schwert mit goldenem Griff in einer edlen Lederscheide aus dem Fass. „Doch Ihr werdet dem Biest direkt in den Schlund starren. Vergesst niemals, wer Ihr seid, Dragan vom alten Blut.“
Ihm war mittlerweile klar, dass Tár schon lange wusste, wer er war. Die Weißen Streiter, oder die weißen Geister, ein und dasselbe. Und sie wussten alles, was sie wissen mussten. Niemand sonst hätte ihn aus dem Turm des Wahnsinns befreien können. Er blickte zu der Elbe, die mit dem Rücken zu ihm stand und gerade mit Danica sprach. Doch sie haben es getan. Warum? Eine Frage, die er auch laut aussprach, während er sich hastig saubere Unterkleidung in hoher Qualität aus Leinen anzog – ebenfalls ein Geschenk der Streiter. Tár antwortete wie erwartet ausweichend, dass es nicht sein Schicksal war dort zu enden und drängte zur Eile. Dragan hielt die Robe zögernd zwischen den Fingern. Das schwarze Außenleder war makellos und angenehm weich, die rote Seite der Innenseite zart wie Schmetterlingsflügel. Eigentlich war es ein wundervolles Stück Kleidung, doch haftete es ein blutiges Stigma an. Unwillig warf er sie sich über, zog die goldgelbe Kordel über seinen weißen Kragen fest und schloss damit die weite Robe. Tár half ihm das Schwert umzugürten. Dabei erklärte er ihm endlich den Plan. Dragan sollte sich als eine der Leibwachen Mórvals ausgeben. Der Hohepriester hatte nämlich nach dem Vorfall mit Bojar Branko dem Fürst versprochen, einige seiner Wachen im Fürstensitz zu postieren. Wahrscheinlich, um die übrigen Bojaren still zu halten. Dragan hakte ein, ob man ihn nicht erkennen würde, doch Tár beruhigte ihn damit, dass die Leibwachen ein Schweigegelübde abgelegt hatten. Nur wenn sie beteten, brachen sie es. Der falsche Soldat schärfte ihm ein, ständig in der Nähe Vakrims zu sein.
  „Und was ist mit der Schattenelbe?“, fragte Dragan, nachdem Danica  verstohlen zu ihm herübergeblickt hatte. Offenbar wollte sie nachsehen, was er tat. Einen Moment war er froh, dass er noch immer das schmutzige Tuch vor dem Gesicht hatte.
Tár wirkte plötzlich bedrohlicher, seine Haltung war angespannt. „Bist du dir sicher?“
Verunsichert durch die Schärfe in der Frage, nickte Dragan nur knapp. Der Soldat zeigte keine Regung, sondern reichte ihm die Maske. „Lege sie niemals ab. Wir haben Doppelgänger, die eure Rolle als Verhüllte übernehmen.“
Die Innenseite der Maske näherte sich sein Gesicht. „Ist das Mareks Idee gewesen? Mit dem doppelten Spiel?“, fragte er noch rasch.
Tár brummte zustimmend, offenbar war es nicht sein Plan gewesen und er machte nur mit, weil es keine bessere Alternative war. Ohne zu fragen wechselte er ihm flugs Tuch gegen Maske. Es war so schnell, dass Dragan nur kurz blinzelte, dann spürte er, wie die beiden Lederriemen an seinem Hinterkopf etwas enger gezogen wurden und der Stoff der spitzen Kapuze seine Haare berührte.
„Und was ist mit Dragan?“, fragte er schließlich, seine eigene Stimme hallte in der Maske etwas wider. Die Sicht war etwas beengt, aber erstaunlich großzügig. Nur das Atmen durch die engen Nasenlöcher der Maske war gewöhnungsbedürftig.
Die Stimme der Elbenfrau ertönte lauter: „Der Sitzt im Kerker. Genau wie Danica.“
„Anel“, zischte Tár ermahnend, nur um dann auf elbisch etwas eindringlich zu sagen, was er nicht verstand. Dragan schielte zu Danica, die interessiert zwischen den beiden Weißen Streitern hin und her blickte. Offenbar hatte sie seinen Namen nicht verstanden, denn sie mied Dragans Blick. Dabei fiel ihm plötzlich ein, dass er wieder einen neuen Namen brauchte. Sogleich stellte er die Frage, wen er denn verkörperte.
„Ástrebor“, antwortete Tár knapp und beruhigte ihn mit einer Geste, „Sie sind nicht die Gleichen. Aber hüte dich vor Kavor, er hasst Ástrebor und den Tempel.“
„Den Raben?“, wiederholte Dragan, „Von wem redet…“
Tár hob eine Hand und Dragan verstummte. Er drehte sich um, zu der Gasse aus der Weiß gerade kam. Der Krieger ignorierte Dragan und flüsterte dem Soldaten etwas ins Ohr. Tár nickte knapp und Weiß eilte zu der Elbe. Sie zog daraufhin rasch ihre Kapuze auf. „Es scheint, als ob unser Zeitfenster sich schließt. Danica wird mit meiner Anel gehen und zwei deiner Freunde befreien.“
Dragan wollte fragen wen und wo sie waren, doch er unterbrach seinen Gedanken selbst, als ihm plötzlich aufging, dass „Anel“ kein Name war. Offenbar standen die beiden sich nah und es war eine Bezeichnung. Er blickte zwischen der Elbe und Tár hin und her. War der Soldat ebenfalls ein Erstgeborener? 
„Ihr kommt mit“, bestimmte Tár und schob ihn vor sich her. Es war merkwürdig ganz getrennt zu werden, nachdem sie so viele Stunden so nah nebeneinander gelebt haben. Es kam ihm zumindest vor wie Wochen, dabei war es nur wenige Tage gewesen. Dragan blickte zu Danica zurück, die im Hinterhof verblieb. Auch sie wurde von der Elbe schließlich fortgeschoben, die Gasse hinab, in die andere Richtung. Ihre Blicke trafen sich und einen winzigen Moment las er in ihren blauen Augen Bedauern. Dann trat die Elbe dazwischen und schirmte Danica mit ihren Körper vor neugierigen Blicken ab. Weiß schloss sich den beiden Frauen an. Tár gab ihm indessen einen Stoß mit der Hellebarde und ermahnte ihn, seine Rolle zu spielen. „Denkt einfach an das, für das Ihr die ganze Zeit gekämpft habt.“ Ohne hinzusehen spürte der Soldat die ungestellte Frage. „Wir sind nicht allwissend. Was auch immer Ihr sucht, es ist ein schicksalhafter Pfad. Und er ist ganz allein für Euch bestimmt. Niemand kann Euch dabei helfen“ Etwas leiser setzte er nach: „Denn auch ich suche etwas.“
Dragan blickte zu dem vermummten Gesicht. Es war das erste Mal, dass Tár etwas von sich selbst preisgab. Behutsam hakte er nach, was er suchte. Der Soldat antwortete nicht, sondern blickte offenbar wachsam die Gasse hinab zum Brunnenplatz. Sechs Stadtwachen eilten ihnen entgegen, die Schwerter bereit zum Angriff.
„Meine kleine Flamme. Und ein schwerer Fehler“, sagte Tár plötzlich leise und wirbelte die Hellebarde umher, „Den ich wieder gut machen werde, ganz gleich was es mich kostet.“ Er wurde etwas langsamer. „Sie soll nicht für meine Fehler in die Schatten stürzen.“ Der Kopf des Soldaten ruckte zu ihm, „Wir alle kämpfen mit unseren Schatten. Manchmal greifen sie nach jenen, die uns nahe stehen. Beherzige das, Sohn des alten Blutes“, forderte Tár bitter und ruckte wieder mit dem Kopf nach vorn.
Dragan nickte kaum merklich. Nie hätte er gedacht, dass einer der Weißen Streiter mit so viel Schmerz in der Stimme zu ihm sprechen würde. Die Stadtwachen waren inzwischen in Rufweite und riefen ihnen zu sich erkennen zu geben. Tár schulterte die Hellebarde und wurde langsamer. Dragan verstand und machte einen Schritt vor. Die Stadtwachen erkannten seine Kleidung und die silberne Maske. Sie wurde langsamer und ließen ihre Schwerter sinken.
 „Verzeihung, Kněz“, sagte einer von ihnen lauter und verneigte sich knapp, „Woher kommt Ihr?“
 „Dies ist Ástrebor, der Schild Mórvals und Schwert des Tempels“, antwortete Tár gebieterisch, seine Stimme war plötzlich tief und sonor, ganz anders als zuvor, „Gebt den Weg frei.“
 Fünf der Männer machten Platz, nur der Anführer blieb in der Mitte der Gasse stehen. „Habt ihr zwei flüchtige Verhüllte gesehen?“, fragte der Mann, während Dragan und Tár sich der Gruppe soweit genähert hatten, das man dessen Augen sehen konnte. Er kniff sie zusammen und blickte zur Tár. „Es heißt, der Soldat, der für sie sprach hat ihnen zur Flucht verholfen.“
 Dragan sprang sofort darauf an und zog sein Schwert, während Tár sich darüber empörte, mit einem Verräter verwechselt zu werden. „Der ehrenwerte Ástrebor ist im Namen des Hohepriesters unterwegs. Wollt Ihr uns noch weiter aufhalten?“
 Der Anführer des Wachtrupps biss sich auf die Lippen, schließlich senkte er widerwillig das Schwert und trat minimal zur Seite. Erneut war Dragan erstaunt darüber, wie viel Einfluss der Tempels des flammenden Auges inzwischen hatte. In Gortharia hatte er gar nichts davon spüren können, doch in seiner Heimat sah das ganz anders aus. Sie passierten die Stadtwachen. Dragan bemerkte, wie der Anführer ihn mit feindseligen Blicken spickte.


 Vor ihnen öffnete sich schließlich der Brunnenplatz. Die Tribüne war umringt von den Kriegern aus Remedà, das Banner des schwarz-weißen Turms auf rotem Grund hing neben einer blutroten Wimpel, auf der ein goldener Kriegshammer eine Streitaxt kreuzte. Dragan erkannte die Wimpel als das persönliche Zeichen des Markgrafen Drazan. Tár schritt auf die Krieger zu, die vor der Treppe standen. Sie waren groß und kräftig gebaut, die sonnengebräunte Haut spannte sich über Muskel. Sie hatten alle ein markantes Kinn und Wangenknochen. Dragan folgte dem Soldaten. Die Remedàner musterten sie abschätzig, dann trat einer von ihnen zur Seite. Nacheinander stiegen sie die Treppe empor. Oben bot sich ein ganz anderer Anblick als vor einigen Minuten. Die Leichen waren fortgeschafft, nur halbgeronnene Blutpfützen auf dem Holz ließen erahnen, was geschehen war. Mórval stand einem Bild von einem Mann gegenüber. Der Hohepriester wurde um mehr als einen Kopf überragt – zumindest vermutete Dragan, dass er es war. Dessen goldener Stab lugte zwischen den Füßen der beiden hervor. Von der Tempelgarde fehlte jede Spur. Dragans Blick erfasste endlich Markgraf Drazan komplett. Er war ein Bär in Menschengestalt. Das breite Kreuz war ihnen zugewandt, der Stiernacken strotzte vor Muskeln. Er trug das Fell eines Berglöwen über den Schultern, der restliche Oberkörper nur von einer hellen Lederweste bedeckt. Seine tiefe, dröhnende Stimme ertönte. Drazan lachte, doch es erinnerte eher an aneinander reibende Steine.
 „Ihr habt also wirklich gedacht, dass so ein lächerliches Gericht irgendetwas ändern würde?“ Der Markgraf spuckte auf die Planken der Tribüne, genau vor die Füße Mórvals. „Ihr Fanatiker seid doch alle gleich.“ Drazan hatte messerscharfe Sinne, denn er wandte halb den Kopf, als sie näher traten, obwohl sie genau in seinem toten Winkel gestanden hatten. „Ah, noch mehr Speichellecker.“
 „Ástrebor“, begrüßte ihn Mórval und klang dabei sogar ein ganz klein wenig erleichtert. Kein Wunder, dachte sich Dragan als Drazan sich ebenfalls zu ihnen wandte. Dragan und selbst Tár mussten zu ihm emporblicken. Der Markgraf hatte ein erstaunlich edles Gesicht für seine bullige Erscheinung. Seine Nase wohlgeformt, die wachen Augen blickte aus tief sitzenden Höhlen auf sie spöttisch hinab. Eine tiefe Narbe zog sich über sein rechtes Auge, das dadurch zerstört war und trüb in eine Richtung starrte. Eine zweite Narbe zeichnete seine linke Wange und einen Teil seines Nasenrückens. Ein dichter Bart sprießte um seinen aristokratischen Mund, in dem mehr graue als dunkelblonde Haare zu sehen waren. Beim genaueren Hinsehen, konnte man schon erste, tiefere Falten im Gesicht, besonders unter den Augen erkennen.
„Du weißt um deinen Auftrag?“, fragte Mórval schließlich noch einmal, da Dragan den Markgraf unaufhörlich anstarrte. Er wandte den Blick ab und nickte knapp. „Gut. Warte noch, bis die Verhandlung beendet ist.“
„Was?“, donnerte Drazan, „Ihr wollt diese Scharade weiterführen? Der Vogt ist tot, die Beschuldigten entkommen und Ihr bis auf die Knochen blamiert. Macht es nicht noch peinlicher – ich will endlich meinen Enkel kennenlernen.“
Mórval wirkte ruhig, trotz der erdrückenden Präsenz des Markgrafen. Im Gegenteil, es schien, dass der Hohepriester sich mit Dragans (Ástrebors) Erscheinen wieder im Griff hatte.
„Aber, aber“, sagte Mórval verträglich und strich unmerklich über seinen Handschuh, „Ich weiß, dass Eure Ankunft heute, genau zu dieser Stunde kein Zufall war.“
 Drazan antwortete nicht, sondern kniff die Augen bedrohlich zusammen. „So, so“, machte er nur und beugte sich ein klein wenig vor. Es war, als ob sich eine hundertjährigere Eiche neigte. „Nun, wie es aussieht, ist aber diese kleine Information bei Euch noch nicht angekommen.“ Drazan schenkte Mórval ein kurzes, zahnlückiges Lächeln und richtete sich wieder auf. „Marek!“, bellte er, „Angetreten!“
 Dragans Blick huschte zu der Treppe, die hinab zum Platz führte. War das der Plan? Warum gerade einen so unberechenbaren Kerl wie Drazan? Er war gemeingefährlich. Hatte Marek sie verraten? Ein vertrautes, leicht entstelltes Gesicht erschien auf der Treppe. Es war tatsächlich Marek. Er hatte ein langes Seil in der Hand. Mórval gab einen zufriedenen Laut von sich und klopfte Dragan – Ástrebor in seinen Augen, auf die Schulter. Hinter dem Hauptmann stolperten zwei Verhüllte her. Offenbar ein Mann und eine Frau. Drazan schien zu spüren, dass Mórval glaubte, sein Gesicht wahren zu können.
  „Danke, dass Ihr Euch für meinen Fang freut, Hohepriester“, sagte der Markgraf unvermittelt und ein gehässiges Grinsen blitzte auf, „Habt Ihr wirklich gedacht, dass ich Euch meine Gefangenen überlasse?“
  Mórval umklammerte wütenden seinen goldenen Priesterstab. Dragan spürte, wie seine Hand von der Schulter verschwand. „Schön“, zischte er schließlich hasserfüllt, „Ihr urteilt über Danica und Oleg, Markis.“
 Drazan grinste triumphierend. „Das werde ich.“ Mit den Worten ließ er den Hohepriester stehen und wandte sich Marek zu. „Alter Narr“, zischte Mórval leise, sodass nur Dragan es hören konnte, „Zu schade, dass sämtliche Attentate in all den Jahren gescheitert sind.“
 Dragan war auch klar, warum sie gescheitert waren. Drazan war nicht nur bärenstark – selbst im hohen Alter, sondern auch unglaublich gerissen. Man sagte sich, er hatte die Fürstenkrone an Ivailo nur weiteregegeben, da er sich in Draganhrod langweilte. Sein Vater hatte ihm aber einst erzählt, dass er sich als einfacher Mann bei seinem Vater beweisen musste, um die Fürstenkrone zu erlangen. Daher auch sein Name, Ivailo, der Bauer, der die Krone trug. Drazan hatte aber seinen Sohn überlistet, da Ivailo nie Fürst werden wollte, aber sehr ehrgeizig war, wenn man ihn herausforderte. Dragan schauderte es. Er mochte die Anwesenheit seines Großvaters nicht. Sie versprach große Gefahr. Drazan breitete indessen die Arme aus und übernahm lautstark die Verhandlung.

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