Kerry stand neben Eryniel auf einem der unteren Äste eines großen, breiten Waldbaumes und sah dem Heer Sarumans beim Abrücken zu. Nun wieder perfekt diszipliniert nahmen die Krieger der Weißen Hand Marschformation an und stampften los, als ein tiefes Hornsignal erklang. Saruman selbst ritt am Ende des Heeres, auf einem schwarzen Pferd, umringt von den Dúnedain. Die Gesichter der Waldläufer waren so verschlossen wie eh und je, doch Kerry fiel auf, dass zwei von ihnen fehlten. Daerod, der Dúnadan den sie in Thranduils Hallen kennen gelernt hatte, war am Erebor gefallen, wie Kerry erst vor Kurzem erfahren hatte. Ein weiterer Tod, der ihr das Herz schwer machte. Und dann war da noch Helluin... Von Helluin fehlte derzeit jede Spur. An seiner Stelle ritt nun Forgam, der einst die rechte Hand des jungen Stammesführers gewesen war, und der nun offenbar den Befehl über die verbliebenen Waldläufer übernommen hatte.
„Endlich verschwinden diese Scheusale aus unserer Heimat,“ murmelte Eryniel, die einen verbitterten Ausdruck im Gesicht hatte. Kerry sah, wie sich die Finger der Waldelbin so fest um den Griff ihres Langbogens schlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Sie haben mehr als genug Leid und Unheil verursacht.“
Kerry war sich nicht sicher, wie nahe Eryniel dem König gestanden hatte. Thranduils Tod schien die Späherin schwer getroffen zu haben, auch wenn ihr Gesicht bislang frei von Tränen geblieben war. Daher wusste Kerry nicht recht, was sie sagen sollte. Sie beschränkte sich darauf, Eryniel stumm Gesellschaft zu leisten, bis die Banner der Orks unter den Baumwipfeln verschwunden waren und ihre Fußtritte in der Ferne verhallt waren. In diesem Augenblick atmete Eryniel tief durch, hängte ihren Bogen auf ihren Rücken und sprang vom Ast auf den Waldboden hinab. Sie warf Kerry einen schwer zu deutenden Blick zu, hob kurz die Hand, wie zum Abschied, dann verschwand sie im Wald.
Mehrere Stunden waren seit dem blutigen Gefecht zwischen Elben und Orks vergangen, und der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Als Kerry langsamen Schrittes zur Lichtung, auf der das Heerlager gestanden hatte, zurückkehrte, waren die Kadaver der Orks bereits auf einen Haufen geworden und verbrannt worden. Die gefallenen Elben - mehr als ein Dutzend - hatte man nebeneinander aufgebahrt. Direkt am Waldrand, zwischen zwei großen Eichen, war eine Grube ausgehoben worden, in die man die Toten nun vorsichtig legte, einen Halbkreis bildend. Ganz in der Mitte sollte Thranduil seine letzte Ruhestätte finden, doch noch lag der König auf einer Decke aus Laub und Gräsern und wirkte, als würde er nur schlafen. Neben ihrem Vater stand Finelleth und blickte stumm auf ihn herab.
Als Kerry näher kam, wurde es ihr allzu deutlich klar. Dies war nicht länger Finelleth, die Elbenkundschafterin, die nie lange ernst bleiben konnte und die Befehle nur befolgte, wenn sie ihr in den Kram passten. Dies war auch nicht Tharandís, die ungezogene Tochter eines Königs, der nur Augen für ihren Bruder hatte. Vor Kerry stand Faerwen aus dem Hause Lenwe, eine fähige Anführerin und Königin ihres Volkes. Spuren von Tränen zierten ihr Gesicht, doch ihre Miene war von Entschlossenheit gezeichnet. Nicht länger trug sie die blutige Rüstung aus den Schlachten von Thal und Erebor, sondern ein strahlendes, silbernes Kleid, gepaart mit einem pelzbesetzten Umhang, dessen Außenseite schwarz und Innenseite tiefrot waren. Ihr sandblondes Haar war nicht länger wirr und voller widerspenstiger Strähnen, sondern war nun zu einer edlen Hochsteckfrisur geformt worden. Und auf ihrer Stirn lag ein königlicher Silberreif, den einst Thranduil getragen hatte. Dies war Faerwen, Herrscherin des Waldlandreiches. Sie richtete sich auf und blickte in die Runde der Elben, die sie umgaben - und wie auf ein geheimes Zeichen hin gingen die Düsterwald-Elben in die Knie und beugten das Haupt vor ihrer Königin. Kerry konnte gar nicht anders, als es ihnen gleichzutun. Sie war mehrere Meter von der Königin entfernt, so dass sie hören konnte, was Faerwen sagen würde.
„Dies ist ein schicksalhafter Tag, meine Freunde,“ sprach die Königin mit einer Stimme, die Kerry kaum wiedererkannte. Sie klang kraftvoller und entschlossener, als es Finelleth je gewesen war. „Mein Vater ist uns genommen worden. Verrat und Heimtücke waren der Untergang Thranduils, des Königs des Waldlandreiches, der viele Fehler hatte. Doch ich sage euch heute: Haltet ihn nicht wegen seiner Fehler in Erinnerung, wie auch ich es nicht tun werde. Erinnert euch an das, was er selbst in seinen letzten Momenten nie aus den Augen verloren hatte: Alles, was mein Vater getan hat, geschah zum Schutze seiner Heimat. Und bevor er von uns ging, hatte er noch eine letzte Weisheit weiterzugeben. Meine Heimat -
unsere Heimat - ist kein Ort, sondern sie ist in euch allen. Unsere Heimat ist dieses Volk, das nun endlich frei von Saruman und seinen Lügen ist. Dies hat mein Vater erreicht, auch wenn es ihn das Leben kostete. Und daran werde ich mich für immer erinnern. Ebenso wie er werde auch ich alles dafür geben, mein Volk zu schützen - selbst wenn es meinen Tod bedeutet. Ich bitte euch, mich dabei zu unterstützen. Ich will nicht über euch herrschen, weil es mein Geburtsrecht ist, sondern weil mein Vater an mich geglaubt hat - und es noch immer tut. Ich verspreche euch, nicht zu ruhen, bis unser Volk und unsere Heimat in Sicherheit sind. Steht mir bei, meine Freunde, denn unsere Zukunft liegt nun in unseren eigenen Händen.“
Stille erfüllte die Lichtung. Dann richtete sich einer der Elben neben Faerwen auf. Es war Galanthir, der einen der Orks getötet hatte, die Kerry in Bedrängnis gebracht hatten. „Ihr habt die Worte gehört, die Faerwen an euch gerichtet hat. Und ihr alle kennt die Traditionen unseres Volkes, die in einer solchen Stunde wichtiger als je zuvor sind. Daher rufe ich nun Oronêl, Ardírs Sohn auf, um als ihr nahster Verwandter für oder gegen die neue Königin zu sprechen, wie es Sitte ist.“
Oronêl musste ganz am Rande der Menge gestanden haben, denn es dauerte einige Zeit, bis er bei Thranduils Ruhestätte angekommen war. Soweit Kerry es erkennen konnte, wirkte er eher unbehaglich und schien nicht sonderlich froh darüber zu sein, aufgerufen zu werden.
„König Thranduil war mein Vetter, denn wie er stamme ich aus Lenwes Sippe,“ sagte Oronêl mit klarer Stimme. „Als nächster Verwandter Faerwens will ich nur so viel sagen: Das Vertrauen, das ihr Vater in sie gesetzt hat, ist gerechtfertigt. Sie wird euch eine ausgezeichnete Königin sein.“
Oronêl trat beiseite und geriet aus Kerrys Sichtfeld. Stattdessen nahm nun erneut Galanthir das Wort. „Hier steht Tharandís Faerwen Lenweriel vor euch, Elben des Grünwaldes. Soll sie Königin sein und über das Waldlandreich herrschen?“
Anstatt einer verbalen Antwort legten beinahe alle anwesenden Elben ihre rechte Hand auf ihre linke Schulter.
„Dann sei es so. Faerwen, die erste ihres Namens, Königin des Waldlandreiches!“
Einige der Elben brachen in Jubel aus, doch dann zerstreute sich die Menge rasch. Kerry blickte sich nach Oronêl um, denn etwas sagte ihr, dass sie so bald wie möglich mit ihm sprechen sollte, obwohl sie nicht genau wusste, weshalb. Es kam ihr so vor, als würde sie nicht mehr viel Zeit haben. Doch ehe sie ihn entdeckt hatte, berührte eine Hand ihren Rücken und ließ sie herumfahren.
Vor Kerry stand die Königin der Waldelben. Ihre silberne Pracht und ihre entschlossene Miene jagten Kerry eine solche Ehrfurcht ein, dass sie erneut auf die Knie gegangen wäre, wenn Faerwen sie nicht zurückgehalten hätte.
„Das sind nun wirklich genug Ehrerbietungen gewesen,“ sagte sie - mit Finelleths belustigter Stimme.
„Aber... du bist jetzt eine Königin,“ erwiderte Kerry - ehe sie sich hastig korrigierte. „Ich meine natürlich...
Ihr seid jetzt eine Königin, ähm...
Euer Gnaden.“
„Kerry! Das reicht. Ich bin immer noch deine Freundin, auch wenn ich jetzt etwas mehr Verantwortung habe. Sieh mir in die Augen.“
Kerry tat wie ihr geheißen und hielt Faerwens Blick stand. Ein gütiges Lächeln lag auf den Lippen der Königin, gemischt mit einem traurigen Ausdruck in den Augen. Und da wusste Kerry, dass Faerwen - dass Finelleth - eine sehr gute Königin abgeben würde.
„Du hast an Selbstvertrauen gewonnen,“ stellte Kerry fest, ehe sie bemerkte, dass sie laut nachgedacht hatte.
„Ich wünschte, der Preis wäre nicht so hoch gewesen,“ erwiderte Faerwen. „Aber du hast recht. Ich weiß, wer ich bin, und was noch viel wichtiger ist - ich weiß, was meine Aufgabe ist. Und ich weiß, dass ich ihr gewachsen bin.“
„Das ist wirklich gut,“ meinte Kerry. „Ich kann es noch immer nicht ganz glauben, dass aus jemandem, der es gehasst hat, als Prinzessin bezeichnet zu werden, eine so... naja,
ernsthafte Königin geworden ist.“
„Treib es lieber nicht zu weit, meine Liebe,“ sagte Faerwen und hob den Zeigefinger. „Ich habe nun genügend Befehlsgewalt, um dich überall zu erwischen, ganz egal wo in Mittelerde du dich auch versteckst.“
Und da wurde es Kerry klar, dass Finelleth doch nicht ganz verschwunden war. Trotz allem, was geschehen war, hatte ihre Freundin ihren Sinn für Humor tief in ihrem Inneren beibehalten, was Kerry sehr erleichterte.
„Ich verstehe schon,“ gab sie zurück. „Noch ungefähr eine Woche, dann wirst du mich wegen unschicklichem Betragen aus dem Palast werfen, ich seh‘s kommen.“
„Kerry! Das würde ich niemals tun,“ sagte Faerwen und gestattete sich ein kurzes, helles Lachen. „Allein schon deshalb, weil ich viel zu beschäftigt sein werde. Es gibt...
so viel zu tun.“
„Du kriegst das hin, das weiß ich genau,“ sagte Kerry aufmunternd. Sie nahm die Hände der Königin und drückte sie. „Du wirst eine ganz wunderbare Herrscherin sein. Versprich mir, dass du dir niemals etwas anderes einreden lassen wirst.“
„Ich verspreche es dir, Kerry. Wohin dich deine Reisen auch führen werden... du wirst bei meinem Volk jederzeit willkommen sein.“
„Danke,“ hauchte Kerry, die sich wunderte, weshalb Faerwen plötzlich solche Dinge sagte, die nach Abschied klangen. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, etwas Ruhe und Frieden in den Hallen des Waldlandreiches zu verbringen, auf Mathan zu warten und mit ihm gemeinsam den Rückweg nach Eregion anzutreten.
„Nun geh schon,“ sagte Faerwen sanft. „Am Ostrand der Lichtung wartet jemand auf dich. Es scheint dringend zu sein...“
Oronêl! schoss es Kerry durch den Kopf.
Ich hoffe, ich komme nicht zu spät... Hastig umarmte sie Faerwen und eilte dann in Richtung Osten davon.
Die untergehende Sonne blendete Kerry, weshalb sie zunächst nur eine hochgewachsene Gestalt erkennen konnte, die am Rande der Lichtung und fernab des Trubels bei Thranduils Grab stand. Umso überraschter war sie daher, als sie der Sonne den Rücken zuwendete und anstatt Oronêl einen jungen Mann in einem grauen Mantel vorfand.
„Hallo, Kerry,“ sagte Helluin leise. In seinen tiefblauen Augen standen Zweifel und viele, viele Fragen. Fragen, vor denen Kerry Angst hatte.
„Ach, du bist das,“ stieß sie hervor.
„Hast du jemand anderen erwartet?“
„Ehrlich gesagt schon. Was... was willst du?“
„Ich... wollte mich verabschieden. Ich habe endlich erkannt, dass mein Platz niemals an Sarumans Seite war. Und auch nicht in Arnor, bei meinem Volk. Also werde ich... werde ich gehen, und ihn suchen.“
„Wohin?“ fragte sie nur.
„Fort von allem, was mir bekannt ist,“ antwortete der junge Dúnadan und deutete nach Osten. „Ich weiß nicht, wohin das Schicksal mich verschlagen wird. Vielleicht in die Eisenberge, zu den Festungen der Zwerge. Oder ins geheimnisvolle Land der Ostlinge jenseits des Celduin. Vielleicht aber auch sogar noch weiter nach Osten, in Länder voller Mythen und Legenden...“
Kerry wusste nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte. Helluin schien eine Antwort von ihr zu erwarten - vielleicht hoffte er sogar darauf, dass sie ihn von seinem Vorhaben, ins Exil zu gehen, abhielt. Doch das konnte sie nicht.
„Ich... bin froh, dass du nicht länger Saruman dienst,“ sagte sie leise. „Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.“
Helluin blickte zu Boden. „Ich verstehe,“ antwortete er. Dann hob er den Kopf und suchte Kerrys Blick. „Dann werde ich gehen und versuchen, mich selbst und meinen Platz in der Welt zu finden. Und vielleicht... vielleicht werden wir uns wiedersehen, wenn ich ihn gefunden habe.“
„Vielleicht,“ meinte Kerry. Mehr konnte sie ihm nicht versprechen, denn ihr Herz ließ es nicht zu. „Bitte... pass dort draußen einfach auf dich auf.“
„Ich komme schon zurecht. Ich habe ein Schwert und einen Bogen... das genügt mir.“
Ehe Kerry etwas sagen konnte, machte Helluin einen Schritt auf sie zu und umarmte sie - nur für einen flüchtigen Moment. Dann wendete er sich ab und ging langsamen Schrittes los. Direkt nach Osten lief er, und blickte nur ein einziges Mal zurück. Dann verlor Kerry ihn aus den Augen.
Es war inzwischen Nacht geworden, als Kerry zum Heerlager zurückkehrte. Viele Elben waren bereits zu ihren Hallen im Waldinnern aufgebrochen. Der Grabhügel Thranduils war mit Erde bedeckt worden und man hatte einen großen Stein darauf aufgestellt, in den elbische Runen eingegraben worden waren, die Kerry im Dunkeln nicht entziffern konnte. Sie hielt Ausschau nach ihren Freunden, bis sie einige Minuten später schließlich Celebithiel und Glorfindel über den Weg lief.
„Wir brechen bald zu Faerwens Hallen auf,“ sagte Glorfindel.
„Kommst du mit uns?“ fragte Celebithiel.
„Ich denke schon, aber... wo ist denn Oronêl?“ wollte Kerry wissen, die erneut eine innere Dringlichkeit verspürte.
Die beiden Hochelben tauschten einen vielsagenden Blick aus. „Du weißt es nicht?“ fragte Glorfindel.
„Was weiß ich nicht?“
„Das solltest du direkt von ihm erfahren,“ sagte Celebithiel. „Eile dich! Du findest ihn am Eingang des Waldpfades, südwestlich von hier.“
Kerry bedankte sich und hastete los, die Lichtung im Eiltempo überquerend. Dort angekommen stieß sie mit einem elbischen Gardisten zusammen, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war, und schlug der Länge nach hin.
„Seid Ihr verletzt, junge Dame?“ fragte der Elb und half ihr auf.
„Wo ist Oronêl? Ist er hier?“ fragte Kerry atemlos.
„Herr Oronêl spricht mit der Königin. Ich denke nicht, dass Eure Anwesenheit erwünscht...“
„Tut mir wirklich leid, aber das kann nicht warten!“ Kerry schlüpfte unter den Armen des Gardisten hindurch und erreichte die Stelle, an der einer der Pfade durch den dichten Wald begann. Und tatsächlich stand dort Oronêl, der sein Gepäck geschultert hatte und hatte Faerwens Unterarm mit seiner Hand umschlossen - ein Kriegergruß, wie er ihn mit Mathan oft ausgetauscht hatte.
„Wartet! Was geschieht hier? Oronêl, gehst du fort?“ Kerry blieb keuchend neben den beiden Waldelben stehen.
Oronêl blickte betroffen drein. „Ich hatte gehofft, dies vermeiden zu können,“ sagte er.
„Meine kleine Ablenkung hat offensichtlich versagt,“ meinte die Königin, die eher belustigt als betroffen wirkte.
„Ablenkung? Wie bitte? Was geht hier vor?“ Kerrys Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Verwirrung wuchs mit jeder Sekunde.
Oronêl ließ Faerwens Arm los und ergriff Kerrys rechte Schulter. Seine Berührung war beruhigend, doch als Kerry seine Augen sah, in denen sich das Licht der Sterne spiegelte, wusste sie, dass die Lage ernst war. Oronêl hatte etwas vor - etwas, das ihr überhaupt nicht gefallen würde.
„Ich werde jetzt gehen, Kerry,“ erklärte Oronêl ruhig und gefasst. „Ich wusste, dass du mir den Abschied nicht leicht machen würdest, deshalb hatte ich Faerwen gebeten, dich zu beschäftigen. Doch da du nun hier bist, lass mich dir Folgendes sagen: Ich bin sehr froh, dich kennengelernt zu haben und du hast mir vieles beigebracht - über mich selbst und über die Welt, in der wir leben. Doch dies ist das Ende. Meine Tage in Mittelerde sind nun begrenzt.“
„Wie bitte? Das kannst du doch nicht ernst meinen!“
Oronêl seufzte tief. „Ich meine es überaus ernst, Kerry. Ich kann einfach nicht mehr weitermachen. Mírwens Tod war nicht mehr als der Kieselstein, der diesen Steinschlag ausgelöst hat. Es hat sich seit Langem angebahnt. In Mittelerde gibt es nichts mehr für mich.“
„Du... du Feigling!“ rief Kerry und versetzte Oronêl zu ihrem eigenen Entsetzen eine saftige Ohrfeige. Erschrockene Stimme ringsum ertönten, dann wurde es wieder still. Oronêl hatte sich nicht gerührt und den Schlag tonlos hingenommen. „Du machst einen Fehler, Oronêl. Weglaufen ist keine Lösung, hörst du mich? Ich fasse es nicht, dass du dich nicht einmal von mir verabschieden wolltest, sondern dich mit einem billigen Trick davonstehlen wolltest!“ Sie war so sauer wie noch nie, und gleichzeitig verschwamm Kerrys Sicht, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie fühlte sich betrogen, als hätte Oronêl ihr Herz in zwei Teile zerrissen.
„Nein, Kerry. Ich habe lange nachgedacht, schon seit unserem Aufbruch aus Eregion - wenn ich ehrlich bin, sogar schon davor. Ich werde nach Dol Amroth gehen, meine Nachfolge regeln, und dann ein Schiff nehmen, das mich Westen bringen wird - zu Calenwen. Ich liebe sie noch immer, verstehst du das nicht? Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben - trotz allem, was mit Mírwen geschehen ist. Und ich hoffe, dass sie auf mich wartet. Nein - ich weiß es. Ich bitte dich als dein Freund - mach das nicht schwerer, als es sein muss. Lass mich gehen.“
Kerry konnte nicht sprechen. Ihr Hals tat unglaublich weh, als er sich zuschnürte. Oronêl ließ ihre Schulter los und legte ihr die Hand auf die Wange. Sanft strich er ihre Tränen beiseite. In seinem Blick lag ein ebenso großer Schmerz wie der, den Kerry verspürte. Und doch... konnte sie ihn nicht einfach so gehen lassen.
„Wenn du gehen musst,“ stieß sie angestrengt hervor, „dann komme ich verdammt nochmal mit dir.“
Oronêl Augen weiteten sich - offenbar hatte er damit nicht gerechnet. „Das... das geht nicht, Kerry, ich gehe nach...“
„Ich weiß, wohin du gehst,“ knurrte sie. „Deshalb komme ich mit dir, so weit es geht, um dich davon zu überzeugen, dass deine Entscheidung falsch ist - wenn es sein muss, bis ans Ufer des großen Meeres. Du wirst mich schon fesseln müssen, um zu verhindern, dass ich dir folge.“
„Oh, Kerry,“ erwiderte Oronêl, und sein Gesicht zeigte eine Mischung aus tiefer Traurigkeit und belustigter Resignation. „Eines Tages wird dich deine Sturheit noch in große Schwierigkeiten bringen.“
„Ich weiß, dass ich recht habe, Oronêl,“ erwiderte sie unnachgiebig.
Da lachte Faerwen hinter ihnen - laut und glockenhell. „Ihr beiden seid unmöglich,“ sagte sie. „Wärt ihr im selben Alter, würde ich euch ja empfehlen, einfach zu heiraten, aber...“
„Ich zweifle gerade etwas an deiner Tauglichkeit zur Königin,
Euer Majestät,“ gab Oronêl trocken zurück.
„Ihr seid hier in meinem Reich, was mir hier die Befehlsgewalt gibt. Deswegen sage ich: Ihr reist gemeinsam, zumindest bis nach Rohan. Dort angekommen wird Kerry sich entscheiden müssen, ob sie weiter mit dir nach Dol Amroth geht, oder nach Westen abbiegt, um rechtzeitig zur Geburt ihres Geschwisterchens nach Eregion zu kommen. Das ist übrigens ein Befehl.“
Weder Oronêl noch Kerry waren vollständig zufrieden mit dieser Entscheidung, doch es wurde sehr schnell deutlich, dass Faerwen keine Widerrede dulden würde. „Also gut,“ gab sich Oronêl geschlagen. „Ich werde dich mitnehmen, Kerry, aber nur, wenn du versprichst, mehr als ein Gesprächsthema neben dem meiner Entscheidung zu haben.“
„Na schön, ich verspreche es,“ sagte Kerry, der inzwischen ein neuer Gedanke gekommen war. Faerwen hatte von Rohan gesprochen - Déorwyns einstiger Heimat. Ein Teil von ihr war gespannt darauf, es wiederzusehen und zu erfahren, was daraus geworden war. Und soweit sie wusste, lag Hochborn auf dem direkten Weg nach Dol Amroth...
„Nun heißt es also endgültig Abschied nehmen,“ sagte Faerwen wenige Minuten später. Kerry hatte ihr Gepäck so rasch wie möglich herbeigeholt und sie und Oronêl waren zum Aufbruch bereit.
„Mögest du dein Reich und den Volk weise und gerecht führen,
nethel,“ sagte Oronêl andächtig.
„Und mögest du deinen Frieden finden,
gwador - ob nun in dieser Welt, oder im Westen,“ erwiderte Faerwen.
Oronêl umarmte die Königin und legte seine Stirn für einen Moment an ihre. „Gedenke der Worte deines Vaters,“ hörte Kerry ihn wispern, dann lösten sich die beiden Elben voneinander.
„Und dir, Kerry, habe ich ja bereits gesagt, dass du hier immer willkommen sein wirst. Bitte pass auf dich auf, auf deinen Abenteuern. Mögen die Sterne über dich wachen.“
Kerry schloss Faerwen in eine lange und enge Umarmung. „Ich werde dich vermissen, Finelleth,“ hauchte sie, erneut den Tränen nahe. Mehr brachte sie nicht heraus.
Sie verabschiedeten sich ebenfalls von Glorfindel und Celebithiel, die zunächst im Waldlandreich bleiben würden, ehe sie nach Imladris zurückkehren würden, um Mírwen in ihrer Heimat zur Ruhe zu betten. Und dann war der Moment gekommen. Gefolgt von Kerry betrat Oronêl den Pfad ins Innere des Düsterwaldes, in Richtung Süden gehend.
Mehrere Minuten gingen sie schweigend durch die laue Nachtluft hindurch, ehe Oronêl ohne sich umzudrehen das Wort nahm.
„Weißt du was, Kerry?“
„Hmm?“
„Du bist ein wahres Ärgernis.“
„Pfft. Und du bist ein Feigling.“
Oronêl lachte. „Vermutlich habe ich das verdient. Es tut mir Leid, dass ich mich einfach so davonschleichen wollte.“
„Ich hoffe, es tut dir noch immer Leid, wenn du in Valinor sitzt und dir wünschtest, du wärest nicht gegangen.“
Das entlockte Oronêl ein resignierendes Seufzen. „Ich sehe schon, du wirst mir mit dem Thema keine Ruhe lassen... und dennoch ist ein Teil von mir froh, dass du bei mir bist, Kerry.“
„Ehrlich?“
„Nicht übermütig werden. Ich sagte, ein
Teil von mir.“
„Ich glaube, das genügt mir für‘s Erste,“ sagte Kerry und lächelte in sich hinein.
„Komm, wir sollten unsere Schritte ein wenig beschleunigen,“ meinte Oronêl. „Es gilt, das Heer der Weißen Hand zu überholen und so bald wie möglich ins Anduin-Tal zu gelangen. Südwestlich von hier gibt es einen Ort, an dem ein Zauberer lebt. Ich denke, das wäre ein guter erster Zwischenstopp für uns beide.“
Oronêl und Kerry zu den Pfaden des Düsterwaldes